Tod im Schatten der Burg - Die Sau ist tot - Jule Heck - E-Book

Tod im Schatten der Burg - Die Sau ist tot E-Book

Jule Heck

4,9

Beschreibung

Die Handlung des zweiten Kriminalromans aus der Serie „Tod im Schatten der Burg“ von Jule Heck beschreibt wieder eine rissige Idylle vor der beschaulichen Kulisse der als Wetterauer Tintenfass bekannten, weithin sichtbaren Burgruine Münzenberg. Nach dem 50. Geburtstag des erfolgreichen Unternehmers Erwin Thorwald aus Trais, einem Stadtteil von Münzenberg, ereignen sich seltsame Dinge. Diese Ereignisse stellen innerhalb einer Woche nicht nur das Leben der Familie Thorwald, sondern auch das weiterer Familien aus dem kleinen, historisch geprägten Städtchen in der Wetterau auf den Kopf. Durch den plötzlichen Tod des Rentners Karl Bosch kommen ungeahnte, schreckliche Dinge ans Tageslicht. Am Ende sind drei Menschen tot, die durch ein schweres, geschickt getarntes Verbrechen miteinander verbunden waren. Dem Ermittlerduo Henne und Co aus Friedberg, kräftig unterstützt durch den stets neugierigen Rauhaardackel Erdmann, stellt sich die Frage, was der angesehene Unternehmer Erwin Thorwald, mit besten Verbindungen zu Politik und Wirtschaft, mit dem feisten und unbeliebten Rentner Karl Bosch zu tun hatte. Und wer ist die Wasserleiche, die plötzlich im Mühlengraben von Ober-Hörgern auftaucht? Henne und Co stoßen bei ihren Ermittlungen auf Abgründe, Intrigen und Verlogenheit in einer Gesellschaft, deren vordergründige hohe Moral von der Autorin im Laufe des Romans als reine Fassade entlarvt wird. Dabei bedient sie sich verschiedener Charaktere, die sowohl interessant als auch witzig, aber auch abschreckend erscheinen. Mit viel Lokalkolorit lenkt sie den Blick schonungslos auf ein aktuelles Thema. Jule Heck wurde 1957 in Gambach, heute ein Stadtteil von Münzenberg, geboren. Dort lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Dackel Amy. Ihre Vorliebe für Krimis und ihre Leidenschaft fürs Schreiben haben sie veranlasst, einen zweiten Roman zu schreiben, der in Münzenberg in der Wetterau spielt.

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Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung. 

Impressum 

Jule Heck »Tod im Schatten der Burg – Die Sau ist tot « 

www.edition-winterwork.de 

© 2014 edition winterwork 

Alle Rechte vorbehalten. 

Umschlag: Atelier am Markt, Wolf Becker, Münzenberg  

Bildnachweis:  

http://de.123rf.com/profile_isselee‘>isselee  

Lektorat: Birgit Rentz  

Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf 

Tod im Schatten der Burg 

Jule Heck 

Dieses Buch ist ein Kriminalroman. Die Personen und Begebenheiten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und von mir nicht beabsichtigt. 

Mein besonderer Dank gilt meiner Familie, meinen Freunden und allen, die mich bei der Entstehung des Buches unterstützt haben. 

Prolog 

Früher als gewöhnlich verließ Irene Thorwald den Frauenstammtisch in Trais. Sie wollte zeitig zu Hause sein. Die letzten beiden Male hatte sie ein merkwürdiges Gefühl beschlichen, als sie nach der wöchentlich stattfindenden Turnstunde heimgekommen war. Gern hätte sie sich noch mit ihren Freundinnen am Stammtisch ausgetauscht, wie sie das jeden Dienstag nach dem Sport tat. Doch heute verabschiedete sie sich unter dem Vorwand, sie habe Magenschmerzen und fühle sich nicht wohl. Die Freundinnen wünschten ihr gute Besserung und bedauerten, dass sie schon gehen müsse. Ihr selbst tat es auch leid, denn es gefiel ihr in dieser „Weiberrunde“. 

Nachdem sie mit ihrem Ehemann Erwin in das kleine Wetterauer Örtchen Trais – ein Stadtteil von Münzenberg – gezogen war, hatte man sie herzlich aufgenommen und ihr die Eingewöhnung leicht gemacht. Mittlerweile besuchte sie regelmäßig die Turnstunde und traf sich auch außerhalb dieser Veranstaltung mit den Frauen zum Frühstück, zum Wandern, zu Ausflügen mit dem Fahrrad in die nähere Umgebung oder zu einem Besuch im Kino Traumstern in Lich. Erwin hatte angeboten, während ihrer Abendtermine zu Hause zu bleiben, um die Stunden, bis ihre beiden Kinder Konrad und Konstanze ins Bett gehen mussten, gemeinsam mit ihnen zu verbringen.  

Als sich Irene der Villa näherte, die sie jetzt seit fünf Jahren mit ihrer Familie bewohnte, waren alle Fenster dunkel. Sie schloss die Haustür auf, schaltete in der geräumigen Wohndiele das Licht ein und legte ihre Jacke ab. Nacheinander warf sie einen Blick in die beiden Kinderzimmer und stellte fest, dass Konrad und Konstanze in ihren Betten lagen und schliefen. Sie ging weiter bis zum Ende des Ganges. Aus dem Büro ihres Mannes drangen undefinierbare Geräusche.  

Irene klopfte gegen das Teakholz der Bürotür, erhielt jedoch keine Antwort. Leise drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür. Der Raum war abgedunkelt. Erwin saß mit dem Rücken zu ihr vor seinem Computer. Auf ihre zögerliche Begrüßung reagierte er nicht. Er stierte auf den Bildschirm. Irene betrat das Büro und erstarrte, als sie erkannte, womit sich ihr Mann beschäftigte. 

Sie machte ihm eine fürchterliche Szene, tobte und weinte, während er ihr versicherte, dass so etwas nie wieder vorkomme. Er sei versehentlich auf die Internetseite gelangt und habe sich die Inhalte rein informativ angesehen.  

Doch irgendetwas störte Irene an seiner Aussage – sie glaubte ihm nicht.  

In den nächsten Wochen belauerte sich das Ehepaar gegenseitig. Sie schlichen umeinander wie zwei wilde Tiere auf der Suche nach Beute.  

Schließlich hielt Irene es nicht mehr aus und suchte einen Psychologen auf. Der nahm sich nicht nur geduldig ihrer Sorgen an, sondern riet ihr, ihren Mann zu einem Therapeuten zu schicken. Als sie Erwin darauf ansprach, lehnte er jedoch ab. Er beteuerte, dass er keine Probleme habe und sie sich das nur einbilde. 

Nach einer Weile kehrte zwischen den Eheleuten Ruhe ein. Irene fiel nichts Außergewöhnliches mehr auf – bis zu einem Abend im Herbst, als die Turnstunde überraschend ausfiel und sie bereits nach wenigen Minuten in die Villa zurückkehrte.  

Noch in der gleichen Nacht verließ Irene Thorwald mit Konstanze fluchtartig das Haus. Wenige Minuten später prallte ihr Wagen mit überhöhter Geschwindigkeit gegen einen Pfeiler der Autobahnbrücke, die über die A 5 zwischen Griedel und Butzbach führte. Irene war sofort tot.  

Kapitel 1 

Die große, schlanke Frau mit dem platinblonden Kurzhaarschnitt ließ ihren Blick über das weitläufige Grundstück schweifen. Wohlgefällig betrachtete sie die Blumenrabatten und die Anordnung der Büsche und Bäume. Eigens für den fünfzigsten Geburtstag ihres Mannes hatte sie den Garten neu gestalten lassen.  

Mit Grauen erinnerte sie sich an den Sturm im Juni, der das Grundstück verwüstet und ausgerissene Büsche, umgefallene Bäume, zerbrochene Blumenkübel sowie zertrümmerte Gartenmöbel zurückgelassen hatte.  

Die Neugestaltung war ihr gelungen. Nicht nur die Gartenanlage war beeindruckend, auch das Rahmenprogramm und das Catering – das Buffet war voller Köstlichkeiten – ließen nichts zu wünschen übrig. Ein besonderes Highlight war der Champagnerbrunnen auf der weitläufigen Terrasse. So etwas hatten die Traiser vermutlich noch nicht gesehen. 

In diesem Moment brachten die Jagdhornbläser ihrem Jagdgenossen, Erwin Thorwald, ein Geburtstagsständchen.  

Susanne lächelte. Das hatte sie mal wieder perfekt hinbekommen. Im Organisieren war sie nicht zu übertreffen. Sie war sich sicher, dass die zahlreichen, honorigen Gäste von der Geburtstagsparty ihres Mannes mehr als beeindruckt waren.  

Für ein paar Sekunden hefteten sich ihre Augen auf die beiden Rundtürme der mittelalterlichen Burganlage, die sie von ihrer Terrasse aus über den Baumwipfeln sehen konnte. Als sie das erste Mal hierhergekommen war, hatte sie sich sofort in diesen Anblick verliebt. Wann immer sie Trost suchte oder nachdenken musste, kam sie an diese Stelle und betrachtete das Bild, das sich ihr bot. 

Sie schaute über die Gästeschar und suchte ihren Mann. Ihr Blick blieb schließlich an der jeweils breiten Statur ihres Ehemannes und seines nicht minder schwergewichtigen Schwagers hängen. Die beiden Männer standen auf dem unteren Rasenstück mit einem Glas Champagner in der Hand und unterhielten sich angeregt. Was die zwei wohl schon wieder zu besprechen hatten? 

Sie war nun seit fünf Jahren mit Erwin verheiratet. Für sie war es die erste Ehe, für Erwin, der seine Frau Irene auf tragische Weise verloren hatte, bereits die zweite. Mit seinen Kindern Konrad und Konstanze, die beide studierten, verstand sie sich bestens.  

Eigentlich hatte sie keinen Grund zu klagen. Ihr ging es gut. Sie war in das wunderschöne Haus in den kleinen, beschaulichen Münzenberger Stadtteil Trais gezogen, hatte sich schnell eingelebt und Freunde gefunden. Die Traiser waren ein aufgeschlossenes und sehr feierfreudiges und liebenswertes Völkchen. Man hatte ihr die Eingewöhnung leicht gemacht und sie herzlich aufgenommen. Sie unterstützte ihren Mann in der Geschäftsführung seiner in Lich ansässigen Firma, in der auch viele Münzenberger Bürgerinnen und Bürger arbeiteten. Dennoch vermisste sie etwas. Etwas, das unter Eheleuten ganz normal sein sollte und das sie doch nicht von ihrem Mann bekam. Dieses gewisse Etwas musste sie sich bei Olaf, dem Fahrer ihres Mannes, holen. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt und machte das Beste aus der Situation. Denn eines wollte sie ganz gewiss nicht: wieder dorthin zurückkehren, woher sie gekommen war. 

Susanne ärgerte sich darüber, dass ihr Mann eine Unterhaltung führte, während man ihm ein Ständchen brachte. Das war ungehörig und respektlos gegenüber seinen Jagdgenossen. 

In diesem Moment trat Olaf an ihre Seite und lenkte sie von ihren Gedanken ab. „Hallo, meine Schöne“, hauchte der Hüne mit dem polierten Glatzkopf so leise, dass ihn niemand hören konnte. Begierig ließ er seinen Blick von Susannes flachem Busen bis hin zu ihrem Schoß gleiten. Bei diesem Anblick wurde ihm ganz heiß.  

„Lass das! Du sollst mich nicht in der Gegenwart anderer ansprechen“, raunzte sie den Mann an. „Wir sehen uns später.“ Den lüsternen Blick ihres Liebhabers ignorierend, fauchte sie: „Geh jetzt!“ 

„Bis dann!“ Olaf entfernte sich. 

„Hörst du, was die für dich spielen?“, fragte Fred Breitwieser seinen Schwager Erwin Thorwald, den Inhaber der Firma Thorwald, Metzgereibedarf, aus Lich.  

„Was meinst du?“ Irritiert sah Erwin Fred an, den er in seiner Firma als Vertriebsleiter beschäftigte. 

„Na, die spielen ‚Die Sau ist tot‘. Ist das nicht witzig?“ Fred amüsierte sich köstlich über die Doppeldeutigkeit des Ständchens. 

„Sei vorsichtig, mein Lieber“, zischte Thorwald, wohl wissend, dass Fred manchmal den gebührenden Respekt ihm gegenüber vermissen ließ.  

„War ja nicht böse gemeint“, versuchte Fred den Exmann seiner verstorbenen Schwester zu besänftigen. Er wollte auf keinen Fall Ärger mit ihm haben, denn er wusste, was es bedeutete, wenn man mit Thorwald aneinandergeriet.  

„Schon gut, was stört es eine alte deutsche Eiche, wenn sich eine Wildsau an ihr reibt“, gab Erwin bissig zurück. Was bildete sich dieser aufgeblasene Kerl eigentlich ein? Alles, was sein Schwager Fred war, hatte er ihm, Erwin Thorwald, zu verdanken. Er war es gewesen, der den Bruder seiner ersten Frau in seiner Firma aufgenommen hatte, nachdem der einen betrügerischen Bankrott in seiner Butzbacher Firma eingeleitet und damit mehrere Hundert Menschen arbeitslos gemacht hatte.  

„He, krieg dich wieder ein. War doch nicht so gemeint. Außerdem habe ich noch ein schönes Geburtstagsgeschenk für dich.“  

Ein verschwörerischer Unterton in Breitwiesers Stimme ließ Thorwald aufhorchen. 

„Ich hätte da etwas ganz Besonderes für dich.“  

Erwin wusste genau, was Fred meinte. Dem ehrenwerten Thorwald lief bei dem Gehörten das Wasser im Mund zusammen. Er schwieg eine Weile und blickte über die Gästeschar im Garten hinweg. Seine glänzenden Augen blieben an den Türmen im Hintergrund hängen. 

„Was ist, gefällt dir mein Geschenk nicht?“, fragte Fred, irritiert über die lange Pause.  

„Was soll der Spaß kosten?“, knurrte Thorwald. 

„Mit zehntausend Euro bist du dabei. Alles andere ist Verhandlungssache.“ 

„Zehntausend Euro? Bist du des Wahnsinns?“ 

„Du weißt genau, dass diese Ware sehr rar ist in unserer Gegend. Außerdem kannst du es dir doch leisten.“ 

„Was ich mir leisten kann oder nicht, geht dich gar nichts an“, gab Thorwald barsch zurück. „Woher kommt die Ware?“ 

„Der Hagere hat sie mir angeboten. Er hat mal für dich gearbeitet, bis er krank geworden ist.“ 

„Du meinst doch nicht etwa dieses Arschloch, das monatelang krank gespielt und sich dann noch mit einer fetten Abfindung aus dem Staub gemacht hat?“ 

„Genau den.“ 

„Du bist verrückt!“ Thorwald war sprachlos über so viel Dreistigkeit. „Der müsste mir die Ware auf dem Goldteller präsentieren, so, wie der mich ausgenommen hat. Ich kam mir vor wie ’ne Weihnachtsgans.“ 

„Überleg dir das Angebot.“ Mit diesen Worten ließ Fred seinen Schwager stehen und gesellte sich zu seinen Kollegen, die in unmittelbarer Nähe an einem Bistrotisch standen und ein kühles Licher Pils tranken. Fred Breitwieser war davon überzeugt, dass Erwin den Köder geschluckt hatte.  

Juliane Landmann, die Redakteurin der hiesigen Presse, saß auf der Terrasse von Erwin Thorwalds wunderschönem Anwesen in Trais und beobachtete das Geschehen. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel und unterstrich die Atmosphäre aus Geld, Macht und Ansehen des Jubilars auf eine angenehme Art.  

Normalerweise fühlte sie sich unwohl auf solchen Partys. Ihr ging das Getue der Schickeria mit ihren Umarmungen und Küsschen links und rechts auf die Nerven. Auf diesem Fest begegnete ihr jedoch eine seltsame Mischung aus stinknormalen Bürgern, Mitarbeitern des Jubilars und den oberen Zehntausend aus der Umgebung – Menschen, die zu einem solchen Geburtstag eingeladen werden mussten. Neben den vielen Freunden aus Trais waren der Landrat und der Bürgermeister gekommen, ebenso Vorstände von Banken, der Industrie- und Handelskammer und, nicht zu vergessen, die Kreislandwirte aus den umliegenden Kreisen. Auch der Pfarrer war unter den Gästen. Sogar der Landtagspräsident hatte es sich nicht nehmen lassen, das Geburtstagskind mit seiner Anwesenheit zu beglücken und ihm im Namen der Partei Glück- und Segenswünsche zu überbringen.  

Bei den Reden zu runden Geburtstagen, Jubiläen und Beerdigungen wurde immer am meisten gelogen, dachte Juliane. Doch was sie zu Beginn der Feierlichkeiten über Erwin Thorwald gehört hatte, stimmte mit dem überein, was sie im Vorfeld im Rahmen ihrer Tätigkeit als Lokalreporterin recherchiert hatte.  

Erwin Thorwald hatte als junger Mann die marode Firma für Metzgereibedarf in Lich von seinem Onkel geerbt und diese innerhalb kürzester Zeit zu einem florierenden Unternehmen aufgebaut. Er hatte vielen Menschen aus der Region Arbeit gegeben. Auch denen, die sonst auf dem Arbeitsmarkt keine Stelle mehr fanden, gab er eine Chance. Er war ein großzügiger Mensch, unterstützte seine Heimatgemeinde mit Geldspenden und ging regelmäßig zur Kirche. Er blieb keiner Feier fern und benahm sich trotz seines Reichtums ganz normal. Erwin war beliebt bei den Traisern. Man schätzte seine Meinung und holte sich gern Rat bei ihm. Seine Tür stand für jedermann offen.  

Juliane erinnerte sich, dass seine erste Frau vor einigen Jahren an den Folgen eines schweren Autounfalls gestorben war und Erwin Thorwald mit zwei halbwüchsigen Kindern zurückgelassen hatte. Es war nie bis ins Detail geklärt worden, wie es zu dem tragischen Unfall an der Autobahnbrücke auf der B 488 zwischen Butzbach und Griedel hatte kommen können. An dem Auto von Irene Thorwald waren selbst nach eingehender Untersuchung durch die Polizei keinerlei Schäden festgestellt worden, die das Geschehen hätten verursacht haben können. Auch ein anderes Fahrzeug war nicht an dem Unfallhergang beteiligt gewesen. Man hatte damals gemunkelt, dass Irene mit Absicht gegen den Brückenpfeiler gefahren sei, um sich das Leben zu nehmen. Doch niemand konnte sich erklären, warum die gut aussehende Mutter von zwei kleinen Kindern und geliebte Ehefrau von Erwin Thorwald sich das Leben hätte nehmen wollen.  

Nach monatelangen Spekulationen waren die Stimmen schließlich verstummt und man hatte die Tote in Frieden ruhen lassen. Auch um Konstanze, die Tochter des Paares, die den Unfall unbeschadet überlebt hatte, zu schonen. 

Erwin hatte sich nach dem Tod seiner Frau liebevoll um seine beiden Kinder gekümmert. Nach zwei Jahren hatte er die kaufmännische Leiterin seiner Firma, Susanne Schuhmann-Beck geheiratet – eine tüchtige Person. Die zehn Jahre jüngere Frau aus dem Osten mit dem Doppelnamen war das genaue Gegenteil von Irene: groß und dünn, mit einem flachen Hintern und einer Handvoll Busen. Ihre platinblonden Haare trug sie kurz geschnitten wie ein Junge, was das freche Aussehen unterstrich, das ihr die Lücke zwischen den zwei vorderen oberen Schneidezähnen verlieh.  

Auf den ersten Blick schien die Frau streng und unnahbar zu sein. Die Mitarbeiter behandelten sie mit großem Respekt. Doch in Wirklichkeit war Susanne Thorwald, die nach der Eheschließung ihren Doppelnamen gegen den Familiennamen ihres Mannes eingetauscht hatte, eine liebevolle und gutmütige Frau, die sich rührend um die zwei Halbwaisen Konrad und Konstanze kümmerte.  

Susanne liebte Kinder, konnte aber selbst keine bekommen. Deshalb war sie dem Schicksal dankbar, dass sie über Umwege doch noch zur „Mutter“ geworden war. Sie liebte ihre Stiefkinder und umsorgte sie, als wären es ihre eigenen. 

Juliane hatte schon mehrfach mit Susanne Thorwald zu tun gehabt und pflegte nach der anfänglichen Abneigung gegen die Frau einen freundschaftlichen Umgang mit ihr. So war sie auch von ihr zu der Geburtstagsparty eingeladen und gebeten worden, etwas über Erwin Thorwald zu schreiben.  

Juliane wurde in ihren Gedanken unterbrochen, als der Traiser Ortsvorsteher sie ansprach: „Hallo, Juliane, was machst du hier so allein?“  

Juliane blickte in das freundliche Gesicht des heimlichen Bürgermeisters von Trais. Sie kannte den engagierten Kommunalpolitiker seit ihrer Jugendzeit, in der sie oft zu Partys hierhergekommen war, und erinnerte sich gern an die ausgelassene Fröhlichkeit, mit der sie in den siebziger Jahren zu der Musik von den Bee Gees getanzt hatten. 

„Hallo, Herr Ortsvorsteher!“, neckte Juliane ihren Jugendfreund Martin Gruber. „Ich habe gerade etwas vor mich hingeträumt.“ 

„Das gibt es heute nicht“, erwiderte er schmunzelnd. „Komm, lass uns tanzen. Ich habe schon die passende Musik bestellt.“ 

„Du, später gern. Aber lass mich noch ein Weilchen hier sitzen. Ich genieße gerade die schöne Atmosphäre und mache mir so meine Gedanken über den Artikel, den ich schreiben soll.“ 

Bevor Martin etwas erwidern konnte, betrat Konstanze Thorwald, die Tochter des Hauses, die Terrasse. Trotz des warmen Wetters trug sie zu ihren weiten Leinenhosen eine Bluse mit langen Ärmeln. Für eine junge Frau war sie auffallend unmodisch gekleidet. Ihre langen braunen Haare trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihrem ungeschminkten Gesicht ein strenges Aussehen verlieh. Im Grunde war Konstanze recht hübsch, doch man konnte den Eindruck gewinnen, dass sie genau das vor ihren Mitmenschen verbergen wollte.  

Susanne eilte auf ihre Stieftochter zu und begrüßte sie mit einer innigen Umarmung, die von der jungen Frau ebenso herzlich erwidert wurde. 

„Hallo, mein Schatz. Wie war die Fahrt? Hast du Hunger? Willst du was Kühles trinken? Oder möchtest du erst deinem Vater gratulieren?“  

Auch Erwin Thorwald hatte seine Tochter entdeckt und kam mit großen Schritten auf die Terrasse. „Hallo, Konstanze. Da bist du ja! Ich dachte schon, du wolltest deinen alten Vater an seinem Geburtstag versetzen.“ 

Konstanze blieb auf Abstand, streckte ihm aber die Hand zum Gruß entgegen. Auffallend kühl gratulierte sie ihrem Vater zum Geburtstag, die guten Wünsche für sein weiteres Leben blieben aus. 

Interessiert beobachtete Juliane die Szene. Die ablehnende Haltung Konstanze Thorwalds war dem Anlass nicht angemessen, die Abneigung der jungen Frau gegenüber dem Vater deutlich zu spüren.  

Der Jubilar ignorierte das Verhalten seiner Tochter. „Du bist sicherlich müde von der langen Fahrt, mein Kind. Komm erst mal richtig an. Wir reden dann später.“ Mit diesen Worten drehte er sich um, verließ die Terrasse und gesellte sich zu einem Gast des Wetteraukreises. 

Wenige Sekunden später betrat ein junger Mann die Terrasse. Ohne ihn zu kennen, wusste Juliane, dass es sich bei dem neuen Gast um Konrad Thorwald handeln musste – Konstanzes Bruder. Er sah aus wie die jüngere Ausgabe seines Vaters: groß, etwas mollig, mit einem runden Gesicht, dem ein Schnurbart das Aussehen von „Onkel Otto“ verlieh, dem Liebling mehrerer Generationen junger Fernsehzuschauer des Hessischen Rundfunks.  

Auch Susanne und Konstanze hatten Konrad entdeckt.  

Beim Anblick ihres Bruders nahm Konstanzes Gesicht eine ungewöhnliche Blässe an, es wirkte wie zu einer starren Maske eingefroren. 

„Hallo, Schwesterherz, schön, dich zu sehen.“ Konrad war im Begriff, seine Schwester in die Arme zu schließen. Doch die beugte zögernd den Oberkörper vor und ließ sich ganz offensichtlich nur widerwillig umarmen. Konrad blickte sie erstaunt an, so als könne er sich ihre Reaktion nicht erklären. 

„Seit wann hast du denn diesen fürchterlichen Schnurrbart? Mach den weg. Ich will das nicht!“, warf die junge Frau ihrem Bruder an den Kopf. Dann hastete sie durch die offene Terrassentür in das Innere des Hauses und ließ Susanne und Konrad, die sich verwundert ansahen, zurück. 

„Komm, Konrad, ich stelle dir eine paar wichtige Leute vor.“ Susanne versuchte, von der peinlichen Situation abzulenken, indem sie ihn mit sich zog und geschickt das Thema wechselte. Eine Bemerkung lag ihr aber auf der Zunge: „Weißt du, dass du mit dem Schnurrbart aussiehst wie dein Vater in jungen Jahren? – Steht dir gut!“ Sie sah ihn prüfend an. „Ich verstehe gar nicht, was Konstanze hat.“ 

Juliane und Martin sahen sich verwundert an. 

„Hier scheint etwas nicht in Ordnung zu sein“, äußerte sich Martin. „So habe ich die noch nie zusammen erlebt.“ 

„Mir ist die Lust aufs Tanzen vergangen. Sei nicht böse, Martin, aber ich gehe jetzt besser.“ Juliane verabschiedete sich von ihren Gastgebern mit dem Versprechen, einen schönen Artikel über Erwin Thorwald zu schreiben.  

Während sie über Münzenberg nach Gambach fuhr, um sich im Biergarten der Bürgerhausgaststätte mit ihrem Mann Walter auf ein Kristallweizen zu treffen, ging ihr die Szene, die sich ihr auf der Terrasse der Familie Thorwald geboten hatte, nicht aus dem Sinn. Tage später würde etwas geschehen, das Juliane an den Vorfall erinnern und ihr die Augen über den hoch angesehenen Erwin Thorwald öffnen würde. 

Es war spät am Abend. Susanne Thorwald schloss die Terrassentüren, ging ins Schlafzimmer und legte sich zu ihrem Mann ins Bett.  

„Vielen Dank für das tolle Fest“, sagte dieser. „Du bist wirklich eine Meisterin der Organisation. Davon werden noch Generationen sprechen.“ Er beugte sich zu ihr herüber, drückte ihr einen Kuss auf den Mund und murmelte: „Schlaf gut und träum was Schönes.“ 

So endete seit drei Jahren jeder Abend. Erwin war nie ein guter Liebhaber gewesen, aber am Anfang ihrer Ehe hatten sie zumindest regelmäßig miteinander geschlafen. Ganz plötzlich jedoch schien er das Interesse an ihr verloren zu haben. Ohne eine Erklärung hatte er sich von ihr abgewandt. Immer wieder hatte sie vorsichtig versucht, die Sprache auf sein sonderbares Verhalten zu bringen, aber ohne Erfolg.  

Erwin benahm sich ihr gegenüber stets anständig. In der Firma arbeiteten sie sehr erfolgreich zusammen. Er lobte sie und brachte ihr abwechselnd Blumen und kleine Geschenke von seinen Reisen mit. Zudem war er ein liebevoller und verständnisvoller Vater, der seine Kinder bei ihren Vorhaben unterstützte. So weit war alles in Ordnung – bis auf die Tatsache, dass er sie körperlich nicht mehr begehrte. Ob er krank war oder gar impotent? Er hätte doch mit ihr darüber reden können. 

Und was hatte Konstanzes merkwürdiges Verhalten zu bedeuten? Ihre plötzliche Abneigung gegenüber ihrem Vater und die sonderbare Reaktion auf das veränderte Aussehen ihres Bruders konnte sich Susanne nicht erklären. Konrad und Konstanze waren immer ein Herz und eine Seele gewesen, was sollte also ein Schnurrbart, der vorher nicht da gewesen war, daran ändern?  

Mit einem Seufzer drehte sich Susanne auf die Seite und versuchte zu schlafen. 

Kapitel 2 

Julianes Woche begann mit zwei Ereignissen, die ihr Leben entscheidend beeinflussen sollten.  

Am Montagmorgen war sie wie jeden Morgen mit ihrer besten Freundin Amelie Werner zum Walken verabredet. Ihre Appenzeller Sennenhündin begleitete sie. Sie konnten nun wieder den gewohnten Weg durch das Feld nehmen. Die Brücke über den Mühlengraben in Ober-Hörgern hatte nach dem Sturm im Juni nicht saniert werden können und war abgerissen worden. Eine Behelfsbrücke ermöglichte nun den Fußgängern das Überqueren des Mühlengrabens. So folgten die beiden Freundinnen der Hündin Amiga über die steinerne Brücke durch das Feld nach Ober-Hörgern, durchquerten den kleinsten Stadtteil von Münzenberg und gingen am Wasserhäuschen vorbei zurück ins Brückfeld nach Gambach. Auf dem Weg tauschten die Freundinnen Neuigkeiten und Wissenswertes aus. 

„Wie war es denn gestern auf Thorwalds Party?“, wollte Amelie wissen. Sie war ein sehr neugieriger Mensch, was Juliane jedoch gewöhnlich nicht störte. Nur wenn ihr die Fragerei der Freundin zu viel wurde, bremste Juliane sie aus. 

„Ach, eigentlich ganz nett. Die Traiser haben die Party recht gut aufgemischt.“ 

„Und was gab es zu essen?“ 

„Nur vom Feinsten: Kaviar, Champagner und solche Sachen halt.“ 

„Wie ist es denn bei denen zu Hause?“ Amelie ließ nicht locker. 

„Schön. Großes Grundstück, parkähnliche Anlage mit Blick auf die Türme, geschmackvolle Einrichtung …“ 

„Mensch, Juliane, jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“  

Juliane kam das seltsame Ereignis auf der Terrasse in den Sinn. Aber davon wollte sie ihrer Freundin nichts erzählen. Vielleicht hatte es ja gar nichts zu bedeuten und sie bildete sich nur ein, dass da etwas nicht normal gewesen war. 

„Wer war denn alles da?“, bohrte Amelie weiter. 

„Na ja, die üblichen Leute halt. Der Bürgermeister, der Landrat, sogar der Landtagspräsident, und dann Geschäftsleute, die ich nicht kenne, und jede Menge Traiser. – Der Thorwald scheint bei den Partisanen recht beliebt zu sein“, setzte Juliane noch einen drauf. 

„Wieso werden die Traiser eigentlich als Partisanen bezeichnet?“, fragte Amelie. 

„Keine Ahnung, wer denen den Namen verpasst hat.“ Juliane hatte genug erzählt. „Und was hast du Neues zu berichten?“, versuchte sie die Freundin abzulenken. 

„Stell dir vor, ich habe vielleicht eine Mieterin für die Mühle!“  

Damit meinte Amelie die alte Mühle in Ober-Hörgern, die bis vor Kurzem noch von der Familie Wetz bewohnt worden war und an der sie morgens beim Walken vorbeikamen. Im Juni hatte sich der einzige Sohn des Ehepaar Wetz, Sebastian, vom Ostturm der Burg Münzenberg in den Tod gestürzt. Seitdem stand die Mühle leer. 

Amelie war Immobilienmaklerin. Der Besitzer der Mühle, Manfred Wetz, von allen Mani genannt, hatte Amelie gebeten, das Gebäude samt Inventar zu vermieten. Er und seine Frau waren nach dem dramatischen Tod ihres Sohnes weggezogen.  

„Is ja ’n Ding. Wer will denn das alte Gemäuer mieten?“ 

„Die Mühle ist zwar alt, aber gut in Schuss. Und sie steht voller wunderschöner alter Schränke und Truhen. Das Zeug ist ein Vermögen wert. Aber Mani will das Zeug nicht haben, und seine Frau kann eh nichts mehr damit anfangen.“ 

„Und wer, bitte schön, hat nun die Absicht, die Mühle zu mieten?“ 

„So ’ne Tussi aus Frankfurt. Hat sich von ihrem Alten getrennt. Frag mich, was die hier will. Die passt gar nicht hierher.“ 

„Wieso denn nicht? Ist das ’ne Schickimickitussi?“ 

„Nee, nicht wirklich. Aber die ist zickig bis zum Abwinken und irgendwie nervig. Sie hat ein ganz schön loses Mundwerk, nimmt kein Blatt vorn Mund. Also, mir liegt die nicht.“ 

„Na, daran ist Bernhard ja gewöhnt.“  

Bernhard Weghaus war der Nachbar der Familie Wetz. Seine Frau Annedore war ebenfalls auf tragische Weise ums Leben gekommen, und vermutlich hatte Sebastian Wetz etwas mit dem Tod seiner Nachbarin zu tun gehabt.  

„Da hast du recht. Annedore war ja auch so ’ne Zicke. Hast du eigentlich noch mal was von den Kommissaren gehört?“ 

„Nee, von denen haben ich schon länger nichts mehr gehört.“ 

„Die ganze Sache ist noch keine zwei Monate her und kein Mensch interessiert sich mehr dafür.“ 

Die beiden Frauen dachten an die schrecklichen Ereignisse im Juni dieses Jahres. Damals war der sechzehnjährige Benjamin Dreiseitel aus Münzenberg über Nacht verschwunden, und er war bis heute nicht wieder aufgetaucht.  

„Ist der Mietvertrag denn schon in trockenen Tüchern?“ Juliane nahm den Faden wieder auf. 

„So gut wie. Die Frau will von Freitag bis Montag dort wohnen, um zu testen, wie es ihr in dem Haus gefällt.“ 

„Und das ist einfach so möglich?“ 

„Na klar. Was glaubst du, was wir alles für unsere Kunden tun, um unsere Objekte loszuwerden.“ 

„Ist ja irre. Kann ich da auch mal drin wohnen?“ 

„Wenn du ernsthaft vorhast, die Mühle zu mieten, schon.“ 

„Nee, lass mal, ich bin mit meinem Haus ganz zufrieden. Nachdem nun alle Spuren des Sturmes beseitigt sind, will ich da gar nicht mehr weg.“ 

Den Rest ihres Weges schwiegen die Freundinnen. Juliane musste an die Kommissarin, Cosima von Mittelstedt, denken, die sie während der Ermittlungen im Zusammenhang mit den mysteriösen Todesfällen kennengelernt hatte.  

Cosima hatte sich in die alte Mühle und den Blick auf die Burg, den man von dort aus hatte, verliebt. Sie hatte Juliane gegenüber erwähnt, dass sie gern in Ober-Hörgern wohnen würde und sich überlege, ob sie nicht langfristig in den kleinen Ort an der Wetter umziehen solle. 

Pünktlich um 9.00 Uhr tauchte Juliane in der Redaktion auf. Ihr Schreibtisch war beladen mit Bergen von Papier. Die Post und Faxe vom Wochenende landeten grundsätzlich bei ihr. Dabei hatte sie sich für heute den Bericht über den fünfzigsten Geburtstag von Erwin Thorwald vorgenommen – der musste schnellstmöglich raus. Ihr Chef würde ihr den Kopf abreißen, wenn sie den Artikel nicht bis um 14.00 Uhr druckreif abgeliefert hatte. Wo war der überhaupt, wunderte sich Juliane. Normalerweise kam er fünf Minuten nach ihrem Eintreffen in ihr Büro und nahm hinter ihrem Stuhl Aufstellung, um ihr irgendwelche Anweisungen zu geben, die sie sowieso nicht befolgte.  

Als sich die Tür zu ihrem Büro schließlich öffnete und der Buchhalter erschien, wusste Juliane, dass irgendetwas passiert sein musste. Ullrich Hampel, das Faktotum der Zeitung, verirrte sich nur selten in die Redaktionsräume, und wenn er doch mal auftauchte, dann war klar, dass es ungeheuer wichtig sein musste. 

„Guten Morgen, Juliane. Ich habe leider schlechte Nachrichten.“ 

Juliane hatte nicht die geringste Lust auf schlechte Nachrichten, dennoch antwortete sie höflich: „Guten Morgen, Ulli. Was gibt es denn?“ 

„Der Chef hatte heute Nacht einen Schlaganfall. Er wird für längere Zeit ausfallen.“ 

„Oh, das tut mir leid. Wer wird denn jetzt seinen Job machen?“, wollte Juliane wissen. Normalerweise gehörte es sich in einer solchen Situation, sich nach dem Befinden des Erkrankten zu erkundigen, doch das war in der Redaktion nicht üblich. Sie hätte sowieso keine Antwort darauf erhalten. 

„Der Neffe vom Chef, Heinz-Willi, wird für eine Weile aushelfen. Er ist schon unterwegs und muss jede Minute eintreffen.“ 

Kapitel 3 

Konstanze Thorwald betrat das Esszimmer der Villa und ließ sich ohne einen Gruß am gedeckten Tisch nieder. Sie hatte schlecht geschlafen und war noch ziemlich müde. 

„Guten Morgen, Konstanze“, begrüßte Susanne Thorwald ihre Stieftochter freundlich. „Hast du gut geschlafen?“  

Die Frage war überflüssig. Die dunklen Ringe um die sonst so hübschen Augen der jungen Frau wiesen darauf hin, dass sie nicht sehr lange geschlafen haben konnte. 

„Geht es dir nicht gut, mein Schatz?“ Die Sorge in Susannes Stimme war echt. Sie mochte ihre Stieftochter sehr. Sie hatte Konstanze, als sie sie als zwölfjähriges Mädchen kennengelernt hatte, sofort in ihr Herz geschlossen. Und umgekehrt war es genauso gewesen. Konstanze hatte Susanne von Anfang an gemocht und sie gleich als ihre Stiefmutter akzeptiert. Die letzten Jahre hatten sie wie Mutter und Tochter miteinander verbracht. Susanne hatte Schulaufgaben mit dem Mädchen gemacht, Vokabeln abgehört oder Mathe geübt. Sie hatte Konstanze zum Voltigieren in die Reithalle nach Münzenberg begleitet oder mit ihr ausgiebige Radtouren durch das Wettertal unternommen. Konstanze konnte stets mit allen Fragen zu ihr kommen. Während der Pubertät hatte ihr Susanne mit viel Nachsicht und Geduld über die kleinen und großen Wehwehchen hinweggeholfen. Selbst wenn ihr Vater in der Nähe war, bevorzugte das Mädchen die Nähe der Stiefmutter.  

Seit einem dreiviertel Jahr studierte Konstanze in Dresden und kam nicht mehr so oft nach Hause, aber sie telefonierten mindestens zweimal pro Woche ausgiebig miteinander. Susanne konnte sich Konstanzes merkwürdiges Benehmen auf der Geburtstagsfeier ihres Vaters nicht erklären. „Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?“ 

In diesem Moment kam Erwin Thorwald ins Esszimmer. Er gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange. Als er sich zu seiner Tochter hinabbeugte, um ihr einen Kuss aufs Haar zu drücken, wich Konstanze zurück.  

„Sag mal, was ist denn mit dir los?“ Erwin wunderte sich über die ablehnende Haltung seiner Tochter. Sie war gestern schon so merkwürdig gewesen und hatte sich nach ihrem plötzlichen Abgang nicht mehr sehen lassen. Dabei hatten alle nach ihr gefragt, wollten mit ihr sprechen, um zu erfahren, wie es ihr in Dresden erging. 

Erwin setzte sich an seinen Platz am Esstisch und nahm die F.A.Z. zur Hand. Weiber, dachte er nur.  

Konstanze stierte vor sich hin. Das Frühstück rührte sie nicht an. In Gedanken versunken begann sie sich an den Unterarmen zu kratzen, so als hätte etwas sie gestochen. Der rechte Ärmel ihres leichten Sommerpullis rutschte hoch und legte lange, rote Kratzspuren frei.  

Susanne erschrak, als sie Konstanzes Arm sah. Was hatte das zu bedeuten?  

Als Konstanze den Blick ihrer Stiefmutter bemerkte, zog sie den Ärmel wieder herunter und steckte die Arme unter den Tisch. Peinlich berührt sah sie Susanne an.  

Erwin bemerkte den Blickkontakt zwischen den beiden. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. „Wollt ihr zwei Hübschen heute nicht mal was gemeinsam unternehmen? Susanne, ich brauche dich nicht unbedingt in der Firma“, versuchte Erwin das Eis zu brechen. 

„Ja, das wäre toll!“, antwortete Susanne. „Was meinst du, Konstanze? Worauf hättest du Lust? Wollen wir ’ne Radtour nach Inheiden machen? Da müsste sowieso mal wieder jemand nach dem Rechten sehen.“  

Konstanze blickte auf und sah ihre Stiefmutter mit einem von Hass erfüllten Blick an. 

„Das halte ich für keine so gute Idee“, mischte sich Erwin ein und wandte sich an seine Frau: „Da muss zunächst einmal wieder richtig geputzt werden. Am besten, du schickst erst mal Gretel zum Aufräumen hin.“  

Gretel war die Haushälterin der Thorwalds, die schon seit Ewigkeiten das Haus in Ordnung hielt und der Familie treu zu Diensten war. 

Susanne kam nicht dazu, auf Erwins Einwand zu reagieren, denn in diesem Moment betrat Konrad das Esszimmer.  

„Hi, Fans!“, begrüßte er seine Familie. Noch im Schlafanzug nahm er neben seiner Schwester Platz und stieß ihr freundschaftlich in die Seite. 

„Lass das!“, herrschte sie ihn an. Wie von der Tarantel gestochen sprang Konstanze auf und verließ den Raum. 

„Was ist denn mit der los? Die war gestern schon so komisch?“ Konrad griff nach einem Brötchen und begann, ausgiebig zu frühstücken.  

Erwin sah seine Frau über die Zeitung hinweg stirnrunzelnd an und bedeutete ihr, Konstanze zu folgen. 

Susanne klopfte an Konstanzes Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, betrat sie das geräumige, helle, mit großen Terrassentüren versehene Zimmer. Sie stutzte, als sie das Chaos sah. Schubladen und Schranktüren waren aufgerissen. Überall lagen Kleidungsstücke und Schuhe herum. Diese Unordnung passte so gar nicht zu ihrer Stieftochter.  

Konstanze war damit beschäftigt, Hosen und Pullover zusammenzuraffen und sie in den auf dem Bett liegenden Koffer zu werfen. Susanne verstand die Welt nicht mehr. Das Kind war doch gerade erst angekommen! Warum wollte sie denn nun schon wieder weg? 

„Konstanze, was ist bloß los? Warum packst du?“ 

„Ich fahre wieder nach Dresden. Ich halte es hier nicht mehr aus.“ 

„Aber Kind, so kenne ich dich gar nicht. Ist irgendwas passiert? Hat dir jemand was getan?“ 

Auch jetzt blieb Konstanze Susanne eine Antwort schuldig. Sie ignorierte ihre Stiefmutter und packte weiter.  

„Bitte sprich mit mir. Sag mir doch, was los ist! Du weißt, du kannst mit allem zu mir kommen.“ 

Konstanze klappte den Koffer zu und verschloss ihn. Mit Koffer, Handtasche und Arbeitsmappe bepackt verließ sie das Zimmer. 

„Das willst du gar nicht wissen!“, schrie sie ihrer Stiefmutter im Hinausgehen entgegen. Türen knallend verließ sie das Haus.  

Wenige Sekunden später hörte Susanne, wie Konstanze mit quietschenden Reifen vom Grundstück fuhr. 

Kapitel 4 

Die schwere Mercedes Limousine hielt in der Auffahrt vor der Thorwald-Villa. Das Radio spielte die neuesten Hits. Olaf stieg aus und öffnete seinem Chef die hintere rechte Tür zum Einsteigen. Erwin ließ sich auf den bequemen Polstern im Fond des Wagens nieder, winkte seiner Frau kurz zu und nahm sein iPhone zur Hand. Dass auch sein Fahrer seiner Frau verstohlen zuwinkte, bemerkte er nicht.  

Während der Wagen aus Trais kommend in Richtung Muschenheim fuhr, drückte Erwin eine der Kurzwahltasten. 

„Breitwieser“, meldete sich sein Schwager Sekunden später. „Guten Morgen, Erwin, was gibt es?“ 

„Ich bin auf dem Weg in die Firma. Komm bitte in einer halben Stunde in mein Büro.“ Ohne abzuwarten, ob es seinem Gesprächspartner in den Zeitplan passte, drückte Erwin Thorwald die Austaste und widmete sich dem Betrachten der idyllischen Landschaft entlang der Wetter. 

Olaf beobachtete seinen Chef im Rückspiegel. Normalerweise telefonierte der oder drückte auf dem iPhone herum, um die ersten Kontakte des Tages herzustellen. Ganz gegen seine Gewohnheit schaute er heute aus dem Fenster. Sein Gesicht zierte ein breites Grinsen. 

„Chef, soll ich die Musik leiser machen?“  

„Nein, nein, lassen Sie nur.“ Normalerweise mochte Erwin diese moderne Musik nicht, doch heute lenkte sie ihn von seinen Gedanken ab.  

Die Musik wurde plötzlich für eine wichtige Verkehrsmeldung unterbrochen. 

„Aufgrund eines schweren Verkehrsunfalls an der Auffahrt Münzenberg in Richtung Gießen muss die A 45 zwischen Münzenberg und dem Gambacher Kreuz voll gesperrt werden. In wenigen Minuten landet der Rettungshubschrauber. Wir bitten die Verkehrsteilnehmer, die A 45 an der Abfahrt Wölfersheim zu verlassen. Die Umleitungsstrecke ist ausgeschildert.“  

Die Musik setzte wieder ein. 

„Na, da muss es ja wieder ganz schön gekracht haben“, meinte Olaf.  

Kapitel 5 

„Meine Königin!“ 

Oh Gott! Heinz-Willi Kuserow, der Neffe des Chefs, betrat Julianes Büro und kam auf sie zugeeilt. Ihm folgte der Buchhalter, Ullrich Hampel, mit betretenem Gesicht.  

Juliane war perplex über das plötzliche Auftauchen der beiden. Sie wollte sagen: „Hallo, Willi, hallo Ulli“, doch sie brachte nur ein kurzes „Hallo, Wulli“ heraus.  

Heinz-Willi war entzückt. Seine Königin hatte wirklich einen besonderen Humor. Er drückte Juliane an sich und küsste sie links und rechts auf die Wange.  

Juliane wäre am liebsten unter den Schreibtisch gekrochen. Warum musste Willi nur immer so theatralisch sein? „Eh, Willi, schön, dich zu sehen, auch wenn die Umstände nicht so angenehm sind. Wie geht es dir?“ 

„Wenn ich dich sehe, geht es mir gleich viel besser, meine Königin.“  

Sie kannte Willi seit ihrer Ausbildung bei einer namhaften Zeitung in Frankfurt. Durch ihn hatte sie auch diesen Job hier bekommen. Mit seiner Sonnenbrille auf dem kahlen Kopf und dem schrägen Outfit ähnelte Heinz-Willi eher einem Partylöwen als einem ernst zu nehmenden Journalisten. 

Heinz-Willi, kurz Willi genannt, hatte Juliane schon immer als seine Königin betitelt. „Du kommst aus einer Stadt mit einer Burg. Also bist du eine Königin – meine Königin!“, hatte er zu Juliane gesagt, als sie sich vor über zwanzig Jahren kennengelernt hatten. Auch wenn sie sich in den letzten Jahren nicht oft gesehen hatten, hatte er die Anrede nie abgelegt, was mitunter zu witzigen, aber auch peinlichen Situationen führte.  

Julianes Telefon klingelte. Man hatte die eingehenden Anrufe ihres Chefs auf ihren Apparat umgeleitet. 

„Landmann“, meldete sie sich kurz. 

„Moin, ist der Chef nicht da?“ 

„Guten Morgen, nein, leider nicht. Kann ich Ihnen weiterhelfen?“ 

„Hier ist die Autobahnpolizei. Auf der A 45 an der Auffahrt Münzenberg in Richtung Gießen gab es einen schweren Unfall mit einem Lkw und einem Cabriolet. In Kürze landet der Rettungshubschrauber. Kann einer von der Zeitung vorbeikommen und ein Bild machen?“ 

So ein Mist! Das war eigentlich die Aufgabe ihres Chefs. Zu Beginn ihrer Tätigkeit hatte Juliane mit ihm eine Abmachung getroffen, dass sie keine Verkehrsunfälle fotografieren müsse. 

„Okay, ich schicke jemanden vorbei.“  

Juliane beendete das Gespräch und wandte sich im gleichen Moment an die Vertretung ihres Chefs. 

„Willi, kannst du zur Auffahrt Münzenberg in Richtung Gießen fahren und ein paar Bilder schießen? Da ist was passiert.“ 

Kapitel 6 

Es klopfte an der Tür des feudalen Büros im Obergeschoss des Firmengebäudes in Lich. Erwin saß hinter seinem riesigen Schreibtisch und versuchte, sich auf den Inhalt der Akten, die vor ihm auf der Glasplatte lagen, zu konzentrieren. Hinter ihm an der Wand hing das Porträt seines Onkels, dem Gründer der Firma Thorwald, Metzgereibedarf. 

„Herein!“, rief er laut durch den großen Raum. 

„Du wolltest mich sprechen, Erwin.“ Ohne einen Gruß betrat Fred Breitwieser das Büro seines Schwagers und ging über den weichen Teppich auf Erwin zu. Eigentlich hätte er bereits auf dem Weg zu einem Kundengespräch sein müssen, doch Erwin hatte ihm mit seinem knappen Anruf unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er keine Widerrede und keinen Aufschub des Treffens dulde.  

„Setz dich, Fred.“ Erwins Blick bohrte sich in das Gesicht seines Gegenübers. Es gehörte zu seiner Strategie, die Leute zu verunsichern. Bei Fred gelang ihm dies jedoch nur selten.  

„Warst du mit deiner Feier gestern zufrieden,Erwin?“ 

„Ja, war ganz nett. Susanne hat sich mal wieder selbst übertroffen.“ 

„Also, was willst du? Geht es um dein Geschenk?“ 

„Du hast es erfasst. Wann kann ich es mir ansehen?“ 

„Ich rede gleich nachher mit dem Hageren und mache einen Termin mit ihm aus. Wohin soll die Ware geliefert werden?“ 

„Nach Inheiden. Aber sag ihm gleich, er soll alles so lassen, wie es ist. Du weißt, was ich meine.“ 

„Was soll ich jetzt dem anderen Lieferanten sagen?“ 

„Dass ich seine Ware nicht mehr benötige.“ 

In seinem Büro griff Fred Breitwieser zum Telefon. Die Nummer, die er anrufen musste, hatte er nicht eingespeichert. Das war auch nicht nötig. Er hatte sie in den letzten drei Jahren so oft gewählt, um für Erwin die Ware anzufordern, dass er sie nachts um drei im Schlaf bei vierzig Grad Fieber hätte auswendig aufsagen können. 

„Hallo“, meldete sich zaghaft eine Frauenstimme. 

„Guten Morgen. Ist Ihr Mann zu sprechen?“  

Die Frau hätte am liebsten verneint, aber sie wusste, dass sie keine Chance hatte. Der Mann würde immer wieder anrufen. 

„Ja, einen Moment. Ich bringe das Telefon zu ihm.“  

Fred hörte die Schritte, das Öffnen der Terrassentür und Vogelstimmen aus dem Garten.  

„Der Mann ist dran“, hörte er die Stimme der Frau. 

„Was gibt es, Fred?“ 

„Wir müssen reden. Es gibt eine Änderung.“ 

„Was soll das heißen?“ 

„Nicht am Telefon. Ich komme in den nächsten Tagen mal auf ein Bier vorbei. Dann erkläre ich dir alles.“ 

„Wieso kommt Thorwald seit Monaten nicht mehr?“ 

„Geht nicht. Das musst du verstehen.“ 

„Ihr wollt mich wohl verarschen. Was ist mit meinem Geld?“ 

„Das kriegst du schon, nur keine Sorge. Außerdem brauche ich ja auch immer was.“  

Kapitel 7 

Fred setzte sich in seinen Firmenwagen und fuhr in Richtung Eberstadt zur A 45. Wegen Erwin würde er zu spät zu einem Kunden kommen. Hoffentlich war damit nicht das lukrative Geschäft geplatzt. Immerhin wollte der Kunde für seine Großschlachterei neue Maschinen bestellen. Da winkte eine schöne Provision. 

In der Höhe des Licher Golfplatzes kam ihm ein Krankenwagen mit Blaulicht und Martinshorn entgegen. Nichts Gutes ahnend fuhr Fred weiter. Schon von Weitem sah er die Blaulichter auf der Autobahn. Die Fahrzeuge vor ihm bremsten ab. In der Auffahrt Münzenberg auf die A 45 in Richtung Gießen stand ein Streifenwagen mit Blaulicht. Die Auffahrt war gesperrt.  

Plötzlich hörte er ein Dröhnen und Brummen. Gleich darauf sah er, wie sich ein Rettungshubschrauber in die Luft erhob und davonflog. 

Er musste weiter über die B 488 zur Anschlussstelle Butzbach, über die A 5 bis zum Gambacher Kreuz und von dort in Richtung Dortmund fahren. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er war sowieso schon knapp in der Zeit. Er schaltete das Radio ein. Vielleicht erfuhr er, was passiert war.  

Er kam nur langsam voran. Alle Fahrzeuge, die auf die Autobahn in Richtung Gießen oder Kassel auffahren wollten, mussten jetzt bis nach Butzbach fahren. Entsprechend voll war die Bundesstraße.  

An der Abfahrt links nach Münzenberg sah er ein schweres Motorrad. Er erkannte Susanne, seine Schwägerin, eine leidenschaftliche Motorradfahrerin, die ohne Helm und Jacke mit ihrer Rennmaschine unterwegs war. Sie bog links in Richtung Eberstadt ab. Musste sie heute denn nicht arbeiten? 

Susanne war gleich nach dem Anruf aus dem Haus gestürzt und hatte sich ohne Helm und Jacke auf ihre Maschine gesetzt. Mit dem Motorrad würde sie wahrscheinlich schneller vorankommen als mit ihrem Auto. Hoffentlich ließ man sie überhaupt zur Unfallstelle durch. Als sie gerade auf die Kreuzung in Richtung Eberstadt zufuhr, hörte sie ein ungewohntes Geräusch links neben sich. Während sie in die Richtung sah, aus der das Geräusch kam, nahm sie einen Rettungshubschrauber wahr, der soeben aufstieg. Wenig später flog er über ihren Kopf hinweg in Richtung Frankfurt davon. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten.  

Juliane musste ihr Auto in der Autobahnauffahrt stehen lassen und zu Fuß weitergehen. Die Kamera hing schwer an ihrem Hals. Ihr war heiß und unwohl. Das war ein Job, den sie nicht gern machte. Der Polizist hatte sie darauf hingewiesen, die Rettungskräfte nicht zu behindern und nur Bilder von den Fahrzeugen zu machen.  

Das Dröhnen eines Rettungshubschraubers ließ sie zusammenfahren. Der Wind, der durch die Rotorblätter verursacht wurde, wirbelte ihre Haare durcheinander. Auffliegender Staub flog ihr in die Augen, verstopfte ihre Nase und brachte sie augenblicklich zum Husten.  

Kaum war der Hubschrauber in Richtung Süden davongeflogen, nahm Juliane hinter sich das Knattern eines Motorrades wahr. Sie drehte sich um und sah eine blonde Frau wild gestikulierend mit dem Polizisten streiten. Kurz darauf wendete die Frau das Motorrad und fuhr in Richtung Lich davon. Am Ort des Geschehens erkannte sie Ottmar Mannhart, den Kreisbrandinspektor. Er schien alles unter Kontrolle zu haben. 

Susanne raste zum Krankenhaus in Lich. Direkt vor dem Eingang stellte sie ihr Motorrad ab und eilte zur Anmeldung. Die wartenden Patienten schob sie einfach mit der Erklärung zur Seite, dass es sich hier um einen Notfall handele. Niemand wagte ihr zu widersprechen, auch nicht die junge Frau hinter dem Tresen, die ihr bereitwillig Auskunft gab, wo man schwerverletzte Unfallopfer hinbrachte. 

Kapitel 8 

Konrad Thorwald hatte seinen Vater in der Firma angerufen und ihn informiert, dass es auf der A 45 bei Münzenberg einen Unfall gegeben habe, in den vermutlich seine Schwester Konstanze verwickelt sei.  

Nachdem er sich von seinem ersten Schock erholt hatte, fragte Erwin: „Sag mal, Konrad, hast du eine Ahnung, was mit deiner Schwester los ist?“ 

„Keine Ahnung, Papa. Wir haben letzte Woche noch hin und her gemailt. Da war sie ganz normal.“ 

Erwin hatte daraufhin seinen Freund bei der Autobahnpolizei in Butzbach angerufen und nachgefragt, ob er ihm etwas zu dem Unfall auf der A 45 sagen könne. Doch der Dienststellenleiter konnte ihm nur berichten, dass an dem Unfall ein Cabriolet und ein Lkw beteiligt gewesen seien und es zwei Schwerverletzte und eine Tote gegeben habe. Namen dürfe er ihm bei aller Freundschaft nicht nennen.  

„Diese Scheiß-Lkws! Die müsste man alle in die Luft sprengen.“ Die Wut in seiner Stimme war unüberhörbar. 

„Mein lieber Erwin, Vorsicht, es steht noch gar nicht fest, wer den Unfall verursacht hat. Außerdem sind ja auch für deine Firma Lkws auf der Autobahn unterwegs. Aber ich wünsche deiner Tochter gute Besserung. Sicher fährst du jetzt nach Lich ins Krankenhaus.“  

Eindeutiger konnte der Hinweis nicht sein, dass es sich bei der Toten nicht um seine Tochter handelte. 

Jetzt musste er handeln. Ihm war plötzlich klar, was mit Konstanze los war. Der Psychiater seiner Frau hatte ihn damals nach dem Unfall darauf aufmerksam gemacht, dass irgendwann die Erinnerung an das Geschehene zurückkehren würde und Konstanze dann völlig ausrasten könnte. Jetzt schien es so weit zu sein.  

Erwin versuchte, seine Frau auf dem Mobiltelefon zu erreichen. Vergeblich. Umgehend ließ er sich von Olaf in seine Villa nach Trais-Münzenberg fahren.  

Erstaunt öffnete Gretel die Tür, als die schwere Limousine vor dem Haus vorfuhr. „Haben Sie etwas von Ihrer Frau gehört, Chef?“ 

„Nee, die geht nicht ans Handy.“ 

„Na, das ist kein Wunder. Das liegt auf dem Esszimmertisch und bimmelt ununterbrochen.“ 

Unwirsch eilte Erwin an Gretel vorbei in Konstanzes Zimmer. Susanne hatte die herumliegenden Kleidungsstücke, die nicht den Weg in Konstanzes Koffer gefunden hatten, bereits wieder in die Schränke und Truhen geräumt. Zunächst öffnete er die Schubladen, in denen Wäsche und Strümpfe lagen, und durchsuchte sie. Nichts. Auch im Kleiderschrank wurde er nicht fündig. Dann machte er sich über den Schreibtisch her, obwohl es unwahrscheinlich war, dass seine Tochter so unvorsichtig wäre, das Gesuchte ausgerechnet hier zu verstecken. Er öffnete Kartons und Kästchen, Dosen und alle möglichen Behältnisse, die als Versteck dienen konnten. Nichts. Wo hatte sie es nur versteckt? Auch in den wenigen Büchern, die auf ihrem Nachttisch lagen, fand er nichts. 

Gretel erschien in der Tür. „Chef, kann ich Ihnen helfen?“ 

„Nein, Gretel, schon gut. Ich fahre dann wieder. Kein Wort zu meiner Frau. Die regt sich bestimmt schon genug auf.“ Auf seine Haushälterin konnte er sich hundertprozentig verlassen. Die würde ihn nicht verraten.  

Ohne Konrad zu bemerken, der ihn die ganze Zeit von der Terrasse aus beobachtet hatte, verließ Erwin das Haus genauso schnell, wie er es betreten hatte. 

„Olaf, wir fahren nach Inheiden.“ 

Irritiert schaute der Angesprochene seinen Chef an. Was wollte der denn jetzt im Ferienhaus der Familie? Wäre es nicht sinnvoller, nach Lich ins Krankenhaus zu fahren? Aber er wagte nicht zu widersprechen. Er musste Erwin Thorwald dankbar sein für den Job. 

Zügig hatte Olaf den Wagen über Bellersheim nach Inheiden gelenkt. Die Familie war schon eine ganze Weile nicht mehr in ihrem Sommerhaus gewesen. Als Thorwalds erste Frau Irene noch gelebt hatte, hatten sie jedes Wochenende in dem gemütlich eingerichteten Häuschen am See verbracht. In den letzten Jahren war er jedoch nur selten mit Susanne und den Kindern hierhergekommen. Er hatte es absichtlich vermieden, mit seiner Familie an den Ort zu fahren, an dem er eine Leidenschaft pflegte, die außer ihm niemand verstehen konnte. Nur sein Schwager Fred war eingeweiht, und der hielt aus gutem Grund den Mund.