Tod im Schatten der Burg - Tödlicher Duft - Jule Heck - E-Book

Tod im Schatten der Burg - Tödlicher Duft E-Book

Jule Heck

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Beschreibung

Jessica Jürgens bricht alle Brücken in Hamburg ab und flieht vor einem Stalker, der sie seit Jahren terrorisiert, zu ihrer Großmutter nach Bad Vilbel. Ihre Hoffnung, dem Unbekannten so zu entkommen, wird jedoch innerhalb kürzester Zeit zerstört. Der Mann ist ihr in die Wetterau gefolgt. Weitere, unheimliche Dinge spielen sich in ihrem Leben ab, die schließlich zu ihrem Tod führen. Kriminalhauptkommissar Alexander Henneberg und seine Kollegin Cosima von Mittelstedt vom K 10 in Friedberg sind in den Fall involviert. Mit Beginn ihrer Ermittlungen erlebt Cosima in ihrer alten Mühle in Ober-Hörgern seltsame Dinge, die den Vorkommnissen in Jessica Jürgens Leben ähneln. Hat der Stalker in der Person der Kriminaloberkommissarin ein neues Opfer gefunden? Hin und her gerissen zwischen Angst, Wut und Verzweiflung will sie den Stalker ausfindig und dingfest machen. Dabei wird sie tatkräftig von ihrem Kollegen Henne und seinem Rauhaardackel Erdmann unterstützt. Jule Heck wurde 1957 in Gambach, heute ein Stadtteil von Münzenberg, geboren. Dort lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Dackel Amy. Ihre Vorliebe für Krimis und ihre Leidenschaft fürs Schreiben haben sie veranlasst, mehrere Kriminalromane zu verfassen, die in ihrem Heimatort und der wunderschönen Wetterau spielen.

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Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung. 

Impressum 

Jule Heck 

»Tod im Schatten der Burg – Tödlicher Duft« 

www.edition-winterwork.de 

© 2017 edition winterwork 

Alle Rechte vorbehalten. 

Satz: edition winterwork 

Umschlag: edition winterwork 

Lektorat: Rohlmann & Engels, Chemnitz 

Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf 

Tod im Schatten der Burg 

Tödlicher Duft

 

 

 

 

Dieses Buch ist ein Kriminalroman, dessen Handlung frei erfunden ist. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt. 

 

Bedanken möchte ich mich bei all denen, die das Manuskript gelesen und sich mit dem Thema befasst haben, mich durch Anregungen, Hinweise, Tipps und kritische Anmerkungen unterstützt haben. 

 

 

Prolog 

Sonnenfinsternis 1999 

 

Rundherum war alles verstummt. Die Jugendlichen standen mit ihren Spezialbrillen auf dem Dach der Herberge in der Innenstadt von Stuttgart und beobachteten gebannt das Schauspiel. Langsam schob sich der Mond vor die Sonne. Es wurde zunehmend dunkel. Die Autos hielten an, die Menschen hörten auf zu reden, sogar die Vögel stellten ihren Gesang ein. Für einen Moment hielt die Welt den Atem an.  

Als der Mond die Sonne komplett verdeckte, entrang sich den Kehlen der jungen Leute ein lautes, lang gezogenes Ah. Auf diesen Augenblick hatten sie sich seit Monaten gefreut. Über nichts hatten sie in letzter Zeit so viel gelesen und gesprochen, wie über dieses faszinierende Naturschauspiel. 

Leider hielt die totale Finsternis nur wenige Sekunden an. Die Welt drehte sich weiter, der Lärm kehrte zurück. Aus den Bäumen neben dem Hotel erklang munteres Gezwitscher, als ob die Vögel die wiederkehrende Helligkeit begrüßen wollten.  

„Wo ist Flo?“, fragte Karl Friedrich, der Betreuer der Gruppe, in die Runde, als sich das Tageslicht vollständig wieder ausgebreitet hatte.  

„Keine Ahnung, eben war er noch da“, antwortete Christoph und zuckte mit den Schultern. 

„Der wird schon runter sein, wahrscheinlich hockt er mal wieder auf dem Klo“, kam es süffisant von Patrick. Auch die anderen Jugendlichen, allesamt Mitglieder einer Leichtathletikgruppe, wussten nichts vom Verbleib ihres Sportkameraden.  

Sie verließen das Dach und trafen sich wenig später mit ihrem Gepäck vor der Herberge, um die Rückfahrt nach Münzenberg in der Wetterau anzutreten.  

Ihr Sportverein hatte die Fahrt nach Stuttgart während der Sommerferien organisiert, um sich dort die Sonnenfinsternis anzusehen. 

„Wo steckt der Kerl nur?“, wollte Karl Friedrich erneut wissen. „Das gibt es doch nicht!“ 

„Wir suchen ihn. Der muss ja noch irgendwo sein“, kam es unisono von Christoph und anderen Sportkameraden. „Los, kommt mit“, forderten sie ihre Freunde auf, ihnen zu folgen.  

„Guckt vor allem immer schön auf den Toiletten nach“, rief ihnen Patrick lachend hinterher. Er bevorzugte es, beim Gepäck zu bleiben.  

Patrick war der einzige, der nicht zu den Leichtathleten gehörte. Er hatte nur mitfahren dürfen, weil sein Vater, Georg Steinwedel, großzügig einen Bus zur Verfügung gestellt und die Benzinkosten übernommen, obendrein ein kleines Taschengeld für die Jugendlichen hinzugefügt hatte. 

Patrick war alles nur nicht sportlich. Mit seinen 16 Jahren wog er bereits hundertfünfzig Kilo bei einer Größe von einem Meter achtzig. Er war verfressen – liebte Hamburger, Pommes und Cola. Seine einzige Leidenschaft bestand darin, sich Soaps im Fernsehen anzusehen, während er Chips futterte. Er war ein kluges Bürschchen, ein guter Schüler, aber seine arrogante Art kam weder bei seinen Mitschülern noch bei den Leichtathleten gut an.  

Vor allem nahmen sie es ihm übel, dass er ständig seinen Nachbarn und besten Freund seines Bruders, Florian Karger, aufzog. Flo war der beste Sportler aus der Gruppe. Er war im Frühsommer Hessenmeister im Hundertmeterlauf seiner Altersgruppe geworden, was er dem harten Training und einigen Extraeinheiten zu verdanken hatte. Die Schule war Flo hingegen nicht so wichtig.  

Flo hatte nur ein Problem, über das sich Patrick ständig lustig machte. Wenn er aufgeregt war, musste er schnell auf die Toilette. Außer Patrick amüsierte sich keiner darüber. Alle wussten über diesen Umstand Bescheid und nahmen Rücksicht auf den Sportsfreund.  

Gelangweilt stand Patrick auf dem Bürgersteig in der Mittagssonne und wartete auf den Trainer und die Sportler. Wer weiß, wo und wann sie Flo finden würden, dachte er.  

 

 

September 2011 

Kapitel 1 

Cosimas Handy summte schon eine ganze Weile. Durch das Vibrieren war es an den Rand des Nachttisches gerutscht und schließlich auf die Bettvorlage gefallen. 

Sie versuchte, es zu ignorieren. Ihr Kopf brummte, ihr Mund war trocken, die Zunge fühlte sich pelzig an.  

Was war heute für ein Tag? Sie dachte angestrengt nach. Doch es fiel ihr nicht ein.  

Sie konnte sich nur schwach erinnern, dass sie auf der Gambacher Kirmes gewesen war und an dem legendären Frühschoppen teilgenommen hatte. Sie wusste noch, dass sie mit Juliane und anderen Gambachern auf den Bänken zu der fetzigen Musik der Blaskapelle wild getanzt und dass später jemand von der Bühne in dem großen Festzelt verkündet hatte, dass das Ausschenken von Freibier zu Ende wäre. Aber was war danach geschehen?  

Das blöde Mobiltelefon hörte nicht auf zu vibrieren. Langsam drehte sich Cosima auf die Seite, tastete den Bettvorleger ab, bis sie es fand.  

Sie glaubte, ihr Gehirn müsste bei jeder Bewegung explodieren. Aber es konnte ja sein, dass Alexander, ihr Kollege vom K 10, sie erreichen wollte. Das wäre in ihrem jetzigen Zustand allerdings sehr peinlich. Sie wäre nicht in der Lage, aufzustehen – geschweige denn zu arbeiten.  

Jetzt fiel ihr ein, dass Henne gegen dreizehn Uhr das Festzelt mit den Worten „Einer muss ja in Friedberg die Stellung halten“, verlassen hatte. Der würde sie auslachen, wenn er feststellte, dass sie anscheinend total versackt war. 

„Ja“, krächzte sie ins Telefon. „Was gibt es denn?“ In der Annahme, dass sie mit ihrem Kollegen sprach, hatte sie auf die Nennung ihres Namens und eine Begrüßung verzichtet. 

„Hallo, meine Süße, ausgeschlafen?“, hörte sie eine männliche Stimme. Es war eindeutig nicht ihr Kollege. So verkatert konnte sie nicht sein, dass sie die Bassstimme von Henne verwechselt hätte. 

„Wer ist denn da?“, fragte sie neugierig.  

„Na ich, dein Lover“, kam es lachend von dem Anrufer. 

„Welcher Lover? Ich habe keinen Lover“, antwortete Cosima entrüstet. Wahrscheinlich irgend so ein Spinner, dachte sie.  

„Auweia, du musst ja noch ganz schön fertig sein nach der Nacht.“ Der ihr unbekannte Mann betonte das Ende des Satzes auf eine Art, die ihr nicht gefiel. Was hatte sie denn in ihrem Alkoholrausch angestellt? 

„Ich kann mich an nichts erinnern. Lassen Sie mich in Ruhe.“ Wütend drückte sie den Anrufer weg, warf das Telefon zurück auf den Bettvorleger und drehte sich um. Angestrengt dachte sie nach, was gestern passiert war. Sie war das erste Mal auf die Gambacher Kirmes gegangen. Juliane, ihre Freundin und Pressesprecherin beim K 10 in Friedberg, hatte sie gewarnt, dass man nur allzu leicht versacken könnte. Cosima hatte viel von dem Freibier getrunken, das wusste sie. Doch nach dem opulenten Frühstück mit Rühreiern, Speck und frischen Brötchen bei Juliane hatte sie das gut weggesteckt. Zumindest hatte sie das geglaubt. 

Sie musste unbedingt Juliane anrufen. Die konnte sie bestimmt aufklären.  

Erneut drehte sie sich zu ihrem Handy um. Es bimmelte schon wieder. Sie nahm das Gespräch mit noch immer rauer Stimme entgegen. 

„Warum legst du denn einfach auf? Du spinnst wohl“, kam es wütend vom anderen Ende. 

Cosima erkannte die Stimme des vorherigen Anrufers, fand aber die Reaktion merkwürdig. „Was wollen Sie denn schon wieder? Ich kenne Sie nicht. Lassen Sie mich in Ruhe“, sagte sie wütend, mehr über sich selbst, als über den Anrufer, weil sie einfach nicht wusste, warum er sie kannte – und woher er ihre Nummer hatte. 

„Wie, du weißt nicht, was passiert ist? Das ist aber schade. Du warst echt gut drauf. Wenn ich an deine Zunge denke.“ Ein ironisches Lachen erklang. Cosima glaubte, sich verhört zu haben. Was meinte der Typ? Sie hatte sich doch hoffentlich nicht mit einem Fremden eingelassen! 

Bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr der Mann fort: „Wenn du deine Kriminalfälle so schnell aufklärst, wie du mit deiner Zunge unterwegs bist, mein lieber Scholli …“  

Cosima wurde augenblicklich schlecht. Sie ließ das Telefon fallen und eilte ins Bad nebenan. Alles, was sie gestern zu sich genommen hatte, suchte sich seinen Weg ins Freie.  

Sie würde nie wieder auf die Gambacher Kirmes gehen, nahm sie sich vor, während sie sich, auf den Toilettenrand gestützt, immer und immer weiter übergab. Schweiß rann ihr über den Körper.  

Sie war total erschöpft. Eine Weile kniete sie noch vor der Porzellanschüssel, wartete, ob noch etwas kam. Doch ihr Magen gab nichts mehr her. Schließlich nahm sie alle ihre Kräfte zusammen und stellte sich unter den kalten Strahl der Dusche. 

 

Als sie sich geduscht und einigermaßen hergerichtet hatte, wankte sie über die steile Treppe ins Erdgeschoss. Dabei klammerte sie sich am Handlauf fest, um nicht zu stürzen. In der gemütlichen Wohnküche bereitete sie sich einen starken Kaffee zu und ging mit ihrem Lieblingspott auf die Terrasse. Es war ein schöner, warmer Spätsommertag. Die Sonne warf goldenes Licht auf die abgeernteten Felder. Nur war es viel zu hell, das Licht tat ihr in den Augen weh.  

Am Horizont sah sie Burg Münzenberg, die sich auf einem Höhenrücken über dem historisch geprägten Stadtteil erhob. Dieser Anblick hatte sie bei ihrem ersten Fall im Jahr 2006 so fasziniert, dass sie sich in die Burg und das kleine Städtchen Münzenberg in der Wetterau verliebt hatte.  

Auch die alte Mühle, in der sie nun seit einigen Jahren wohnte, hatte es ihr angetan. Obwohl damals in dem Graben, der die Mühle umgab, ein Jugendlicher ertrunken war, konnte sie das nicht abschrecken. Sie hatte das Anwesen, nachdem ihre Eigentümer dort nicht länger wohnen wollten, ersteigert.  

 

Cosima bekam kein Freizeichen. Es war nicht möglich, mit dem Handy zu telefonieren. Das konnte sie sich nicht erklären. 

Sie ging in die Küche und nahm den Hörer vom Festnetzanschluss. Sie wählte die gespeicherte Nummer ihrer Freundin. Wenig später meldete sich Juliane.  

„Hallo, Cosima, bist du wieder wach?“, kam es lachend von der anderen Seite. 

„Mir brummt der Schädel.“ Cosima fasste sich an die Stirn.  

Wieder lachte Juliane. „Das wundert mich nicht. Du hast gestern ganz schön zugelangt. Ich hatte dich gewarnt.“ 

„Kannst du mir sagen, was ich angestellt habe? Mich hat so ein komischer Typ angerufen, der mich seine Süße genannt hat. Ich kann mich nicht an den erinnern.“  

„Als ich weg bin, hast du gerade bei Andreas und Sabrina gestanden. Ihr habt auf Brüderschaft mit Erdbeersecco vom Obsthof angestoßen. Danach wolltest du auch heimgehen. Mehr weiß ich leider nicht.“ 

„Du meinst den Schäfer und seine Frau?“ 

„Genau den. Du bist jetzt mit den beiden per Du. Wenn du sie also demnächst siehst, kannst du sie duzen.“ 

„Aha. Du hast mal behauptet, dass man nach der Kirmes mit allen möglichen Leuten verbrüdert ist. Wer weiß, mit wem ich da noch alles angestoßen habe!“ Cosima schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. 

„Vielleicht kann ich rauskriegen, was du so alles getrieben hast. Ich kenne die Mädels, die Dienst hinter der Theke hatten“, kam es aufmunternd zurück. 

Cosima war erleichtert. „Bitte tue das und ruf mich sofort an, wenn du was erfahren hast.“ 

„Mache ich, gute Besserung. Bist du morgen wieder im Dienst?“ Seitdem Juliane beim K 10 arbeitete, hatte sich ihre Freundschaft noch vertieft. Sie kümmerten sich umeinander. „Das habe ich vor. Ich hoffe nur, dass mein Kater bis dahin verschwunden ist“, stöhnte Cosima. 

 

 

 

Kapitel 2 

Als Georg Steinwedel vor der pompösen Villa in Schlitz, dem idyllischen Städtchen im Vogelsberg hielt, öffnete sich bereits die schwere Eingangstür. Marianne trat nach draußen. Sie sah wieder umwerfend aus, wie Georg feststellte. Zu einem knallroten Designerkostüm trug sie schwarze Seidenstrümpfe und hochhackige, rote Lackpumps. Er war sich sicher, dass sie sonst nichts unter dem teuren Stoff trug.  

Er liebte das und sie wusste, dass es ihn verrückt machte. Verrückt nach ihr, der Frau, die er seit vier Jahren begehrte und immer wieder heimlich traf.  

Schon als sie sich das erste Mal begegnet waren, hätte er sie gern mit in sein Bett genommen. Sie hatte als Kundin auf dem Autohof in Butzbach einen Wagen für ihren Mann erworben. Es hatte sofort zwischen ihnen gefunkt. Doch damals hatte sie sich noch geweigert.  

„Ich bin keine Frau für eine Nacht“, hatte sie ihm erklärt. Aber von da an hatte er um sie geworben und sie mehrfach angerufen. Doch erst einige Zeit nach dem Tod ihres Mannes hatte sie nachgegeben und sich mit ihm getroffen.  

Gleich bei ihrem ersten Treffen waren sie im Bett gelandet, konnten nicht genug voneinander kriegen. Mit ihr war alles so unkompliziert. Sie war eine fantastische Liebhaberin, bereit, alles mit ihm auszuprobieren und er war verrückt nach ihrem üppigen Busen, den runden Hüften und dem knackigen Po. Marianne war das Sinnbild einer verführerischen und leidenschaftlichen Frau. 

Sie stöckelte ihm entgegen. Ihr blondes, schulterlanges Haar umspielte ihr hübsches Gesicht. Die Jacke spannte sich über ihren Busen, der Ausschnitt ließ den Ansatz ihrer Brüste erkennen. 

Höflich hielt er ihr die Beifahrertür auf. Der Duft ihres Parfüms stieg ihm in die Nase. Er war betörend. Am liebsten hätte er sie in seine Arme gezogen und geküsst. Doch er hielt ihr nur eine Wange hin. Er musste sich beherrschen. Dieser Abend würde nicht so schön und aufregend werden wie all die anderen. 

Marianne bemerkte sofort, dass ihr Liebhaber, mit dem sie sich seit vier Jahren traf, heute verändert war. Im Auto beobachtete sie ihn von der Seite.  

„Was ist los?“, fragte sie irritiert, „du bist so merkwürdig still.“ 

„Das erkläre ich dir gleich beim Essen. Wir fahren ins Hotel an der Burg. Ich habe einen Tisch bestellt“, erklärte er ihr. „Das magst du doch.“ 

„Das ist gut. Hast du auch ein Zimmer für uns reserviert?“, erkundigte sie sich kokett. 

„Mal sehen, ich weiß noch nicht, ob es heute Abend klappt.“ 

Er schwieg auf der ganzen Fahrt durch die Altstadt, dachte an seine Frau, die in dem Glauben zu Hause saß, dass er mit einem seiner Kunden unterwegs wäre. Als Autohändler von Luxuslimousinen traf er sich oft abends noch zum Essen. Seine Kundschaft war sehr anspruchsvoll. Daher fiel es ihm auch nicht schwer, Termine vorzutäuschen und über Nacht wegzubleiben, um sich mit Marianne zu treffen. 

Sie war eine aufregende Frau, selbständig, neugierig auf alles im Leben und unternehmungslustig. Er genoss das Zusammensein mit ihr.  

Zwischen ihr und seiner Ehefrau, mit der er seit sechsunddreißig Jahren verheiratet war, lagen Welten.  

Mariannes einziger Sohn führte das Architekturbüro nach dem Tod des Vaters erfolgreich weiter und sicherte ihr so eine gute Altersversorgung. Marianne konnte sich weite Reisen leisten, Konzert- und Theaterbesuche, teure Restaurants und elegante Designermode.  

Seine Frau hingegen war klein und zierlich, mit kleinen Brüsten, dünn, fast schon mager, mit faltiger Haut und bleichen Haaren. Sie machte nichts aus sich, obwohl das keine Frage von mangelnden Ressourcen war. Ihre devote Haltung ihm gegenüber machte ihn wahnsinnig. Wenn er abends nach Hause kam, stellte sie ihm nicht nur das Essen auf den Tisch, sie brachte ihm auch die Hausschuhe. Ihre immer gleiche Frage: „Wie war es heute, hast du ein Auto verkauft?“, konnte ihn von einem auf den anderen Moment zur Weißglut treiben. Schon mehrfach hatte er sich dabei ertappt, wie er kurz davor war, sie zu schlagen.  

Er hatte sie 1980 geheiratet. Nach seiner Lehre als Kfz-Mechaniker war er in dem Butzbacher Autohaus geblieben. Der Besitzer hielt große Stücke auf ihn und prophezeite ihm eine großartige Karriere. Der Autohändler hatte keinen Nachfolger und so bot er Georg die Firma an, wenn er seine Tochter Bettina heiratete. Georg fragte sich heute noch, wie er es so lange mit ihr ausgehalten hatte. Er fuhr in den mit Kopfstein gepflasterten Hof des Hotels. Es waren noch einige Parkplätze frei.  

Als sie zum Hotel gingen, nahm Marianne seine rechte Hand, führte sie an ihren Mund und drückte einen Kuss darauf. Gleich darauf biss sie ihn in den Zeigefinger. Normalerweise törnte ihn das an. Doch heute blieben ihre Versuche, ihn zu verführen, erfolglos. Er durfte sie nicht wiedersehen. 

„Ich bin ja so neugierig, was du mir zu sagen hast“, sagte sie mit aufgeregter Stimme. 

Georg fürchtete den Moment, wenn er ihr reinen Wein einschenken musste. Er war sicher, dass sie etwas anderes erwartete, als das, was er ihr mitzuteilen hatte. Er wollte sich nicht ausmalen, wie der Abend ausgehen würde.  

 

 

 

Kapitel 3 

Cosima hatte es sich gerade mit einer Pizza vor ihrem Kamin gemütlich gemacht, als es an der Haustür klingelte.  

Mist, dachte sie, wer kann das denn sein? Sie wollte den Abend mit niemandem teilen. Ärgerlich öffnete sie die Tür. Im Schein der Lampe blickte sie direkt auf einen riesigen Strauß roter, langstieliger Rosen. Spontan warf sie die Tür ins Schloss. Sie konnte sich denken, wer sich hinter den Blumen verbarg. Diese Person wollte sie jedoch am allerwenigsten sehen. 

Bevor sie die Pizza bei ihrem Lieblingsitaliener in Gambach geholt hatte, war sie noch auf einen Sprung bei Juliane vorbeigefahren. Sie hatte ihr Angebot, herauszufinden, wer sich hinter ihrem Verehrer versteckte, angenommen. 

Cosima hatte mit mehreren Gambachern, die sie während ihrer Arbeit als Kommissarin kennen gelernt hatte, Brüderschaft getrunken. Außer mit Paul und Wilma Schreiber vom Obsthof war sie jetzt auch mit Anita und Hans Neubeck aus der Bahnhofstraße per Du. Bis einundzwanzig Uhr hatte sich Cosima wohl auch nicht auffällig benommen.  

Danach war jedoch ein junger Mann an der Sektbar erschienen, der Cosima zum Tanzen aufgefordert und eine Flasche Erdbeersecco mit ihr geleert hatte. Cosima musste in guter Stimmung gewesen sein. Sie hätte sich intensiv mit ihrem Tänzer unterhalten, heftig geflirtet und viel gelacht. Kurz bevor sie mit ihrem Verehrer das Festzelt Am Kneiben gegen Mitternacht verlassen hatte, hätte sie ihn auch leidenschaftlich geküsst. 

Leider wussten die Mädels an der Bar nicht, wer der Liebhaber von Cosima war. Sie wollten sich aber nach ihm erkundigen und Juliane sofort Bescheid sagen. 

Cosima war entsetzt, als sie das hörte. Sie konnte sich an das Gesicht des Mannes nicht erinnern. Seine Stimme am Telefon war ihr weder bekannt vorgekommen noch sympathisch erschienen. Allein seine anmaßende Art hatte sie abgestoßen. 

Nachdem er sie heute noch mehrfach mit Anrufen belästigt hatte, vermutete sie ihn nun vor ihrer Haustür. Was sollte sie denn jetzt mit ihm anfangen? Auf keinen Fall würde sie die Tür öffnen. Sie verhielt sich still, in der Hoffnung, er würde von selbst verschwinden. Sie stand mindestens zehn Minuten an der Haustür, ohne noch etwas von draußen zu vernehmen. Leise schlich sie ins Wohnzimmer zurück. 

Sie traute ihren Augen kaum: Auf dem großen Esstisch standen die Rosen in einer Vase. Cosima gruselte es. 

Kapitel 4 

Sie zog das Wägelchen hinter sich her, in dem sie die Zeitungen, die sie täglich zustellte, beförderte. Die Frau arbeitete seit fünfunddreißig Jahren als Austrägerin für die hiesige Zeitung. Der Job wurde zwar nicht gut bezahlt, aber er sicherte ihr ein geregeltes Einkommen neben ihrer kleinen Witwenrente. 

Ihr machte es Spaß, morgens in aller Frühe, wenn die Straßen verlassen waren und hinter den Fenstern der Häuser noch kein Licht brannte, durch die Altstadt zu laufen und die Leser mit der Tagesausgabe zu versorgen.  

Die Leser schätzten sie, konnten sich auf ihre Pünktlichkeit verlassen. Ihre Zuverlässigkeit wurde an Weihnachten mit großzügigen Geldgeschenken, Pralinen und der ein oder anderen Flasche Schnaps belohnt.  

Sie war mit dem Austragen fast fertig für heute, musste nur noch am „Hinterturm“ vorbei zum „Hotel Vorderburg“ laufen, dann wäre ihre Runde beendet und sie könnte sich wie jeden Morgen noch einmal ins Bett legen, bevor sie selbst beim Frühstück einen Blick in die Zeitung warf. 

In der Nähe des Turms war die Straßenbeleuchtung schon seit Tagen defekt. Sie hatte es bereits bei der Stadtverwaltung gemeldet. Man hatte ihr versprochen, den misslichen Umstand schnellstmöglich zu beheben. Doch als sie auf den Platz vor dem Turm trat, musste sie feststellen, dass man das Versprechen noch nicht eingelöst hatte. 

Die Dunkelheit machte ihr keine Angst. Sie kannte den Weg und verließ sich auf ihren Instinkt. Dennoch gehörte sich diese Nachlässigkeit nicht. 

Plötzlich trat ihr Fuß auf etwas, das vor ihr am Boden lag. Sie blieb stehen, bewegte aber ihren Fuß in Richtung des Gegenstandes, stieß gegen ihn und merkte, dass es sich um etwas Weiches handelte.  

Sie kramte in ihrem Wägelchen nach der Taschenlampe, die sie für Notfälle dabeihatte. Ihr fiel nicht ein, wann sie die das letzte Mal benutzt hatte. Hoffentlich waren die Batterien nicht leer.  

Sie betätigte den Knopf, richtete den Strahl nach unten. Das Licht der Lampe fiel auf einen Körper, der merkwürdig verkrümmt vor ihr auf dem Boden lag. Es war eine Frau, um deren Kopf sich eine dunkle Lache ausgebreitet hatte. Ihr blondes Haar versank in dem See aus Blut, ihre Augen waren gebrochen.  

Die Zeitungsausträgerin brauchte einen Moment, bis sie erfasste, dass vor ihr die Leiche einer Frau lag. Eine Frau, die sie nur zu gut kannte. Als diese Erkenntnis zu ihr durchsickerte, begann sie aus Leibeskräften zu schreien. 

 

 

 

 

Kapitel 5 

Uta Brandt stand am Küchenfenster und schaute auf die Straße. Gegenüber stand das Auto von Helmut Karger. Seit drei Jahren fuhr der Nachbar pünktlich jeden Morgen sein Auto aus der Garage auf die Straße und erschwerte ihr die Ausfahrt aus ihrem eigenen Grundstück. Die Stichstraße war nicht sehr breit und wenn jeder der Anlieger sein Auto auf dem eigenen Grundstück parken würde, gäbe es auch keine Probleme. 

Doch Helli, wie er von allen genannt wurde, setzte sich grundsätzlich über alle Regeln hinweg. Er forderte von seinen Mitmenschen allerdings, Gesetz und Ordnung zu befolgen. Er selbst machte jedoch seit Jahren, was er wollte. 

Er feierte oft und laut mit seinen alten Kumpels ohne Rücksicht auf die anderen Anwohner. Seinen Hund ließ er ohne Leine laufen und sein Geschäft auf den Rasengrundstücken der Nachbarn verrichten.  

Uta hatte schon mehrfach die Hinterlassenschaft seines Hundes mit der Schippe aufgenommen und vor Hellis Tür gelegt. Das Geschrei seiner Frau Siglinde, wenn er morgens auf dem Weg zum Briefkasten in den Scheißhaufen trat und den Dreck und Gestank mit ins Haus brachte, konnte Uta jedes Mal aufs Neue erheitern. 

Das hinderte Helli aber nicht daran, jede in der Straße befindliche Mauer von seinem Hund anpinkeln zu lassen. Ruhig stand er dabei und sah zu, wie der Köter seine Blase entleerte. Der Protest der Nachbarn interessierte den grobschlächtigen Mann nicht.  

„Für was sind denn eure Mauern da?“, fragte er allen Ernstes, wenn sich mal einer wagte, sich zu beschweren.  

Helli war von Beruf Steinmetz. Vor drei Jahren hatte er sich bei Arbeiten auf dem Friedhof schwer verletzt. Eine Grabplatte war ihm auf den Fuß gefallen. Es hatte Monate gedauert, bis er wieder laufen konnte. Seitdem hinkte er und konnte nicht länger in seinem Beruf arbeiten. Manch einer munkelte, er hätte den Unfall provoziert, um seine Arbeit aufgeben und eine fette Berufsunfähigkeitsrente kassieren zu können.  

Uta war davon überzeugt, dass es so war. Seit ihr Nachbar zu Hause war, nervte er nicht nur seine Frau, sondern vor allem sie. Aber sie wäre nicht Uta Brandt, wenn sie das einfach so hinnehmen würde. Mit ihrer spitzen Zunge hatte sie schon so manches Wortgefecht geführt – und gewonnen. Doch an Hellis breitem Rücken prallte alles ab. 

„Heinrich, jetzt guck doch emal, der Karger hat scho widder sei Audo uff die Gass gestellt. Der macht misch noch verrüggt, der Kerl“, rief Uta durch die Esszimmertür. 

„Ich weiß gar nett, warum du disch immer noch uffregst, Muddi. Genau des will der doch.“ Uta konnte sich maßlos über die Rücksichtslosigkeit ihres Nachbarn ärgern. Doch sie zahlte es ihm heim. Nicht nur, dass sie den Hundedreck vor seiner Tür ablegte, sie hatte ihn auch schon in seinen Briefkasten geworfen oder die Windschutzscheibe seines Autos damit beschmiert. So mancher Kratzer an Hellis Wagen ging ebenfalls auf ihr Konto, auch der platte Reifen im Winter war das Ergebnis ihres Zorns. Doch Helli hatte ihr nie etwas nachweisen können. Er musste annehmen, dass mehrere Anwohner in der Straße ihre Wut auf diese Weise an ihm ausließen. 

„Muddi, geh doch endlisch zum Schiedsmann und klär des emal. Der Karger hört doch sonst nett uff.“ Utas Mann ärgerte sich seit Jahren, dass sie einen regelrechten Kleinkrieg gegen den Nachbarn führte. Ständig hing sie am Küchenfenster oder lauerte hinter der Hecke am Gartenzaun, um Helli in Flagranti zu erwischen.  

Immer wieder hatte sie versucht, die Nachbarn zu bewegen, gemeinsam gegen ihn vorzugehen. Sie ärgerten sich zwar über das Verhalten Kargers, aber wollten keinen Streit mit ihm. Helli hatte einen einflussreichen Freund: seinen Nachbarn Georg Steinwedel, der aufgrund seiner guten Kontakte und seines Einflusses anderen das Leben richtig schwer machen konnte.  

Helli erledigte alles für Georg, das wusste Uta. Und nicht nur sie. Im Dorf war allgemein bekannt, dass Helli den ganzen Tag mit seinem Hund unterwegs war, um die Bewohner auszuspionieren, zu erfahren, was es Neues gab und wer sich was zu Schulden hatte kommen lassen.  

Abends saß er dann mit Georg, wenn dieser einmal Zeit hatte, in der „Bürgerstube“ an der Theke zusammen, um ihm genau zu berichten, was er herausgefunden hatte. Wenn Georg nicht da war, drängte er sich in der Gaststätte jedem auf, setzte sich ungefragt zu anderen an den Tisch und mischte sich in die Gespräche der Gäste ein.  

Man sah der Wirtin an, dass sie sich über das Verhalten ihres unbeliebten Gastes ärgerte, doch sie konnte nichts dagegen tun. Auch sie wusste, dass Georg Steinwedel hinter seinem Freund und Nachbarn stand.  

Neben ihrem Ärger über den Nachbarn regte Uta sich vor allem über ihren eigenen Mann auf. Sie wusste, dass er das fiese Verhalten von Helli nicht guthieß, doch er sagte nichts und unterstützte Uta auch nicht in ihrem Kampf gegen ihn. Uta hielt ihn deswegen für ein Weichling. Das hatte sie ihm zwar so noch nicht gesagt, aber in ihren Andeutungen war immer unterschwellig zu erkennen, was sie von ihm hielt. 

Uta stampfte mit dem Fuß auf. „Jetzt reicht`s“, schrie sie in Richtung ihres Mannes, der am Esstisch saß und die Lokalzeitung studierte. Sie konnte kaum glauben, was sie da gerade sah.  

 

 

Kapitel 6 

Cosima war auf dem Weg zur Arbeit. Obwohl sie hundemüde war, hatte sie kaum geschlafen. Selbst nach zwei Tagen hing ihr die Sauferei noch in den Knochen. Als sie die Rosen auf dem Esstisch in ihrem Wohnzimmer entdeckt hatte, war sie sofort zur Terrassentür gerannt. Sie war zwar verschlossen, aber nicht verriegelt. Der Hebel stand auf Durchgang. Sie war in dieser Hinsicht zu nachlässig, das wusste sie. Offenbar hatte sie am Nachmittag, nachdem sie den Kaffee auf der Terrasse getrunken hatte, den Hebel nicht nach unten gedrückt. Nur so konnte sie sich erklären, wie es dem Fremden möglich gewesen war, ihr Haus zu betreten. Doch wie hatte er es geschafft, geräuschlos eine Vase zu finden und die Rosen ins Wasser zu stellen?  

Sie hatte schnell die Tür verriegelt, war durch das ganze Haus gelaufen, hatte in jedes Zimmer, in jeden Schrank gesehen, vor lauter Angst, ihr Rosenkavalier könnte sich irgendwo versteckt haben.  

Sie hatte den unheimlichen Mann nirgendwo entdecken können. Als sie ins Erdgeschoss zurückkam, nahm sie den Strauß, der ein Vermögen gekostet haben musste, aus der Vase und beförderte ihn in die Biotonne. Was fiel dem Kerl ein, sich ungefragt Zutritt zu ihrem Haus zu verschaffen?  

Er hatte sie noch mehrmals am frühen Abend angerufen. Ihr Handy ging auf einmal wieder. Ihre Fragen nach seiner Person, hatte er ausweichend beantwortet. „Wenn wir uns sehen, meine Süße, werde ich mich dir persönlich vorstellen.“  

Natürlich wollte sie ihn nicht sehen. Nur weil sie angeblich mit ihm geknutscht hatte, gab ihm das nicht das Recht, sie zu belästigen. Sie würde einfach nicht mehr an ihr Handy gehen, wenn sie die Nummer nicht kannte.  

Bei all diesen Gedanken stellte sich ihr die Frage, wie sie am Montagabend von der Sektbar, die sie offensichtlich in angetrunkenem Zustand verlassen hatte, nach Hause gekommen war. Hatte der Mann sie womöglich heimgebracht? Wusste er deshalb, wo sie wohnte? Hatte er ihren Zustand ausgenutzt und sie missbraucht?  

Der Appetit auf die Pizza war ihr danach vergangen. Stattdessen hatte sie sich an dem Rotwein bedient, den ihr der Italiener aus der Pizzeria geschenkt hatte, und zugesehen, wie das Feuer im Kamin herunterbrannte. 

All das ging ihr jetzt auf dem Weg nach Friedberg durch den Kopf. Normalerweise genoss sie es, von Münzenberg aus über die schmale Landstraße nach Rockenberg zu fahren und über die Landschaft zu schauen. Meistens bog sie im Rosendorf Steinfurth bei der Metzgerei nach Wisselsheim ab, von wo aus eine schmale Straße nach Rödgen und Schwalheim führte.  

Ungestört von anderen Fahrzeugen passierte sie Kühe, die friedlich auf der Weide grasten, und beobachtete Schafe, die mit gesenkten Köpfen zusammenstanden. In dieser unberührten Landschaft fand sie Ablenkung und Trost zugleich. Besonders angetan hatte es ihr die wunderschöne Allee, die von Schwalheim aus zunächst in Richtung Dorheim verlief. Erst wenn der Adolfsturm in Friedberg an der großen Kreuzung vor ihr auftauchte, holte sie der Alltag ein. 

 

Im Präsidium im Grünen Weg in Friedberg, wo sie seit sieben Jahren arbeitete, wurde sie stürmisch von Erdmann, dem Rauhaardackel ihres Kollegen, begrüßt.  

„Na mein Dicker, hast du mich vermisst?“ Sie kraulte ihn ausgiebig, was der ihr mit einem tiefen Brummen dankte.  

„Hallo, Frau Kommissarin, wieder fit?“, kam es süffisant von ihrem Kollegen Henne. 

„Weiß hier schon wieder jeder Bescheid?“ Cosima schaute genervt ihren Kollegen an.  

„Du weißt doch, die Welt ist klein.“ Dabei verdrehte er lachend die Augen. Henne sah wie immer frisch und ausgeruht aus. Sein tailliertes Hemd und die eng anliegenden Jeans betonten seine sportliche Figur und unterstützten sein gutes Aussehen. Ihm hatte der Genuss des Freibiers am Montag offensichtlich nichts ausgemacht. Er war allerdings rechtzeitig gegangen, so wie Juliane es auch ihr empfohlen hatte.  

„Hat Juliane was erzählt?“ Cosimas Stimme war Verärgerung anzuhören. Bevor Henne ihr antworten konnte, rauschte Stückchen ins Büro. „Da bist du ja endlich. Da hat schon paar Mal so ein Typ angerufen und nach dir gefragt“, berichtete die Sekretärin des K 10.  

Cosima horchte auf. „Was wollte der? Hat er seinen Namen genannt?“  

„Also“, Stückchen begann ihre Sätze grundsätzlich mit diesem Wort, „seinen Namen hat er nicht genannt. Er hat sich nach dir erkundigt und gefragt, ob es dir besser geht und ob du heute zum Dienst erscheinst. Der war richtig mitfühlend.“ Stückchen strahlte über das ganze Gesicht. 

„Das gibt es doch nicht. Wie kommt der Typ dazu, hier anzurufen?“ Wütend sah sie Stückchen an. „Du hast ihm hoffentlich nichts gesagt!“ 

„Was sollte ich ihm denn sagen? Ich weiß ja von nichts“, motzte die Angesprochene. „Wie immer“, fügte sie hinzu und rauschte maulend davon. 

Cosimas Handy piepte kurz. Sie zog es aus der Tasche und öffnete die Nachricht. Sie schwankte. Henne war sofort bei ihr und führte sie zu ihrem Schreibtischstuhl.  

„Cosima, kannst du mir mal sagen, was los ist?“, fragte er besorgt. 

„Das weiß ich leider selbst noch nicht.“ Cosima sah ihn verzweifelt an. 

 

 

 

Kapitel 7 

Martin beobachtete, wie das Auto durch die Waschanlage fuhr. Nur er durfte den Wagen des Chefs waschen lassen und von innen reinigen. Seit er im Autohaus Steinwedel beschäftigt war, hatte er seine Stellung immer weiter ausgebaut. Georg Steinwedel, der Besitzer und Seniorchef des Autohauses, vertraute ihm, übertrug ihm immer mehr Verantwortung und legte Wert auf seine Meinung. 

Martin hatte die Stelle im März angetreten. Sein Vermieter, Helli, dessen Dachgeschosswohnung er bewohnte, hatte ihm den Job vermittelt.  

Zunächst hatte Martin nur stundenweise die Waschanlage bedient, mit der Zeit hatte man ihm mehr Aufgaben übertragen und die Anzahl seiner Arbeitsstunden erhöht. Mittlerweile durfte er sogar die Luxuslimousinen auf dem Hof rangieren und potentielle Kunden auf Probefahrten begleiten. Mehrmals hatte er schon Autos aus anderen Autohäusern abgeholt und sie nach Butzbach überführt. 

Sein Chef hatte schnell das Potential erkannt, das in Martin steckte und das für bestimmte Aufgaben Voraussetzung war. Er musste sich vor allem auf die Verschwiegenheit seines Mitarbeiters verlassen können.  

Martin hatte Georg Steinwedel schon ein paar Mal aus einer peinlichen Situation befreit und seine Loyalität bewiesen, indem er kein Wort darüber verloren hatte. Er hatte erkannt, dass Georg Steinwedel die letzte Chance war, die er in seinem Leben bekommen würde.  

Nach seinen jahrelangen ausschweifenden Alkoholexzessen und dem damit verbundenen Verlust seines Versicherungsbüros in Friedberg hatte er nach einem Entzug in einer Fachklinik Anfang des Jahres endlich Fuß gefasst. Er war nicht dumm, verfügte über eine hohe und schnelle Auffassungsgabe, verstand es, Menschen zu manipulieren.  

Martin waren die Spannungen zwischen dem Senior- und dem Juniorchef, Georgs Sohn Patrick, der als kaufmännischer Geschäftsführer in dem Autohaus tätig war, schon oft aufgefallen. Diese Situation nutzte er schamlos aus, indem er die beiden gegeneinander ausspielte.  

In dem Bereich machte ihm niemand etwas vor. Wäre er nicht dem Suff verfallen, hätte er heute erfolgreich ein Unternehmen leiten können. Doch der Alkohol hatte so sehr Besitz von ihm ergriffen, dass er nur noch an Bier und Schnaps hatte denken können.  

Alles andere war auf der Strecke geblieben. Seine Freundin hatte sich von ihm getrennt, die ehemaligen Freunde gingen ihm aus dem Weg und jede Tätigkeit, die ihm vom Arbeitsamt angeboten wurde, wurde ihm schnell wieder gekündigt, weil er wegen seines übermäßigen Alkoholkonsums nicht in der Lage war, die Tätigkeit zur Zufriedenheit seiner Arbeitgeber auszuführen.  

Im Januar hatte ihm der Wirt seiner Stammkneipe erklärt, dass er nicht mehr erwünscht wäre und hatte ihm Hausverbot erteilt, weil er die Gäste mit seinem Geschwätz belästigte.  

Er hatte immer beweisen müssen, dass er alles besser wusste. Nach diesem Vorfall hatte er sich endlich besonnen, freiwillig einen Entzug angetreten. Er spürte jedoch, dass er die Sucht noch nicht überstanden hatte. Immer wieder schaute er gierig zu den Spirituosen und Bierkisten, wenn er einkaufen ging. Zu gern hätte er etwas getrunken. Doch ihm war klar, dass er dann endgültig verloren wäre. Sogar auf die Gambacher Kirmes hatte er verzichtet und das Angebot seines Vermieters, doch mal etwas mit ihm zu trinken, sicherheitshalber ausgeschlagen. 

Die Ampel vor dem Tor der Waschanlage stand auf Grün. Der Wagen rollte langsam hinaus. Er öffnete den Schlag und setzte sich in den S-Klasse-Mercedes seines Chefs, um zur Staubsaugeranlage zu fahren. Dort untersuchte er zunächst den Innenraum, schaute hinter und unter die Sitze. Hier hatte er schon das eine oder andere aufregende Dessous gefunden. Die Sitze hatte er jedes Mal von Spuren befreien müssen, die eindeutig auf Sex schließen ließen. Sein Chef liebte es offenbar, eine schnelle Nummer im Auto zu schieben. Aber auch darüber hatte Martin kein Wort verloren. Stattdessen hatte er die Dessous in einen undurchsichtigen Plastikbeutel gepackt und seinem Chef überreicht.  

„Das lag in ihrem Wagen“, hatte er nur gesagt.  

Dieses Mal fand er ein goldenes Gliederarmband neben dem Sitz. Es war schwer und offensichtlich sehr teuer. Wenn er es veräußerte, würde ihm das ein schönes Sümmcheneinbringen. Er verwarf den Gedanken schnell wieder, denn die Besitzerin würde es bestimmt vermissen und von ihrem Liebhaber zurückfordern.  

Obwohl er für die Ausstattung seiner Wohnung noch einiges an Geld benötigte, wollte er kein Risiko eingehen. Außer einer Einbauküche und ein paar alten Möbeln, die seine Vermieter nicht mehr benötigten, stand nicht viel in der Wohnung.  

Sein altes Appartement war ihm fristlos gekündigt worden. Die Vermieterin hatte während seiner Abwesenheit seine Sachen auf die Straße gestellt und vom Sperrmüll abholen lassen. Außer seiner Kleidung und seinen Papieren war ihm nichts geblieben.  

Umso dankbarer war er für die Dachgeschosswohnung. Die hatte er aber nur der Tatsache zu verdanken, dass sich auf die Anzeige in der Lokalzeitung nur Personen mit Migrationshintergrund gemeldet hatten. Ausländer konnte Helli nicht leiden. Sein liebster Spruch, den er bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit äußerte, war: „Wenn ich eins hasse, dann ist es Rassenhass und Ausländer an der Theke.“ 

Martin steckte das Armband ein. Sein Chef war momentan nicht im Haus, da ein Kunde ihn beanspruchte. Er würde es ihm aber nach seiner Rückkehr aushändigen.  

„Was haben Sie da gerade eingesteckt?“, hörte Martin die Stimme des Juniorchefs hinter sich. Martin tauchte so plötzlich aus dem Wagen auf, dass er sich den Kopf am Türholm stieß. 

„Nur ein benutztes Taschentuch. Das werde ich gleich wegwerfen.“  

Er drehte sich zum Abfalleimer um, kramte etwas aus seiner linken Hosentasche und entsorgte es, in der Hoffnung, dass er Patrick damit zufriedenstellte. 

„Sie wollen mich wohl verarschen, Mann! Sie haben da was in die rechte Hosentasche gesteckt. Was war das? Ich will es sehen. Los, zeigen Sie es mir.“ Patrick hatte sich mit seinen vier Zentnern drohend vor Martin aufgebaut. Der Schweiß lief ihm über sein breites, faltenfreies Gesicht, das an ein übergroßes Kind erinnerte, aber nicht an einen erwachsenen Mann von einunddreißig Jahren.  

Martin kramte in seiner rechten Hosentasche.  

„Da ist nichts. Ich weiß nicht, was Sie gesehen haben. Sie müssen sich irren.“  

Er wollte auf keinen Fall das Armband hervorholen und damit seinen Chef verraten. Das würde das Ende seines Arbeitsverhältnisses bedeuten. Aber genau das wollte Patrick anscheinend erreichen. Martin vermutete, dass er Patrick bereits zu oft auf die Füße getreten war.  

Patrick musste bemerkt haben, dass Martin ihm überlegen war – nicht an Intelligenz, aber an Raffinesse. Auch die Sympathie, die sein Vater Georg für ihn hegte, konnte dem Juniorchef nicht entgangen sein, mutmaßte Martin. 

„Gut, wenn sie nicht freiwillig kooperieren, rufe ich die Polizei.“ Er holte das Handy aus der Tasche seines Jacketts und wollte gerade wählen, als ein Kunde auf den Hof fuhr. 

Sofort gab Patrick sein Vorhaben auf. Er kann wohl schlecht einen Mitarbeiter vor den Augen eines Kunden des Diebstahls bezichtigen, dachte Martin.  

„Darüber reden wir noch“, versprach Patrick ihm arrogant, drehte sich um und ging auf den Kunden zu. 

Martin atmete auf. Aber er wusste, dass damit die Angelegenheit noch nicht vom Tisch war. Er musste unbedingt mit seinem Chef sprechen und ihm das Armband aushändigen, bevor sich Patrick bei seinem Vater über ihn beschweren konnte. 

Als er sah, wie distanziert Patrick den Mann begrüßte, der gerade angekommen war, wunderte er sich. 

 

 

 

Kapitel 8 

Cosima und Henne waren auf dem Weg nach Bad Vilbel. Cosima hatte die ganze Zeit geschwiegen. Das passte nicht zu ihrer sonst so redseligen Art. Erdmann lag auf ihrem Schoß und wurde ununterbrochen von ihr gekrault. Etwas musste seine Kollegin massiv beschäftigen. Ob es mit der Gambacher Kirmes und diesem seltsamen Anrufer zusammenhing?  

Er kannte Cosima jetzt seit sieben Jahren. Damals war sie als Quereinsteigerin zum K 10 nach Friedberg gekommen. Seitdem arbeiteten sie eng und sehr erfolgreich zusammen, waren ein eingespieltes Team, hatten schon einiges erlebt und gemeinsam überstanden. Zudem waren sie gute Freunde geworden. Ihr Verhältnis hatte sich noch intensiviert, nachdem man ihn am Anfang des Jahres entführt hatte und Cosima bei den Ermittlungen von der Täterin fast erwürgt worden wäre. Dafür, dass Cosima nicht mehr passiert war, konnte er nicht dankbarer sein. 

Sein Navi führte sie geschickt durch die Bad Vilbeler Altstadt zu einem beeindruckenden Stadthaus an der Nidda.  

Sie wollten dort Jessica Jürgens aufsuchen, die drei Jahre lang in Hamburg von einem Mann gestalkt wurde und schließlich nach Bad Vilbel zu ihrer Großmutter flüchtete.  

Bis heute hatte sie nicht herausgefunden, wer sich hinter der Person versteckte, die sie mit Telefonanrufen rund um die Uhr tyrannisiert, sie nachts mit permanentem Klingeln an der Tür aus dem Bett geholt hatte. Unerwünschte Lieferungen, Geschenke, aufdringliche Liebesbriefe und Blumensträuße hatten sie in Angst und Schrecken versetzt.  

Nachdem Jessica Jürgens den Forderungen des unbekannten Mannes, sich mit ihm zu treffen, nicht nachgekommen war, waren Mahnungen von Firmen, bei denen sie angeblich etwas bestellt hatte, bei ihr eingegangen. Ein Kühlschrank, den sie nicht brauchte, war geliefert worden, der Fahrer eines Heizölhandels war vor ihrem Haus vorgefahren. Sogar einen Pool hatte man in ihrem Garten bauen wollen. Davon abgesehen waren mehrmals der Lack an ihrem Auto zerkratzt und die Reifen platt gestochenen worden. Viele unschöne Dinge waren in den drei Jahren vorgefallen, die sie nicht begreifen konnte.  

Ihre Freunde, die sie am Anfang noch getröstet hatten oder ihr zu Hilfe geeilt waren, hatten sich später, genervt von den ständigen Berichten über die ungewöhnlichen Attacken, zurückgezogen. Auch die Nachbarn wollten nicht länger mit Hilferufen von ihr belästigt werden. Obwohl immer wieder ihre Telefonnummer geändert und bei der Auskunft gesperrt wurde, quälten sie weiterhin die nächtlichen Anrufe von diesem Mann, der ihr abwechselnd schmeichelte oder ihr Obszönitäten an den Kopf warf – bis hin zu Todesdrohungen.  

Die Fangschaltung ihres Festnetzanschlusses hatte jedoch nichts gebracht. Die Anrufe waren immer von öffentlichen Telefonzellen an unterschiedlichen Stellen in Hamburg getätigt worden. Ihr Handy hatte Jessica Jürgens längst aufgegeben. An die Tür ging sie nur, wenn sie wusste, dass ein Bote mit Lebensmitteln oder der Getränkehändler kommen wollte. Sie ließ niemanden ins Haus. Die gelieferte Ware wurde vor der Tür abgestellt. Nachdem sie die Straße von ihrem Küchenfenster ausgespäht hatte, öffnete sie die Tür und holte die Lebensmittel ins Haus. 

Obwohl Jessica überzeugt davon war, dass sie beobachtet wurde, war auch die Observierung ihres Hauses in dem noblen Vorort Blankenese erfolglos geblieben. Die Polizei nahm ihre Sorgen ernst, forschte in alle Richtungen. Sie konnten ihr trotzdem nicht helfen. 

Jessica war Opfer eines Stalkers geworden, der Macht über sie ausüben wollte, sie in Angst und Schrecken versetzte. Das hatte sie, eine einstmals lebenslustige junge Frau, psychisch krank gemacht. Sie war ein Wrack.  

Die Ärzte verschrieben ihr Beruhigungstabletten und Antidepressiva. Doch die Tabletten konnten ihr die Ängste nicht nehmen. Sie war nicht mehr fähig, aus dem Haus zu gehen und zu arbeiten. Nachdem sie ihr Erspartes aufgebraucht hatte, musste sie einen Kredit zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes auf ihr Haus aufnehmen, das sie von ihren Eltern geerbt hatte.  

Erst als sie ihre eigene Todesanzeige in einer Hamburger Zeitung las, verkaufte sie mithilfe eines Rechtsanwaltes ihr Haus in Hamburg und verzog ohne Angabe ihrer neuen Adresse.  

Der Anwalt, der schon mehrfach mit Stalkingopfern zu tun gehabt hatte, hatte alles in ihrem Sinne geregelt, ihre Schulden bezahlt, sowie die Räumung des Hauses und den Umzug organisiert. Alles war geschickt eingefädelt worden. Sie selbst war von einem Fahrdienst mitten in der Stadt abgeholt worden und vorab in die Wetterau gereist, wo sie seitdem bei ihrer Großmutter Ellen Hartmann wohnte.  

Zuvor hatte man der alten Dame eine neue Telefonnummer gegeben und sie bei der Telefonauskunft gesperrt. Eine Alarmanlage war eingebaut und die Fenster auf der Rückseite des Hauses mit einbruchssicheren Gittern versehen worden. 

Jessica Jürgens lebte nun seit drei Wochen in der Stadt. Bis jetzt war nichts Ungewöhnliches passiert. Trotzdem verließ sie nur selten das Haus. Stattdessen erledigte die Großmutter alles für sie.  

Ellen Hartmann war noch sehr rüstig für ihr Alter und renitent. „Wenn der hier auftaucht“, hatte sie bei der Ankunft ihrer Enkelin gesagt, „kriegt er es mit mir zu tun!“ Dabei hatte sie drohend den Arm gehoben. 

Vor einer Stunde war die Großmutter bestürzt von ihren Einkäufen aus der Stadt zurückgekehrt. Ein Motorradfahrer hatte neben ihr gehalten und ihr zugerufen: „Sagen sie ihrer Enkelin einen schönen Gruß von mir. Ich melde mich bald bei ihr.“ Bevor die Dame ihn fragen konnte, wer er wäre, war das Motorrad davon gebraust.  

Das hatte ihr Angst bereitet. Offensichtlich hatte der Stalker ihre Enkelin gefunden.  

Sofort hatte sich Jessica Jürgens bei der Kripo in Friedberg gemeldet, die über den außergewöhnlichen Stalkingfall bereits in Kenntnis gesetzt worden war. Sie hatte die Hamburger Polizei gebeten, die Akten an die hiesige Kripo weiterzuleiten. Auch die Polizeistation in Bad Vilbel war benachrichtigt worden.  

Ein Streifenwagen stand bereits vor dem Haus. Zwei Schutzpolizisten beobachteten das Grundstück. 

Als Henne und Cosima bei der jungen Frau in Bad Vilbel ankamen, waren sie entsetzt über ihr Aussehen.  

 

 

 

 

 

 

Kapitel 9 

Siglinde Karger stand am Herd und bereitete das Mittagessen zu. Sie wartete auf ihren Mann, der mit dem Hund unterwegs war. Jeden Morgen nach dem Frühstück verließ er das Haus, um auf Erkundungstour zu gehen – wie er es nannte.  

Sie selbst verließ nur ungern das Haus. Seit ihr Sohn Florian tödlich verunglückt war, neigte sie zu Depressionen. Nur zum Einkaufen und zum Kirchgang fuhr sie mit dem Auto weg.  

Als sie heute vom Lebensmittelmarkt an der Bundesstraße zurückkehrte, stand das Auto der Nachbarn von gegenüber vor ihrem Haus. Sonderbar, dachte sie, Uta Brandt parkt ihr Auto nie auf der Straße.  

Umständlich musste sie um das Fahrzeug herumfahren, um auf ihr Grundstück zu kommen. Ihr Mann würde toben, wenn er sah, wessen Auto vor ihrem Grundstück stand.  

Jetzt bekam er offensichtlich die Retourkutsche seiner Nachbarin zu spüren, die sich seit Jahren darüber beklagte, dass Helmut sein Auto jeden Morgen provokativ vor dem Haus abstellte. Dabei gab es für diese Maßnahme keinen Grund. Schließlich hatten sie die Garage nicht umsonst. Wenn nur jeder mit seinem Fahrzeug auf dem eigenen Grund und Boden blieb, könnten alle friedlich miteinander leben.  

Doch Helmut liebte es, andere Menschen zu ärgern und zu provozieren. Siglinde nannte ihn deswegen einen Zorngickel. Aber sie fand kein Gehör bei ihm. Seit er in Rente war, hatte er sich noch mehr zu seinem Nachteil verändert und legte sich mit allen Leuten an. Es war ihr peinlich, wenn sie darauf angesprochen wurde.  

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass Helmut, der normalerweise die Pünktlichkeit in Person war, sich verspätet hatte. Sie öffnete das Küchenfenster, um Ausschau nach ihm zu halten.