Todleben - Uwe von Seltmann - E-Book

Todleben E-Book

Uwe von Seltmann

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Beschreibung

Die Familien sind auf fatale Weise verbunden: Der deutsche Großvater war ein SS-Mann in Polen, der polnische Großvater wurde in Auschwitz ermordet; zwei ihrer Enkel sind miteinander verheiratet. Uwe von Seltmann öffnet die Büchse der Pandora und forscht nach: Ist sein Großvater dem seiner Frau Gabriela begegnet, hat er etwas mit dessen Tod zu tun? Briefe und Zeugnisse aus der Zeit führen ihn auf der Suche nach Antworten quer durch Europa, zu den Schauplätzen nationalsozialistischer Verbrechen, zu Überlebenden des Holocaust und ehemaligen Tätern. Berührend und erschütternd zugleich schildert er, wie in den beiden Familien alte Wunden aufreißen und längst Verdrängtes ins Bewusstsein zurückkehrt.

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Seitenzahl: 481

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Uwe von Seltmann

Todleben

Eine deutsch-polnische Suche nach der Vergangenheit

HERBiG

Für Gabriela, Paul und seine Cousinen und Cousins Julia, Malte & Fenja, Lena & Hannah und Jan

Besuchen Sie uns im Internet unter

www.herbig-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2012 F.A. Herbig

Inhalt

Prolog»My grandfather was killed at Auschwitz«Krakau, 7. Juli 2006»Don’t be Jesus! Don’t suffer!«Pobershau/Erzgebirge, 5. Januar 2007»Stille Nacht, heilige Nacht«Grybów, 24. Dezember 2007»Schreib das alles auf!«Grybów, 19. September 2008»Heil Hitler, Herr Professor, wie geht es Ihnen?«Krakau, 6. November 2009»... und die Mörder sterben in ihren Betten«Krakau, Februar 2010»You opened Pandora’s box«San Sebastián, 6. Mai 2010»Ausgerechnet ein Deutscher ...«Bidart, 8. Mai 2010»Wer tot ist, kehrt nicht wieder zurück«Verkhovyna, 6. Juni 2010»Ich habe immer gerne hier gewohnt«Verkhovyna, 7. Juni 2010»Wo seid ihr alle gewesen?«Verkhovyna, 7. Juni 2010»Lublin ist wirklich ganz schön«Lublin, 11. Oktober 2010»Mit dem Besuch Himmlers fing alles an«Lublin, 11. Oktober 2010»Todleben«Lublin, 11. Oktober 2010»Man folgt immer dem Weg von zu Hause«Wien, 1. Februar 2011»Die Matrize des Todes«Poręba Żegoty, 30. April 2011»Geliebte Huzulen«Verkhovyna, 25. Mai 2011»Wie die Heringe im Fass«Kolomea, 26. Mai 2011»Huculski Blues«Verkhovyna, 27. Mai 2011»Der Michał hat die letzte Reise nicht überstanden«Poręba Średnia, 18. Juni 2011»HoAderes«Krakau, 30. Juni 2011Epilog und DankLiteratur und Quellen

Prolog

»Auch dort wohnen Menschen«

Verkhovyna, Juni 2010

Um manche Geschichten erzählen zu können, muss man reisen, in die Vergangenheit zum Beispiel. Oder in eine Gegend, die geografisch in der Mitte Europas liegt und auf der Landkarte so nah scheint, aber zugleich fern und fremd ist wie die Sterne, die über den dunklen Bergen aufgehen. Es sind dieselben Berge, »die etliche Jahre zuvor der schrecklichsten Katastrophe zusahen – dem Tod Tausender und Abertausender, deren Gebeine auf ewig im Gedächtnis der Jahre ruhen; dieselben Berge, die wie treue Wächter in ihren Berghöhlen die heldenhaften Widerstandskämpfer verbargen. Noch dunkeln dort in den Bergen die Überreste der Schützengräben wie Wunden, die die Zeit nicht zu heilen vermag, und sie mahnen und mahnen.«1› Hinweis So hat Josef Burg, der letzte der großen jiddischen Dichter, verstorben im August 2009, die Berge beschrieben, die ich inzwischen kaum mehr erkennen kann.

Mit jeder Minute werden es mehr Sterne, die am Nachthimmel erscheinen. So viele, dass man sie nicht mehr zählen kann. Keine Leuchtreklame trübt den Blick, keine Straßenlaterne, kein Autoscheinwerfer. Den Großen Wagen und den Kleinen Wagen erkenne ich, die anderen Sternbilder sind mir ein Rätsel. Mein Vater hätte sie mir erklären können, so wie er es in meiner Kindheit getan hat, als es auch in unserem Dorf noch dunkel war. Es waren Augenblicke des ehrfürchtigen Staunens, als wir in den kalten Winternächten zum Himmel aufschauten.

Ich halte den Atem an und wage nicht, mich zu bewegen. Wie damals, als ich ein Kind war. Nur dass ich in dieser Nacht nicht die Hand des Vaters habe, die ich hätte ergreifen können. Ich frage mich, ob mein Vater jemals an der Hand seines Vaters den Sternenhimmel betrachtet hat. Wahrscheinlich nicht, denn als sein Vater ihm den Sternenhimmel hätte erklären können, war mein Vater schon Waise. Er war nicht einmal zwei Jahre alt, als sein Vater, mein Großvater, seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hat.

Mein Großvater ist in dieser Gegend gewesen, das weiß ich aus seinen Briefen, hier in den östlichen Karpaten, in denen alte Leute zigmal die Nationalität wechselten, ohne dass sie ihr Dorf auch nur ein einziges Mal verlassen haben: Geboren in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, dann polnisch oder rumänisch, sowjetisch, deutsch, wieder sowjetisch, seit 1991 ukrainisch. Ukraine bedeutet Grenzland, und hier am Czeremosz trägt die Ukraine diesen Namen zu Recht. Oben auf den Gipfeln des Czarnohora-Gebirges, der Schwarzen Berge, liegt die Grenze zu Rumänien, wenige Kilometer westlich die zur Slowakei und zu Ungarn, den Czeremosz flussabwärts, durchs Tal des Pruths, unweit von Czernowitz die zu Moldawien und nordwestlich die zu Polen.

Als mein Großvater geboren wurde, im Januar 1917 in Graz, war alles ein Staat, und obwohl keine zwei Monate zuvor Kaiser Franz Joseph nach 68-jähriger Regentschaft gestorben war, deutete noch nichts darauf hin, dass sich die Monarchie einmal auflösen könnte. Für diese Gewissheit stand schon mein Urgroßvater, Dr. Josef Armand von Seltmann, kaiserlicher und königlicher Hofrat und damit Garant der ewigen Herrschaft des Habsburgergeschlechts. Wien lag weit weg, und die Schlachten des Ersten Weltkriegs wurden in Galizien und der Bukowina geschlagen, den östlichsten Vorposten der Doppelmonarchie – jenem Land, in dem Menschen und Bücher lebten, wie der Czernowitzer Dichter Paul Celan einmal sagte. Und in dem später die Menschen zu Hunderttausenden starben, weil Herrscher kamen, die alle ermordeten oder deportierten, die nicht in ihre Ideologie passten: Juden und Huzulen, Rumänen und Ruthenen, Bojken und Lemken, Ukrainer und Polen wie Michał Pazdanowski, den Großvater meiner Frau Gabriela, der 1937 in dieses Dorf am Czeremosz gezogen war, in dem ich 73 Jahre später den ehrfurchtgebietenden Sternenhimmel betrachte.

Die Sterne gehen über allen auf, über Guten und Bösen, so wie die Sonne über allen scheint, ohne einen Unterschied zu machen, ob es Gerechte oder Ungerechte sind. Das sagt schon die Bibel. Jaroslaw, unser Fahrer, der uns auf Straßen, die zu Zeiten der k. u. k. Monarchie nicht schlechter gewesen sein konnten als heute, in das Städtchen am Czeremosz gebracht hat, kennt die Bibel nahezu auswendig – Jaroslaw ist ein Zeuge Jehova. Er wohnt in Lemberg/L’viv/Lwów, das einst hinter Wien, Budapest und Prag die viertgrößte Stadt der Doppelmonarchie war, und liebt das Gebirge. Die Berge sind für ihn ein Ort der Ruhe und Zuflucht. In sie zieht er sich zurück, wenn er mal wieder genug hat von den Verhältnissen in der Ukraine: Überall Gewalt und Pornografie, aber keine Arbeit und keine Gerechtigkeit, klagt er, ob Polizisten oder Richter, alle seien käuflich. Die Menschen fühlten sich wie ein Tier in die Ecke gedrängt und glaubten an nichts mehr. Deshalb lächelten sie so selten und tränken so viel: »Wodka – und bis morgen keine Sorgen.«

Für Jaroslaw, den wir schon bald freundschaftlich Jarek nennen, sind die ukrainischen Verhältnisse ein Zeichen, dass die in der Bibel erwähnte endzeitliche Schlacht von Armageddon bald bevorstehe. Ob wir wüssten, wann Satan auf die Erde gekommen sei, fragt er einmal und gibt gleich die Antwort: im Sommer 1914, mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz-Ferdinand in Sarajewo und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Und dann sagt er Sätze, die wir mehrfach auf dieser Reise in das Herz Europas hören: Wir brauchen wieder einen Krieg. Gegen die Deutschen. Und einen Tag nach dem Einmarsch der Deutschen ergibt sich die ukrainische Armee. Und dann können die Deutschen hier Ordnung schaffen.

Seit vielen Jahren reise ich in die Ukraine, aber niemals habe ich diese Sätze so oft gehört wie in diesem Frühsommer. Schon der freundliche, ältere Herr, der uns, weil kein Marschrutka, kein Kleinbus, vom Grenzübergang nach Lemberg aufzutreiben war, in einem alten VW Passat dorthin chauffierte, hatte sich einen Krieg herbeigewünscht – damit die Deutschen kommen und für Ordnung sorgen. Er deutete, während er Schlagloch um Schlagloch umkurvte und wir uns wie auf einem schlingernden Schiff vorkamen, auf die zahllosen Bauruinen, die niemand bewohnt, und auf die fruchtbaren Felder und saftigen Wiesen, die brachliegen, weil sie niemand bewirtschaftet. Er spare für einen Traktor, sagte er, aber er werde das nötige Geld wohl niemals zusammenbekommen, denn das Leben in der Ukraine sei sehr teuer geworden. Sein Sohn sei Grenzbeamter und verdiene 1800 Gryvna im Monat, keine 200 Euro. Wie solle man davon leben? Wenn wir an der Grenze mal Probleme hätten, sagte er und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, sollten wir uns an seinen Sohn wenden. Ein Krieg, sagte er zum Abschied noch einmal, ja ein Krieg, das wäre die Lösung.

Ich denke an ihn, während ich in den Sternenhimmel schaue, und an den alten Mann mit dem zerfurchten Gesicht, dem Josef Burg auf seiner Karpatenreise Ende der 1980er-Jahre begegnet war:

Was sieht er dort in den Bergen? Vielleicht ist er in den Kriegsjahren Partisan in dieser Gegend gewesen, und die Einzelheiten aus jener schrecklichen Zeit fügen sich nun zu einem deutlichen Bild. In seiner Vorstellung erwacht möglicherweise die fürchterliche Jagd nach schutzlosen Greisen, Frauen und Kindern, mit Weinen und Wehklagen und kurzen scharfen Schüssen. Und vielleicht durchlebt er noch einmal das Elend und die Verlorenheit jener letzten Minute, wenn die Erde unsicher wird und der Mensch vor sich selbst fliehen möchte.2› Hinweis

Vergangene Nacht, unserer ersten hier am Czeremosz, war in Gabriela die Vorstellung der »fürchterlichen Jagd« erwacht. Waren es die rätselhaften Stimmen, die aus der Finsternis in unser Zimmer drangen, die sie in panische Angst versetzt hatten? Es waren keine harten, barschen Männerstimmen, die wir hörten, sondern helle, klare, hohe Frauenstimmen. Minutenlang, gleichförmig, mantraartig, in einer unverständlichen Sprache, als ob alte Kräuterweiber Beschwörungsformeln murmeln oder geheimnisvolle Zaubersprüche aufsagen. Bei den Huzulen, jenem sagenumwobenen Bergstamm hier in den östlichen Karpaten, würden solche archaischen Bräuche bis heute gepflegt, hatte man uns erzählt.

Oder war es die Quelle unter unserem Zimmer, die Tag und Nacht sprudelte? Oder der abendliche Anruf von Gabrielas Vater, der von rätselhaften Geschehnissen im elterlichen Haus berichtete und seine Tochter beschwörend bat, bitte achtsam und vorsichtig zu sein? Niemals zuvor, sagte Gabriela, habe sich ihr Vater so verängstigt und besorgt gezeigt.

Als die Dämmerung hereinbrach und die ersten Hähne krähten, erstarben die seltsamen Stimmen. Womöglich waren es lediglich zwei Frauen, die auf den ersten Bus nach Vorokhta oder nach Kolomea warteten und sich mit munteren Gesprächen die Zeit verkürzten. Und auch die Angst legte sich allmählich, als sich das Morgengrauen mehr und mehr in einen lichten Tag verwandelte.

»Kann man die Gefühle eines anderen noch einmal erleben und durchleben?«, fragte Gabriela plötzlich. Es war drei Uhr in der Nacht, als sie erwachte. Und es war drei Uhr in der Nacht gewesen, als vor knapp 70 Jahren, am 13. November 1942, unweit von unserem Quartier Gabrielas Großvater abgeholt worden war und niemals wieder nach Hause zurückkehren sollte. Seine Frau war allein geblieben, mit drei kleinen Kindern.

Sie habe sich in ihrer Angst wie ein Stein gefühlt, sagte Gabriela, unfähig, sich zu bewegen. Hilflos und ohnmächtig. Eine fürchterliche Ungewissheit habe sich in ihr breitgemacht. Sie rieb ihren schmerzenden Nacken. »Ich habe das Gefühl, mich die ganze Nacht versteckt zu haben.«

Hat sie noch einmal »das Elend und die Verlorenheit jener letzten Minute« erlebt, von der Josef Burg schreibt, »wenn die Erde unsicher wird und der Mensch vor sich selbst fliehen möchte?« Waren es die Gefühle der Großmutter, als ihr Mann abgeholt wurde und sie mit der ohnmächtigen Frage zurückblieb: Was geschieht mit meinem Mann? Was wird aus uns?

»Lass uns morgen früh gleich abreisen«, bat Gabriela. »Ich kann nicht länger bleiben.«

Gabriela schläft bereits, als ich an dem gusseisernen Gartentor lehne und mich in der unendlichen Weite des Sternenhimmels verliere. Ich denke an Josef Burg, der 1912 nur wenige Kilometer flussabwärts geboren worden war, in Wischnitz, wo von 6800 Einwohnern 6300 Juden waren und auch die christlichen Huzulen jiddisch sprachen. Die Abende in seinem Arbeitszimmer sind mir unvergesslich, als er, der letzte Übriggebliebene aus der großen Tradition der Czernowitzer jüdischen Literatur, aus seinem Leben erzählte. Und von seinem Vater, der den für Juden seltenen Beruf des Flößers ausgeübt hatte. »Der Vater hat Glück gehabt«, sagte Josef Burg an einem dieser Abende. »Er ist 1938 gestorben. Er musste nicht miterleben, wie die Familie ausgelöscht wurde. Alle meine Verwandten sind umgekommen. Ich bin der einzige Überlebende meiner großen Familie. Es waren über 50.«

Einmal spielte, während er erzählte, irgendjemand im Haus Klavier. Es war ein elegisches, leicht melancholisches Stück, wie bestellt zur Untermalung seiner Geschichte und Geschichten, vielleicht Chopin. Die Musik ließ den greisen Mann mit dem schlohweißen ungebändigten Haar wirken wie ein Relikt längst vergangener Zeiten, als einen lebenden Anachronismus, ein Denkmal gegen das Vergessen, das eine Welt verkörpert, wie es sie heute nicht mehr gibt.

Einen Satz von Josef Burg habe ich im Ohr, als ob er ihn mir soeben gesagt hätte: »Das 20. Jahrhundert war das schrecklichste Jahrhundert in der Geschichte der Menschheit.« Aber es ist nicht Josef Burg, der gerade etwas zu mir sagt, sondern Stepan, der sich in der Dunkelheit unbemerkt zu mir gesellt hat. Stepan und seine Frau Anna sind unsere Gastgeber, beide sind sie, wie viele Huzulen, Musiker. Was Stepan zu mir sagt, verstehe ich nicht, aber es hat irgendetwas mit den Sternen zu tun, denn er macht eine ausholende Armbewegung und deutet zum Himmel. Weil Stepan von wortkargem Naturell ist und wir keine gemeinsame Sprache haben, sprechen wir Deutsch miteinander, denn »mówić po niemiecku« – Deutsch sprechen – sagt man in der Ukraine, wenn man schweigt und nicht miteinander redet. Oder sich nicht versteht und sich nichts zu sagen hat. Auch im Polnischen sind die Deutschen die »Niemcy«, die Stummen. Und die Slawen ihrerseits haben den Namen vom gotischen »slavan«, was ebenfalls nichts anderes heißt als »schweigen«.

Schweigen die Täter, reden die Enkel hatte ich das Buch genannt, mit dem ich das Schweigen über meinen Großvater gebrochen hatte. Mein Großvater, von dem ich nichts gewusst hatte, außer dass er SS-Mann gewesen war, dass drei seiner sechs Kinder in der Nähe von Vernichtungslagern geboren worden waren und dass er irgendwo in Schlesien als vermisst galt. Ich hatte nichts über ihn gewusst, weil in meiner Familie nicht über ihn geredet worden war und auch mein Vater nichts über ihn gewusst hatte. Es war, als ob er überhaupt nicht existiert hätte, so als ob jemand einen Zweig aus dem Familienstammbaum herausgesägt hätte. Er war abwesend und in dieser Abwesenheit zugleich anwesend – einem Phantom gleich, das irgendwie irgendwo herumgeistert, aber nicht zu fassen ist.

Doch es hat ihn nicht nur als Phantom gegeben, sondern auch als Menschen, denn sonst gäbe es meinen Vater nicht und auch mich nicht. Wenn es meinen Großvater nicht gegeben hätte, wäre ich nicht mit Gabriela ins ukrainische Verkhovyna gereist, das bis 1962 den polnischen Namen Żabie trug. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, wäre ich nicht mit Gabriela verheiratet. Und ich würde nicht mit ihr nach ihrem Großvater forschen.

Stepan und ich schauen noch immer sinnierend auf die Sterne. Doch mit einem Mal richtet Stepan sich auf und beendet das Schweigen. »Tam też mieszkają ludzie«, sagt er. Und ich verstehe ihn: »Auch dort wohnen Menschen.«

»Może być«, antworte ich, »kann sein.«

»Pewno«, sagt er, »ganz bestimmt.« Er geht zum Haus und wünscht mir eine gute Nacht.

»Dobranic«, sage ich auf Ukrainisch.

»Tam też mieszkają ludzie.« Dieser Satz geht mir nicht aus dem Kopf und begleitet mich noch, als wir längst die Huzultschtschyna, die Huzulei, wieder verlassen haben, die für die meisten Europäer gar nicht mehr zu ihrem Kontinent gehört und in der doch 1887 kaiserlich und königliche Landvermesser die geografische Mitte Europas festgestellt haben.

»Auch dort wohnen Menschen«. Stepans Satz ist ein Satz, der an jedem Ort der Erde gültig ist: Egal, wo man sich gerade aufhält und in welche Himmelsrichtung man blickt, irgendwo wohnen immer auch dort Menschen. Es sind Menschen, die zu allem fähig sind, die Gutes vollbringen und unsagbar Grauenvolles anrichten, die liebende Eltern sind und brutale Schlächter. Und manchmal beides zugleich.

»My grandfather was killed at Auschwitz«

Krakau, 7. Juli 2006

Die Reisen in die Vergangenheit und quer durch Europa führten mich vom polnisch-ukrainischen Galizien bis fast zu jener Region, die denselben Namen trägt und mit der das östliche Galizien gerne verwechselt wird: der Provinz Galicien im Nordwesten Spaniens. Sie haben ihren Anfang genommen in einer Stadt, die für mich so etwas wie mein Schicksalsort geworden ist. Mehrfach hat sie, ohne dass ich es im jeweiligen Augenblick ahnen konnte, meinem Leben eine andere Richtung gegeben – und die Weisheit bestätigt: Leben ist das, was geschieht, wenn man gerade ganz andere Pläne gemacht hat.

Krakau war seit meiner Kindheit eine Art Mythos für mich. Irgendwann hatte ich im Ausweis meines Vaters entdeckt, dass er dort geboren war, und die alte polnische Königsstadt war mir – ohne dass ich recht wusste, wo sie lag – zu einem Ort magischer Anziehungskraft geworden. Ein Ort der Sehnsucht und des Fernwehs, so wie Timbuktu, Samarkand oder Macchu Picchu. In meiner kindlichen Fantasie bin ich oft an diese Orte gereist, als einzigen erreicht habe ich bisher – viele Jahre später – Krakau.

Ich war genau an jenem Tag zum ersten Mal dort eingetroffen, als der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Sergejewitsch Gorbatschow den legendären Satz sagte: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Ich war zusammen mit meinem Vater gefahren, der die Stadt 45 Jahre zuvor, im Sommer 1944, verlassen hatte. Wir hatten uns das Haus angeschaut, in dem er im Mai 1943 geboren worden war, als fünftes Kind eines österreichischen SS-Mannes und einer thüringischen Pfarrerstochter. Lange hatten wir überlegt, ob wir an einer der Türen der Villa läuten sollten. Leider fanden wir nicht den Mut, und so sollte es noch zwölf Jahre dauern, ehe ich das damalige Vorhaben in die Tat umsetzte. Zu spät, denn ich traf nur noch Pani Leśniak, die als Kind mit meinem Vater und seinen älteren Geschwistern gespielt hatte. Ihre Mutter, die uns viel hätte erzählen können, war inzwischen verstorben.

Das mythische Krakau hatte im Oktober 1989 der Begegnung mit dem wirklichen Krakau standgehalten, und die Konfrontation von Mythos und Realität hatte nicht zu Ernüchterung und Enttäuschung geführt. Und so war ich immer wieder gekommen, auch wenn ich nur wenige Stunden Zeit hatte, wie an jenem Abend des 7. Juli 2006, als ich auf dem Weg vom ukrainisch-galizischen Lemberg ins sächsische Leipzig war.

Es war im Laufe der Jahre zu einer Tradition geworden, dass ich meine Krakauer Abende in Kazimierz verbrachte, in jenem Viertel, in dem einst die meisten der über 60 000 Krakauer Juden gelebt hatten, und das heute wegen seiner ungezählten Kneipen, Galerien, Clubs und Cafés mit dem Prenzlauer Berg im Berlin der Nachwendezeit oder dem Pariser Künstlerviertel Montmartre verglichen wird. In Kazimierz saß ich gerne im Café Singer – im Winter das flackernde Kaminfeuer im Rücken, im Sommer den Blick auf die ulica Estery genießend, auf der all die flanierenden Esters, Kasias und Agnieszkas Polens landschaftliche Reize und Krakaus städtebauliche Schönheiten zur Nebensache werden lassen.

Die Nacht vom 7. auf den 8. Juli 2006 war eine besondere, denn es war der letzte Abend des Jüdischen Festivals, das alljährlich im Frühsommer Tausende Juden und Nichtjuden aus aller Welt nach Krakau lockt. Die wenigen Stunden reichten, um die magische Atmosphäre des Festivals aufzusaugen. Während dieser Tage geschehe in Kazimierz etwas »Mystisches«, pflegt Janusz Makuch, 1988 Mitgründer und bis heute Direktor des Festivals, zu sagen: Die Energie der einstigen Bewohner sei dann besonders zu spüren, eine gerissene Kette werde wieder zusammengefügt. Er sei sich sicher, dass die ermordeten Juden aus Kazimierz »eine Art Erlaubnis« erteilt hätten »für das, was wir hier machen.« Und so war es letztlich kein Wunder, dass ich, der ich eigentlich nur meinen alten Stammplatz aufsuchen wollte, um bei einem letzten Bier ein wenig zu sinnieren, mit einem Mal mit Kasia, Gabriela und Bogumił an einem Tisch saß, denen ich nie zuvor begegnet war, und mit ihnen mit »na zdrowie«, »zum Wohl« und »l’chaim« anstieß, als ob wir uns seit Jahren vertraut wären. Bis ich irgendwann erzählte, dass ich hier im Café Singer einige Kapitel eines Buches geschrieben hatte – was ich sogleich bereute, denn die Frage, wovon das Buch handele, folgte umgehend.

Ich war nicht in der Stimmung, darüber zu reden, denn obwohl ich noch immer gelegentlich zu Lesungen eingeladen wurde, hatte ich – so glaubte ich zumindest – mit diesem Kapitel meines Lebens abgeschlossen. Leider konnte ich nicht mit einem Werk über, zum Beispiel, Bob Dylan aufwarten oder mit einem harmlosen Liebesroman. Außerdem bin ich ein schlechter Lügner. Also sagte ich zögernd, dass das Buch von meinem Großvater handele.

Ein Buch über deinen Großvater? Warum über deinen Großvater?

Ich holte etwas aus, erzählte von meinen österreichischen Vorfahren und sagte schließlich, dass mein Vater in Krakau geboren sei. Aber mit diesen eher zurückhaltend vorgetragenen Geschichten gab man sich nicht zufrieden. Um Zeit zu gewinnen, ging ich zur Theke, um eine neue Bestellung aufzugeben – vorbei an dem Tischchen neben dem Kamin, an dem ich unter der Überschrift »Krakau, Mittwoch, 10. November 1999«, die Sätze geschrieben hatte: »Es war in der Krakauer Remuh-Synagoge, im alten jüdischen Stadtviertel Kazimierz, als ich meinen Großvater zum ersten Mal hasste. Obwohl ich ihn nie gesehen hatte, wusste ich, dass er es war, der sich vor meinem inneren Auge aufbaute. Ich hätte ihn nicht beschreiben können, so schnell war er wieder verschwunden.«

Eigentlich war ich im November 1999 nach Krakau gereist, um eine Reportage zu schreiben – eine Reportage über das, was von dem einst blühenden jüdischen Leben in der Stadt geblieben war. Krakau sollte wenige Wochen später Kulturhauptstadt Europas werden, und so war die Stadt auch für deutsche Zeitungen interessant. Es war ein kalter, trüber Herbsttag, der nichts von der sommerlichen Leichtigkeit und Anmut Krakaus erahnen ließ. Weil es regnete, hatte ich beschlossen, die Remuh-Synagoge aufzusuchen – ein folgenschwerer Entschluss, wie sich später herausstellen sollte.

Die Synagoge trägt den Namen des legendären Rabbi Moses Isserle, genannt Remuh, der im 16. Jahrhundert über Polen hinaus den Ruf eines Wunderrabbis hatte. Auch mit seinem Grab, das sich hinter der Synagoge auf dem Alten Jüdischen Friedhof befindet und von frommen Juden aus aller Welt aufgesucht wird, verbindet sich eine Wundergeschichte: Die Nationalsozialisten hatten den Friedhof bereits weitgehend zerstört und als Müllkippe entweiht, als sie auch das Grabmal Remuhs vernichten wollten. Der erste Arbeiter, der den Grabstein berührte, soll jedoch wie vom Blitz getroffen tot umgefallen sein – was sogar die sonst so skrupellosen Nazis beeindruckte. Die Synagoge selbst hatten die deutschen Besatzer als Lagerstätte für Feuerwehrgeräte und imprägnierte Leichensäcke missbraucht. Heute ist sie die einzige der sieben erhalten gebliebenen Synagogen in Krakau, in der Schabbat für Schabbat Gottesdienste stattfinden.

Außer mir hielt sich an jenem trüben Novembertag nur ein älterer Herr in der Remuh-Synagoge auf. Er trug einen grauen Bart, einen schwarzen Anzug und einen schwarzen Hut, hielt ein Gebetbuch in seinen Händen und bewegte seinen Oberkörper rhythmisch vor und zurück. Er betete – so viel konnte ich verstehen – das Kaddisch, das Gebet für die Verstorbenen. Als er die Synagoge verließ, sprach ich ihn an, stellte mich ihm als Journalisten aus Deutschland vor und bat ihn, mir einige Fragen zu beantworten. Gerne, sagte er, doch ich erfuhr von ihm nicht mehr, als dass er in London lebe und dass er einmal im Jahr nach Krakau fahre, um seiner Eltern zu gedenken. Mit einer Handbewegung verdeutlichte er, was mit ihnen geschehen war: Sie waren in Rauch aufgegangen.

Danach stellte nur noch er die Fragen: Warum ich die Synagoge aufgesucht und ihn angesprochen hätte, warum ich eine Reportage über jüdisches Leben schreiben wolle, warum ausgerechnet hier in Krakau, warum ich in Jerusalem gelebt hätte, warum ich mich überhaupt für das Judentum interessiere, schließlich könne ich mich doch auch für den Islam oder den Hinduismus interessieren, wann mein Großvater geboren sei, wann mein Vater. Und so weiter. Nach jeder Antwort eine weitere Frage.

Ich fühlte mich zunehmend unwohl, wollte ihn fragen, was er sich eigentlich erlaube, wollte gehen, blieb aber stehen, als ob ich zum Inventar der Synagoge gehörte. So wie die Holzbänke oder das Kantorpult. Ich war unfähig, mich zu bewegen. Schließlich sagte er, mir weiterhin tief in die Augen schauend: »Sie interessieren sich für das Judentum, weil Sie sich schuldig fühlen. Sie fühlen sich schuldig für das, was Ihr Großvater getan hat – was immer es auch war.«

In diesem Augenblick baute sich mein Großvater vor meinem inneren Auge auf. Und ich hasste ihn. Ich machte ihn verantwortlich für mein diffuses Unbehagen, das mich über Jahre hinweg immer wieder geplagt hatte. Es war nicht so, dass ich mich gramgebeugt, mit einem Joch auf den Schultern, durchs Leben gequält hätte, aber es war auch nicht zu leugnen: Irgendwo versteckt in einem verborgenen Winkel spürte ich, dass irgendetwas irgendwie nicht stimmte. Irgendwo, irgendwie, irgendwas – es war im Unbestimmten geblieben, bis es dieser Londoner Jude, der nichts anderes sein sollte als schmückendes Beiwerk für meine Reportage, an den Tag brachte: Ich fühlte mich schuldig.

Absurd eigentlich, denn ich wusste natürlich, dass man sich nicht für etwas schuldig zu fühlen braucht, das man nicht getan hat. Was sollte ich mich also schuldig fühlen für die möglichen Untaten meines Großvaters, dem ich nie begegnet war? Ich war zwei Jahrzehnte nach seinem Tod zur Welt gekommen, in einer anderen Zeit. Und in einer anderen Welt, fernab von allen Orten, die ich mit ihm in Verbindung brachte, in einem kleinen Dorf im westfälischen Siegerland, das weit weg lag von Polen, Österreich und der Ukraine.

Und doch hatte die Begegnung mit dem Londoner Juden Folgen. Ich setzte das in die Tat um, was ich schon lange vorgehabt hatte: das Leben meines Großvaters nachzuzeichnen. Ich verbrachte die nächsten Jahre damit, in Archiven zu wühlen, Dokumente zu studieren, Zeitzeugen zu finden, Zeitzeugen zu befragen, Fotos zu sichten, Briefe zu entziffern. Ich trug mein Schuldgefühl ab, verlor den Hass gegenüber meinem Großvater, schrieb ein Buch, hielt Vorträge und Lesungen, beantwortete Briefe von Leuten, denen es ähnlich erging, wie es mir ergangen war, und wandte mich anderen Dingen zu.

Bis Krakau in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli 2006 wieder einmal Schicksal spielte und mein Leben erneut veränderte. Oder zurück auf den Weg lenkte, den ich nach dem 10. November 1999 eingeschlagen hatte?

Ich war irgendwann in der nächtlichen Runde im Café Singer mit der Wahrheit herausgerückt, dass mein Großvater in Krakau SS-Mann gewesen war. Es wurde still am Tisch, man räusperte sich, hüstelte oder nippte am Glas. Mir kamen Bilder aus meiner Kindheit in den Sinn, ein Urlaub in Norwegen, als meine Eltern und deren Freunde beschimpft worden waren, urplötzlich, und ich nicht verstanden hatte, worum es ging und was überhaupt Nazis waren. Ich erinnerte mich auch an die Fahrt in einem Sammeltaxi von Jerusalem nach Bethlehem, über 20 Jahre später, als ich unaufhörlich von einem zahnlosen Alten mit Berbertuch geherzt und geküsst worden war: Du Deutscher? Gutt! Hitler gutt! Deutsche gutt! Hitler best man! Und dann sagte ausgerechnet diejenige am Tisch, auf die ich ein heimliches Auge geworfen hatte: »Oh, my grandfather was killed at Auschwitz.«

Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, stammelte ein Das-tut-mir-leid und bereitete mich auf einen möglichst unverfänglichen Abschied vor. Doch ich wurde weder verflucht noch verdammt. Wir wandten uns wieder anderen Themen zu, tranken noch ein Glas und standen schließlich – es war längst taghell – unschlüssig auf der Straße. Bogumił verabschiedete sich als Erster, dann Kasia. Sie rief Gabriela auf Polnisch noch etwas zu, das ich nicht verstand: Sie solle bloß nicht mit diesem Deutschen gehen! Aber das erzählten sie mir erst später. So wie mir Gabriela auch erst später erzählte, welch ein Schock es für sie war, ausgerechnet dem Enkel eines SS-Mannes zu begegnen.

Ich hatte noch etwas Zeit, bis der Frühzug nach Berlin abfuhr, und Gabriela und ich bummelten zum Rynek, dem Marktplatz im Herzen der Krakauer Altstadt. Wir gingen über die ulica Szeroka, die Breite Straße, an der die Remuh-Synagoge steht. Dort sei es ihr erst richtig bewusst geworden, dass sie mit jemandem spazieren gehe, der ihr eigentlich sympathisch war, aber zugleich Enkel eines SS-Mannes, sagte Gabriela lange Zeit später. Es sei wie ein Stich ins Herz gewesen. Sie habe natürlich gewusst, dass ich jemand anderes als mein Großvater sei und dass sie mich nicht für seine Taten verantwortlich machen dürfe. Aber ein Unbehagen sei geblieben. Und zugleich das Gefühl, dass auch in ihrer Familie irgendetwas nicht in Ordnung sei. Dass sie sich dieser Geschichte stellen müsse. Unsere Verabschiedung war dann nicht so, dass man ein Wiedersehen hätte einplanen sollen.

Doch nach zwei Tagen bekam ich von Gabriela eine E-Mail mit Fotos aus dem Café Singer. Und eine Woche später bat sie mich um das Buch. Ich fragte, ob ich es per Post schicken solle oder persönlich nach Krakau bringen. Zwei Wochen später saßen wir wieder im Café Singer – und beschlossen spontan, von Krakau aus gemeinsam nach Istrien zu fahren, in das mittelalterliche Städtchen Grožnjan, in dem alljährlich im Sommer ein Jazz- und Bluesfestival stattfindet, meinem eigentlichen und ursprünglichen Urlaubsziel. Ich war seit Jahren dort zu Gast, und Grožnjan war für mich zu einem Stück Heimat geworden. Vermutlich war es die berühmte Mischung aus Wein, Weib und Gesang, die mich an einem lauen Abend einen Heiratsantrag an Gabriela stellen ließ. Sie war etwas überrascht und unschlüssig, wie sie reagieren sollte. Also beschlossen wir, die Passanten in den Gassen zu befragen. Das Urteil war einmütig: Natürlich sollten wir heiraten, keine Frage. Gabriela konnte daraufhin allen Freunden zu Hause Entwarnung melden – sie hatte vor unserer Abreise mein Foto großflächig verbreitet, für den Fall, dass ich nicht der gute Deutsche war, für den man mich hielt, sondern mich als Unhold entpuppen würde. Die Reise ins Ungewisse, die sie für Gabriela gewesen war, nahm also ein gutes Ende und wir blieben zusammen. Und ein Jahr später sagte ein Hochzeitsgast: »She wanted your book and you gave her your heart.«

Vier Jahre später brachte der polnische Rundfunksender Radio Trójka einen Beitrag über uns als polnisch-deutsches Ehepaar. Es war ein symbolträchtiges Bild auf der Internetseite des Senders: Links eine weiß-rote polnische Flagge, rechts eine schwarz-rot-goldene deutsche Flagge, und in der Mitte zwei ineinander verschränkte goldene Ringe, die die beiden Flaggen miteinander verbanden. »Polsko-niemiecki happy end« – polnisch-deutsches Happy End –, lautete die Überschrift. Doch bis zu diesem glücklichen Ende war es ein weiter Weg. Und es ist auch nur die halbe Wahrheit.

»Don’t be Jesus! Don’t suffer!«

Pobershau/Erzgebirge, 5. Januar 2007

Auf unserer winterlichen Fahrt ins Erzgebirge, dem Weihnachtsland, in dem fast jedes Haus von einem Schwibbogen oder von Lichterketten erleuchtet ist, wurde Gabriela immer schweigsamer. Wir waren auf dem Weg zu einem großväterlichen Freund von mir, zu Gottfried Reichel. Es war für mich keine Frage, dass ich ihm Gabriela vorstellen würde, denn wir waren seit vielen Jahren vertraut miteinander.

Ich hatte Gabriela viel von ihm erzählt und gesagt, dass er ein besonderer Mensch sei – kein gewöhnlicher Schnitzer, der die langen Winterabende damit verbringe, sich der traditionellen erzgebirgischen Volkskunst zu widmen, und Räuchermännel, Nussknacker oder Bergmänner anfertige, sondern ein Künstler, der Holz zum Leben erwecken könne. Und ich hatte ihr gesagt, dass er bei der SS gewesen war. Für Gabriela war jeder Deutsche, der älter als achtzig war, ein potenzieller Mörder. Und zu diesen Über-Achtzig-Jährigen zählte auch Gottfried Reichel.

In dem halben Jahr seit unserer ersten Begegnung hatten Gabriela und ich uns oft über unsere Großväter unterhalten. Über ihren Großvater Zbygniew, bei dem sie aufgewachsen war und der in ihren Armen starb, als sie 13 Jahre alt war. Und über den Großvater Michał, über den sie nicht viel mehr wusste, als ich vor meinen Recherchen über meinen Großvater gewusst hatte. So wie mein Großvater in meiner Familie ein Tabu war, über das nicht geredet wurde, so wurde auch über ihren Großvater nicht geredet. Sie wusste, dass er 1944 in Auschwitz ermordet worden war. Aber warum? Sie wusste auch, dass er Leiter einer Schule in den sogenannten Kresy gewesen war, jenen Gebieten, die von 1919 bis 1939 zu Polen gehört hatten und dann zunächst von der Sowjetunion, 1941 von den Deutschen und 1944 wieder von der Sowjetunion besetzt worden waren. Ihre Mutter war dort 1942 geboren worden, in ihrem Pass stand: Żabie, UdSSR.

Aber warum war Michał Pazdanowski dort verhaftet worden? Und von wem? Von den Nationalsozialisten? Oder war er von militanten ukrainischen Nationalisten verraten worden, die in ihrem Kampf um einen eigenen Staat zeitweise mit den Deutschen kollaborierten und einen eigenen Krieg gegen Polen und Juden führten? Auch Gabrielas Großonkel Jerzy Pazdanowski, Michałs älterer Bruder, war in einem deutschen Konzentrationslager interniert gewesen. In Dachau. Jerzy war Kunstmaler gewesen, und einige seiner Bilder hingen in der Wohnung von Gabrielas Eltern. Doch auch über ihn, der gestorben war, als Gabriela fünf Jahre alt war, wusste sie nicht mehr, als dass er sich gelegentlich sonderbar verhalten hatte: dass er zum Beispiel nie aus dem Haus ging, ohne sich einen Kanten Brot in die Jackentasche zu stecken.

Und dennoch – oder gerade deswegen – war die Vergangenheit in Gabriela gegenwärtig. Wenn sie mich in Leipzig besuchte, fühlte sie sich unwohl. Die harte deutsche Sprache, der Kommando- und Befehlston: »Hände hoch, polnische Schweine!« »Kennkarte raus!« »Arbeit macht frei« – diese Sätze, die alle Polen aus einschlägigen Filmen kennen, konnte auch sie nachsprechen. Sie meinte, diese Sätze immer wieder auf den Leipziger Straßen zu hören – die Sprache des Krieges und der Besatzer. Oder wenige Wochen zuvor, als sie in Wien von einer Freundin ein Geschenk zu Halloween bekommen hatte. Es war ein Notizbuch mit einer Banderole, auf der grinsende und feixende Totenköpfe abgebildet waren. Sie wolle das Buch nicht, sagte Gabriela und reichte es an mich weiter.

Warum nicht?

Gabriela deutete auf die Banderole: SS! Totenkopfdivision!

Oder eines Nachts, als wir beieinanderlagen. Plötzlich richtete sie sich auf, hielt inne und fragte, was wohl ihr Großvater sagen würde, wenn er wüsste, dass sie mit einem Deutschen im Bett lag? Oder mein Großvater, dass ich mit einer Polin die Nacht verbrachte?

War dieser Großvater oder vielmehr das Verschweigen dieses Großvaters der Grund, warum ich die Freundschaft zu Gottfried Reichel gesucht hatte? Ohne mir dessen bewusst zu sein? Es war 1997, als ich Gottfried Reichel zum ersten Mal aufgesucht hatte. Es war für mich keine Frage, dass ich ihm Gabriela vorstellen würde.

Je enger die Täler und je höher die Berge des Erzgebirges wurden, desto weniger hatte Gabriela einen Blick für die Landschaft, die ihrer Heimat, den südpolnischen Beskiden, so ähnlich ist. Schließlich bogen wir, nur noch zehn Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, in die Dorfstraße von Pobershau. Links und rechts klebten kleine Häuser an den Hängen, aus ihren Schornsteinen stiegen Wolken in den winterlichen Himmel. Gaststätten luden mit traditioneller Küche zum Verweilen ein, die Wiesen waren schneebedeckt. Ein Ort der Ruhe und Erholung. Doch Gabriela sagte, dass sie Angst habe.

Gottfried Reichel erwartete uns schon vor der »Hütte«, dem Museum, das ihm die Gemeinde Pobershau eingerichtet hat. Er trug wie immer einen flusigen Wollpullover und Cordhosen, das schüttere graue Haar etwas zerzaust. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, doch sie waren milde und scharfsichtig, sein Händedruck war kräftig.

»Dzień dobry«, begrüßte er Gabriela auf Polnisch.

Gabriela raunte mir zu, ob er das als SS-Mann in Polen gelernt habe.

Gottfried Reichel führte uns hinein. Ein Vierteljahrhundert hatte er »auf Halde« geschnitzt, unterstützt nur von seiner vor 15 Jahren verstorbenen Frau, ehe ihm die erste Ausstellung gewidmet wurde. Im Laufe der Jahrzehnte waren in stillen und dunklen Wintermonaten über 300 Holzklötze unter seinen Händen lebendig geworden. »Natürlich hätte ich viel Geld machen können«, sagte Reichel, »das wär ein schöner Mercedes geworden.« Statt Geld für einen Mercedes hatte er jedoch anderes im Sinn gehabt: Gebete aus Lindenholz zu schaffen. Er wollte der Bibel ein Gesicht gegeben, viele Gesichter. Es sind schmucklose Figuren, schlicht und grob geschnitzt, sie wirken durch die Kunst des Weglassens. Reichels Vorbild war Ernst Barlach, ein von den Nationalsozialisten verfemter Bildhauer. »Den Erzgebirglern gefällt’s nicht«, sagte Reichel lakonisch.

Wir betrachteten den Tanz um das Goldene Kalb, den Brudermord Kains, Jakobs Wiedersehen mit seinem Sohn Joseph, Maria mit dem Kind, den verlorenen Sohn, den verspotteten und gekreuzigten Christus. Und die Deportation der Juden in die babylonische Gefangenschaft im 6. Jahrhundert vor Christus. 30, 40 Figuren waren es, verzweifelt, leidend, und an ihrer Spitze ein kleiner Junge mit einer Mütze auf dem Kopf und erhobenen Händen. Er hatte ein bekanntes Gesicht – es war der Junge, der in fast jedem Geschichtsbuch abgebildet ist, fotografiert im Warschauer Ghetto. Und auch die Bewacher kamen einem seltsam vertraut vor: Sie trugen keine Gewänder aus babylonischer Zeit, sondern Mäntel der deutschen Wehrmacht.

Und dann erreichten wir die Stirnwand des Raumes, auf der mit großen Buchstaben geschrieben stand: »Wider das Vergessen«. Darunter hing ein schlichtes Holzkreuz. Und unter dem Kreuz standen 36 Figuren. Hier fand dieser andere Auftrag seinen Ausdruck, der Gottfried Reichel keine Ruhe finden ließ: »Ich komme nicht los von der ganzen Geschichte. Wer einen Krieg erlebt hat, kommt nie wirklich darüber hinweg – egal wie schnell er vorwärts geht, um nicht zurückschauen zu müssen.« Wenn er durch die Ausstellung führte, kamen gerade an dieser Stelle die Fragen der jungen Leute, egal ob sie aus Deutschland, Polen oder Israel stammten: »Wie war das damals? Was haben Sie gewusst? Sie waren doch Christ – wie konnten Sie …?« Und Reichel antwortete, offen und ehrlich, sich selbst nicht schonend.

»Wenn ich Ihnen erzählen würde: Ich habe in einer Zeit gelebt, in der sechs Millionen Juden ermordet wurden, und niemand hat etwas davon gemerkt«, sagte er dann und schaute sein Gegenüber durchdringend an: »Würden Sie mir das glauben? Wir wussten, dass sie weggingen. Wir waren sogar froh darüber. Das andere wollten wir nicht wissen.« Er müsse davon erzählen, was damals geschah. Wenn nicht, mache er sich wieder schuldig.

Gabriela stellte keine Fragen, als sie sich die Figuren anschaute, lange, still und in sich gekehrt. Es waren ausgemergelte, von Leid gezeichnete Gesichter, Kinder, Mütter, bärtige Männer, in sich verkrümmte oder einander Schutz gebende Gestalten mit weit aufgerissenen Augen – 36 Juden aus dem Warschauer Ghetto. Gottfried Reichel hatte sie von historischen Fotos nachgebildet. »Man braucht ihnen nur noch Atem einhauchen, dann leben sie«, sagte einmal eine Besucherin.

Gabriela schwieg, Gottfried Reichel und ich schwiegen ebenfalls. Schon oft hatte ich mit ihm vor diesen Figuren gestanden, hier hatten wir unsere Gespräche geführt. Hier hatte er mir erzählt, dass in seinem Elternhaus Christenkreuz und Hakenkreuz gleichermaßen verehrt wurden, dass er der Propaganda Glauben geschenkt hatte – so sehr, dass er Angst hatte, den Endsieg zu verpassen, dass er sich als 19-Jähriger freiwillig an die Front meldete und noch im Spätsommer 1944, als der Krieg für die Deutschen längst verloren war, Mitglied einer Eliteeinheit wurde: der 3. SS-Panzerdivision Totenkopf, eingesetzt zu letzten sinnlosen Durchbruchsversuchen und Verteidigungskämpfen gegen die Rote Armee zwischen Warschau und Wien, in Polen, Ungarn und Österreich.

Der junge Bordfunker Gottfried Reichel aus dem kleinen Erzgebirgsdorf Pobershau gehörte nun zu den »Soldaten des Todes«, wie der amerikanische Historiker Charles W. Sydnor die Mitglieder der Totenkopf-Division nannte. Sie waren die Elite in der schon elitären SS und berüchtigt für ihre besonders rücksichtslose Kriegführung. Ihr Gründer war SS-Gruppenführer Theodor Eicke, als Kommandant des KZs Dachau und Inspekteur der Konzentrationslager maßgeblich am Aufbau der deutschen Konzentrationslager beteiligt, einer der brutalsten unter den Nationalsozialisten.

Eine Frage verfolgt Gottfried Reichel seitdem bis heute: Wie hätte ich mich verhalten, wenn ich nach Dachau abkommandiert worden wäre? Oder nach Auschwitz? Wahrscheinlich hätte er den Befehl nicht verweigert. »Das ist mein Trauma bis zum heutigen Tag.«

Reichel überlebte den Krieg und hatte Glück. Er kam nicht in sowjetische Kriegsgefangenschaft, sondern in ein Kriegsgefangenenlager nach England. In den Händen derer, die er zu hassen gelernt hatte, sei er »wieder zu einem Menschen« geworden, sagte er über sechs Jahrzehnte später. »Ich hätte es den Engländern nicht übel nehmen können, wenn sie uns angespuckt hätten.« Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil: Weihnachten 1946 öffneten die Opfer ihre Häuser für deutsche Täter – gemeinsam feierten sie das Fest der Versöhnung. »Was Mitmenschlichkeit ist, was Menschenwürde bedeutet, das habe ich dort begriffen.«

Die Kriegsgefangenschaft betrachtete Reichel rückblickend als »Segen«: Gott habe ihm Menschen geschickt, die ihm geholfen hätten, »diesen ganzen Unrat, diesen Hass, die Vorstellung, es gäbe minderwertiges Leben, all das, was die Nazis so systematisch in uns jungen Menschen angehäuft hatten, abzutragen, loszuwerden, Stück um Stück.« Als ein veränderter Mensch kehrte er 1948 in seine erzgebirgische Heimat zurück, in das Dorf, in dem er 1925 geboren worden war. Er war nun keiner mehr, der irdischen Heilsversprechern Vertrauen schenkte. Und er verspürte einen klaren Auftrag, den er erfüllen wollte: Alles zu tun, damit sich das, was in Nazi-Deutschland geschehen war, nicht wiederholte. Reichel wurde Lehrer an einer Dorfschule, um die jungen Leute vor den Irrtümern seiner Generation zu warnen. Doch jemand, der sich nicht mehr verbiegen ließ, erregte rasch Anstoß: Den neuen Machthabern missfiel sein kompromissloses Wirken, das nun auf dem Fundament der Bibel fußte – ohne Angabe von Gründen wurde er vom Dienst entfernt. Reichel wurde arbeitslos und verdiente später seinen Lebensunterhalt als Buchhalter in einer Pappenfabrik.

Auf einmal lief Gabriela hinaus. Ich wollte ihr nacheilen, doch Gottfried Reichel hielt mich zurück. Er spürte, dass Gabriela alleine sein wollte. Er war wahrlich mehr als ein Schnitzer. Er war ein Weiser. Und einer, der sich um die Zukunft sorgte. Im Untergeschoss des Museums hatte er eine Bibliothek eingerichtet: Mehr als 5000 Bücher über die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg hatte er zusammengetragen – sein zweites Vermächtnis.

Hier, in dieser Bibliothek, war mir eines Tages unerwartet mein Großvater begegnet: »Endlösung« in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiative von Berthold Beitz 1941–1944 lautete der Titel des Buches von Thomas Sandkühler, das ich in einem der Regale sah. Ich nahm es heraus, schlug es auf, blätterte herum – und entdeckte den Namen meines Großvaters. Allerdings nicht im Zusammenhang mit der Rettungsinitiative des Fabrikanten Berthold Beitz, sondern als Mitglied des Stabes des SS- und Polizeiführers Fritz Katzmann (1906–1957) in Lemberg, der am 30. Juni 1943 in einem Abschlussbericht an seinen Vorgesetzten, den Höheren SS- und Polizeiführer Friedrich-Wilhelm Krüger in Krakau, stolz vermeldete:

In der Zwischenzeit wurde die weitere Aussiedlung energisch betrieben, so dass mit Wirkung vom 23. Juni 1943 sämtliche Judenwohnbezirke aufgelöst werden konnten. Der Distrikt Galizien ist damit, bis auf die Juden, die sich unter der Kontrolle des SS- und Polizeiführers in Lagern befinden, judenfrei. Die noch vereinzelt aufgegriffenen Juden werden von den jeweiligen Ordnungspolizei- und Gendarmerieposten sonderbehandelt. Bis zum 27. Juni 43 waren insgesamt 434 329 Juden ausgesiedelt.

»434 329 Juden ausgesiedelt« heißt im Klartext: 434 329 Juden ermordet. Katzmann ist im Übrigen nie für seine Taten zur Rechenschaft gezogen worden – er lebte nach dem Krieg, unbehelligt von der Justiz, unter dem falschen Namen Bruno Albrecht. Als er 1953 in Ludwigsburg einer Krankenschwester seine wahre Identität preisgab, behielt diese ihr Wissen für sich. Sie offenbarte sich erst vier Jahre später. Aber da war Katzmann schon tot.

»Wenn man nicht über die Vergangenheit spricht, wird es nur schlimmer«, lautete einer der Sätze von Gottfried Reichel, die sich mir eingeprägt haben. Vielleicht hatte er ihn auch zu Gabriela gesagt, als er sich von ihr verabschiedete, denn am Abend nach unserem Besuch fand Gabriela zum ersten Mal den Mut und die Kraft, ihre Mutter nach dem Großvater zu fragen. Und ihre Mutter, 800 Kilometer entfernt, fand zum ersten Mal den Mut und die Kraft, über ihren Vater zu reden.

Das Telefongespräch im Korridor dauerte Stunden – Reden, Schluchzen, Schweigen, Schluchzen, Reden. Ich verstand nicht viel, aber so viel, um zu spüren, dass dieses Gespräch für beide schmerzhaft war. Sehr schmerzhaft. Und während die beiden telefonierten, fühlte ich mich mit einem Mal wieder schuldig. Längst verarbeitet geglaubte Gedanken und Gefühle kamen wieder an die Oberfläche. Ich fühlte mich mies und schäbig, verantwortlich für das, was mein Großvater getan hatte. Ich sah wieder die Figuren aus dem Warschauer Ghetto vor mir. Es sei schwer für ihn gewesen, diese Figuren zu schnitzen, hatte Gottfried Reichel mir erzählt. Immer wieder habe er sie zur Hand nehmen müssen – in dem Wissen, dass sie tot waren und nicht wieder zu Leben erweckt werden konnten.

Als ich sie zum ersten Mal betrachtet hatte, ahnte ich nicht, dass ich Jahre später herausfinden würde, dass mein Großvater ebenfalls im Warschauer Ghetto gewesen war – als Mitglied des 2. SS Panzergrenadier Ausbildungs- und Ersatzbataillons, das im Frühjahr 1943 den Befehl hatte, den Aufstand der letzten überlebenden und verzweifelt kämpfenden Juden niederzuschlagen.

Er wolle noch eine letzte Figurengruppe schnitzen und dann Werkschürze, Schnitzmesser und Hammer für immer beiseitelegen, hatte mir Gottfried Reichel bei der Verabschiedung gesagt. Es sollten Figuren aus Auschwitz werden.

Als Gabriela weit nach Mitternacht ins Zimmer zurückkehrte, waren wir beide erschöpft – sie vom Reden, ich vom Grübeln. Wir saßen uns gegenüber und fanden lange keine Worte für das, was uns bewegte. Schließlich sagte Gabriela: »Don’t be Jesus! Don’t suffer!«

Die Enkelin eines in Auschwitz Ermordeten sagt zum Enkel eines Mörders, er solle nicht leiden. Diese Bemerkung ließ mich keinen Schlaf finden. Ich hatte das Leben meines Großvaters nachgezeichnet. Sollte ich nun nicht auch das Leben und Sterben Michał Pazdanowskis recherchieren?

»Stille Nacht, heilige Nacht«

Grybów, 24. Dezember 2007

Die Vergangenheit bricht meistens dann in die Gegenwart hinein, wenn man nicht damit rechnet. Das war im November 1999 in der Remuh-Synagoge so, im Juli 2006 während des Jüdischen Festivals im Café Singer, im Januar 2007 in der Hütte von Gottfried Reichel und nun, fast ein Jahr später, am Heiligen Abend in einer festlich geschmückten Wohnstube, zum ersten Weihnachtsfest im Kreis meiner neuen polnischen Familie. »Weihnachten wirkt in Polen als der Magnet, der sämtliche verstreuten Splitter der Familie für diese zwei Tage zusammenzieht«, hat der Schriftsteller Michael Zeller treffend beobachtet, und so hatten auch Gabriela und ich das himmlisch leere Krakau verlassen und uns auf den Weg in die Berge gemacht.

Ich fühlte mich am Feuer des Kamins, das den Raum mit einer behaglichen Wärme erfüllte, wie zu Hause. In Gabrielas Familie war ich wohlwollend aufgenommen worden, zunächst von Gabrielas Schwestern Izabela und Dominika, die beide in Krakau leben, dann auch von ihren Eltern. Das Herz der Mutter hatte ich rasch gewonnen, denn ich war nach dem ersten gemeinsamen Abendessen gleich aufgestanden, um beim Abräumen der reich gedeckten Tafel behilflich zu sein. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, denn ich war es nicht anders gewohnt. Erst als ich die verwunderten und etwas spöttischen Blicke von Gabrielas Bruder und Vater bemerkte, kam mir in den Sinn, dass ich mich soeben wohl sehr deutsch verhalten hatte.

Mit Gabrielas Mutter, einer Französischlehrerin, gab es keine Verständigungsprobleme, denn Hanka-Babel, wie sie genannt wird, findet immer das fehlende Wort, egal in welcher Sprache. Auch der Vater, Inhaber einer Gemischtwarenhandlung und langjähriger Kreisveterinär, erhob keine Einsprüche, als ich wenige Monate später offiziell und in aller Form um die Hand seiner Tochter angehalten hatte. Gabriela hatte mir die entscheidenden Worte auf einen Zettel geschrieben: »Chciałbym prosić Pana o rękę Pana córki« – Ich möchte Sie um die Hand Ihrer Tochter Gabriela bitten. Wir hatten kein Geheimnis daraus gemacht, dass mein Großvater während des Krieges SS-Mann in Polen gewesen war, aber es schien keine Rolle zu spielen – zumindest wurde nicht darüber geredet.

Blieb allein der Bruder, der sich nicht damit anfreunden konnte, dass ein Deutscher in seine Familie einheiraten wollte. Bei unserer ersten Begegnung hatte Zbyszek alle Orte und Plätze seines Heimatkreises aufgezählt, in denen während des Ersten und Zweiten Weltkriegs deutsche Soldaten erschossen worden waren. Später kommentierte er jedes Missgeschick, dass irgendwo auf der Erde irgendeinem Deutschen zustieß, mit kaum verhohlener Häme und Schadenfreude. Er war in der Geschichte ebenso bewandert wie im politischen Zeitgeschehen und es verging kaum eine Diskussion, in der wir uns nicht stritten. Unser Verhältnis blieb frostig.

Doch dann, fünf Monate nach der Hochzeit, begab er sich unerwartet zu mir und sagte, dass er mir etwas zeigen müsse. Wir hatten zuvor im Familienkreis, als der erste Stern sichtbar wurde, die Oblate gebrochen, uns gegenseitig Glück und Segen gewünscht, das ebenso traditionelle wie mehrstündige Heilig-Abend-Menü zu uns genommen und es uns nun um Weihnachtsbaum und Kamin gemütlich gemacht. Im Hintergrund lief der Fernseher, der ein Programm übertrug, das an diesem Abend auch in allen anderen Ländern Europas hätte gezeigt werden können: Winterliche Landschaften, heimelige Stuben, geschmückte Christbäume, zuckersüße Melodien, Chöre in Trachten und Kinder in Engels- und Hirtengewändern, das unvermeidliche »Stille Nacht, heilige Nacht«.

Das wohlige Gefühl des Gesättigtseins und die friedvolle Gemütlichkeit hatten mich sanft in jenen Zustand hinwegdämmern lassen, in dem die Gedanken zu wandern beginnen und die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen. Die Engelschöre im Fernsehen, das prasselnde Kaminfeuer und die Erinnerungen an die Weihnachtsfeste der Kindheit hatten sich vermischt, und so dauerte es eine Weile, bis mir die Tragweite dessen bewusst wurde, was vor meinen Augen geschah. Zbyszek hatte eine Mappe, die mit einem weißen Band verschnürt war, auf den Tisch gelegt und sie vorsichtig geöffnet. Er zeigte mir ein Foto, das in die winterliche Zeit passte: Auf ihm war eine Eishockey-Mannschaft abgebildet, die sich für den Fotografen in Reih und Glied aufgestellt hatte. Die sechs Feldspieler trugen längs gestreifte Trikots mit einem Schnürkragen und trotz der Kälte kurze Hosen. Den Torwart, dessen Brust und Bauch in einen dunklen Körperschutz gehüllt waren, hatten sie in die Mitte genommen. Rechts stand ein Mann ohne Schlittschuh und Schläger, mit einem langen Wollschal um den Hals, aber ebenfalls in kurzen Hosen; vermutlich der Trainer. Die Eisfläche war durch einen Lattenzaun begrenzt, an dem in Mäntel eingemummte Männer lehnten. Dahinter standen einige Holzhäuser, von deren Dächern lange Eiszapfen herabhingen. Die Sonne erhellte die bewaldeten, schneebedeckten Hügel im Hintergrund und warf Schatten auf die Gesichter der Spieler. »1927 in Zakopane«, sagte Zbyszek und deutete auf den Feldspieler links neben dem Torwart, der nicht nur der größte in der Mannschaft war, sondern auch als Einziger eine Brille trug: »This is my grandfather.«

Ich war mit einem Mal hellwach und stürzte mich auf die anderen Dokumente, die mit dem Foto verbunden waren: Mitgliedsausweise von Michał Pazdanowski, ausgestellt vom Krakauer Klub Sportowy »Cracovia«: Einer von der Eislaufabteilung, auf dessen Rückseite jemand handschriftlich vermerkt hatte, dass Michał Pazdanowski Mitglied der 1. Hockeymannschaft war, und zwei von der Leichtathletikabteilung, ausgestellt für die Jahre 1927 und 1931. Dann eine Postkarte vom 20. Dezember 1926 mit der höflichen Einladung zu einer Mannschaftsversammlung für Mittwoch, den 22., um 5.30 Uhr im Klublokal. Auf der Tagesordnung stehe die Fahrt der Mannschaft am 28. und 29. nach Zakopane. Die vollständige Anwesenheit sei unbedingt erforderlich. Mit der Bitte um pünktliches Erscheinen und den sportlichen Grüßen schloss das Schreiben. Eine weitere, undatierte Postkarte lud für »den 25. dieses Monats« zu einem Vortrag mit dem Trainer der Hockeymannschaft von Legia Warszawa ein. Pan Ogrodzki werde über die Grundsätze und das System des sommer- und winterlichen Eishockeytrainings referieren. Eine dritte Karte stammte von der Tatra-Skigesellschaft in Krakau, die Michał die Teilnahme an einem Skikurs vom 26. Dezember 1922 bis zum 1. Januar 1923 bescheinigte.

Mit besonderem Stolz wies Zbyszek auf ein kleines Plakat, das auch ohne größere Polnischkenntnisse zu verstehen war: Es war der Spielplan für das Finalturnier um die polnische Eishockeymeisterschaft in der Saison 1926/27, das im Wintersportort Zakopane ausgetragen wurde. Cracovia hatte sich für die erste Austragung des Wettbewerbs überhaupt qualifiziert und war mit einer Mannschaft aus Warschau und einer aus Lwów – die Stadt gehörte in der Zwischenkriegszeit zu Polen – in der Gruppe A, weitere drei Mannschaften aus Poznań, Toruń und Warszawa spielten in der Gruppe B. Als Nummer 1 bei Cracovia war der Name Pazdanowski aufgeführt. Sein Großvater sei Mitgründer des Krakauer Eishockeyteams gewesen, sagte Zbyszek.

Seine Angaben habe ich später bestätigt gefunden; das erste offizielle Eishockeyspiel, so vermeldet die Chronik von Cracovia, habe am 17. Februar 1924 stattgefunden: 1:0-Sieg gegen AZS Warszawa. Unter den »Hockeypionieren«: Michał Pazdanowski. Der erste größere Erfolg war zwei Jahre später zu verzeichnen – der Gewinn der inoffiziellen Stadtmeisterschaft, errungen durch Siege gegen die beiden jüdischen Mannschaften von Jutrzenka, einem linken Arbeiterverein, und Makkabi, deren Anhänger der zionistischen Bewegung angehörten. Die Teilnahme an der Finalrunde am 21. und 22. Februar 1927 in Zakopane war jedoch nicht von Erfolg gekrönt: Nach zwei Niederlagen gegen Pogoń Lwów und Klub Łyżwiarski Poznań blieb nur der fünfte Platz.

Michał Pazdanowski war Mitglied bei Cracovia gewesen und nicht bei Wisła, dem zweiten der beiden großen Krakauer Sportvereine. Das machte ihn mir sympathisch, denn es kam damals einem Bekenntnis gleich, zu welchem Verein man gehörte. Beide Vereine waren 1906 gegründet worden, als Krakau noch zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehört hatte. Die jeweiligen Anhänger waren von Beginn an in inniger Feindschaft verbunden – man sprach vom »heiligen Krieg«. Als Begründung für den Hass, der bis heute andauert, wird auf die Geschichte verwiesen: Cracovia habe jüdische Wurzeln und vor dem Ersten Weltkrieg mit den österreichischen Besatzern kollaboriert, Wisła hingegen sei der einzig wahre polnische Verein in Krakau.

In der Tat war das Cracovia des Michał Pazdanowski ein demokratischer und offener Verein gewesen – die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, Nationalität oder Schicht hatte keine Rolle gespielt. Cracovia hatte vor dem Zweiten Weltkrieg als Bastion gegen den Antisemitismus gegolten, und Juden waren als Mitglieder nicht per Satzung von vornherein ausgeschlossen worden wie etwa bei Wisła, das katholisch, nationalistisch und antisemitisch gewesen war – mit einem, wie sich der Krakauer Maler Manuel Rympel erinnerte, »numerus nullus« gegenüber Juden. Aus den 1930er-Jahren ist ein Foto überliefert, auf dem die Wisła-Spieler ihre Arme zum faschistischen Gruß erheben.

Fast sieben Jahrzehnte später benannte Wisła sein Stadion nach dem Nationalisten und Antisemiten Henryk Reyman, und die Cracovia-Hooligans tragen Israel-Fahnen, Schals mit dem Davidstern oder Plakate mit der Aufschrift »Naród Wybrany« (Auserwähltes Volk), bezeichnen ihr Stadion als »Ziemia Święta« (Heiliges Land), und ihre Schlägerbande nennt sich selbst »Jude Gang«. In Kazimierz markieren sie ihr Quartier unübersehbar mit großformatig aufgesprühten Graffiti: Der Schriftzug »Jude Gang« ist an vielen Häuserfassaden im ehemals jüdischen Viertel zu sehen – kommentiert von antisemitischen Sprüchen und Graffitti der »Wisła-Hunde«. Manchmal werden Sprüche und Graffitti gleich überpinselt, manchmal bleiben sie wochenlang stehen.

Michał Pazdanowski war bis in die 1930er-Jahre hinein Mitglied bei Cracovia gewesen; seine Beiträge hatte er – das war den Quittungen zu entnehmen – ordentlich bezahlt. Er war auch Mitglied geblieben, als er für einige Zeit in der Schweiz gelebt hatte.

In dem wahren Schatz, den Zbyszek nach und nach ausbreitete – Schwarz-Weiß-Fotos, Zeichnungen, Dokumente, Briefe, Postkarten – befand sich ein in rotbraunem Leder gehaltener Ausweis mit goldener Aufschrift: »Kanton Bern – Fahrausweis/Permis de Circulation«. Der Regierungsstatthalter des Schweizer Kantons Bern, Amtsbezirk Interlaken, hatte am 25. April 1930 Herrn Michael Pazdanowski, geboren 1903, Praktikant, wohnhaft in Brienz, »gemäß den Vorschriften des Konkordats vom 7. April 1914 die polizeiliche Bewilligung für die Dauer des laufenden Jahres zum Fahren mit einem Fahrrad erteilt« – verbunden mit der »Verpflichtung, sich den Vorschriften dieses Konkordates und der Vollziehungsverordnung des Regierungsrates vom 21. Juli 1914 betreffend den Motorwagen- und Fahrradverkehr im Kanton Bern zu unterziehen.«

Michał Pazdanowski hatte in der Schweiz aber nicht nur die Erlaubnis zum Fahren eines Fahrrads erworben, sondern auch ein Diplom der Alpwirtschaftlichen Schule Brienz. Ein mit Wappen und Girlanden verziertes »Zeugnisbüchlein« bescheinigte ihm den Besuch des alpwirtschaftlichen Kurses vom 28. Oktober 1929 bis zum 5. April 1930. Auf einer Doppelseite waren seine Leistungsausweise verzeichnet, und ganz oben stand: Betragen »sehr gut«. Die Fachnoten hätten besser nicht sein können: In allen 15 Fächern von Deutsch über Düngerkunde bis Tierheilkunde und Obstbau stand in der Spalte »Fleiß« die Höchstnote 4, in der Spalte »Leistungen« waren bis auf zwei »3-4« in Deutsch und Geschäftsaufsätze sowie in der Landwirtschaftlichen Buchhaltung ebenfalls nur Bestnoten aufgeführt. Auch in den praktischen Lehrfächern Käsefabrikation und Viehbeurteilung hatte er mit der besten Note abgeschnitten.

Ja, sein Großvater habe auch in der Schweiz studiert, sagte Zbyszek und reichte mir ein paar Briefe und Ansichtskarten aus dieser Zeit. Da sie jedoch in polnischer Sprache verfasst waren, legte ich sie erst einmal beiseite. Mein Auge war bereits auf ein Schreiben gefallen, das ich lesen konnte. Es war an Frau Izabela Pazdanowska gerichtet, Gabrielas Großmutter, und trug das Datum des 22. Novembers 1974. Der Absender: Internationaler Suchdienst, D-3548 Arolsen.

Ihr Schreiben, eingegangen am 17. Mai 1974, und Schreiben vom 27. September 1974

Pazdanowski, Michał, geboren am 22.9.1903 in Poręba Żegoty.

Sehr geehrte Frau Pazdanowska!

Wir nehmen Bezug auf Ihre oben angeführten Schreiben und teilen Ihnen mit, dass wir von dem tragischen Schicksal ihres Ehemannes mit Bedauern Kenntnis genommen haben.

Aufgrund der von Ihnen gemachten Angaben wurde eine Überprüfung der uns zur Verfügung stehenden Unterlagen durchgeführt.

Leider konnten in dem hier sehr umfangreich, aber unvollständig vorliegenden Dokumenten-Material keine Hinweise über die Inhaftierung Ihres Ehemannes ermittelt werden. Ein Todesnachweis liegt ebenfalls nicht vor. Wir sind daher nicht in der Lage, die Ausstellung einer Sterbeurkunde zu veranlassen.

Bezüglich des negativen Überprüfungsergebnisses verweisen wir auf unser Merkblatt, welches wir Ihnen mit Schreiben vom 27. Mai 1974 übersandten. Dieses gibt Ihnen gleichzeitig Aufklärung über die Art der hier verwandten Unterlagen sowie die Aufgaben des Internationalen Suchdienstes.

Wir bedauern, Ihnen keine schicksalsklärenden Angaben über Ihren Ehemann erteilen zu können, und reichen Ihnen die uns übersandte Postkarte aus dem Konzentrationslager Lublin in der Anlage wieder zurück.

Wir verbleiben mit vorzüglicher Hochachtung

A. Opitz, Leiter der Archive

Die in dem Brief erwähnte Postkarte aus dem Konzentrationslager Lublin war an das Schreiben des Internationalen Suchdienstes geheftet und stammte vom 22. Juni 1945. Unterschrieben war sie von der Direktion des Panstwowe Muzeum na Majdanku, des Staatlichen Museums Majdanek, und adressiert an den Bürger Pazdanowski, in Kraków, ulica Michałowskiego Nr. 15, oficyjna I p. Die Direktion bat in zwei dürren Sätzen um die Zusendung weiterer Daten über den Sohn, Ingenieur Michał Pazdanowski. Zur Orientierung schicke sie ein Formular für die Aussagen ehemaliger Häftlinge des Vernichtungslagers Majdanek mit.

Mit dem Schreiben des Suchdienstes war auch ein Blatt kariertes Papier verbunden, auf dem ein Text in deutscher Sprache stand, der aber ohne Ort und Datum abgefasst war – womöglich der Entwurf für einen offiziellen Brief. Verfasst hatte ihn Gabrielas und Zbyszeks Großmutter:

Der Regierungspräsident in Köln, Köln, Zeughausgasse 4, Niemcy Zachodnie