Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Am Abend vor dem 24. Dezember 2023 gibt es eine Explosion im Technikraum des Rewe-Marktes in Butzbach. Daraufhin erlöschen alle Lichter, die Rollgitter gehen herunter, der Markt ist hermetisch abgeriegelt. Zu dieser Zeit befi nden sich dort noch über dreißig Personen. Die Eingeschlossenen haben keine Möglichkeit, das Gebäude zu verlassen. Schnell stellt sich heraus, dass es hier um eine Geiselnahme geht, mit der die Herausgabe eines wertvollen Bildes, das in der Schirn in Frankfurt ausgestellt ist, erpresst werden soll. Kriminalhauptkommissar Alexander Henneberg vom K 10 in Friedberg ist mit der Leitung des Einsatzes betraut. Ihm zur Seite stehen Kommissarin Cosima von Mittelstedt sowie ein ganzes Heer von Rettungskräften. Während Henneberg und sein Team nach einer Lösung zur Befreiung der Eingeschlossenen suchen, bemühen sich der Leiter des Marktes und seine Angestellten, die Geiseln bei Laune zu halten und ihnen trotz der dramatischen Lage ein erträgliches Weihnachtsfest zu bescheren. Wird es Henneberg und seinem Team gelingen, die Eingeschlossenen nach vielen verhängnisvollen Stunden unbeschadet zu befreien?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 205
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung.
Impressum
Jule Heck
»Tod im Schatten der Burg – Verhängnisvolle Stunden«
www.edition-winterwork.de
© 2024 edition winterwork
www.jule-heck.de
Alle Rechte vorbehalten.
Satz: edition winterwork
Umschlaggestaltung: Wolf Becker, Atelier am Markt, Münzenberg
Druck und Bindung: winterwork Borsdorf
ISBN Print 978-3-98913-140-8
ISBN EBOOK 978-3-98913-147-7
Tod im Schatten der Burg
Verhängnisvolle Stunden
Jule Heck
edition winterwork
Für Simone, die mich zu diesem Roman inspiriert hat.
Dieses Buch ist ein Kriminalroman. Die Handlung ist frei erfunden. Die Ähnlichkeit mit einigen Personen ist beabsichtigt und genehmigt. Sowohl der Markt als auch die Straßen in Butzbach existieren tatsächlich.
Bedanken möchte ich mich bei dem Leiter des Rewe-Marktes, Herrn Michael Noe für die Informationen und die jahrelange Unterstützung.
Bedanken möchte ich mich aber auch bei meinem lieben Mann Gernot und bei meinen Freunden, die mich durch Anregungen, Hinweise, Informationen und kritischen Anmerkungen unterstützen, insbesondere bei Jens, Ulli und Jürgen sowie bei meiner Freundin Anita, die mich zu allen meinen Lesungen und Ausstellungen begleitet und ganz besonders bei meinen Lesern, die mich immer wieder ermuntern, weiter zu schreiben.
Die beiden Männer saßen vor ihrem Laptop und schauten auf den Bildschirm. In Deutschland war es bereits Mitternacht. Bei ihrem Gesprächspartner war es früher Abend. Sie kannten ihn nicht, aber er wusste, wer sie waren. Vor einiger Zeit hatte er Kontakt mit ihnen aufgenommen. Es geht um eine größere Sache, hatte er angekündigt. Bei diesem virtuellen Treffen stellte er ihnen in groben Zügen vor, was er von ihnen erwartete. Detaillierte Informationen sollten sie jedoch erst erhalten, wenn sie sich bereit erklärten, den Auftrag zu übernehmen. Wer sich hinter dem Auftrag bzw. dem Auftraggeber verbarg, wussten sie nicht, sollten sie auch nicht erfahren. Das war für die Durchführung der Sache unwichtig. Sie mussten nur wissen, was von ihnen verlangt wurde und was für sie herausspringen würde.
„Mir ist es egal, wie sie die Sache angehen. Aber es muss bis zum Jahresende erledigt sein. Das Bild hängt in der Schirn in Frankfurt. Es ist die Leihgabe eines russischen Oligarchen, der das Bild nicht verkaufen will. Anfang Januar 24 soll die Leihgabe zurückgegeben werden. Mein Kunde will das Bild unbedingt in seinen Besitz bringen. Er ist besessen davon. Warum und wieso geht euch nichts an. Nach der Rückgabe ist es unmöglich, an das Bild zu gelangen.“
Die Männer waren es gewohnt, ungewöhnliche Aufgaben schnell und unauffällig zu erledigen. Dieser Auftrag stellte sie vor eine neue Herausforderung. Aber sie würden auch diesen Auftrag zur Zufriedenheit ihres Kunden erledigen. Seit vielen Jahren arbeiteten sie für ihn, bisher immer mit Erfolg. Nie hatte eine Spur zu ihnen geführt. Den Mann, der sie immer wieder kontaktierte, sie großzügig entlohnte, kannten sie nicht persönlich. Sie hatten ihn noch nie gesehen.
SPÄTHERBST 2023
„Hallo Mutter, ich bin`s. Wo bist du?“, rief Luise, als sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen, den Schlüssel auf die Kommode im Flur gelegt hatte.
„Ich bin im Arbeitszimmer“, kam prompt die Antwort.
Die alte Frau saß am Fenster, mit dem Rücken zur Tür. Sie drehte sich nicht um, als ihre Tochter das Zimmer betrat.
„Was machst du denn hier?“, fragte Luise.
„Ich schau zum Fenster raus. Du glaubst nicht, was ich entdeckt habe.“
„Oh je, was ist es denn dieses Mal? Hast du wieder eine Verbrecherbande aufgespürt?“, seufzte Luise.
„Da drüben ist was komisch, sage ich dir. Die Typen sind nicht koscher.“
„Mutter, hört das denn nie auf? Nur weil du zufällig einmal einem Verbrechen auf die Spur gekommen bist, führst du dich auf, als wärst du Miss Marple persönlich.“
„Erstens habe ich der Kripo mehr als einmal einen guten Tipp gegeben und zum anderen habe ich ein unglaubliches Gespür für kriminelle Menschen“, belehrte sie ihre Tochter.
Margarete hatte viele Jahre als Toilettenfrau in einem Frankfurter Nobelrestaurant gejobbt. Der Lohn war nicht so gut, davon alleine hätte sie nicht leben können, dafür waren die Trinkgelder umso besser. Die Frankfurter Schickeria ließ sich nicht lumpen und wedelte nur so mit großen Scheinen, wenn sie von der Toilette kamen. Dass sie nicht immer nur wegen eines gewissen Bedürfnisses die Keramikabteilung des Restaurants aufsuchten, sondern dort ihre Portionstütchen mit Drogen abholten, übersah Margarete großzügig. Das war schließlich die Angelegenheit der Leute, wenn sie sich mit dem Dreckzeug vergifteten.
Wenn es jedoch um Waffengeschäfte oder Menschenhandel ging, gab sie einem Kripobeamten, mit dem sie sich angefreundet hatte, verdeckte Hinweise. Auf Grund dieser Hinweise waren in Frankfurt sowohl Waffenschiebereien als auch Zwangsprostitution aufgedeckt worden. Schließlich wurde ihr das Frankfurter Pflaster zu heiß und sie wechselte nach Gießen ins Stadttheater, wo sie als Garderobenfrau arbeitete und nebenbei die Toiletten sauber hielt. Sie hatte aber nie aufgehört, nach Verbrechern zu suchen. Aber außer dem Diebstahl von Mänteln oder Regenschirmen hatte sie unter den Zuschauern des Stadttheaters keine großartigen Verbrecher entdecken können.
Sie hatte genügend Geld zur Seite gelegt und sich vor zwei Jahren „In der Alböhn“, einer reinen Anliegerstraße in Butzbach, eine kleine Eigentumswohnung gekauft und sich zur Ruhe gesetzt. Sie hatte es sich in der 80 Quadratmeter großen Wohnung unter dem Dach gemütlich gemacht. Aus dem Fenster auf der Vorderseite hatte sie einen guten Blick auf das gegenüberliegende Haus. Durch die entspiegelten Scheiben konnte sie alles, was gegenüber geschah, ungesehen beobachten, während man sie nicht hinter der Scheibe ihres Arbeitszimmers erkennen konnte.
Vor zwei Monaten waren in dem Dreifamilienhaus gegenüber zwei Männer eingezogen, die von Anfang an ihre Aufmerksamkeit erregt hatten. Obwohl sie gut gekleidet waren, maßgeschneiderte Anzüge und handgefertigte Schuhe trugen, entsprach ihr Auftreten nicht dem Stil ihrer Kleidung. Doch das fiel den Menschen in den Mehrfamilienhäusern rundum nicht auf. Sie befassten sich nicht mit ihren Mitbewohnern und Nachbarn. Dazu blieb ihnen keine Zeit. Sie verließen morgens früh ihr Heim und kehrten erst spät abends zurück.
Die zwei Männer passten schon deshalb nicht in die Umgebung, weil sie nur selten das Haus verließen. Die meiste Zeit verbrachten sie in einem Zimmer, das zur Straße lag und gingen nur aus dem Haus, um Lebensmittel einzukaufen. Jedes Mal kehrten sie mit Einkaufstüten des 1 A Rewe-Centers hier in der Nähe zurück.
Margarete konnte mit Hilfe eines Fernglases sehen, was in der Wohnung gegenüber vor sich ging. Mehrere Bildschirme standen nebeneinander auf großen Schreibtischen. Die Männer saßen mit dem Rücken zu ihr und starrten ständig darauf.
„Die werden für eine Sicherheitsfirma arbeiten“, war Luises Erklärung, als Margarete ihr von der Ausstattung des gegenüberliegenden Zimmers berichtete.
„Kannst du denn erkennen, was auf den Bildschirmen zu sehen ist?“
„Da sehe ich nur Personen und Regale mit Lebensmitteln“, kam es enttäuscht zurück.
„Sag ich doch, die überwachen irgendeinen Laden. Das sind Detektive“, versuchte ihre Tochter sie zu beruhigen.
„Nee nee, ich bin sicher, da ist was oberfaul. Aber das kriege ich schon raus.“
SAMSTAG, 23. DEZEMBER 2023
Cosima verließ die Villa in der Mainzer Toranlage in Friedberg. Es war ein schöner Abend mit Judith und Alexander gewesen. Stundelang hatten sie Rummy Cup gespielt. Das Feuer im Kamin hatte eine angenehme Wärme in dem großen Wohnraum verbreitet und die vorweihnachtliche Stimmung unterstützt.
Judith hatte das ganze Haus bereits Anfang November liebevoll geschmückt. Überall standen Bozener Engel, Weihnachtsmänner, Vasen mit Tannenzweigen und bunten Kugeln. Vor dem Kamin hatte eine wunderschöne Weihnachtskrippe mit geschnitzten Figuren ihren Platz gefunden. Die Scheiben der Kassettentüren waren mit Schneestaub und glitzernden Sternen verziert. Die Plätzchen und Lebkuchen, die Judith am Vortag gebacken hatte, verströmten einen Duft nach Vanille, Zimt und Mandeln.
Es war bereits 21.15 Uhr als sie endlich den Heimweg antrat. Judith hatte sie nicht eher gehen lassen. Nach dem Essen hatte sie die Spielsteine auf dem großen Esstisch ausgebreitet und Cosima zum Mitspielen aufgefordert. So viel Spaß hatte Cosima schon lange nicht mehr gehabt. Als sie sich dann endlich verabschiedete, nahm ihr Judith das Versprechen ab, am ersten Feiertag zum Essen zu kommen. Cosimas Einwand, das Weihnachtsfest sei doch eine Familienangelegenheit, ließ die quirlige Ehefrau ihres Kollegen Alexander nicht gelten. Cosima sei schließlich allein und deshalb müsse sie unbedingt kommen und mit ihnen essen.
Deshalb wollte Cosima noch schnell ein kleines Mitbringsel für die beiden im Butzbacher Rewe-Markt erwerben. Sie musste sich beeilen, denn der Laden schloss um 22.00 Uhr seine Pforten.
Wenn sie Zeit hatte und vom Dienst nach Hause fuhr, nahm sie den Weg über Schwalheim, Wisselsheim, Steinfurth, Oppershofen und Rockenberg. Von Rockenberg folgte sie dann der schmalen Landstraße in Richtung Münzenberg. Von dort aus hatte sie ab dem Ortsausgang einen wunderschönen Blick auf die Burg Münzenberg. Schon bei Tag war dies ein erhabener Anblick, aber in der Nacht, wenn die große Stauferburg beleuchtet war, konnte sie sich nicht sattsehen. Vor dem Ort bog sie an der großen Linde dann nach links ab und fuhr über den betonierten Feldweg bis zu ihrer Mühle nach Ober-Hörgern. Eigentlich war der Weg nur für landwirtschaftliche Fahrzeuge gedacht, doch nachts begegnete ihr hier selten ein anderes Auto oder ein Traktor. Nur im Hochsommer, während der Heuernte und dem Mähen der Getreidefelder, mied sie den Weg. Die großen Mähdrescher machten ihr nicht nur den Weg streitig, sondern wirbelten viel Staub auf, so dass man nichts sehen konnte. Doch heute hatte sie es eilig, fuhr von der Ockstädter Straße auf die B 3 bis nach Butzbach.
„Warte hier. Ich hole unsere Mäntel“, bat Eberhard seine Frau Tilda. „Mach das, aber quatsch dich nicht fest. Ich muss nochmal zum Rewe.“ Sie kannte ihren Mann. Er traf immer viele Leute und unterhielt sich mit ihnen, vergaß dabei die Zeit. Ungeduldig wartete sie auf ihn im Foyer des Butzbacher Bürgerhauses. Das Weihnachtskonzert war wieder wunderschön gewesen. Dieses Ereignis gönnten sie sich jedes Jahr.
Endlich erschien Eberhard auf der Treppe. Mittlerweile hatte sich das Foyer geleert. Die meisten Besucher hatten das Bürgerhaus verlassen und den Heimweg angetreten. Natürlich hatte sich ihr Mann nicht an ihre Bitte gehalten und geschwätzt.
„Ich soll dich von den Meyers grüßen“, sagte er und half ihr in den Mantel.
„Mit wem hast du denn schon wieder alles gesprochen?“, fragte sie ihn genervt.
„Ich stehe mir hier die Beine in den Bauch. Jetzt müssen wir uns beeilen. Der Rewe-Markt macht um 22.00 Uhr zu.“
„Warum müssen wir denn da jetzt auch noch hin? Konntest du das nicht heute bei Tag organisieren?“
„Da hätte ich doch gar keinen Parkplatz bekommen. Jetzt kann ich ganz entspannt noch was einkaufen. Komm jetzt endlich“, trieb Tilda ihren Mann zur Eile an.
Um viertel vor zehn betrat Tilda den Lebensmittelmarkt an der Philipp-Reis-Straße 2-4 in Butzbach. Eberhard folgte ihr unwillig.
„Mutter, ich muss nochmal schnell nach Butzbach zum Rewe“, rief Bettina ihrer Mutter zu, schnappte sich den Autoschlüssel vom Brett und knallte die Haustür hinter sich zu.
„Bettina, lass mich doch nicht allein“, krächzte die Mutter. Sie saß im Rollstuhl, konnte ihr Leben nur mit Hilfe ihrer Tochter bewältigen. Bettina hielt nicht nur das Haus in Ordnung, sondern ging einkaufen, kochte und erledigte die Wäsche für sie, half ihr bei der Körperpflege und das alles neben ihrem Beruf als Friseurin, der sie täglich forderte. Heute hatte sie bis um 16.00 Uhr im Salon gestanden, um mehrere Frauen für die Feiertage zu frisieren. Sonntags erledigte sie dann die anfallenden Arbeiten im Haus, den Montag nutzte sie zum Einkaufen. Ihr blieben nur wenige Stunden, um sich auszuruhen. Freunde hatte sie schon lange nicht mehr getroffen, der letzte Besuch in einem Kino oder einer Disco war Jahre her.
Sie setzte sich in ihren alten Ford Fiesta und drehte den Zündschlüssel um. Der Motor machte ein merkwürdiges Geräusch, wie ein Krächzen, dann verstummte er. „Verdammter Mist“, fluchte sie, „das fehlt jetzt gerade noch, dass die Scheißkiste nicht anspringt.“ Wütend schlug sie mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Sie versuchte es erneut. Stotternd sprang die Maschine an. Doch sie lief nicht rund. Der Motor hatte mittlerweile über 200.000 Km auf dem Buckel. Bettina brauchte dringend ein neues Auto. Langsam rollte der Wagen vom Hof. Gut, dass um diese Zeit, am Abend vor Weihnachten, nicht so viel Verkehr war.
„Papa, ich will mit“, schrie Anton.
„Nein, du gehörst ins Bett. Du bist schon längst überfällig. Außerdem musst du bei deiner Mama bleiben.“
„Nemmen doch mit. Hier geht er mir nur uff die Nerve“, stöhnte Britta. Sie lag auf der Couch, benebelt vom Alkohol.
„Es ist halb zehn. Anton müsste seit acht Uhr im Bett sein. So geht das nicht weiter, Britta. Kein Abend kehrt hier Ruhe ein“, schimpfte Thomas.
„Ich will aber mit“, schrie Anton und stampfte wütend mit den Füßen auf.
„Dann komm, du Nervensäge. Aber glaub ja nicht, dass du auch noch was abstauben kannst. Und wenn wir zurückkommen, gehst du ohne Widerrede in dein Bett“, Thomas streckte die Hand nach seinem Sohn aus. Anton rannte an ihm vorbei und kletterte ins Auto.
„Nach Weihnachten ist Schluss. Da gehst du jeden Abend um acht Uhr ins Bett. Du kommst im Sommer in die Schule. Da musst du morgens ausgeschlafen sein.“
„Ich will nicht in die Schule gehen. Schule ist doof“, antwortete Anton motzig und trat mit seinen Winterstiefeln gegen den Vordersitz. „Au, bist du verrückt“, motzte sein Vater.
Um viertel vor zehn fuhr Thomas auf den Parkplatz am Rewe-Center.
„Du bleibst im Auto. Rühr dich ja nicht von der Stelle. Sonst kannst du was erleben“, ermahnte Thomas seinen aufmüpfigen Sohn.
Kaum war Thomas im Markt verschwunden, öffnete Anton die Autotür und schlüpfte hinaus.
Der Mann leinte seinen Hund am Fahrradständer an. „Bleib schön hier, Oskar. Ich bin gleich zurück“, sprach Gustav zu seinem Hund, seinem treuen Begleiter.
Oskar, ein Labradormischling, war das Einzige, was ihm nach seiner Scheidung geblieben war. Seine Frau hatte ihn bis aufs Unterhemd ausgenommen. Die Firma und das gemeinsame Haus liefen auf ihren Namen. Das hatte sie geschickt eingefädelt. Er war so naiv gewesen, hatte in gutem Glauben, das sie ihm helfen wolle, alles an sie überschrieben. Die Konten hatte sie hinter seinem Rücken aufgelöst. Als er dahinterkam, war es zu spät. Er hatte keine Möglichkeit, die Sache rückgängig zu machen. Als er von einem mehrtägigen Auslandsaufenthalt zurückkehrte, passte sein Haustürschlüssel nicht. Er klingelte stürmisch. Als seine Frau die Haustür öffnete, sie war nur leicht bekleidet, forderte sie ihn auf, das Grundstück zu verlassen. „Deine Koffer findest du in der Garage. Oskar kannst du mitnehmen.“
„Bist du verrückt geworden? Was soll das?“, fragte er sie verblüfft. Seine Frau knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Er trommelte mit den Fäusten gegen das Holz, doch die Tür blieb verschlossen. Er ging um das Haus herum, um durch die Fenster ins Innere zu sehen, doch die dichten Vorhänge waren zugezogen, so dass er nichts sehen konnte. Egal, was er anstellte, er bekam keinen Zugang zu seinem Haus, seiner Firma oder seinem Vermögen. Seitdem lebte er mit Oskar auf der Straße. Er schämte sich zu sehr, um andere um Hilfe zu bitten.
Selbst um diese Uhrzeit kamen immer noch Kunden in den Laden. In fünf Minuten würde er veranlassen, dass die Tür geschlossen blieb.
Gerade betrat eine Stammkundin den Markt. Die ältere Frau kaufte täglich hier ein. Fast immer legte sie eine Flasche Wodka auf das Laufband, das zur Kasse führte. Der Alkoholmissbrauch war ihr anzusehen. Aber das ging ihn nichts an. Es stand ihm nicht zu, über andere Menschen zu urteilen. Wer weiß, was sie in ihrem Leben durchgemacht hatte. Da sie aber nicht mit dem Auto unterwegs war, sprach er sie auch nicht an.
Im vergangenen Jahr hatte er einen der Hausdetektive gebeten, der Frau zu folgen, um zu sehen, ob sie motorisiert war. Er wollte schließlich nicht, dass sie mit mehreren Promille im Blut in ein Auto stieg und womöglich andere Menschen gefährdete.
Sahin, der Detektiv, hatte ihn beruhigen können. Die Kundin wohnte in unmittelbarer Nähe und erledigte ihren Einkauf zu Fuß.
Als die alte, ärmlich gekleidete Frau die Waren auf das Band legte, half ihr der Geschäftsführer, sie am Bandende in ihren Korb zu legen. Auch dieses Mal war eine Flasche Wodka dabei. Aber er tat so, als sei dies nichts Besonderes.
„Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest, gnädige Frau.“ Dass meinte er wirklich so.
Die alte Dame erwidert freundlich den gutgemeinten Wunsch und ging auf den Ausgang zu. An der Kasse standen noch drei weitere Kunden und warteten darauf, abkassiert zu werden. Zudem müssten sich noch weitere Leute zwischen den Einkaufsregalen befinden. Er schätzte, dass sich noch ca. dreißig Personen im Laden aufhielten, Kunden und Personal. Er war froh, wenn der Markt um 22.00 Uhr endlich seine Pforten schloss. Der Tag vor Weihnachten war für das Personal stets eine besondere Herausforderung.
An den Tagen zuvor war immer besonders viel los. Die Umsätze bewegten sich täglich in sechsstelligen Bereichen. Die meisten Kunden zahlten jedoch mittlerweile mit Bankkarten oder der Rewe-Kundenkarte, so dass die Bargeldbeträge überschaubar waren.
Leider kam es vor Weihnachten vermehrt zu Diebstählen. Obwohl mittlerweile zwei Hausdetektive den Markt überwachten, verschwanden immer wieder Artikel aller Art. Die Diebe wurden immer erfinderischer und schmuggelten ihr Diebesgut auf die ungewöhnlichste Weise aus dem Laden.
Der stellvertretende Marktleiter, Jens Harms, folgte den Jugendlichen in den hinteren Teil des Marktes, wo die Weine und Schnäpse in Regalen angeboten wurden. Sie waren nach Ländern und Regionen sortiert. Er ahnte nichts Gutes. Die jungen Leute waren schon mehrfach im Markt erschienen und hatten Spirituosen mitgehen lassen. Einmal hatte er ihnen ein Single-Malt-Whisky aus der Tasche gezogen.
„Was macht ihr hier? Ihr wisst genau, dass ihr noch zu jung seid, um Alkohol zu trinken“, sprach er die vier Jungen und das Mädchen an.
„Müsst ihr nicht um diese Zeit zu Hause sein? Es ist gleich 22.00 Uhr.“
Die Jugendlichen lachten ihn aus und nahmen Wein und Schnaps an sich. Harms griff zu seinem Funkgerät und funkte Sahin an, der heute die Abendschicht übernommen hatte.
„Ja“, meldete der sich kurz darauf. „Was gibt es?“
Während Harms in das Funkgeräte sprach, folgte er den Dieben.
„Sahin, gleich kommen junge Leute zum Ausgang. Vier Jungs und ein Mädchen. Sie haben sich an den Spirituosen bedient. Ich gehe davon aus, dass sie nicht bezahlen werden, wie immer. Du kennst sie schon. Halte sie auf. Dieses Mal dürfen sie uns nicht entkommen. Ich bin gleich bei dir.“
„Geht klar, Jens“, versicherte ihm der Syrer, der durch seine Größe und sein Aussehen auffiel.
Harms sah, wie die Jugendlichen auf den Ausgang zusteuerten. Der Hausdetektiv stellte sich ihnen in den Weg.
„Halt“, sprach er sie an. „Ich möchte nur mit euch reden.“
„He Alter, was willst du von uns?“, motzte ihn der Größte von ihnen an und baute sich bedrohlich vor Sahin auf, während die anderen Vier durch die sich gerade automatisch öffnende Glastür verschwanden. Der Syrer überragte den frechen Jungen um Haupteslänge und blickte verächtlich auf ihn herab.
„Ich kenne dich. Du warst schon öfter mit deiner Bande hier.“
„Du kannst uns gar nix, Alter. Wir sind noch nicht strafmündig. Hol doch die Bullen. Die lassen uns eh wieder laufen.“
Harms stieß jetzt zu den beiden. „Wo sind die anderen?“
„Draußen“, knurrte Sahin.
„Geh raus und sprich mit ihnen. Ich kümmere mich um das Früchtchen hier.“
Harms machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung Information. „Wir gehen jetzt in mein Büro und da werden wir auf die Polizei warten.“
Der Detektiv folgte den Jugendlichen auf den Hof. Dort waren sie stehen geblieben, um auf ihren Kumpel zu warten. Als sie Sahin erblickten, rannten sie in Richtung Getränkemarkt davon. Sahin folgte ihnen.
Sie nahm das schlafende Baby auf und verließ das Haus. Der Maxi Cosy stand auf dem Beifahrersitz. Isa legte das Kleine hinein und befestigte die Gurte. Genervt drehte sie den Zündschlüssel um. Der Keilriemen quietschte. Endlich sprang die alte Karre an.
Nach Weihnachten musste sie ihr Auto in die Werkstatt bringen. Der neue Besitzer des 1 A Reparatur Service an der Butzbacher Straße in Gambach hatte ihr versprochen, dass er sich zwischen den Jahren um ihr Auto kümmern würde. Es war dringend notwendig, den Keilriemen zu erneuern, sonst würde in Kürze der Motor nicht mehr anspringen. Da sie aber auf ihren fahrbaren Untersatz angewiesen war, musste sie wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und ihr letztes Erspartes investieren. Denn wenn sie mit ihrem Säugling unterwegs war, musste sie sich auf das Auto verlassen können.
Sie fuhr auf den Parkplatz des Rewe-Marktes in Butzbach, der als einziges Geschäft um diese Zeit noch geöffnet hatte. Sie musste dringend Windeln und einige Lebensmittel einkaufen. Sie war total übermüdet. Das Baby schrie die ganze Nacht, deshalb bekam sie zu wenig Schlaf, konnte sich zu nichts aufraffen. Niemand half ihr, sie war ganz alleine auf sich gestellt. Der Vater des Kindes, ein Asylbewerber aus Afghanistan, der in einer Unterkunft in Butzbach wohnte, konnte sie nicht finanziell unterstützen. Er liebte sie, das hatte er ihr versichert, aber er durfte nicht bei ihr wohnen. Das erlaubte die Vermieterin nicht. Ihre Eltern wollten nichts mehr von ihr wissen, als sie ihnen eröffnet hatte, dass sie ein Kind von einem Asylsuchenden erwartete. Eigentlich hatte sie ihre Eltern immer als weltoffen und vorurteilsfrei eingeschätzt, aber da hatte sie sich wohl getäuscht. Der einzige Mensch, der zu ihr hielt, war ihre Schwester.
Vier Jugendliche liefen direkt vor ihr Auto. Sie bremste abrupt und wurde in den Gurt gepresst. „Idioten“, fluchte sie. Ein großer, schlanker Mann lief hinter ihnen her.
Leise öffnete sie den Schlag, stieg aus und drücke die Tür ins Schloss. Das Baby war eingeschlafen und rührte sich nicht. Es war nicht in Ordnung, dass sie den Säugling im Auto zurückließ, aber es würde ja nicht lange dauern, um diese Zeit ist bestimmt nicht mehr viel los, dachte sie.
„Sehr verehrte Kundinnen und Kunden, bitte begeben sie sich zu den beiden Kassen. Der Markt schließt in wenigen Minuten“, sprach Frau Karl, die Mitarbeiterin am Informations-Schalter ins Mikrophon.
Der Geschäftsführer beobachtete, wie noch immer einige Kunden den Laden betraten. Er wollte jetzt die automatische öffnende Glastür verriegeln und ging darauf zu. In dem Moment gab es einen lauten Knall, wie bei einer Detonation. Die Lichter gingen nach und nach aus. Die Musik verstummte und der große Weihnachtsbaum, der mit seinen vielen elektrischen Lichtern die Kunden beim Betreten des Ladens erfreute, erloschen. Die Rollgitter an den innenliegenden Geschäften schlossen sich mit Getöse. Der Markt lag im Dunkeln.
Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Merkwürdigerweise war auch die Notbeleuchtung nicht in Betrieb.
Im hinteren Bereich des Marktes hörte er Glas klirren, Metall, das auf Metall stieß, Schmerzensschreie und Beschimpfungen, Stimmengewirr, ängstliche und verzweifelte Schreie, Hilferufe. Er nahm sein Handy zur Hand, um die Taschenlampe einzuschalten. Doch das Display war schwarz.
Vorsichtig bewegte er sich in Richtung des Informationsschalters, stieß dabei gegen ein Blumenregal. Mehrere Töpfe fielen herunter und zerbrachen am Boden. Schemenhaft erblickte er die Kühlung, in der sich türkische Spezialitäten befanden und wendete sich kurz darauf nach links, tastete sich an dem Tresen entlang, an dem normalerweise Zigaretten verkauft wurden. Endlich erreichte er die Öffnung, die zu seinem Büro führte. Er holte sein Funkgerät und eine Taschenlampe, die auf dem Schreibtisch stand.
Sahin lief den vier Jugendlichen hinterher. Die Beleuchtung auf dem Parkplatz reichte aus, um zu sehen, wie sie über die Straße auf den Getränkemarkt gegenüber zueilten.
Sahin war für sein Alter noch ziemlich fit. Er machte regelmäßig Sport, besuchte einmal in der Woche das Fitness-Studio in der Nähe des Marktes und ging Schwimmen, wann immer es seine Zeit erlaubte.
„Bleibt stehen“, rief er den Jugendlichen hinterher, die sich nun aufteilten und in verschiedene Richtungen davonliefen. Sahin blieb einen Moment stehen, stützte die Hände auf die Knie und atmete tief durch.
In diesem Moment hörte er einen lauten Knall. Er drehte sich in die Richtung, aus der er das Geräusch vernommen hatte und sah, wie nach und nach die Lichter im Rewe-Markt verloschen.
Sahin ließ die Diebe laufen und kehrte zum Markt zurück. Ratlos stand er vor dem großen Gebäude. Was war hier los?
„Herr Noelle“, kam es aus dem Funkgerät. „Wo sind Sie?“
„Ich bin am Informationsschalter“, antwortete Noelle. Er leuchtete mit der Taschenlampe in die Richtung, aus der er die Stimme vernahm.
Herr Harms eilte im Schein des Lichtes auf seinen Chef zu.
„Bewaffnen Sie sich mit einer Taschenlampe und kümmern Sie sich um die Leute an der Kasse. Ich gehe in den Technikraum und schaue, was da los ist. Es hat sich so angehört, als hätte dort eine Explosion stattgefunden.“
Immer wieder hörte man jemanden rufen. „Hallo, wann geht denn das Licht wieder an?“
Auf seinem Weg zum Technikraum traf er einige Kunden an.