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Nach seiner Rückkehr von einem USA-Aufenthalt wird Alexander Henneberg vom Kommissariat 10 in Friedberg am Frankfurter Flughafen entführt. Es gibt keine Lösegeldforderung. Das LKA aus Wiesbaden schaltet sich ein. Die groß angelegte Fahndung nach dem smarten Kommissar, die auf den Frankfurter Raum und die gesamte Wetterau ausgedehnt wird, bleibt zunächst erfolglos. Die Kollegen vom K 10, die Kommissare Cosima von Mittelstedt, Eberstädter und Jüngling, beginnen auf eigene Faust zu ermitteln. Mit von der Partie ist Rauhaardackel Erdmann, der sein Herrchen vermisst. Durch Zufall stößt eine Spaziergängerin auf den entführten Henneberg. Bei dem Versuch, den Kommissar zu befreien, verschwinden sie und ihr Labrador spurlos. Wird es den Kommissaren gelingen, Henneberg aus seiner verzweifelten Lage zu befreien? Und welche Rolle spielt dabei der Obsthof im Altstädter Feld von Gambach? Jule Heck wurde 1957 in Gambach, heute ein Stadtteil von Münzenberg, geboren. Dort lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Dackel Amy. Ihre Vorliebe für Krimis und ihre Leidenschaft fürs Schreiben haben sie veranlasst, mehrere Kriminalromane zu verfassen, die in ihrem Heimatort und der schönen Wetterau spielen.
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Seitenzahl: 360
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Impressum
Jule Heck
»Tod im Schatten der Burg – Im Kalten Loch«
www.edition-winterwork.de
© 2016 edition winterwork
Alle Rechte vorbehalten.
Satz: edition winterwork
Umschlag: Patrick Kempf/Punchbyte
www.punchbyte.de
Lektorat: Birgit Rentz
Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf
ISBN Print 978-3-96014-209-6
Tod im Schatten der Burg
Im Kalten Loch
Die Handlung des Romans ist frei erfunden. Die darin vorkommenden Personen gibt es in der Realität nicht. Davon ausgenommen sind wenige Protagonisten, deren Einverständnis zur Nennung ausdrücklich vorliegt. Ähnlichkeiten mit anderen lebenden Personen wären rein zufällig.
Ende September 2010
Mit quietschenden Reifen schoss das weiße Audi-Cabriolet über die Kreuzung. Die Ampel zeigte Rot. Ich muss mich beruhigen, dachte die Frau am Steuer. Ab sofort sollte ich alles tun, um nicht aufzufallen. In jetzt angemessenem Tempo folgte sie der Kaiserstraße, bog nach fünfhundert Metern am Servicezentrum des Wetteraukreises rechts ab und folgte dem Straßenverlauf bis zur Einfahrt in die Tiefgarage des Verwaltungsgebäudes, die hauptsächlich von den Angestellten und Besuchern der Kreisverwaltung genutzt wurde. Um diese Zeit würde sie dort kaum noch jemanden antreffen. Die Verwaltung und das Bürgerzentrum am Europaplatz, in dem sich auch die Zulassungsstelle für Fahrzeuge befand, waren bereits geschlossen. Die Anzeigetafel an der Einfahrt zeigte ihr, dass freie Parkplätze vorhanden waren. Behutsam ließ sie den schweren Wagen die Zufahrtsrampe hinabgleiten, bediente den elektrischen Fensterheber auf der Fahrerseite ihres Wagens und hielt vor der geschlossenen Schranke. An dem gelben Kasten zu ihrer Linken drückte sie einen grünen Knopf. Ein gelber Chip rollte aus dem darunter angebrachten Schlitz. Sie entnahm ihn. Die Schranke öffnete sich träge. Langsam lenkte sie den großen Wagen bis in das unterste Geschoss des Parkhauses. Gleich neben der Abfahrt fand sie einen freien Parkplatz und manövrierte das Cabriolet zwischen Wand und Pfosten in die Parklücke. Hier würde das Fahrzeug am wenigsten auffallen.
Kurz vor zwanzig Uhr verließ sie in leicht gebeugter Haltung das Parkhaus über die Zufahrtsrampe. Ihr Kopf war von einem großen Hut bedeckt. Ein schwarzes Cape verhüllte ihren Körper und reichte ihr bis zu den Waden, die von schwarzen, flachen Lederstiefeln umschlossen waren. Hinter sich hörte sie das Quietschen des herabfahrenden schweren Rolltores. Das Parkhaus schloss pünktlich.
Wolken hatten sich vor den Mond geschoben. Die sommerlichen Temperaturen waren einer angenehmen Kühle gewichen. Sie setzte ihren Weg durch die engen Altstadtgassen fort. Dabei zog sie das linke Bein leicht nach. Über einem dicken Bauch wölbte sich der schwere Stoff des Capes. Sie mied das Licht der Straßenlaternen, hielt sich dicht an den Häuserwänden.
In der Stadt war es unruhig. Mehrfach waren Polizeiautos die Mainzer-Tor-Anlage hinauf- und hinuntergefahren. Ihr Sondersignal war weithin hörbar und fing sich zwischen den Häuserwänden. Ein Hubschrauber kreiste am Nachthimmel über Friedberg.
Als sich die automatische Tür des kleinen Hotels am Bahnhof öffnete, erfüllte kalte Nachtluft den Vorraum. Kim liebte den Geruch des Herbstes, der für Sekunden seine Sinnesorgane erreichte. Vor dem Hotel standen alte Eichen, die das Gebäude optisch von einer breiten, stark befahrenen Straße trennten und die Abgase einigermaßen fernhielten. Dennoch war es für den zierlichen Vietnamesen ein Genuss, dieses Geruchsgemisch aus Benzin und Herbstlaub einzuatmen. Für ihn bedeutete es Freiheit und Unendlichkeit. Die Luft hier im Westen war besser als in Leipzig, wo er viele Jahre zusammen mit seinen Landsleuten in einer Plattenbausiedlung verbracht hatte. Dort hatte es nach Braunkohle gerochen. Auch nach der Wende war dieser unangenehme Geruch nie ganz verschwunden. Er haftete an den Wänden, saß in den Mauern fest und hatte ihn immer wieder an die Enge und Ausweglosigkeit seiner Jugend erinnert, in der er wegen seiner Herkunft stets auf Ablehnung, Hass und menschliche Mauern gestoßen war.
Kim blickte auf. Vor dem Tresen stand eine schwarz gekleidete Frau. Aus einem blassen Gesicht starrten ihn zwei dunkelblaue Augen an. Der schwarze Hut und das Cape unterstützen die Blässe ihrer Haut.
„Guten Abend, ich suche ein Zimmer. Haben Sie noch etwas für mich?“ Obwohl sie in reinem Deutsch zu ihm sprach, ließ ein leichter Akzent ihre Herkunft aus einem fremden Land erkennen. Er war nicht sicher, ob dieser polnisch oder russisch klang, die hohen Wangenknochen der Frau vor ihm ließen jedoch eine Abstammung aus den östlichen Regionen Europas vermuten.
„Da haben Sie Glück, ein Gast ist nicht erschienen. In Frankfurt ist Messe, wir sind eigentlich ausgebucht.“ Er schob der Frau einen Anmeldebogen über den Tresen. „Wie lange wollen Sie bleiben?“ Neugierig sah Kim den neuen Hotelgast an.
„Ich weiß noch nicht. Ich suche Arbeit bei einer Familie.“
Kim blätterte die Seiten um, fuhr mit dem Zeigefinger die Zeilen entlang. Hier wurde noch alles handschriftlich in einem großen Terminkalender festgehalten. Von einem modernen Computersystem hielt die Chefin des Hauses nichts, obwohl Kim, der seit drei Jahren in dem Hotel als Nachtportier arbeitete, mehrfach angeboten hatte, eines zu installieren.
„Sie können dieses Zimmer“, er schob einen Schlüssel über den Tresen, „für eine Woche haben. Wenn Sie länger bleiben wollen, müssten Sie in ein anderes Zimmer im hinteren Teil des Hotels umziehen. Dieses hier“, er deutete freundlich auf den Schlüssel, „ist ab nächste Woche reserviert.“
„Das geht in Ordnung. Vielleicht bin ich bis dahin wieder weg.“ Der Ton der Frau war hart, aber nicht unfreundlich.
„Gut, wie möchten Sie zahlen?“ Nicht alle Gäste, die hier wohnten, gaben ihm eine Kreditkarte. Es war durchaus üblich, die Hotelrechnung mit Bargeld zu begleichen. Der Grund war wohl in den meisten Fällen, die eigene Identität nicht preiszugeben. Nach einem Ausweis wurde nicht gefragt. Die Frau kramte einen Fünfhundert-Euro-Schein aus den Tiefen ihres Capes hervor. Obwohl dieses Zahlungsmittel nicht ungewöhnlich war, ertastete Kim mit den Fingerspitzen das raue Papier, hielt den Schein gegen das Licht.
„In Ordnung.“ Er legte das Geld in eine Kassette, nahm das Wechselgeld heraus und schob ihr die Scheine über den Tresen.
„Danke, der Rest ist für Sie.“ Die Frau hatte nicht einmal nach dem Preis für eine Übernachtung gefragt, weshalb das Trinkgeld unangemessen hoch war. Kim wusste, was das zu bedeuten hatte. Die Frau wollte anonym bleiben.
Ihr Zimmer lag im sechsten Stock am Ende eines schmalen Ganges. Sie sah sich in dem kleinen hohen Raum um. Die Deckenlampe lieferte nur spärliches Licht, der Bodenbelag war heruntergetreten. Die groß gemusterte Tapete schien ein Überbleibsel aus den siebziger Jahren zu sein. An der Wand stand ein Einzelbett. Außer einem wackeligen Schrank, einem kleinen Tischchen und einem durchgesessenen Sessel befand sich nichts weiter in dem Zimmer.
In dem angrenzenden Bad hing ein blinder Spiegel über einem grauen Porzellanbecken. Vor der Dusche war ein schmuddeliger Plastikvorhang angebracht. Sehr ungemütlich, dachte sie, aber für ein paar Tage muss es reichen.
In der Abflughalle des Memphis International Airport wimmelte es von Menschen. Es war laut und stickig. Die wunderschöne Weihnachtsbeleuchtung, die von den hohen Decken hing, konnte über das hektische Treiben nicht hinwegtäuschen.
Die Menschenschlange bewegte sich nur langsam vorwärts. Geduld war angesagt. Wenn die Amerikaner etwas machten, dann machten sie es richtig. Von seinem augenblicklichen Standort aus konnte Alexander sehen, dass die Passagiere gründlich durchsucht wurden. Den Beamten am Abfertigungsschalter reichte es nicht, die Taschen zu durchleuchten; jeder Reisende musste Schuhe und Jacke ausziehen, den Gürtel abnehmen und sich abtasten lassen.
Seinen Rollkoffer hatte er frühzeitig am Check-in-Schalter abgegeben und sich auf den Weg zum Gate gemacht. Obwohl es in den weiten Gängen des Flughafens ziemlich warm war, hatte er seinen Kaschmirmantel anbehalten. Über seiner Schulter hing eine schwarze Ledertasche von Goldpfeil. Sie enthielt die Reiseunterlagen, seine persönlichen Papiere und sein Handy, das er bereits ausgeschaltet hatte. Zur Zerstreuung während des langen Fluges hatte er sich eine Elvis-Biografie mitgenommen.
Er sah gut aus, fühlte sich nach dem zweiwöchigen Aufenthalt in Elvis Presleys Geburtsland erholt und gelassen. Die Frauen in seiner Nähe sahen ihn interessiert an, was ihm ein breites Grinsen entlockte und ihn noch attraktiver erscheinen ließ. Seine Haare waren im Nacken etwas zu lang und drehten sich nach außen. Die Zahl der Silberfäden inmitten der schwarzen Wellen hatte zugenommen. Dank des vorwiegend verzehrten Fast Food und der zahlreichen Gläser Whisky hatte er wieder etwas zugenommen. Seine Wangen waren glatt, die tiefen Falten verschwunden. Der Kummer war ihm nicht mehr anzusehen, dennoch hatte er die Geschichte, die im September letzten Jahres geschehen war, nicht vergessen. Mit einigem zeitlichen Abstand fiel es ihm inzwischen leichter, daran zurückzudenken; der Schmerz der Enttäuschung saß jedoch immer noch tief wie ein giftiger Stachel.
Seine Kollegen im Präsidium hatten es ihm leicht gemacht. Keiner von ihnen hatte dumme Witze über seine kurze, heftige Liebesaffäre mit der attraktiven Anwältin aus Friedberg gerissen, die sich als psychopathische Mörderin entpuppt hatte.
Stückchen, die Sekretärin vom K 10, und seine Kollegin Cosima hatten ihn getröstet, hatten alles getan, damit er seinen seelischen Schmerz überwand.
Nur knapp war er einem vorzeitigen Ableben entgangen. In letzter Sekunde hatte Cosima ihn aus dem Raum, in dem ihn seine ehemalige Geliebte gefangen genommen hatte, befreit. Der Sauerstoff war verbraucht gewesen. Er wäre fast erstickt. Unwillkürlich griff er sich an den Hals.
Cosima hatte bei allem, was ihr heilig war, geschworen, dass Erdmann, sein Rauhaardackel, sie herbeigerufen hätte. Sie hätte sein Heulen vernommen. Wie sie das über eine Entfernung von über zwanzig Kilometer gehört haben wollte, war ihm noch immer unklar, doch sie bestand darauf, dass es so gewesen war. Sie nannte es Gedankenübertragung.
Jetzt freute er sich darauf, die beiden wiederzusehen. Zwölf Flugstunden trennten ihn von der Heimat. Cosima und Erdmann wollten ihn vom Flughafen abholen.
Cosima war es auch gewesen, die ihn zu der Reise in die USA überredet hatte, um auf den Spuren von Elvis Presley zu wandeln. Vor Weihnachten war er nach Nashville/Tennessee, dem Traditionsort von Rock ’n’ Roll, Blues und Country Musik, geflogen, hatte sich ein Auto gemietet und war quer durch den Staat bis nach Memphis gefahren.
Den Abend des 24. Dezember hatte er bei mehreren Gläsern Jack Daniel’s in einem kleinen, gemütlichen Hotel verbracht. In dessen Bar hatte eine Band die Gäste unterhalten. Für Alexander war es das erste Weihnachtsfest gewesen, das er nicht in Deutschland verbrachte.
Nachdem die Einheimischen am 24. Dezember noch ihrer täglichen Arbeit nachgegangen waren, begann für sie am Morgen des 25. Dezember das Weihnachtsfest. Alexander hatte sogar eine Kirche besucht, nur um die Zeit zu überbrücken, bis er abends durch die Bluesklubs und Restaurants in der Beale Street, einem historischen Straßenzug in Memphis, flanieren konnte. Die Gospelsongs der Schwarzen, ihre rhythmischen Bewegungen und die Hingabe in ihren Gesichtern hatten ihn begeistert. Das war eine neue Erfahrung für ihn gewesen.
Nach Weihnachten hatte er Graceland, Elvis’ ehemaligen Wohnsitz, besucht. Mittels einer Audioguide-Tour war er durch dessen Geburtshaus gelaufen und hatte die Informationen regelrecht in sich aufgesogen.
Ein weiterer Besuch hatte dem Sun Studio in Memphis, einem historisch bedeutenden Aufnahmestudio, gegolten. Neben Größen wie Elvis Presley hatten hier einstmals auch Johnny Cash, Roy Orbison und Jerry Lee Lewis ihre Platten aufgenommen. Obwohl das Studio immer noch betriebsbereit war, war es Alexander möglich gewesen, die Räumlichkeiten, die heute als Museum genutzt wurden, zu besichtigen.
Nach dem Besuch weiterer Museen und Gedenkstätten hatte er Abend für Abend die Pubs in der Beale Street besucht. Als Highlight seiner Reise war ihm eine Musikshow mit einem Elvis-Imitator am Silvesterabend in Erinnerung geblieben.
Nach dem Tod seines Vaters war in ihm ein leidenschaftliches Interesse für die Musik von Elvis Presley erwacht, als er beim Aufräumen in der Villa seiner Eltern auf alte Schallplatten des amerikanischen Sängers gestoßen war. Seitdem hatte ihn das ständig wachsende Interesse nicht losgelassen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit hörte er Elvis-Songs.
Manchmal ging er Cosima damit auf die Nerven, zumal er vor jeder Fahrt zu einem Tatort in der Wetterau als Erstes eine seiner Lieblings-CDs einlegte. Nichts konnte ihn so sehr beruhigen und entspannen wie diese Musik. Mit der Reise nach Tennessee hatte er sich einen großen Wunsch erfüllt. Weil er Cosima dafür dankbar war, dass sie ihn dazu gedrängt hatte, war es ihm wichtig gewesen, ihr mehrere Souvenirs mitzubringen.
Alexander und seine Kollegin waren erfolgreiche Ermittler des Morddezernats, K 10 genannt, im Wetteraukreis und hatten erst im September einen zehn Jahre zurückliegenden Mord aufgeklärt. Dummerweise war ihnen die Mörderin entwischt. Dem Kommissar ließ das bis heute keine Ruhe. Er würde alles daransetzen, die Täterin zu finden, und wenn es das Letzte war, was er tun konnte. Das war er nicht nur sich selbst schuldig, sondern auch seinem ehemaligen Kollegen, dem zuliebe er den Fall neu aufgerollt hatte.
Seit Ende September 2010 war die Frau spurlos verschwunden. Obwohl man sofort alle Bahnhöfe in der Umgebung sowie den Frankfurter Flughafen kontrolliert und die Kreisstadt Friedberg regelrecht auf den Kopf gestellt hatte, war die mörderische Anwältin entkommen. Es gab keinerlei Hinweise auf ihren Aufenthaltsort. Kurz darauf waren die Kommissare zu einem neuen Tatort gerufen worden.
Unwillkürlich dachte Alexander an den Toten aus der Wäscherei Pauli, einem Traditionsbetrieb in Annerod bei Gießen. Ein junger Vietnamese war in einem Behälter mit Schmutzwäsche aus einem Hotel in Friedberg tot aufgefunden worden. Sein Mörder musste ihn rücklings in den Wäschebehälter gestopft haben. Aufgrund der gebeugten Lage war es dem jungen Mann unmöglich gewesen, sich aus seiner unglücklichen Situation zu befreien. Jeder Versuch, sich aufzurichten und herauszuklettern, hatte den zierlichen Mann noch tiefer in den Wäscheberg rutschen lassen. Sein Kopf war dabei immer fester gegen die Brust gedrückt worden, weshalb er qualvoll erstickt war. Sein Todeskampf hatte vermutlich Stunden gedauert.
Mehrere Tage hatte der Leichnam unter der schmutzigen Wäsche gelegen, bevor man ihn entdeckte. An einem Freitagmorgen hatte die Wäscherei wie üblich den Wäschebehälter von dem Hotel abgeholt und ihn vor Beginn des Wochenendes in der großen Halle zu den übrigen Wäschewagen gestellt. Erst am Mittwoch sollten das Bettzeug und die Tischwäsche gewaschen, gebügelt und gefaltet werden, um sie dann, wie vereinbart, zum Auftraggeber zurückzubringen.
Als der Wäscher den Sack mit der Schmutzwäsche öffnete, um diese auf die Waage zu legen, und die ersten Laken hervorholte, hatte er die Leiche entdeckt. Vor Schreck war er rückwärts auf die Waage gefallen, die im Boden eingelassen war. Ein Kollege, der seinen Schrei gehört hatte, war ihm zu Hilfe geeilt.
„Wir haben ja schon einige ungewöhnliche Gegenstände zwischen der Wäsche gefunden“, hatte der Besitzer der Wäscherei erklärt, „aber einen Toten, nein, den hätte hier niemand vermutet.“
Nachdem die Gießener Polizei die Herkunft des toten Vietnamesen geklärt hatte, waren die Kommissare des K 10 aus Friedberg, Kriminalhauptkommissar Alexander Henneberg und Kriminaloberkommissarin Cosima von Mittelstedt, beauftragt worden, gemeinsam mit ihren Kollegen die Ermittlungen aufzunehmen.
Der Vietnamese hatte mehrere Jahre als Nachtportier in einem Hotel am Friedberger Bahnhof gearbeitet, um sich sein Studium der Elektrotechnik an der Technischen Fachhochschule in Friedberg zu finanzieren. Seine in Leipzig wohnenden Eltern waren nicht dazu in der Lage gewesen, ihn mit Geldmitteln zu unterstützen.
Auf die Frage, weshalb sie den Studenten bei der Polizei nicht als vermisst gemeldet hätte, hatte die betagte Hotelbesitzerin, und das, obwohl nach Aussage der anderen Mitarbeiter der junge Mann zuvor nicht eine einzige Nacht ferngeblieben war, nur lapidar geantwortet: „Man weiß doch, wie diese Ausländer sind, unzuverlässig und faul.“
Alexander verspürte noch heute Wut, wenn er an diese dumme Aussage dachte. Sie war nicht nur gedankenlos, sondern auch menschenverachtend gewesen.
Bislang war der Fall nicht aufgeklärt worden.
Die Vermutung lag nahe, dass der Student einem Raubmord zum Opfer gefallen war, denn auch die Geldkassette mit den Tageseinnahmen war verschwunden. Die Hotelgäste waren befragt worden, doch ihre Aussagen hatten nicht zur Aufklärung des Falles beitragen können.
Ein weiblicher Hotelgast namens Olga Soltisiak, eine Polin, die tagsüber abgereist war, hatte nicht ermittelt werden können. Die Arbeitgeber, bei denen die Frau am gleichen Tag als Betreuerin der an Demenz erkrankten Mutter anfangen sollte, hatten die Polin weggeschickt. Die Mutter war in der Nacht überraschend verstorben. Nachdem man die Frau mit einem Monatsgehalt vertröstet hatte, war sie umgehend abgereist. An der Heimatadresse in Warschau war die Polin seitdem nicht wieder aufgetaucht. Vermutlich hielt sie sich noch irgendwo in Deutschland auf, um Geld zu verdienen, und hatte von alldem nichts mitbekommen. Eine weitere weibliche Person hatte anonym eingecheckt und war ebenfalls unauffindbar. In dem Hotel nahm man es nicht so genau mit den Angaben der Gäste.
Alexander war so tief in Gedanken versunken, dass er die Bewegung in der Warteschlange vor sich nicht mitbekam. „Excuse me, Sir, would you please go on“, hörte er plötzlich eine freundliche Frauenstimme hinter sich sagen. Er drehte sich um, entschuldigte sich höflich und beeilte sich, seinen Vordermann einzuholen.
Bei der Sicherheitskontrolle angelangt, zog er seinen Kaschmirmantel aus und legte ihn sorgfältig zusammen. Als er den Stoff glatt strich, bemerkte er einen Gegenstand am Saum des Mantels. Er erschrak. Das konnte nur sein Schweizer Taschenmesser sein, das er immer bei sich trug. Es musste durch das Loch im Futter der Manteltasche gerutscht sein, welches ihn seit Beginn der Reise ärgerte. Das war ihm völlig entfallen. Eilig legte er seine Geldbörse, das Handy und den Gürtel obenauf in der Hoffnung, dass das Messer nicht entdeckt würde. Womöglich hielt man ihn für einen Attentäter. Auf alle Fälle würde man ihm die vermeintliche Waffe abnehmen. Wie sollte er dann jemals wieder an das Messer gelangen, das ein Erinnerungsstück an seinen Vater war? Dieser hatte es ihm zur Konfirmation geschenkt – damals noch eine teure Seltenheit. Seitdem hütete er es wie seinen Augapfel und nahm es überall mit hin.
Achtlos warf der Sicherheitsbeamte Alexanders Schuhe auf den teuren Mantelstoff und forderte ihn auf, weiterzugehen. Alexander schritt durch die elektronische Schranke, immer den Blick auf das Transportband gerichtet. Während er von einem weiteren Beamten mit einem Körperscanner abgetastet wurde, sah er, dass die Box mit seinen Wertsachen bereits am Ende des Bandes angelangt war. Nervös wartete er auf die Aufforderung, seinen Mantel vorzuzeigen. Doch nichts geschah. Unbehelligt nahm er sein Eigentum entgegen, band sich den Gürtel wieder um und verstaute sein Handy und die Geldbörse in seiner Hosentasche. Erleichtert legte er sich den Mantel über den Arm und entfernte sich schnellen Schrittes in Richtung Gate.
Ohne noch einmal aufgehalten zu werden, bestieg er die Maschine nach Frankfurt und belegte den gebuchten Fensterplatz. Jetzt endlich konnte er aufatmen.
Der Flug verlief ruhig. Aber in Alexanders Kopf drehte sich unaufhörlich ein Gedankenkarussell. Immer wieder musste er an Regina denken, die ihn um den kleinen Finger gewickelt, bezaubert und dann so mies hintergangen hatte. Noch nie hatte er sich so sehr in einem Menschen getäuscht. Dabei sagte man ihm eine gute Menschenkenntnis nach. Doch in diesem Fall hatte diese ihn kläglich im Stich gelassen. Hier hatte sich der Spruch „Liebe macht blind“ auf unangenehme Weise bestätigt.
Es war nicht nur sein verletzter Stolz, der ihn immer wieder an den peinlichen Vorfall im September erinnerte; Kummer bereiteten ihm auch seine betrogenen Gefühle für die schöne Anwältin. Er hatte sich in sie verliebt, hätte gern eine richtige Beziehung zu ihr aufgebaut. Dass sie etwas älter war als er, hatte ihn nicht gestört. Sie sah nicht nur gut aus, sondern war klug und gebildet, eine temperamentvolle Geliebte, die zudem seine Leidenschaft für die Musik der fünfziger und sechziger Jahre teilte. Er hätte sich alles mit ihr vorstellen können – ein gemeinsames Leben, schöne Reisen, Konzertbesuche, Frühstück im Bett, ja sogar das gemeinsame Älterwerden.
Für Kinder war es zu spät, aber das hatte ihn nicht gestört. Kinder waren in seiner Lebensplanung nie vorgesehen gewesen. Genau das war der Grund, weshalb alle seine vorherigen Beziehungen gescheitert waren. Doch sein Beruf als Ermittler bei der Kripo hatte ihn gelehrt, dass es besser war, auf Kinder zu verzichten. Bisher hatte er in seinem Leben nichts vermisst, die Affäre mit Regina jedoch hatte ihm deutlich gemacht, dass das Leben an der Seite eines gleichgesinnten Partners viele Vorteile bot. Das Ende ihrer Beziehung war so schrecklich verlaufen, hatte ihn derart tief gekränkt, dass er sich eine Beziehung zu einer anderen Frau nicht einmal mehr vorstellen konnte.
Alexander musste über seine Grübeleien eingenickt sein. Er wachte erst wieder auf, als die große Maschine am Rhein-Main-Airport in Frankfurt die Rollbahn berührte. Im nächsten Moment setzte der Gegenschub der Triebwerke ein und bremste die Geschwindigkeit des Flugzeugs ab. Die Elvis-Biografie hatte er nicht einmal aufgeschlagen. Das Frühstück hatte er abgelehnt, weshalb er sich jetzt auf ein ordentliches, deutsches Frühstück mit Cosima freute. Der Blick aus dem Fenster bereitete ihm weniger Freude. Es schneite stark. Dicke Flocken wirbelten vor dem Fenster durch die Winterluft.
Der Rauhaardackel stemmte alle vier Pfoten in ihren Rücken. Das bedeutete so viel wie: Steh endlich auf, ich will raus! Mittlerweile kannte sie die Gewohnheiten des quirligen Vierbeiners recht gut, den sie für vierzehn Tage in ihre Obhut genommen hatte. Ihr Kollege Alexander war für zwei Wochen in die USA gereist. Sie selbst hatte ihn dazu ermuntert und ihm versprochen, während seiner Abwesenheit für seinen vierbeinigen Liebling zu sorgen. Es hatte ihr Spaß gemacht, jeden Morgen mit dem Tier durch die Wiesen zu laufen und ihm beim Stöbern in den Erdlöchern zuzusehen.
Seit vier Uhr lag sie wach in ihrem Bett. Erdmann hatte sie geweckt, indem er an ihrem Kopf herumschnüffelte und seine nasse Schnauze in ihr Ohr versenkte. Obwohl es für sie anfangs undenkbar gewesen war, das Nachtlager mit einem Tier zu teilen, hatte Erdmann bereits in der ersten Nacht ihr Bett erobert. Ziemlich schnell hatte sie sich an diesen Umstand gewöhnt. Es gefiel ihr sogar, den Dackel an ihrer Seite zu spüren, mit ihm zu kuscheln.
Nun brummte und knurrte er ununterbrochen. Sie verspürte leichten Ärger, jedoch mehr über sich selbst als über das nervige Tier. Sie hätte Erdmann nicht von der Rückkehr seines Herrchens erzählen sollen. Seit dem vergangenen Abend ließ er sie nicht in Ruhe. Schließlich gab sie auf und verließ das warme Bett. Der Blick aus dem Fenster ließ sie ihren Zorn vergessen. In der Nacht hatte es geschneit. Ein weißes Tuch aus Schnee hatte sich über die Landschaft gebreitet.
Im Grunde musste sie Erdmann dankbar sein, dass er sie geweckt hatte. Bei diesen Witterungsverhältnissen würde sie auf der ohnehin ständig überfüllten A 5 in Richtung Frankfurt nur langsam vorankommen. Die veranschlagte halbe Stunde von Münzenberg bis zum Rhein-Main-Airport würde unter diesen Umständen nicht ausreichen. Ständig kam es zu schweren Unfällen zwischen dem Gambacher Kreuz und dem Nordwestkreuz bei Frankfurt. Meistens waren Lkws an den Unfällen beteiligt, deren Fahrer eingeschlafen waren oder die den Sicherheitsabstand nicht eingehalten hatten.
Sie duschte, trocknete sich ab und nahm ihren neuen blauen Baumwollpullover aus der Truhe. In einer kleinen Boutique auf der Kaiserstraße in Friedberg hatte sie sich das teure Teil kurz vor Weihnachten gegönnt, als sie mit ihrer Freundin Juliane Landmann aus Gambach über die weihnachtlich geschmückte Hauptstraße gebummelt war. Diese führte von der Burg mit dem weithin sichtbaren Adolfturm vorbei am Elvis-Presley-Platz bis zu einem Kreisel, der mit einer überdimensionalen Gitarre ebenfalls an den amerikanischen Sänger erinnerte. An dem Abend waren sie völlig unbeschwert gewesen und hatten den Tag mit herzhaften Haxen in der altdeutschen Bierstube „Die Dunkel“ ausklingen lassen. Leider kamen diese Treffen nur selten zustande. Ihr Beruf als Kommissarin beim K 10 beanspruchte sie oft auch an den Abenden oder in der Nacht, sodass getroffene Verabredungen immer wieder abgesagt werden mussten. Glücklicherweise hatte Juliane großes Verständnis für diesen Umstand. Als Redakteurin einer Lokalzeitung hatte sie öfter auch beruflich mit ihr zu tun und konnte die Gründe für die kurzfristigen Absagen nachvollziehen.
Cosima bereitete sich einen starken Kaffee zu, setzte sich in ihrer Küche an den Hochtisch und zündete die vier immer noch nicht völlig heruntergebrannten Kerzen auf dem Adventskranz an.
Obwohl sie kein gläubiger Mensch war und mit der Weihnachtsgeschichte nichts anfangen konnte, liebte sie diese Zeit des Jahres und erfreute sich an den schön geschmückten Geschäften und der Beleuchtung in den Straßen. Sie hatte zwar selbst keinen Weihnachtsbaum, aber eine Lichterkette hing über ihrer Zimmertanne und vermittelte ihr eine gemütliche Atmosphäre. Überall standen Bozener Weihnachtsengel in verschiedenen Größen und Farben, die sie an ihre Mutter erinnerten. Diese hatte ihr jedes Jahr zu Weihnachten einen Engel mitgebracht, bis die schöne Tradition mit dem Tod der Mutter kurz vor der Jahrtausendwende zu Ende gegangen war. Cosima hatte leider keine Geschwister. Ihren Vater hatte sie nie gekannt, er war bereits vor ihrer Geburt gestorben. Ihre Mutter hatte sie allein großgezogen. Ihren Ehemann hatte Cosima vor vier Jahren verlassen, nachdem sie überrascht festgestellt hatte, dass er nicht nur sie, sondern auch einen anderen Mann liebte. Mit dieser Situation war sie überfordert gewesen. Seitdem war sie keine neue Beziehung eingegangen.
Cosima liebte Weihnachtsmusik, dabei bevorzugte sie die Melodien amerikanischer Sänger. Ihr Lieblingslied war „Driving Home for Christmas“ von Chris Rea, dessen Musik sie auch sonst gerne hörte.
Heiligabend hatte sie mit Erdmann allein vor dem Kamin verbracht. Obwohl Juliane sie für den Abend eingeladen hatte, war es ihr lieber gewesen, sich für die Weihnachtsfeiertage zum Bereitschaftsdienst zu melden. Wider Erwarten war nichts vorgefallen, was sie genötigt hätte, ihr gemütliches Heim zu verlassen. Leider war das Weihnachtsfest schneefrei geblieben.
Den ersten Weihnachtsfeiertag hatte sie bei Juliane und ihrem Ehemann Walter mit einem gemütlichen Brunch verbracht. Vor dem düsteren Grau des Himmels war das Einfamilienhaus der Familie Landmann in der Brückfeldstraße in Gambach schon von Weitem zu sehen gewesen. Alle Fenster waren mit Lichterketten bestückt, die dem Haus einen einladenden Glanz verliehen.
Im Inneren des Hauses hatte es nach Bratäpfeln, Lebkuchen und Zimtsternen gerochen. Überall in den Zimmern waren brennende Kerzen in Glasbehältern aufgestellt. Ausgesuchte Accessoires hatten zur Weihnachtsstimmung beigetragen, während im Hintergrund stimmungsvolle Weihnachtsmelodien aus dem CD-Player zu hören waren.
Juliane hatte sich viel Mühe mit der Zubereitung der Speisen gegeben. Das in der Küche befindliche Büffet bot alle erdenklichen Genüsse, die zu einem gelungenen Weihnachtsfest gehörten. Auch die drei Töchter der Familie Landmann waren nach Hause gekommen. Sie studierten außerhalb und kamen nur noch an manchen Wochenenden, vor allem aber an den Feiertagen, in ihr Elternhaus in Gambach. Selbst Erdmann hatte den Besuch genossen, zumal er mit Julianes Hündin Amiga durchs Haus toben konnte. So mancher Leckerbissen war auch für die beiden Hunde am Tisch abgefallen.
Bei dem Gedanken an den Weihnachtsabend musste Cosima lächeln. Versonnen schaute sie in die flackernden Flammen der Adventskerzen. Bereits zwei Tage nach Weihnachten war die stimmungsvolle Ruhe abrupt unterbrochen worden. Sie und die Kollegen waren an die Autobahnraststätte „Stauferburg“ an der A 45 zwischen dem Gambacher Kreuz und der Abfahrt Wölfersheim gerufen worden. Einem Polizisten, der jeden Morgen in Münzenberg auf die Autobahnauffahrt fuhr, um zu seiner Dienststelle in Büdingen zu fahren, war ein Lkw aufgefallen, der seit Tagen unverändert dort auf dem Parkplatz stand. Er hatte die Autobahnpolizei davon in Kenntnis gesetzt, die daraufhin den Lkw mit dem litauischen Kennzeichen überprüfte. Als man den Anhänger öffnete, waren mehrere Leichen gefunden worden – Frauen, die auf ihrer Reise im Lkw erfroren waren.
Dies war leider kein Einzelfall. In den letzten Monaten war die Polizei im ganzen Bundesland mehrfach auf Lkws aufmerksam geworden, die dem Transport von Frauen aus dem Osten dienten. Im Sommer waren zehn Frauen im Süden Deutschlands bei Außentemperaturen von 35 Grad qualvoll in einem solchen Fahrzeug erstickt. Die anderen Frauen, die man noch lebend auf dessen Ladefläche vorgefunden hatte, konnten keine Aussage machen, wer hinter dem organisierten Menschenhandel steckte. Man hatte ihnen die Pässe abgenommen, sie gefesselt auf dem Boden sitzend verschleppt. Die Toten hatte man zur Abschreckung zwischen den Überlebenden liegen lassen. Cosima war froh, dass das BKA den Fall übernommen hatte.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie ihr Frühstück beenden und sich langsam in Bewegung setzen sollte. Jetzt würde sich der Kauf ihres neuen SUV lohnen. Im Oktober hatte sie ihren alten Opel Corsa gegen einen Jahreswagen von Toyota getauscht. Mit dem RAV 4 und den breiten Winterreifen würde sie sicher über die verschneiten Straßen zum Flughafen gelangen.
Erdmann wartete an der Haustür auf sie. Als sie diese öffnete, kam ihr ein Schwall eiskalter Schneeluft entgegen. Quasi im Vorbeigehen erleichterte Erdmann auf dem Weg zur Garage seine Blase. Offenbar konnte er es kaum abwarten, sein Herrchen wiederzusehen.
Cosima freute sich ebenfalls auf die Rückkehr ihres Kollegen. Trotz der vielen Frotzeleien waren sie ein eingespieltes Team und sie waren gute Freunde geworden.
Frohen Mutes stieg sie nach Erdmann, der bereits den Beifahrersitz eingenommen hatte, in ihren fahrbaren Untersatz, startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein. Sie schloss den Gurt des Beifahrersitzes, denn Erdmanns Gewicht reichte aus, um binnen Sekunden ein nervtötendes Bimmeln auszulösen, das einen nicht angeschnallten vermeintlichen Passagier anmahnte. Das Auto eierte aus der Garage und machte sonderbare Geräusche.
Cosima stieg aus und betrachtete den Wagen. Ihr Blick blieb an dem platten Vorderreifen auf der Fahrerseite hängen. Als sie um den SUV herumging, musste sie entsetzt feststellen, dass aus allen vier Reifen die Luft entwichen war.
„Das gibt es doch nicht!“, fluchte sie und trat gegen den hinteren rechten Reifen. „Wie kann das denn passieren?“ Als sie den Wagen am Vortag in der unverschlossenen Garage abgestellt hatte, war noch alles in Ordnung gewesen. Sie konnte sich nicht erklären, was geschehen war. Das war kein Zufall, dachte sie. Sie kannte niemanden in dem kleinen Münzenberger Stadtteil, der sie damit hätte ärgern wollen, und hier ans Ende des Dorfes verirrte sich selten jemand. Irgendwer musste also vorgehabt haben, sie daran zu hindern, rechtzeitig zum Flughafen zu gelangen, um Alexander abzuholen. Aber wer? Und vor allem warum? Wo sollte sie jetzt so schnell ein anderes Fahrzeug hernehmen? Ihr Nachbar, den sie als äußerst hilfsbereiten Menschen kennengelernt hatte, war gleich nach Weihnachten zum Skilaufen nach Österreich aufgebrochen. Ansonsten kannte sie niemanden in Ober-Hörgern so gut, den sie hätte um Hilfe bitten können.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche ihres Parkas und wählte Alexanders Nummer. „Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar“, tönte es aus dem Mobilfunkgerät. Sie tippte die Eins, damit er sie zurückrief, sobald er sein Telefon nach dem Flug wieder einschaltete.
Der Koffer drehte schon eine ganze Weile seine Runden auf dem Transportband. Obwohl er sich nach einer Zigarette sehnte, verspürte Alexander keine Lust, die Menschen, die vor ihm standen, zur Seite zu schubsen, um so schneller an sein Eigentum zu gelangen. Willkommen in Deutschland, dachte er und schüttelte den Kopf, weil er seine Landsleute kannte. Dicht an dicht standen sie am Gepäckband, wichen keinen Zentimeter zur Seite, von Rücksicht oder gar Hilfsbereitschaft keine Spur. Im Gegenteil. Wer es wagte, die Menschenwand zu durchbrechen, um nach seinem vorbeigleitenden Koffer zu greifen, wurde barsch zurückgewiesen.
Seine Gedanken gingen wieder zu der ersten Zigarette, die er sich anstecken würde, sobald er das Flughafengebäude verlassen hatte. Im Duty-free-Shop hatte er eine Stange seiner bevorzugten Marke erworben. Gern hätte er mehr mitgenommen, denn Rauchen war in Deutschland zu einem teuren Laster geworden. Nicht die Herstellung machte die Tabakwaren so teuer, sondern die vom Staat aufgeschlagenen Steuern. Dennoch wollte er diesen Genuss nicht aufgeben. Beim Rauchen ließ es sich gut über Probleme nachdenken und er kam zur Ruhe. Cosima ließ ihn oft ihren Ärger spüren, wenn er sich nach einer Befragung von Zeugen oder einer Durchsuchung eine Zigarette ansteckte. Auch heute würde sie ihm, bevor sie losfuhren, zunächst die Gelegenheit geben müssen, seinem Laster zu frönen.
Als er endlich im Besitz seines Koffers war und zum Zoll gelangte, hielt er den Beamten die weiße Tüte mit den Zigaretten entgegen und wurde durchgewinkt.
Langsam ging er zum Ausgang und sah sich in der Ankunftshalle einer großen Menschenmenge gegenüber. Auch hier war noch alles weihnachtlich dekoriert. Lichterketten schmückten die Glasfronten des Gebäudes, silberfarbenes Lametta hing von den Decken.
Er ließ seinen Blick über die Köpfe der Wartenden schweifen. Offenbar war Cosima nicht unter ihnen. Seine Maschine war trotz des garstigen Wetters pünktlich gelandet, aber vielleicht hatte der starke Schneefall seine Kollegin aufgehalten. Egal, auf die paar Minuten kam es nun auch nicht mehr an.
Er beschloss, zunächst die Toilette aufzusuchen. Im Flugzeug war der morgendliche Ansturm auf die wenigen Bordtoiletten so groß gewesen, dass er erst gar nicht den Versuch unternommen hatte, dorthin zu gelangen. Er zwängte sich durch die wartenden Menschen, kam nur schrittweise voran.
Plötzlich spürte er einen harten Gegenstand in seinem Rücken. Er drehte den Kopf nach links, wollte über die Schulter spähen, um zu sehen, wer ihn so heftig stieß. Sofort verstärkte sich der Druck. Ihm lief es eiskalt über den Rücken bei dem Gedanken, was sich da gerade zwischen seine Rippen bohrte.
„Dreh dich nicht um, sondern geh zur Rolltreppe. Wenn du auch nur einen Laut von dir gibst, bist du ein toter Mann.“
Der Tonfall erinnerte ihn an jemanden, der eindeutig osteuropäische Akzent allerdings irritierte ihn. Sofort fiel ihm die Bande junger Rumänen ein, die mehrere Lkws auf hessischen Autobahnen aufgeschlitzt hatte, um deren Ladung zu klauen. Bei ihrem Versuch, auf der Raststätte „Wetterau“ an der A 5 einen Lkw auszurauben, war dessen Fahrer ums Leben gekommen. Alexander war es nach einer heißen Verfolgungsjagd durch die halbe Wetterau gelungen, die Diebe und den Mörder dingfest zu machen. Der Prozess hatte sich vor Gericht monatelang hingezogen. Mehrfach musste er als Zeuge aussagen. Die Angehörigen des Täters, vor allem die Ehefrau, die hinter der schusssicheren Glasscheibe im Zuhörerraum gesessen hatten, waren ihm voller Hass begegnet, hatten ihm unverständliche Drohungen ins Gesicht geschleudert. Am Tag, als der Vorsitzende Richter endlich die Haftstrafe verkündete, hatte der Hauptangeklagte Rache geschworen. „Dafür wirst du büßen!“, waren die boshaft ausgestoßenen Worte des untersetzten Rumänen beim Verlassen des Gerichtssaales gewesen. Die Tat lag viele Jahre zurück und Alexander war nicht bekannt, dass der Angeklagte entlassen worden war. Er wusste nur, dass dieser nach der Hälfte der verbüßten Strafe in ein rumänisches Gefängnis überführt worden war. Sollte sich jetzt einer dieser Rumänen an ihm rächen wollen?
„Ich muss mal aufs Klo. Vorher gehe ich nirgendwo hin“, erwiderte er bockig.
„Das geht jetzt nicht. Du musst warten“, kam die drohende Antwort.
„Gut, dann pinkle ich mir hier und jetzt in die Hose“, stieß er so laut hervor, dass es die umstehenden Personen hören mussten. Doch niemand reagierte. Fieberhaft überlegte er, wie er sich aus dieser unangenehmen Lage befreien konnte, ohne dass er oder jemand anderes Schaden nahm. Die Chance, seinem Widersacher zu entfliehen, war in dem Gedränge unmöglich.
„Okay, geh geradeaus weiter. Dort hinten ist eine Toilette. Doch wenn du irgendjemanden ansprichst oder auch nur den geringsten Versuch unternimmst abzuhauen, bist du ein toter Mann. Ist das klar?“ Alexander vernahm ein gefährliches Klicken. Er nickte. Auf der Herrentoilette würde sich vielleicht eine Möglichkeit bieten, jemanden auf seine missliche Situation aufmerksam zu machen.
Die Person hinter ihm dirigierte ihn zur Behindertentoilette, drückte schnell einen Knopf. Automatisch öffnete sich die Schiebetür. Er wurde in den Raum gestoßen, die ihm unbekannte Person folgte ihm.
„Ich kann nicht pinkeln, wenn mir einer zusieht. Gehen Sie raus. Ich kann hier nichts anstellen und schon gar nicht fliehen“, sagte er und unterließ es, über die Schulter zu spähen.
„Na gut, aber untersteh dich, auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, sonst …“ Ihm wurde die schwarze Ledertasche von der Schulter gerissen.
„Ja, ich weiß, dann bin ich ein toter Mann“, vervollständigte Alexander den Satz, wütend darüber, dass ihm mit der Ledertasche auch sein Handy abgenommen worden war. Die Tüte mit den Zigaretten drückte er ihr freiwillig in die Hand. Sein Blick fiel auf seinen Koffer, den er neben sich abgestellt hatte. Darin befand sich nichts, was ihm jetzt helfen konnte. Er blieb allein zurück, verriegelte die automatische Tür von innen und sah sich um. Kurzerhand stieg er auf die Porzellanschüssel und streckte seine Arme nach oben. Vergeblich. Die Decke war zu hoch.
Cosima versuchte erneut, Alexander zu erreichen. Doch immer wieder ertönte die monotone Stimme: „Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.“
„Mensch, Alexander, schalte dein dämliches Handy ein!“, fluchte sie. Es war mal wieder typisch für ihren Kollegen, sein Mobiltelefon nicht zu benutzen.
Die Maschine war laut Videotext schon vor einer Stunde gelandet. Auch wenn er vom Gate bis zur Gepäckausgabe einen längeren Weg hatte zurücklegen müssen und es eine Weile gedauert hatte, bis er seinen Koffer vom Band nehmen konnte, musste er bereits seit Längerem in der Ankunftshalle auf sie warten. Es musste ihn doch stutzig machen, dass sie und Erdmann noch nicht aufgetaucht waren. Warum meldete er sich nicht? Ihren Freund vom Zoll hatte sie nicht erreicht. Vermutlich hatte er heute keinen Dienst.
Sie rief am Flughafen an. Sofort ertönte eine Stimme, die sie zu warten bat, bis eine Leitung frei sei. Weihnachtsmusik erklang in einer Endlosschleife. Als sich endlich jemand am Informationsschalter meldete, gab sie sich als Kriminaloberkommissarin Cosima von Mittelstedt vom K 10 in Friedberg aus und bat darum, ihren Kollegen in der Ankunftshalle auszurufen. Nach einer halben Stunde erreichte sie der Rückruf vom Informationsschalter mit der Mitteilung, der Mann habe sich nicht gemeldet.
„Können Sie mir sagen, ob er an Bord der Maschine war?“
„Warten Sie, ich schaue nach“, erwiderte die Stimme. Wenig später kam die Bestätigung: „Laut Bordliste war Ihr Kollege in der Maschine.“
„Das gibt es doch nicht. Wo steckt der nur?“ Cosima sprach mehr zu sich selbst.
„Vielleicht ist Ihr Kollege mit dem Zug nach Hause gefahren, als Sie nicht aufgetaucht sind. Das wäre doch bei dem Wetter nicht auszuschließen.“ Die Stimme gab sich alle Mühe, zur Aufklärung beizutragen.
Cosima überlegte und sagte dann: „Zu seiner Ungeduld würde es schon passen, sich schnellstmöglich auf den Heimweg zu machen. Aber nein, das wäre unwahrscheinlich. Mein Kollege hasst es, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, und für ein Taxi ist er zu geizig. Außerdem hätte er mich dann auf dem Handy angerufen.“
„Möglicherweise ist der Akku leer oder er hat jemand Bekanntes getroffen, der ihn mit nach Hause genommen hat.“
„Nee, nee“, kam es von Cosima, „das passt alles nicht zu ihm.“
„Tut mir leid, dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.“
„Trotzdem danke für Ihre Bemühungen.“ Cosima drückte die Aus-Taste. Hier ist irgendetwas faul, dachte sie. Erst hat jemand meine Reifen zerstochen, und jetzt meldet sich Alexander nicht. Sein Handy muss ausgeschaltet sein.
Verzweifelt sah sie aus dem Fenster. Mittlerweile war es nach acht Uhr. Der Himmel war trüb. Aus dunklen Wolken fielen dicke Flocken, die die Umgebung unter sich begruben.
Cosima schüttelte den Kopf. Was war heute nur los? Sie spürte, wie Erdmann an ihren Füßen kratzte. „Ist ja gut, mein Dicker. Wir werden dein Herrchen schon finden.“ Ein lang gezogenes Heulen war die Antwort.
Genauso hatte Erdmann geheult, als Stückchen vor einigen Tagen mit einer unbekannten Person telefoniert hatte und dieser Auskunft über den Termin von Alexanders Rückkehr gegeben hatte. Cosima hatte die sonst so vorsichtige Sekretärin ermahnt. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, niemals mit Fremden über das Privatleben der Beamten zu sprechen.
Alexander hatte beim Blick in den Spiegel die Schnur gesehen, die von der Decke hing. Seine Chance vor Augen, zog er daran. Sofort ertönte eine Klingel, ein Zeichen, das den Sanitätsdienst am Flughafen alarmieren würde. Irgendjemand musste sich nun schnellstmöglich hierher auf den Weg begeben, um einer bedürftigen Person zu Hilfe zu eilen. Solange er sich in der verschlossenen Toilette aufhielt, würde ihm also nichts passieren. Vermutlich würde sich die bewaffnete Person diskret zurückziehen.
In diesem Moment öffnete sich auch schon die Schiebetür. So schnell hatte er nicht mit Hilfe gerechnet. Sofort wurde Alexander klar, dass nicht sein Retter die Tür geöffnet hatte, sondern diese in einem Notfall automatisch aufging. Ohne dass er reagieren konnte, blickte er in den Lauf einer Pistole, die aus einem schwarzen Cape herauslugte. Irritiert wanderte sein Blick weiter. Die Person in dem Cape sah ihn zornig an. Das Blau ihrer Augen war so dunkel wie das Meer an seiner tiefsten Stelle. Kurze, tiefschwarze Haare ließen die hohlen Wangen noch blasser erscheinen. Eine gerade Nase saß über einem schön geschwungenen Mund, der so gar nicht zu dem übrigen Gesicht passen wollte.
„Los, komm raus, aber schnell, bevor hier die Hölle los ist!“ Die Person machte eine auffordernde Bewegung in Richtung Ausgang.
Alexander setzte sich in Bewegung.
„Nimm deinen Koffer mit“, zischte die Stimme ihn unfreundlich an. „Und dann geh zum Ausgang.“
Der Versuch, seiner Entführung zu entgehen, war gescheitert. Doch Alexander würde nicht aufgeben. Langsam zog er den Rollkoffer in Richtung Ausgang hinter sich her. Auf dem Bürgersteig vor der Halle sah er Bundespolizisten auf und ab gehen. Er versuchte, Blickkontakt zu ihnen herzustellen, doch nicht einer der Beamten schaute in seine Richtung.
Einmal mehr spürte er die Waffe in seinem Rücken, als er die Fahrstreifen für die Taxen und Busse überquerte, und erreichte die überdachte Parkbucht an der Durchfahrt für die privaten Abholer.
Der Kofferraumdeckel an dem großen SUV vor ihm klappte automatisch auf. Die Farbe des Wagens war kaum zu erkennen. Der Lack war total verdreckt. „Los, heb den Koffer rein und dann setz dich auf die Rückbank. Versuche nicht noch einmal, mir zu entkommen. Du würdest es nicht überleben.“
Der seit Langem angekündigte Winter war quasi über Nacht hereingebrochen. Der heulende Wind peitschte dicke Schneeflocken, die von einem bleiern grauen Winterhimmel herabfielen, über die Äcker. Über das Land hatte sich ein weißes Tuch gebreitet und die hart gefrorenen Ackerschollen unter sich begraben.
Von ihrem gemütlichen Platz in der schön eingerichteten Stube betrachtete sie das Schauspiel durch die großen, mit Lichterketten geschmückten Fenster. Das Schneegestöber verwehrte ihr den Blick auf die Burg im Hintergrund. Hier oben auf dem Hof war es immer ein paar Grad kälter als unten im Dorf.