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Die prunkvolle Kaisergruft wird zum Schauplatz eines schrecklichen Verbrechens ...
Eine schockierende Nachricht erschüttert das idyllische, sommerliche Wien: Ein Unbekannter hat in der weltberühmten Kaisergruft mehrere Geiseln genommen. Sarah Pauli, Journalistin beim Wiener Boten, befürchtet Schlimmes, als sie vor Ort berichtet. Und ihr Gefühl trügt sie nicht. Der Täter erschießt ohne erkennbaren Grund zwei Menschen, dann sich selbst. Sarah findet heraus, dass eine der Toten eine prominente Wiener Modezarin war. War die Tat etwa ein gezielter Mordanschlag auf die Frau? Und was hat es mit dem rätselhaften Totenkopf auf sich, der auf einem der Särge in der Gruft gefunden wird?
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Seitenzahl: 350
Buch
In Wien zerstört eine schockierende Nachricht die hochsommerliche Idylle: Ein Maskierter ist in die Kaisergruft, die weltberühmte Begräbnisstätte der Habsburger, eingedrungen und hat mehrere Geiseln genommen. Sarah Pauli, Journalistin in der Chronik-Redaktion des Wiener Boten, fährt sofort zur Gruft, wo sich die Einsatzkräfte der Polizei nach Kräften darum bemühen, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Doch die Lage verschärft sich zunehmend. Der Täter erschießt ohne erkennbaren Grund zwei Menschen, dann sich selbst. Nur eine Angestellte des Museums kommt mit dem Leben davon. Es stellt sich heraus, dass eine der Toten eine prominente Wiener Modezarin war. War die Tat etwa ein gezielter Mordanschlag auf die Frau? Gar eine Beziehungstat? Und was hat es mit dem rätselhaften Totenkopf auf sich, der auf einem der Särge in der Gruft gefunden wird?
Weitere Informationen zu Beate Maxian sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Beate Maxian
Tod in der Kaisergruft
Der achte Fall für Sarah PauliEin Wien-Krimi
Mütter halten ihrer Kinder Hände für eine Weile und ihre Herzen für immer. (Unbekannt)
Dienstag, 1. August
1
Wien stöhnte.
Die historischen Häuserzeilen der Innenstadt strahlten die beißende Hitze ab, die bereits am frühen Vormittag das Leben lähmte. Seit Tagen zeigte das Thermometer Temperaturen um die dreißig Grad. Die Luft war trocken und schmeckte nach Staub. Nicht einmal nachts kühlte es ab.
Ihm lief der Schweiß über den Rücken und zeichnete hässliche Flecken auf sein Hemd. Sogar der Minutenzeiger seiner Uhr kroch geplagt der vollen Stunde entgegen.
Er quälte sich die Wollzeile entlang, verweilte minutenlang vor jedem einzelnen Schaufenster der bekannten Buchhandlung. Reiseführer, Krimis, Kinderbücher. Er besah sich die Auslagen, als müsste er auswendig lernen, was hinter den Fenstern lag. Er hatte Zeit.
Das Einzige, was ihm geblieben war. Zeit! Ihm fielen die nutzlosen Phrasen seiner Mutter ein. Schlag die Zeit nicht sinnlos tot. Ein Satz, dessen Bedeutung er bis heute nicht begriff. Als ob man Abstraktes totschlagen konnte. Sinnlos noch dazu. Was bedeutete das genau? Sinnlos Zeit totschlagen? Darüber wollte er bei Gelegenheit einmal nachdenken. Doch seine Tage waren nicht sinnlos, lediglich inhaltslos. Sie dennoch produktiv zu verbringen glich einer Kunst, die er inzwischen beherrschte wie kaum ein anderer. Gleich morgens legte er das Motto des Tages fest und richtete die nächsten Stunden danach aus. Ende.
Dieses Wort war augenblicklich die Losung. Und dieses Ende stand unmittelbar bevor. Wenn alles nach Plan lief. Er sah auf seine Armbanduhr. Die Ziffern zeigten 09:35 Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zum Showdown. Er wandte sich von den Schaufenstern ab, ging weiter. Die Menschen um ihn herum ignorierten ihn, wie man sich eben in einer Großstadt ignorierte. Das störte ihn nicht. Ganz im Gegenteil. Dieser Umstand kam ihm entgegen. Denn schon bald würde ein hinterlistiger Schabernack, wie er dem Teufel nicht besser einfiele, Wien aus der Sommerträgheit katapultieren. Er würde dabei sein, wenn es geschah, und niemand würde sich an ihn erinnern oder ihn damit in Verbindung bringen. Er dachte an den Zeitplan. Zehn Minuten! Er hatte zehn Minuten, vielleicht auch weniger. Der Gedanke daran ließ ihn gefühlte drei Zentimeter wachsen und eine gerade Haltung annehmen. Das Lächeln auf seinen Lippen erschien unwillkürlich. Der grantige Blick einer Passantin streifte ihn. Depperte Funzen, folgerte er stumm.
Mehr gab es über das unhöfliche Verhalten der Frau nicht zu sagen. Auf dem Stephansplatz warteten Fiaker auf Kundschaft. Pferde mit hängenden Köpfen vor sich hin dösend. Er wich geschickt zahlreichen Urlaubergruppen sowie Konzertticket-Verkäufern in Mozartkostümen aus und bog kurz darauf in den Graben ein.
Den Fiaker-Standplatz vor der Peterskirche fand er verlassen vor. Seine diesbezügliche Bitte war also von wem auch immer erhört worden. Mit langsamen Schritten steuerte er die Telefonzelle daneben an. Ein Relikt aus vergangenen Zeiten, einst unverzichtbar, heute kaum benutzt, weswegen die meisten Leute die graue offene Außenkabine umgingen. Derweil drängte der rote Telefonhörer doch nahezu darauf, berührt zu werden. Er blieb stehen. Seine Augen tasteten so unauffällig wie möglich die umliegenden Fassaden ab. Keine Kameras zu sehen. Dennoch trug er einen Hut und senkte den Kopf, während er bedächtig die Freiluftzelle betrat. Der Augenblick stimmte ihn feierlich. Er nahm andachtsvoll den Hörer in die Hand und tippte die Nummer für den Notruf in die Tastatur. Eine weibliche Stimme meldete sich. Kurz dachte er daran, welch besonderer Tag es von jetzt an werden würde, und begann zu sprechen.
2
Das Krokodil in der Donau tauchte auch dieses Jahr pünktlich auf. Sarah Pauli amüsierte sich noch immer über die jährlich wiederkehrende Schlagzeile zur Urlaubszeit, als sie das Foyer des Wiener Boten betrat. Die spektakuläre Headline hatte sie im Vorbeigehen gelesen. Noch vor drei Tagen hatte das Sommerloch dafür gesorgt, dass die Titelseiten voll Bilder einer Boa constrictor waren, die angeblich aus einem Terrarium entkommen war und sich nun irgendwo in Wien versteckte. Jetzt war das Krokodil an der Reihe. Ob sich der Tourismusverband über derartige Überschriften freute? Ihr Blick fiel auf den Empfangstresen, wo statt der üblichen Empfangsdamen urlaubsbedingt zwei Praktikantinnen saßen. In den Redaktionen arbeiteten zurzeit einige Volontäre, was rasche Abläufe manchmal erschwerte. Sarah grüßte freundlich und überlegte, ob sie in der nächsten Ausgabe behaupten sollte, dass das Krokodil in der Donau die Rezeptionistinnen des Wiener Boten gefressen hatte. Natürlich dachte sie nicht ernsthaft darüber nach, denn Herbert Kunz, Chef vom Dienst und stetiger Anzugträger mit rahmenloser Silhouette-Brille, würde sie ob so einer Schlagzeile um einen Kopf kürzer machen. Dass sie die Freundin des Herausgebers war, würde sie nicht vor seinem Zorn schützen. Zudem hebelte die Urlaubszeit die große Montagssitzung um zehn Uhr aus, die normalerweise keiner unentschuldigt versäumen durfte, weil sich die Vertreter aller Ressorts am Konferenztisch versammelten und den redaktionellen Inhalt des Wiener Boten diskutierten.
Conny Soe trat sichtlich gut gelaunt durch die Eingangstür. Die Gesellschaftsreporterin war wie immer nach der neuesten Mode gekleidet. Sie trug ein weiß-blau gestreiftes Sommerkleid im Marinelook und goldene Kreolen als Ohrgehänge. Ihre kupferrote Lockenmähne war hochgesteckt. Sissi, Connys schwarzer Mops, lief vor ihr her und begrüßte Sarah aufgeregt. Sie hatte die beiden seit zwei Wochen nicht mehr gesehen und bückte sich, um den Hund zu streicheln, der vor lauter Freude um sie herumtänzelte.
»Ich liebe die Sommermonate«, tönte die Society-Löwin, wie Conny aufgrund ihrer roten Mähne genannt wurde. »Die Stadt ist leer, und die Menschen sind entspannt.«
Sarah richtete sich wieder auf, und Conny drückte ihr zwei Begrüßungsküsse auf die Wangen. Sie musste den Kopf ein wenig in den Nacken legen, denn die Füße der Society-Löwin zierten trotz ihrer Größe von knapp eins achtzig weiße Sandalen mit sieben Zentimeter hohen Absätzen. Damit überragte sie Sarah um mindestens einen Kopf. Conny roch nach Kokosnussöl. Eine wohlriechende Prise Sommer, fand Sarah.
»Wie war dein Urlaub?«
Conny war in Cannes gewesen. Auf Sissi hatte währenddessen eine Freundin aufgepasst. Sarah hätte den Hund gerne zu sich genommen, konnte sich aber ausmalen, wie Marie, ihre Katze, darauf reagiert hätte. Ihre Halbangora war es nicht gewöhnt, ihr Reich mit anderen Tieren zu teilen.
»Wie immer zu kurz«, seufzte Conny. »Aber ich geh es heute locker an, werde mal schauen, ob Wien im August etwas hergibt, sonst müssen die Salzburger Festspiele herhalten. Da tummeln sich gerade genug Promis.« Sie warf Sarah eine Kusshand zu und verschwand im Lift. Sarah nahm wie üblich die Treppe.
»Morgen!«, hörte sie Patricia Franz’ Stimme, als sie das Büro der Chronik-Redaktion betrat. Ihre jüngere Kollegin musste gerade angekommen sein, denn sie warf soeben die Handtasche auf den Schreibtisch.
»Guten Morgen«, erwiderte Sarah.
Die Tür flog auf. Günther Stepan betrat das Büro. Der Ressortchef sah müde aus und wirkte noch unauffälliger als sonst. Er verschwand nach kurzem Gruß in seinem Büro hinter heruntergelassenen Jalousien.
Sarah setzte sich, fuhr den PC hoch und hoffte, keine tierische Sommerloch-Schlagzeile in den Meldungsübersichten der Nachrichtenagenturen zu finden. Die Chronik-Redaktion sollte sich mit gesellschaftsrelevanten Themen beschäftigen wie Bildung, Gesundheit oder Hardcore-Storys wie Mord und anderen Kriminalfällen. Immer nahe an den Problemen und Schicksalen der Menschen.
Gleich darauf verflog ihre heitere Stimmungslage. Die Landespolizeidirektion Wien hatte eine Nachricht geschickt.
Großer Polizeieinsatz in der Innenstadt. Unbekannte Lage. Die Exekutive bittet die Bevölkerung, den Bereich Neuer Markt weiträumig zu meiden.
Sarah dachte blitzartig an den Teufel. Einer alten Sage nach warf man ihn am ersten August aus dem Himmel. Folglich sorgte der Fürst der Finsternis dafür, dass dieser Tag als Unglückstag galt.
Sie griff nach dem Telefon, rief die Pressestelle in der Landespolizeidirektion an. Wenige Augenblicke später wusste sie, dass der Einsatz die Kaisergruft betraf und die Sondereinheit der Wiener Einsatzgruppe Alarmabteilung, kurz Wega, das Kommando innehatte. Genaues durfte man Sarah jedoch nicht mitteilen. Die Lage werde derzeit sondiert, hieß es knapp. Sarah konnte sich auch ohne ausführliche Erklärung ausmalen, was Sache war. Die Wega rief man nicht wegen eines ausgelassenen Kindergeburtstages. Sie tastete instinktiv nach ihrem Corno, das an einer silbernen feingliedrigen Kette um ihren Hals baumelte und sie gegen den Bösen Blick schützte. Die Frage, ob sie tatsächlich daran glaubte, verflucht zu werden, wenn sie es nicht trug, stellte sie sich nicht. Das rote hornförmige Schmuckstück war ein Teil von ihr.
Heute war der erste August, und der Teufel befand sich offenbar in diesem Augenblick in der Innenstadt. Sie atmete tief ein, spürte, wie das Adrenalin durch ihren Körper lief. Sie wollte hinfahren! Einhergehend mit diesem Entschluss ließ sie ihren Talisman los und drückte die Kurzwahltaste für Simons Büro. Ihr Blick streifte Amy, ihr Glücksschwein. Ein Geschenk ihres Bruders Chris. War es möglich, zu viele Glücksbringer zu besitzen? Sie selbst besaß inzwischen so viele, dass sie die halbe Stadt mit Glück überschwemmen konnte.
»Ich hab die Kamera schon in der Hand, kann gleich losfahren«, meldete sich der Fotograf und Computerspezialist des Wiener Boten ohne vorangegangene Begrüßung. Er schien auf Sarahs Anruf gewartet zu haben. Sie wusste, dass er manchmal über illegale Kanäle an Informationen kam.
»Gut! Wir treffen uns vor Ort.«
»Die Tegetthoffstraße ist ab der Führichgasse gesperrt«, sagte Patricia Franz von ihrem Platz aus. Ihre Schreibtische standen Stirn an Stirn. »Auch die Plankenstraße ist zu. Der Innenstadtverkehr wird großräumig umgeleitet. Die Polizei bittet, diesen Teil der Innenstadt weitgehend zu meiden.« Sie drehte den Bildschirm, so weit es ging, Richtung Sarah, zeigte auf die Twitter-Meldung. Die Polizei kommunizierte seit einiger Zeit mit der Bevölkerung und der Presse via soziale Medien. So gelang es der Exekutive, rascher zu informieren und auf Falschmeldungen zu reagieren.
»Fahr mit der U-Bahn«, wies Sarah Simon an. »So bist du sicher schneller da als mit dem Auto.« Sie legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten, und schob Block und Kugelschreiber in ihre Umhängetasche. Auf dem Tisch ihrer Kollegin lagen zwei Modemagazine. Patricia bemühte sich seit geraumer Zeit, in die Lifestyle-Redaktion wechseln zu können. Doch dort war schon seit Längerem keine Stelle frei. Sarah vermutete, dass sich die junge Journalistin inzwischen bei einschlägigen Magazinen beworben hatte. Doch bis sie ihren Traumjob hatte, arbeitete sie Sarah zu. Und die Aufgabe des Chronik-Ressorts war es nun einmal, über tagesaktuelle Ereignisse zu berichten. Anfangs begegnete Sarah ihrer Kollegin misstrauisch, weil es schien, als wollte sie sich an David, Sarahs Freund, ranmachen. Doch die Fronten waren geklärt, und mittlerweile konnte sie Patricia gut leiden und fände es schade, wenn sie den Wiener Boten verließe.
»Manuela Rossmann von der Landeskriminalpolizei ist bereits vor Ort und für die Presse zuständig«, ließ sie Sarah noch wissen.
»Danke! Wenn du etwas Neues erfährst, ruf mich sofort an.« Sarah hängte sich ihre Umhängetasche um und fragte sich plötzlich, ob sich im Sommer die Anzahl der Sommersprossen in Patricias Gesicht erhöhte. Ihr erschien es jedenfalls so. Auch die rotblonden Locken ihrer Kollegin glänzten farbintensiver. Das konnte jedoch auch an dem Sonnenlicht liegen, das durchs Fenster fiel. Sie selbst hatte ihre halblangen braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Sie konnte es nicht leiden, wenn die Haare im Nacken klebten, was bei den derzeitigen Außentemperaturen unvermeidbar war.
Stepan trat aus seinem Büro. Er bedeutete Sarah stehen zu bleiben.
»Du bekommst eine halbe Seite.«
Sarah hob die Hand zum Zeichen, verstanden zu haben, und verschwand durch die Tür.
Auf der Straße herrschte unbarmherzige Hitze. Die rund dreißig Grad im Schatten ergaben gefühlte fünfzig Grad in der prallen Sonne und auf dem aufgeheizten Asphalt der Mariahilfer Straße. Das Atmen fiel ihr schwer. Heiße Luft breitete sich in ihrer Lunge aus, und sie versuchte, auf dem Weg zur U-Bahn nicht zu schwitzen. Zum Glück hatte sie sich heute Morgen für einen hellblauen Jumpsuit aus dünnem, seidenähnlichem Stoff entschieden. Obwohl dieses Ding der Horror war, wenn sie zur Toilette ging. Denn der Knopf zum Öffnen des Overalls befand sich umständlicherweise im Nackenbereich. Dazu trug sie helle Sandalen. Ihre Fußnägel hatte sie farblos lackiert.
Am Stephansplatz verließ sie die U-Bahn. Die Innenstadt war trotz der Affenhitze voller Touristen. Sie lief die Kärntnerstraße entlang und wollte einige Minuten später in die Donnergasse einbiegen. Ein rot-weiß gestreiftes Absperrband hinderte sie daran. Sarah sah die Gasse hinunter. Am Platz rund um den Donnerbrunnen standen zig Einsatzfahrzeuge. Auch ein Krankenwagen. Männer der Sondereinheit Wega in schwarzer Schutzmontur, mit Stahlhelmen und Sturmgewehren, waren bereit für ihren Einsatz. Drei Autos mit offen stehendem Kofferraum und Hundekäfigen parkten im Schatten des Hotels Ambassador. Belgische Schäferhunde und Rottweiler warteten hechelnd, aber geduldig darauf, dass sich das Gitter vor ihrer Nase öffnete. Ab und zu schlabberte der eine oder andere kühles Wasser aus einem Stahlnapf.
Sarah zeigte der Wache stehenden Polizistin ihren Presseausweis. »Man hat mir gesagt, dass Frau Rossmann für die Presse zuständig ist.«
»Ja«, bestätigte die Uniformierte knapp. »Die Pressestelle ist in der Marco-d’Aviano-Gasse eingerichtet.« Sie zeigte in die Richtung.
»Gibt es schon Neuigkeiten?«, fragte Sarah, obwohl sie wusste, dass sie an dieser Stelle keine Antwort bekommen würde.
»Das wird Ihnen Frau Chefinspektorin Rossmann mitteilen.«
Simon tauchte neben Sarah auf. Wie üblich in Skaterklamotten. Sie hatte den jungen Kollegen erst einmal mit einem Sakko gesehen. »Ich hab schon ein paar Fotos geschossen.«
»Weißt du inzwischen, was hier abläuft?«
Simon schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, was da in der Gruft los ist. Der ORF ist übrigens mit zwei Teams angerückt und einem Übertragungswagen. Die planen sicher einen Live-Einstieg«, mutmaßte er, während sie die wenigen Meter bis zur nächsten Gasse zurücklegten. In der Marco-d’Aviano-Gasse tummelten sich bereits einige Journalisten. Kameramänner unterschiedlicher Sender hielten Kameras in der Hand oder schulterten diese. Wer konnte, suchte im Schatten der beiden Bäumchen Schutz vor der Sonne. Der Kiosk und der Blumenladen zeigten sich verwaist. Simon und Sarah hielten der Uniformierten die Presseausweise entgegen und bückten sich gleich darauf unter dem Absperrband hindurch.
»Weiß man schon, was los ist?«, fragte Sarah eine junge Redakteurin mit kurzen dunklen Haaren.
»Soll bald eine Erklärung geben«, ließ sie Sarah wissen. »Im Moment kursieren nur Gerüchte. Geiselnahme, Bombendrohung, Terroranschlag des IS, das volle Programm.«
»Fehlt nur noch Störung der Totenruhe«, spottete Sarah. Die junge Frau grinste.
Eine ORF-Redakteurin hielt Schaulustigen am Absperrband das Mikrophon unter die Nase. Momentaufnahmen für den ersten ZIB-Beitrag am Mittag. Sarah wollte sich später auch unter den Umstehenden umhören.
Sie trat an die zweite Absperrung am Ende der Gasse heran und ließ ihren Blick über den Platz schweifen. Nur noch vereinzelt parkten Privatautos am Straßenrand. Die Polizei hatte den Platz, so gut es ging, geräumt. Deshalb verstellte ihr nichts die Sicht auf die Kapuzinerkirche. Das Gotteshaus stand im architektonischen Gegensatz zu den anderen Bauten am Neuen Markt. Im Moment erschien ihr das rotbraune Gebäude hilflos, ja nahezu zerbrechlich. Die Fähnlein neben dem geschlossenen Holztor bewegten sich unscheinbar im Wind. Das überdimensionale Kreuz über dem kreisrunden Fenster versprach Schutz. Das Gittertor zur Kaisergruft war verschlossen. Ein Polizist machte sich gerade daran, es aufzuschließen. Den Schlüssel zur Kaisergruft hatten gewiss die Kapuzinermönche ausgehändigt. Die Ordensbrüder betreuten die Begräbnisstätte der Habsburger und Habsburg-Lothringer. Sarah wusste, dass sich hinter dem Gittertor noch eine automatische Rundschiebetür befand, die, so vermutete sie, ebenfalls abgeschlossen worden war. Sarah wunderte sich, dass die Polizei diese Glasschiebetür nicht öffnete, stattdessen knieten zwei Beamte im Schutzanzug davor. Sie konnte nicht sehen, was die beiden taten. Die Tür aufzubekommen musste doch leicht möglich sein, mithilfe eines Transponders oder eines Codes oder sonst etwas. Doch nichts passierte. Die Tür blieb zu. In dem Moment fiel bei Sarah der Groschen. Das vor dem Eingang waren Entminungsexperten.
Trotz aller Betriebsamkeit lag eine gespenstische Ruhe über dem Platz. Es schien, als hielte Wien den Atem an und wartete, wofür sich das Schicksal in den nächsten Stunden entschied. Leben oder Tod.
Ihr Blick tastete die Häuserfronten ab. An den Fenstern drängten sich Schaulustige. Die Pressesprecherin tauchte auf. Manuela Rossmann war eine attraktive Frau mit langen blonden Haaren, die im Nacken zusammengefasst waren. Ihre Lippen umspielte ein sympathisches Lächeln. Auffallend waren auch ihre großen blaugrünen Augen. Drei goldene Sterne auf silberner Borte zierten den Stehkragen ihrer dunkelblauen Uniform. Kameramänner brachten die Kameras in Position. Redakteure drängten sich um die Chefinspektorin der Landespolizeidirektion. Aufnahmegeräte und Mikrophone schnellten in ihre Richtung. Die unzähligen, zum Teil provokanten Fragen der Journalisten, das Nachhaken, die Ungeduld, all das brachte das Lächeln auf dem Gesicht der Pressesprecherin nicht zum Verschwinden. Manuela Rossmann erklärte mit Engelsgeduld immer und immer wieder denselben Sachverhalt.
Im Hintergrund begann man, die umliegenden Häuser zu evakuieren.
3
Das darf doch nicht wahr sein!«
Isabella Schönegg-Bach warf den Entwurf des neuen Katalogs von Modewelt Schönegg auf den antiken Schreibtisch. Sie bebte vor Zorn. Niemand hatte mit ihr über die neue Kollektion gesprochen. Mal ganz davon abgesehen, dass diese einer bodenlosen Frechheit gleichkam, einem Angriff auf die gutbürgerlichen Konfektionen ihres Unternehmens. Noch dazu nahm diese billig anmutende Linie gleich zu Beginn des Katalogs fünf Seiten in Anspruch. Christa musste den Verstand verloren haben. Allmählich hatte sie die Nase voll von den Alleingängen ihrer Schwester. Modern World prangte als Überschrift über dem modischen Debakel. Übergroße Leinenhosen und gepunktete Overalls, die aussahen, als trüge man sie ausschließlich im Fasching. Noch dazu diese aufreizend durchsichtige Bluse. Das Model trug nicht einmal einen BH darunter. Sie verlegten doch kein Sexmagazin! In den Adern ihrer Kundschaft floss zum Teil blaues Blut, wie auch in den Adern der Schönegg-Bachs. Darauf musste Rücksicht genommen werden. So eine Provokation konnte sie Käufer aus wohlhabenden Schichten kosten. Sie waren es ihrer Herkunft schuldig, kultivierte Kleidung in ihren zehn Modehäusern anzubieten.
»Verdammt, Christa«, zischte sie in die Leere ihres Büros. Seit einem Jahr flippte ihre Schwester aus. Genau genommen, seit Robert, ihr Sohn, nach London gezogen war. Er studierte an der University East London Financial Management im Masterstudium. Christa und Bernhard hatten sich drei Monate nach seiner Abreise scheiden lassen. Seitdem lief ihre Schwester, wie es schien, ihrer vergangenen Jugend hinterher. Die viel zu jungen Liebhaber gaben sich die Klinke in die Hand. Midlife-Crisis würde man bei einem Mann wohl sagen. Was für ein Glück, dass sie und Konstantin eine harmonische Ehe führten. Melanie, ihre gemeinsame Tochter, studierte Fashion Management in Mailand, was sie beide nicht aus der Bahn geworfen hatte. Ganz im Gegenteil. Isabella widmete sich seitdem noch intensiver dem Familienunternehmen und Konstantin seiner Kanzlei. Bis die Jungen so weit waren, in ihre Fußstapfen zu treten, dauerte es noch eine Weile. Melanie in ihre und Robert in jene von Christa. Auch wenn ihr Neffe ein Studium über Finanzen und Steuerwesen abschloss, war ihr wohler bei dem Gedanken, ihrer Tochter den wirtschaftlichen Bereich des Unternehmens zu übertragen. Robert hatte das zerstreute Künstlerwesen seiner Mutter geerbt sowie die Gier nach ständiger Erneuerung.
Ihr Blick wanderte hinaus durch das offen stehende Fenster in einen wolkenlosen Himmel. Stumm entschuldigte sie sich bei ihrem verstorbenen Urgroßvater, dem Gründer von Modewelt Schönegg, für den Fehltritt ihrer Schwester.
Nur weil sich Christa ausschließlich ums Kreative kümmerte, hieß das nicht, dass sie die Modelinie des Hauses ohne ihre Zustimmung umkrempeln konnte. Sie waren gleichberechtigte Teilhaber. Ganz abgesehen davon, dass diese Art von Mode nicht ihrer Zielgruppe entsprach. Wer also sollte das Zeug kaufen? Sie erhob sich, strich ihr dunkelblaues Kostüm glatt, kontrollierte im Spiegel an der Wand ihr Aussehen. Ihr hochgestecktes brünettes Haar verlieh ihr eine feine Strenge. Die Fältchen um ihre Augen hielten sich noch in Grenzen. Sie sah gut aus, und die vierundfünfzig Jahre sah man ihr kaum an. Wenige Augenblicke später schritt sie kerzengerade den Flur entlang und fuhr mit dem Lift in den zweiten Stock hinunter. Den Katalogentwurf hielt sie fest zwischen den Fingern.
Im zweiten Stock änderte sich das Erscheinungsbild des Unternehmens. Während sie, wie ihre Schwester lästerte, im vierten Stock zwischen altehrwürdigen Möbeln in einem Biedermeier-Verlies saß, bestand das zweite Stockwerk aus gläsernen Wänden und modernen Möbeln.
»Wie im Schönbrunner Zoo«, hatte Isabella spöttisch gekontert, als Christa mit dem Umbauplan für die unteren Stockwerke dahergekommen war.
»Kreative Menschen brauchen Licht und Raum«, hatte Christa behauptet. Isabella hatte nachgegeben. Sie musste in diesen Glaskäfigen ja nicht arbeiten.
Am Ende des Gangs lag das Büro ihres Exschwagers. Bernhard war für die Events und die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Modeschauen, Pressearbeit, das einheitliche Image von Modewelt Schönegg.
Seine Sekretärin, ein junges Ding mit langen blonden Haaren, meldete sie an, während Isabella schon halb in Bernhards Büro stand. Isabella Schönegg-Bach brauchte man nicht anzumelden. Sie war eine der beiden Chefinnen. Sie tauchte auf, wann und wo immer sie wollte!
»Hast du den Katalogentwurf schon gesehen?«, kam Isabella gleich auf den Punkt und warf den Vordruck auf Bernhards Schreibtisch.
Bernhard Schönegg, Ende vierzig, leicht ergrautes Haar, sportliche Figur und auch sonst annehmbar attraktiv, lächelte mokant. »Ich hab mit Christa um hundert Euro gewettet, dass du zuerst zu mir kommen wirst.« Er griff nach der Tasse Kaffee, die auf seinem Schreibtisch stand. »Magst auch einen?«
»Ich weiß, dass sie nicht im Büro ist. Sonst wär ich natürlich gleich zu ihr gegangen«, wetterte Isabella, die Frage ignorierend. Ihr war nicht nach einem Kaffeekränzchen zumute.
»Lass sie das bitte nicht wissen. Du bringst mich noch um meinen Wettgewinn«, lachte er.
»Also, was soll das?«
»Das musst du deine Schwester fragen. Sie ist die Chefeinkäuferin, ich bin nur der PR-Mann. Schon vergessen?«
»Sie hätte das mit mir absprechen müssen.«
»Noch einmal, Isabella. Du redest mit dem Falschen.«
»Du hast Einfluss auf sie.«
»Ich bin ihr Exmann, nicht ihr Vormund.« Er verzog das Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. »Außerdem hast du mich doch erst vor wenigen Monaten in deiner charmanten Art daran erinnert, dass ich nur eingeheiratet habe und gehen muss, wenn es Ihre Hoheit Isabella Schönegg-Bach befiehlt. Oder soll ich Frau Schönegg von Bach sagen?«
Obwohl der Adelsstand in Österreich 1919 abgeschafft worden war, trauerte Isabella dem entzogenen von zwischen Schönegg und Bach hinterher, als hätte sie die Monarchie noch selbst erlebt. Wenigstens erinnerte der Bindestrich zwischen den Namen an ihre adelige Herkunft. Christa hatte das Bach in ihrem Familiennamen gestrichen. Und im Gegensatz zu ihrer Schwester benahm sich Isabella, wie man das von einer Frau adeliger Herkunft erwartete. Hoheitsvoll in jeder Lebenslage.
»Das ist nicht der Zeitpunkt, um unsere Differenzen zu diskutieren.«
»Differenzen«, wiederholte er amüsiert und lachte erneut laut. »Ach Isabella, wie schade, dass du nicht im 19. Jahrhundert geboren wurdest. Du hättest so gut in die Palais und Pferdekutschen gepasst. Doch zu deinem Unglück leben wir im 21. Jahrhundert, und selbst du wirst bemerkt haben, dass sich vieles ändert, besonders in der Welt der Mode!«
»Ich verlange, dass diese …« – sie rang theatralisch nach Luft – »Kollektion aus dem Sortiment genommen wird und natürlich auch aus dem Katalog. Das passt nicht zu uns.«
»Wie wär es, wenn du das mit deiner Schwester besprichst?«
Isabellas grüngraue Augen blitzten gefährlich auf. Sie beugte sich leicht nach vorn und stützte sich am Schreibtisch ab. »Wenn ich sage, das Zeug fliegt raus, dann fliegt es raus. Verstanden? Du bist für die Endabnahme und Verbreitung des Katalogs zuständig. Was ich mit meiner Schwester bespreche, geht dich einen …« Sie brach ab, richtete sich wieder auf.
»Feuchten Kehricht an«, ergänzte Bernhard schnippisch. »Wolltest du das sagen, meine Liebe? Sprich es ruhig aus, denn du hast vollkommen recht. Es geht mich nichts an, und deshalb wiederhole ich jetzt noch einmal, was ich schon zweimal gesagt habe. Geh zu Christa und klär das mit ihr!«
Isabellas Blick verdunkelte sich, dennoch machte sie kehrt und wandte sich zum Gehen.
»Weißt du, welche Frage ich mir schon lange stelle, Isabella?«
Sie blieb stehen, sah Bernhard wachsam an.
»Warum verwendest du das von nicht einfach? Immerhin liegt die Strafgebühr dafür nach wie vor bei zwanzigtausend Kronen, das sind umgerechnet vierzehn Cent. Das wird sich das Unternehmen doch leisten können.« Er grinste bösartig.
Isabella schnaubte verächtlich und rauschte ab. Bernhard war nur der Prellbock gewesen. Das wusste er. Sie wäre mit dem Problem nie zu ihm gegangen, wenn Christa im Haus wäre.
Auf dem Rückweg öffnete sie die Tür zum Sekretariat ihrer Schwester. Eine Mittzwanzigerin saß hinter dem Schreibtisch und tippte etwas in den Computer. Sie drehte sich zu ihr.
»Wer sind Sie?«, fragte Isabella.
Die junge Frau erhob sich, kam um den Schreibtisch herum, streckte ihr die Hand entgegen und nannte ihren Namen. »Ich bin die neue Sekretärin von Frau Schönegg.«
»Wo ist Luis?«, fragte Isabella, während sie nach dem Assistenten ihrer Schwester Ausschau hielt und sich fragte, warum sie nichts von der neuen Sekretärin wusste.
»Das weiß ich leider nicht. Es hieß, er komme heute später. Frau Schönegg ist auch nicht da. Sie hat mir leider nicht gesagt, wann sie heute ins Büro kommt.«
Isabella Schönegg-Bach zog so unauffällig wie möglich die Luft durch ihre Zähne.
Nicht schon wieder dieser Luis, dachte sie.
4
Sie wissen noch nichts Genaues.«
Sarah stand mit dem Handy am Ohr zwischen dem Kiosk und den Schaufenstern von Swarovski und gab Patricia die neuesten Meldungen durch. Hinter ihr funkelten Schmuck- und Ziergegenstände um die Wette. Vor ihr lagen Bananen und Erdbeeren in Schütten. Man hatte den Kioskbetreibern offenbar keine Zeit gelassen, das Obst wegzuräumen. Die beiden standen vor dem Absperrband und behielten ihre Ware im Auge. Sarah erkannte sie an ihren grünen Schürzen mit der Aufschrift »Feinkost Kärntnerstraße«.
»Weder gibt es eine Forderung noch irgendeine Art Kontakt. Sie wissen nicht, ob es sich um einen Täter handelt oder mehrere. Im Moment ist auch noch nicht klar, wie viele Besucher sich da unten noch aufhalten. Derzeit wird der Eingangsbereich von Sprengstoffexperten untersucht. Dort liegt ein Päckchen, möglicherweise eine Bombe. Deshalb öffnen sie die Schiebetür nicht von außen, weil noch unklar ist, ob das einen Impuls auslöst und hier alles hochgeht.«
»Wow, nicht auszudenken, wenn die Kaisergruft in die Luft fliegt. Weißt du, wie viele Särge laut Wien info da unten stehen? Einhundertneunundvierzig! Das würde Wochen dauern, bis alle hoheitlichen Gebeine wieder zusammengesammelt sind, wenn man sie überhaupt noch findet. Ich mein, ein Hund macht da keinen Unterschied … und ein paar Souvenirjäger stehen sicher auch schon parat.« Sie lachten beide kurz laut auf. »Gibt es Überwachungskameras?«
»Die gibt es. Nur leider sind die weder mit der Polizei verbunden noch sonst mit einer Außenstelle. Nur zum internen Gebrauch. Der Täter oder die Täterin ist kurz nach zehn Uhr aufgetaucht, also gleich nach Öffnung der Gruft. Mit etwas Glück sind nicht viele Menschen unten. Im Moment steht nur fest, dass sich die Kassiererin in der Gewalt des Täters befindet.«
»Ist das unsere Headline: Bombendrohung mit Geiselnahme?«, fragte Patricia.
»Die Wega hat die Cobra mit einem Verhandlungsspezialisten angefordert. Das spräche dafür. Aber wart noch, bis ich die offizielle Bestätigung habe. Nicht dass wir eine Falschmeldung hinausposaunen.«
»Soll ich die anderen Informationen trotzdem gleich an die Online-Redaktion weitergeben?«
»Ja, mach das. Bestätigt wurde, dass Touristen, die in die Gruft wollten, von einer Gestalt mit dunklem Umhang und Totenkopfmaske erzählten. Unser Totenkopf zwang eine Frau, vermutlich die Kassiererin, das Gittertor und danach gleich die Rundschiebetür vor ihrer Nase zuzusperren.«
»Wow, eine Totenkopfmaske in der Gruft, wie originell«, brummte Patricia hörbar amüsiert.
»Jedenfalls fuchtelte der oder die Maskierte mit einer Pistole herum und vertrieb die Leute vor der Tür«, fuhr Sarah fort. »Leider schirmen die Ermittler die Augenzeugen ab. Ich kann dir nicht einmal sagen, ob die gerade befragt werden oder bereits nach Hause geschickt wurden. Jedenfalls gibt es keine Chance, ein Statement von irgendwem zu bekommen. Ich kann gerade leider gar nichts machen außer abwarten.«
»Vielleicht ist es ja so ein Verrückter, der es lustig findet, Leute zu Tode zu erschrecken. Du weißt schon, wie diese idiotischen Horror-Clowns neulich. Soweit ich mich erinnere, gab’s sogar Verletzte. Der in der Gruft ist möglicherweise ein besonders originelles Exemplar dieser Deppenzunft«, mutmaßte Patricia.
Sarah erinnerte sich ebenfalls an einige Vorfälle. Sie verzog das Gesicht. »Sollte es sich wirklich um so einen Witzbold handeln, wird ihn das teuer zu stehen kommen. Unter den Medienleuten hier kursiert übrigens noch ein anderes Gerücht. Einige glauben an einen bevorstehenden IS-Anschlag.« Sie wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Die Anwohner und Hotelgäste werden jedenfalls gerade evakuiert. Die Sperre wird demnächst auf die gesamte Kärntnerstraße und den Graben ausgeweitet. Nur wir Journalisten dürfen bleiben.«
»Dass ein Anschlag bevorsteht, wird auch in den sozialen Medien behauptet. Ist doch gar nicht so abwegig, oder?«
»Wenn dem so ist, werden wir’s auch noch von offizieller Seite erfahren«, antwortete Sarah. »Ich hoffe nur, lange bevor hier alles in die Luft fliegt.« Sie beneidete ihre Kollegin darum, im klimatisierten Büro zu sitzen. »Ich könnte mir in Wien aber weitaus spektakulärere Schauplätze für einen Anschlag vorstellen.«
»Wieso? Die Särge der Habsburger hochzujagen gibt unter Garantie internationale Presse«, widersprach Patricia.
»Wie auch immer«, beendete Sarah das Thema. »Hast du in der Zwischenzeit was rausgefunden?«
»Leider nein. Die Online-Medien gehen zwar über vor Meldungen, doch die meisten werden rasch von der Polizei dementiert. Dem Verdacht auf einen Terroranschlag hat man aber noch nicht widersprochen. Ich bleib jedenfalls dran und gebe dir Bescheid, sobald etwas Wichtiges reinkommt. Der ORF hat übrigens das aktuelle Programm unterbrochen. Auf ORF2 läuft eine Sondersendung.«
»Ich weiß, die Reporterin hat sich sehr eindrucksvoll vor dem Absperrband vor der Kapuzinerkirche positioniert.«
»Der Fernseher im Büro läuft. Ich schau’s mir gerade an. Die wissen aber auch nicht mehr als wir.«
»Was schreiben die Nachrichtenagenturen?«
»Nichts, was du mir nicht eh schon gesagt hast.«
»Hast du den Leiter der Kapuzinerkirche ans Telefon bekommen oder die Pressesprecherin?« Soweit Sarah wusste, handelte es sich bei der Ansprechperson für die Presse um eine Frau. »Oder irgendwen?«
»Keine Chance. Die haben den Anrufbeantworter eingeschaltet. Ich hab draufgesprochen, glaub aber nicht, dass mich jemand zurückruft.«
»Okay. Dann fass du einmal zusammen, was wir haben, und lass es online stellen. Mehr gibt es morgen im aktuellen Wiener Boten.«
»Alles klar!«
Sie beendeten das Gespräch. Es war einfach noch zu früh für eine detaillierte Berichterstattung. Die Polizei musste zuerst einmal die Lage prüfen und in den Griff bekommen. Dennoch, Sarah hasste es, zum geduldigen Herumstehen verdonnert zu sein. Sie wollte etwas tun, sah sich nach etwaigen Interviewpartnern um. Schaulustige mit gierigem Blick, die bereit waren, die eine oder andere Beobachtung preiszugeben.
Sie brach das Vorhaben rasch wieder ab. Die Aussagen der wenigen Menschen, die sie erwischte, bevor die Polizei den Gefahrenbereich räumte, brachten keine neuen Erkenntnisse. Die Leute plapperten nach, was sie irgendwo aufgeschnappt hatten: Sprengstoffattentäter, Geiselnehmer, radikale Islamisten – am besten, alles auf einmal. In Wahrheit hatte niemand etwas gesehen. Der perfekte Nährboden für Hypothesen. Nichts, was den Wiener Boten interessierte.
Sie stellte sich wieder zum Absperrband am Ende der Marco-d’Aviano-Gasse und schrieb Martin Stein eine SMS. Was immer in der Kaisergruft geschah, fiel zwar nicht in die Zuständigkeit des Chefinspektors der Wiener Polizei, aber vielleicht gelang es ihr so, an inoffizielle Informationen zu kommen. Manchmal ließ sich der Ermittler erweichen und gab ihr etwas in die Hand, das andere Journalisten erst Stunden später über die Pressestelle erfuhren. Sie beide verband eine besondere Vertrauensbeziehung, obwohl Sarah bei ihrem ersten Aufeinandertreffen mulmig zumute gewesen war. Der brummige Kriminalkommissar mit dem Bürstenhaarschnitt war nicht gerade mit lieblichem Charme gesegnet. Doch sie konnten einander inzwischen gut leiden. Stein hatte ihr vor wenigen Monaten das Du angeboten. Der alte Griesgram wurde mit zunehmendem Alter milde. Er mochte jetzt Mitte fünfzig sein. Sein gleichmütiger und zugleich durchdringender Blick war nach wie vor messerscharf.
Ihr Handy piepste.
Keine Zeit! Später, LG Martin,stand auf dem Display.
»Verflixt«, fluchte sie leise.
Simon tauchte an ihrer Seite auf. Die Kamera hing an einem Gurt vor seiner Brust. Das Bild erinnerte Sarah an ihre Kindergartenzeit, als sie die Kindergartentasche stolz um den Hals trug, um damit allen zu zeigen, dass sie kein Baby mehr war.
»Glaubst, passiert da heute noch mal was?«, fragte er grantig.
»Hast du’s eilig?«
»Es ist heiß.«
»Tatsächlich? Gut, dass du’s erwähnst. Das ist mir nämlich noch gar nicht aufgefallen.« Sarah klang gereizter, als sie wollte. Aber die Hitze nagte auch an ihrem Nervenkostüm.
Ein Geräusch drang an ihr Ohr. Sarah versuchte, es einzuordnen. Plötzlich kam in die Cobras Bewegung. Sie steuerten wie eine dunkle Wand auf den Eingang der Gruft zu. Sarah wirbelte herum, versuchte ihr Glück beim nächstbesten Uniformierten.
»Was ist los?«, brüllte sie ihm entgegen. Er schüttelte den Kopf und versuchte gleichzeitig mit zwei Kollegen, die Presseleute weiter nach hinten zu drängen. »Bitte gehen Sie zurück.« Kein Journalist am Absperrband bewegte sich. Sie wussten, wenn es der Polizei gelang, sie bis zur Johannesgasse zurückzudrängen, konnten sie nichts mehr sehen. Das Risiko, dass hier gleich alles in die Luft flog, mussten sie eingehen. Die hohen Gebäude, die die Gasse säumten, würden ihnen hoffentlich genug Schutz vor herumfliegenden Teilen bieten.
»Doch ein möglicher Anschlag?«, versuchte es Sarah erneut und erntete wieder ein Kopfschütteln.
Zwei Wega-Beamte mit einem Rot-Kreuz-Koffer liefen Richtung Grufteingang. Sarah wusste, dass einige Polizisten der Sondereinheit eine Sanitätsausbildung absolvierten. So vermied man, Rot-Kreuz-Mitarbeiter in den Gefahrenbereich schicken zu müssen.
»Ich glaub, da ist etwas passiert«, raunte Sarah Simon zu. Sie ärgerte sich, nicht näher heranzukommen. Simons Kamera klickte. Im nächsten Moment überschwemmte ein ganz bestimmtes Gerücht den gesamten Platz: In der Kaisergruft fielen Schüsse.
»Verdammter Mist.«
Sarah lief es trotz der Hitze kalt über den Rücken. Wer zum Teufel hatte da geschossen? Die automatische Schiebetür ging auf. Die Cobras stürmten hinein. Sarah versuchte, an Informationen zu kommen. Doch niemand schien Bescheid zu wissen, und die Pressesprecherin war nirgends zu sehen. Sie rief Patricia an.
»Die Cobra stürmt die Gruft.«
Sie hörte Tippgeräusche. »Auf Facebook hat jemand gepostet, dass die Gruft explodiert sei.«
»Blödsinn. Hier heißt es, Schüsse sind gefallen. Explodiert ist nix.«
»Hast recht! Die Polizei hat soeben auf Twitter die Schüsse in der Gruft bestätigt. Die sind echt schnell.«
»Klar sind die schnell. Die bekommen ihre Informationen ja auch aus erster Hand.« Sarah kannte den Raum im oberen Stockwerk der Landespolizeidirektion, in dem sich jetzt gerade einige Beamte um die Meldungen in den Online-Foren kümmerten.
»Wart! Da fragt jemand auf Facebook, ob es stimmt, dass der Geiselnehmer fliehen konnte. Weißt du etwas darüber?«
»Nein. Ruf sofort die Pressestelle in der LPD an, frag nach und gib mir so schnell wie möglich Bescheid«, bat sie, wischte über den roten Knopf auf ihrem Handydisplay und überlegte, wie der Maskierte entkommen sein könnte. Gab es in der Gruft einen Hinterausgang?
Die beiden Polizeisanitäter verschwanden im Inneren des Gebäudes. Sarah sah auf die Uhr. Es war halb zwölf, sie stand seit einer halben Stunde untätig herum. Die beiden Uniformierten hatten es aufgegeben, die Journalisten zu verdrängen. Sie begnügten sich damit, die Absperrung zu sichern.
Fünfzehn Minuten später tauchte einer der beiden Sanitäter mit einer Frau wieder auf. Merk dir, wie sie aussieht, ermahnte sich Sarah stumm. Sie registrierte glatte, braune, schulterlange Haare. Geschätztes Alter: Anfang zwanzig. Kleidung: hellgrauer knielanger Rock und eine ärmellose beige Bluse. Sarah lugte ums Eck. Der Wega-Sanitäter bugsierte sie in den Krankenwagen beim Donnerbrunnen. Zwei weitere Polizisten in Zivil stiegen zu. Der Wagen fuhr jedoch nicht ab. Wer war die Frau? Eine Touristin? Die Kassiererin? Die Täterin? Sie sah niemanden, der ihr diese Frage hätte beantworten können.
Die Kameramänner filmten, die Fotografen schossen Bilder. Die Wagentür schloss sich.
Ihr Handy läutete: Patricia.
»Und?«
»Die sagen nichts. Du weißt doch, wie das ist. Sie mögen es nicht, wenn Journalisten genau in dem Moment anrufen, wo etwas passiert. Sie müssen erst sondieren, was und wie viel an die Öffentlichkeit kann. Nur die Flucht des Täters haben sie mir gegenüber und auch auf Facebook schon dementiert. Man glaubt nicht, welchen Scheiß die Leute angeblich beobachtet haben wollen«, knurrte sie bissig. »Und wir sollen innerhalb kürzester Zeit auseinanderklauben, was stimmt und was nicht.«
Sarah ließ während des Telefonats das offen stehende Gittertor zur Gruft nicht aus den Augen. Seit der Stürmung schien eine Ewigkeit vergangen zu sein.
»Vorhin sind auch zwei Polizeisanitäter runter. Einer von ihnen kam mit einer Frau zurück. Die sitzt jetzt im Krankenwagen. In Begleitung von zwei Kriminalpolizisten. Sie wird sicher gleich einmal befragt. Der zweite Wega-Sanitäter ist unten geblieben. Das bedeutet wahrscheinlich, dass es zumindest einen Verletzten gibt. Ich melde mich wieder, sobald ich mehr weiß.«
Sarah schaute auf die Uhr. Es war drei Minuten vor zwölf. Wenige Augenblicke später hörte sie die Glocken der Peterskirche und gleich danach jene des Stephansdoms läuten.
Der Krankenwagen fuhr ab. In dem Moment kam ihr eine Idee. Sie nahm erneut ihr Handy zur Hand und rief ihren Bruder an. Chris absolvierte im Rahmen seines zu Ende gehenden Medizinstudiums das Klinische Jahr im größten Krankenhaus Wiens. Sarah war sich sicher, dass sie die Frau aus der Kaisergruft ins AKH bringen würden.
»Du hast Glück«, meldete sich Chris. »Ich hab grad Pause. Du hast zwei Minuten, dann muss ich zurück und mein Handy wieder ausschalten.«
Sarah erklärte ihm, was passiert war.
»Und jetzt willst du, dass ich den Namen der Frau herausfinde?«, erriet Chris. »Ich fass es nicht!«
»Wenn du das sagst, klingt es wie ein Verbrechen.«
»Es ist eine Art Verbrechen, Sarah. Ich mache dieses Jahr meinen Abschluss, und wenn ich für dich herumschnüffle, kann ich auch gleich meine Karriere abschreiben, die noch nicht mal begonnen hat.«
»Du brauchst nur einen Blick auf die Anmeldung zu werfen, im Vorbeigehen.« Sie beschrieb ihm die Frau.
Chris legte auf.
Verflixt. Sie wusste, dass es falsch gewesen war, ihn darum zu bitten. Aber etwas anderes war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen. Sie schrieb ihm eine SMS: Tut mir leid, vergiss es!
Die Pressesprecherin tauchte wieder auf und stellte sich vor das Absperrband. Sie sah nicht glücklich aus.
5
Maria Baldauf nahm das Mehl aus dem Kasten, wog es ab und rührte es anschließend unter den Teig. Sobald Patrick nach Hause käme, wäre der Kuchen fertig. Ein Marmorkuchen, den mochte er, so wie er es mochte, wenn die gesamte Wohnung nach Mehlspeisen duftete, nach Gemütlichkeit und Familie. Und sie mochte Tage wie heute. Tage, an denen sie sich ausschließlich ihrer Familie widmen konnte. Für sie waschen, putzen, kochen und backen. Nicht hinter der Wursttheke im Supermarkt stehen und übellaunige Kunden ertragen. Die Leute wurden von Jahr zu Jahr unfreundlicher, bellten ihre Bestellung über die Glasvitrine wie tollwütige Bestien und behandelten Verkäuferinnen wie Leibeigene. Wann hatte das eigentlich angefangen, dass man sich nicht mehr grüßte? Dass man sich gegenseitig anknurrte wie Hunde, die ihr Revier verteidigten? Sie wusste es nicht. Die Verrohung der Menschheit war schleichend dahergekommen. Aber zum Glück konnte sie schon bald in Pension gehen und würde den Supermarkt danach nur mehr als Kundin betreten. Als freundliche Kundin, die die Arbeit der Angestellten wertschätzte. Zumeist Frauen, die für einen Hungerlohn viel leisteten.
Als es an der Tür läutete, blickte sie überrascht auf die Uhr. Wer störte an einem Dienstagvormittag? Die meisten Nachbarn waren bei der Arbeit, und Freundinnen, die unangemeldet auftauchten, hatte sie keine. Hanna, ihre Tochter, und ihr Schwiegersohn Konrad hatten mit ihrer Enkelin Amelie schon morgens bei ihr vorbeigeschaut, auf dem Weg zum Schwimmen. In Urlaub fahren war dieses Jahr für ihre Tochter mit Familie nicht drin gewesen. Der Hauskauf erschien wichtiger.
Sie wischte sich die Finger an einem Geschirrtuch ab und ging den Flur entlang bis zur dunkelbraunen Eingangstür. Ein Blick durch den Spion machte sie stutzig.
Polizei?
Im Bruchteil einer Sekunde durchrasten beängstigende Gedanken ihr Gehirn.
Otto hatte einen Autounfall! Unsinn! Deshalb würden sie nicht zu ihr kommen. Ihr Freund wohnte nicht bei ihr.
Patrick ist vor die Straßenbahn gelaufen! Hanna und der Kleinen ist etwas passiert! Konrad klammerte sie aus, dem passierte nie etwas.
Sie drehte den Schlüssel im Schloss herum und öffnete mit einem Lächeln im Gesicht, das sie normalerweise für liebenswerte Kunden aufsetzte, die Tür. In diesem Moment war es eine Beschwichtigungsgeste. Einer ergeben lächelnden Frau überbrachte man keine schlechten Nachrichten.
»Frau Baldauf?« Eine junge Frau in Uniform, schätzungsweise Mitte dreißig, sah sie mit ernster Miene an. Zwei Schritte hinter ihr stand ein Mann, ebenfalls in Uniform. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
»Ja?«
»Ist Ihr Sohn zu Hause?«
Die Frage passte nicht zu einem Unfall. »Warum?«
»Ist er zu Hause?«
»Er hat heute ein Vorstellungsgespräch«, erklärte Maria. Sie wollte erwähnen, dass sie deshalb gerade einen Kuchen für ihn backe. Endlich ein Vorstellungsgespräch! Das war mehr, als das gesamte letzte Jahr hergegeben hatte.
»Wo stellt er sich vor?«
»Ich bin mir sicher, dass er den Job bekommt«, fuhr sie fort, die Frage ignorierend.
»Das heißt, er ist nicht da?«
»Es schaut gut aus, das hat er mir heute Morgen noch gesagt, bevor er losfuhr.« Warum in Herrgotts Namen erzählte sie das? Danach hatte man sie doch gar nicht gefragt.
»Dürfen wir reinkommen?«
Was, wenn sie Nein sagte? Sie wollte nicht, dass jemand ihren glücklichen Backtag mit schlechten Neuigkeiten verdarb.
»Bitte!« Sie trat einen Schritt zurück. Die Uniformierten traten ein.
»Können wir uns irgendwo setzen?«
So schlimm war es also, dass sie sich setzen sollte, bevor man ihr mitteilte, was geschehen war? Hitze stieg ihr ins Gesicht.