Tödliche Zeichen - Michael Lindenberg - E-Book

Tödliche Zeichen E-Book

Michael Lindenberg

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Beschreibung

An der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf wurde ein Philosophieprofessor mit einem Schierlingsbecher geradezu hingerichtet. Hauptkommissarin Phoebe Zoe Walker - genannt Bi - übernimmt den Fall und holt sich Hilfe bei ihrem alten Freund Dr. Johannes Schwarz, den sie als Personalberater und Hobbyphilosophen kennengelernt hatte. Ihr Stammlokal ist das Café Weise in Düsseldorf. Die ersten Ermittlungen enden rätselhaft. Alle verfügbaren Daten über den Professor wurden in der Universität und ihren Bibliotheken gelöscht und auch das Polizeipräsidium ist gehackt worden. Aber das ist erst der Anfang. Sie ahnen nicht auf welche Mächte sie stoßen werden. Beide werden auf tödliche Zeichen stoßen, die sie gemeinsam entschlüsseln müssen. Eine gefährliche Jagd beginnt, bei der aus Jägern Gejagte und aus Gejagten Jäger werden…

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Michael Lindenberg

__________

Menschenversuche

Michael Lindenberg hat an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf Philosophie, Sozialwissenschaften und Geschichte studiert und dort auch promoviert.

Er arbeitet als Personal- und Unternehmensberater und hat Lehraufträge an mehreren Hochschulen.

Unter anderem lehrt er Wirtschaftsethik an der Heinrich-Heine-Universität, der Rheinischen Fachhochschule in Köln sowie Soziale Arbeit an der Fachhochschule für Oekonomie in Düsseldorf.

Bisher hat er wissenschaftliche Bücher und Aufsätze veröffentlicht, bis er das Experiment wagte, einen ersten Roman zu schreiben. Er plant eine Trilogie.

Michael Lindenberg

Tödliche Zeichen

Ein Roman

Die hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist völlig unbeabsichtigt. Die Beschreibung einiger Örtlichkeiten entspricht nicht immer den Originalschauplätzen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.“

© 2021 Michael Lindenberg

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Trotz sorgfältigen Lektorats können Rechtschreib- oder Grammatikfehler vorhanden sein.

Umschlagentwurf: Im Schlepptau

Umschlagbild: Pixabay

Verlag: Tredition, Hamburg, 2021

ISBN: 978-3-347-24174-9 (Paperback)

ISBN: 978-3-347-24175-6 (Hardcover)

ISBN: 978-3-347-24176-3 (e-Book)

2. korrigierte Auflage

Für meine liebe Frau Monika, meinen lieben Sohn Maximilian und meine liebe Schwiegertochter Widad

»Wird die natürliche Welt von Schicksal und Zufalle regiert, die technische von der Rationalität und Entropie, dann kann die soziale Welt nur als Leben in ,Furcht und Schrecken‘ charakterisiert werden.«

Daniel Bell

»Vielleicht sollten wir nicht nur die Wut über die Sinnlosigkeit der Welt kultivieren, sondern auch etwas von der Furcht vor der Möglichkeit, sie könnte eines Tages voller Sinn sein.«

Hans Blumenberg

INHALT

WAS SOLL DAS ALLES?

ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT I

ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT II

VON KOMMENDEN TAGEN

DIE ZEICHEN STEHEN AUF STURM

EPILOG

NACHWORT

LITERATUR ZUM MÄRCHEN

WAS SOLL DAS ALLES?

MÄRCHEN VON EINEM, DER AUSZOG, DAS FÜRCHTEN ZU LERNEN

Es war wieder einmal am Niederrhein im Hause seines Vaters Donner-Weiß-Broich, da lebte ein Jüngling, der hatte mehrere ältere Brüder, die waren klug und gescheit und wussten sich in alles zu schicken; er der Jüngste aber wollte nichts begreifen und lernen, weil er immer alles sah, wie es war. Wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie: »Mit dem wird der Vater seine Last haben.«

Nun geschah es, dass der Vater einmal zu ihm sprach: »Hör, Du in der Ecke dort, du wirst groß und stark, Du musst auch etwas lernen, womit Du Dein Brot verdienst. Siehst Du, wie sich Deine Brüder Mühe geben, aber an Dir ist Hopfen und Malz verloren.«

»Ei, Vater«, antwortete er, »ich will gerne was lernen, ja wenn’s anginge, so möchte ich lernen, dass mir’s gruselt, davon versteh’ ich noch nichts.« Denn öfter hatte er, wenn der Vater abends beim Feuer Geschichten erzählte, die einem unter die Haut gehen, von seinen Brüdern gehört. »Ach, was gruselt mir, es gruselt mir!« Wobei der Jüngste sich dann fragte, was das wohl heißen sollte. »Immer sagen sie, es gruselt mir, es gruselt mir. Mir gruselt nicht – das wird wohl eine Kunst sein, von der ich auch nichts verstehe.«

Bald danach kam der Küster ins Haus; da klagte ihm der Vater seine Not und erzählte ihm, wie sein jüngster Sohn in allen Dingen so schlecht beschlagen wäre, er wüsste nichts und lernte nichts. »Denkt Euch, als wir ihn fragten, womit er sein Brot verdienen wollte, hat er gar verlangt, das Gruseln zu lernen.«

Der Küster versprach dem Vater Abhilfe und nahm den Sohn zu sich mit ins Haus, wo er die Glocken läuten musste.

Nach ein paar Tagen weckte er ihn um Mitternacht, hieß ihn aufstehen, in den Kirchturm steigen und läuten. Er selberaber hatte sich vorgeschlichen und mit einem weißen Betttuch als Gespenst auf der Treppe, dem Schallloch gegenüber, hingestellt, sodass der Junge ihn sehen musste.

»Wer da?«, rief er, aber die Gestalt gab keine Antwort, regte und bewegte sich nicht. Der Junge rief zum zweiten Mal: »Was willst du hier! Sprich, wenn Du ein ehrlicher Kerl bist, oder ich werfe Dich die Treppe hinab!« Der Küster in seinem weißen Gewand aber blieb stumm …

»Nun gut«, dachte der Junge, »Zeichen oder Zeichen von Zeichen benutzen wir nur solange wir keinen Zugang zu den Dingen selbst haben«, und warf sich mit diesem Gedanken und mit Anlauf auf die weiße Gestalt und stieß sie die Treppe herunter, dass sie zehn Stufen herabfiel und in einer Ecke liegenblieb. Als der Vater von der Frau des Küsters hörte, was sein Sohn in der Nacht angestellt hatte, schalte er den Jungen aus und jammerte: »Ach, mit Dir erleb’ ich nur Unglück.« »Nun«, sprach der Sohn, »ich will Euch nicht länger zur Last fallen und selber in die Welt gehen, um das Gruseln zu lernen.« Da war ihm der Vater so dankbar, dass er ihm 50 Taler mit auf den Weg gab …

Sie trafen sich im Weise.

Er setzte sich draußen unter einem Schirm an einen Tisch, nachdem er sich ein paar Zeitschriften geholt hatte. Die Bestuhlung stand etwas dicht, sodass er die schweren Bistrostühle aus Eisen und Holzlatten erst beiseite rücken musste, um einen Platz unter einem Schirm zu finden, der weit weg genug von den anderen Gästen war, um sich ungestört mit Bi zu unterhalten.

Er war wie immer etwas früher gekommen. Die Kellnerin kannte ihn und winkte von weitem zu. Sie blickte zu ihm herüber und machte mit der Hand ein Zeichen, als wenn Sie eine Kaffeetasse hielt. Ihr Gesicht drückte die übliche Frage aus, die er mit einem freundlichen Nicken beantwortete. Sie wusste, was er haben wollte und brachte den Kaffee auch zügig. Wie immer war der Kaffee gut, aber es hätte auch ein Plätzchen dabei sein können. Er zündete sich eine Zigarette an.

Nach ein paar Zügen und Schlucken Kaffee hatte er den SPIEGEL, den er von rückwärts las, durch. Gelangweilt blätterte er im FOCUS. Der Artikel zum Thema Industrie 4.0 war belanglos und die obligatorischen Ratschläge trivial. Immerhin hatte er ja noch die Auto Motor Sport. Er schaute kurz auf seine Uhr. Es waren noch drei Minuten bis zu Ihrem Eintreffen.

Er blickte sich noch einmal um. Es schien alles unverändert. Die Leute warteten an der Haltstelle, die leider direkt an die Außengastronomie vom Weise angrenzte. Der Lärm der Busse war erträglich, die Abgase waren es nicht.

Das Weise lag gegenüber den Ausläufern der Uni Klinik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit ein paar trostlosen Backsteinbauten aus ockerfarbigen Ziegeln und roten als Ornamentik. Alles sah ein bisschen verlassen und ziemlich ungepflegt aus.

Die Graffitis auf den Glaswänden der Haltestellen trugen nicht zur Verschönerung bei, weil sie so lieblos wie das ganze Ambiente waren. Der Stadtteil Bilk gehörte nicht zu den schickeren Stadtteilen. Aber das Café lag halt nah an der Uni und die Parkplatzsituation war erträglich. Johannes kam gerne hierher. Die Sonne schien für einen Tag im Mai schon sehr kräftig und der Wind war lau.

Er schaute kurz nach oben. Es war glasklar und wirkte fast schon unwirklich. Wie ein Bild von Gurski. Die Wirklichkeit erschien in ihrer Schärfe wirklicher als die Wirklichkeit. Nur der stahlblaue Himmel wirkte übertrieben.

Er legte die Zeitschrift weg, als im nächsten Augenblick Bi erschien. Sie war auf die Sekunde pünktlich. Er drückte seine Zigarette aus und stellt den Aschenbecher auf den leeren Nebentisch.

Irgendwie sahen alle Polizistinnen, die man in den Polizeifahrzeugen sah, ähnlich und stereotyp im Profil aus. Sie trugen allen einen Pferdeschwanz, bei dem sie ihre langen Haare entweder höher oder tiefer mit einem Gummi oder Haarreif zusammenhielten. Mal etwas frecher, wie Bi oder brav, wie aus einem Reitstall.

Aber auf den zweiten Blick sah man, dass die Polizistinnen doch sehr viel Wert darauf legten bei aller Uniformierung sehr individuell auszusehen.

Bei den Kollegen sah es bunter aus. Die Haarschnitte reichten von mittellang bis zur geschorenen Glatze und waren häufig mit allen möglichen Bartformen kombiniert.

Auf dem Weg zu ihm zückte sie noch kurz ihr Handy und blieb stehen. Etwas verzweifelt schaute sie zu Johannes rüber und winkte ihm schulterzuckend zu. Kein Stress gestikulierte sie mit beiden Händen. Während des Gesprächs hielt sie den Blickkontakt zu Johannes.

Bi wirkte etwas angespannt und erschöpft, war aber wie immer diszipliniert genug, sich nichts anmerken zu lassen. Er kannte sie zu gut, um zu wissen, dass sie auch bei Stress von hellwacher Intelligenz war.

Auf dem Weg zu Johannes löste sie ihr Haar auf und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht.

»Hallo Bi!«

Wie immer lächelte sie etwas ungelenk, wenn man sie so rief.

»Hallo Johannes, schön Dich wiederzusehen!«

Als sie seinen Tisch erreichte, hatte er sich schon erhoben, gab er Ihr die Hand, umarmte sie kurz und fragte sie, ob der Tisch o.k. sei.

»Alles in Ordnung.«

Bi und Johannes waren alte Freunde, die sich vor Jahren zufällig getroffen hatten.

»Möchtest Du was essen? Die haben wieder ihre fantastischen Lammkoteletts mit Rucola-Salat und Schafskäse.«

Johannes legte wie immer großen Wert auf gute Umgangsformen. Eigentlich war er ein bisschen old Style. Sein schwarzes Sakko hatte er nicht abgelegt; das tat er erst ab 35°. Es passte perfekt zu seinen schwarzen vollen Haaren, seinem gebräunten Gesicht, und seinem Schneider war es zu verdanken, dass die ersten altersgemäßen Anzeichen eines Bauchansatzes nicht zu sehen waren.

Johannes sah sehr jungenhaft aus und konnte sehr charmant lächeln. Auf den zweiten Blick sah man aber auch eine Härte in seinem Gesicht, die Entschlossenheit und Mut verriet. Aber diesen Gesichtsausdruck hielt er in Reserve.

Ein klein bisschen schiki war er schon, aber nicht micki. Ein typischer bodenständiger Düsseldorfer, der sein Leben genoss, glücklich verheiratet war und eine Tochter in der Pubertät hatte. Dass er eine so in jeder Hinsicht interessante Freundin hatte, war auch eher ungewöhnlich. Trotzdem. Sein Leben war schön aber nicht sonderlich spannend. Aber das vermisste er aber auch nicht. Warum sollte er auch. Oder?

»Essen? Eigentlich gerne, aber ich hab nicht so viel Zeit.«

»Oh. Ist was passiert?«

»Ich muss gleich zur Pressekonferenz in Polizeipräsidium.«

Sie sah wie immer fantastisch gut aus. Ihr glattes blondes Haar kontrastierte mit ihrem roten Lippenstift und ihren hellwachen und ihm zugewandten strahlenden blauen Augen. Sie hatte ein sehr schönes schlankes Gesicht. Auf den ersten Blick war es nicht sehr auffällig. Es war aber erstaunlich wandlungsfähig und ausdrucksstark.

Ihr offenes Lächeln, ihre Zornesfalten, ihre Grübchen, ihre Ernsthaftigkeit und bissige Ironie gepaart mit sehr viel weiblicher Anmut bildeten eine Komposition, die es unvergesslich machten. Außerdem zeigte es: Sie hatte Biss. Zu ihrer beigen Jeans trug sie einen dunkelblauen Blazer, der ihrem sportlichen Körper weiblich leger erschienen, ließ.

Sie machte kurz Anstalt, ihren Blazer wegen der Hitze auszuziehen, ließ es aber doch lieber. Johannes wusste warum. Man musste nicht ihre Walther P99 sehen. Johannes kannte ihr Schulterholster. Sie hatte mehrere davon. Am liebsten trug sie ihren Dunkelbraunen aus Leder, der angenehm zu tragen war und dennoch ein schnelles Ziehen ihrer Waffe erlaubte.

»Aber es ist doch erst zwölf Uhr.«

»Genau, aber ich muss zu einer außergewöhnlichen Pressekonferenz um dreizehn Uhr. Wir haben gerade noch Zeit für einen Kaffee.«

Die Kellnerin aus Georgien hatte aufmerksam gesehen, dass Johannes nicht mehr allein war und kam wegen einer Bestellung an den Tisch.

»Möchtest Du einen Latte macchiato?«

»Gerne.«

»Also: Einen Latte und einen Kaffee wie immer. Danke.«

»Also, was ist denn da passiert, wenn Du drüber reden kannst.«

»Ja wenn Du immer nur Deine Zeitschriften liest, kannst Du es nicht wissen. In Spiegel Online steht’s schon.«

»Hm?«

»Also. Heute Morgen ist in der Uni ein Toter von einer Putzfrau vorgefunden worden. Ein Professor der Philosophie. Ich war also schon früh auf.«

»Und?«

»Vergiftet.«

»Mord? Selbstmord?«

»Das wissen wir noch nicht ganz genau. Es gibt kein Abschiedsschreiben. Also ist ein Mord auch nicht auszuschließen.«

»Aha.«

»Er ist an irgendeinem Gift gestorben. In seinem Büro fanden wir auf seinem Schreibtisch einen Porzellanbecher, das ziemlich merkwürdig stank. Wie scharfe Pisse.«

»Hm. Ein Düsseldorfer Professor der Philosophie stirbt – warum auch immer – an Gift. Das klingt gespenstisch.«

»Warum?«

»Na ja. Erst mal ein Professor der an Gift stirbt und dann natürlich in Düsseldorf. Ausgerechnet Düsseldorf. Das passt gar nicht. Aber sag mal. Nach Pisse?«

»Ja, das Glas ist natürlich jetzt bei der Spurensicherung im Labor, und die werden schon rauskriegen, woran der gestorben ist.

Das ist nur schon eine ungewöhnliche Tat. Was ich so kenne, sind Familientragödien, Eifersucht und natürlich auch eiskalte Morde wegen – was weiß ich – Geld und Drogen. Einen spektakulären Mord hatten wir einmal, als eine sehr junge Frau, die einem alten Mann hörig war, einen Pfeil mit einer Armbrust durch den Hals geschossen hat. Wir mussten die Frau aber leider trotzdem verfolgen.

Aber ein harmloser Philosoph? Hast Du irgendeine Idee?«

»Na ja. Es gibt einen spektakulären Giftmord im alten Griechenland. Dort wurde einst Sokrates gezwungen, einen Schierlingsbecher zu trinken. Schierling riecht sehr stark nach Ammoniak.«

»Wie riecht das denn?«

»So nach AJAX mit Salmiak. Und irgendwie eben nach Mäusepisse hab ich mal gehört.«

»AJAX? Das kenn ich von meiner Omi. Und wer hat ihn und warum vergiftet?«

»Es waren die Athener. Er hatte angeblich schlechten Einflusses auf die Jugend und die Götter missachtet.«

»Also eine Hinrichtung? Das klingt gruselig, ja makaber.«

»Genau! So ist es überliefert.«

»Ich wüsste aber nicht, dass ein Düsseldorfer Professor einen schlechten Einfluss – wie sagtest Du – auf die Jugend hat und die Götter scheiße findet.«

Johannes gestand: »Irgendwie klingt das nicht lustig.«

Sie sollten beide sehr bald erfahren, wie lustig das noch werden sollte.

»Aber sag mal Johannes, hast Du in Deinem ersten Leben nicht mal Philosophie studiert? War das ne Jugendsünde?«

»Um Gottes willen. Das ist ziemlich lange her. Meine Kumpel haben das damals nicht verstanden. Aber es war immerhin hier an der Uni.«

»Und warum studiert man eigentlich so was Komisches. Das hast Du mir eigentlich noch nie so richtig erzählt.«

»Tja, warum habe ich Philosophie studiert? Jetzt willst Du meine Lebensgeschichte hören?

Also gut. Eigentlich sollte ich ein erfolgreicher Manager werden wie mein Vater. Der Druck war unmenschlich. Ich bekam nur Anerkennung, wenn ich Leistungen nach Hause brachte. Er war unerbittlich und meine Mutter hilflos und schwach.

Und da habe ich halt gestreikt und gelernt mich selber durchs Leben zu schlagen.

Ich wollte von dem Alten nichts mehr haben und nichts mehr wissen. Und Philosophie war dann das für mich das glatte Gegenteil.

Aber ich hab im Studium auch die widerlichen Eitelkeiten der Professoren kennengelernt, die mich teilweise angeekelt haben. Ach so, Knete haben die auch nicht so viel.

Nun ja, dann bin ich halt kein Manager geworden, sondern einer, der sie berät oder jagt. Wenn Du willst eine Art von Edelprostitution.«

»Du Armer.«

»Ich musste mich halt entscheiden, womit ich mein Geld verdiene.

Aber ich kann nicht klagen. Ich lebe glücklich mit Alice, ich meine Lizzie und meiner Tochter Lyssa zusammen, der Job macht eigentlich auch mehr Spaß, als ich dachte, und ich habe gelernt, dass es in diesen Kreisen auch Leute gibt, die ganz vernünftig ticken.

Philosophie ist jetzt nur noch so ne Art Hobby von mir. Ich entdecke in ihr sogar immer mehr, wie viel sie für die Praxis hergibt. Vielleicht hat sie mir auch Halt im Leben gegeben.«

»Das hast Du mir noch nie so ehrlich erzählt. Belastet es Dich noch?«

»Nein! Eigentlich muss ich meinem Vater dankbar sein. Stell Dir mal vor, ich hätte nicht so einen Vater gehabt, dann wäre ich noch ein ganz normaler Manager geworden.

Du weißt ja, dass meine Eltern vor zwei Jahren mit ihrer Jacht irgendwo in der Nordsee ums Leben gekommen sind. Man hat sie nie gefunden.«

»Mein Gott, was hast Du Armer alles mitgemacht.«

«Mein Vater hatte leider nur übersehen, dass ich auch seine Gene habe«, fügte er lachend hinzu.

»Ich habe ihm verziehen. Ich weiß nicht einmal, ob ich das für ihn oder für mich getan habe. Aber das muss ich in mein Grab mitnehmen. Und dafür habe ich hoffentlich noch etwas Zeit. Was ich bereue, ist, dass ich zu wenig für meine Mutter getan habe. Sie hat sehr unter ihm gelitten. Aber ich fühlte mich im Stich gelassen. Ich hätte ihr helfen müssen. Das war nicht gerecht.« Er schaute Bi an, die ihm nachsichtig Dispens gab.

Er ließ sich die Sonne auf sein Gesicht scheinen und aalte sich in ihr.

»Ich weiß, wie dickköpfig Du sein kannst. Warst Du ein Rebell?«

»Das ist jetzt kein Kompliment. Seh ich aus wie ein Alt-68er?«

»Sorry, nein. Aber irgendetwas rebellierte doch damals in Dir?«

Sie blinzelte in die Sonne und kniff ihre Augenlider zusammen. Ihre Unterlider bildeten eine gerade Linie wie mit einem Lineal gezogen.

»Nein. Da gab’s in Düsseldorf nichts zu rebellieren. Erstens war die Zeit vorbei, und dann sind die Philosophen in Düsseldorf ziemlich unpolitisch und züchten Orchideen. Es gab schon ein paar Highlights; in der Regel war es aber dröge. Ich hab – glaub ich – ich hab mehr geflirtet im Seminar.«

»Eh. Schön für Dich. Johannes, aber ich glaub Dir kein Wort.«

»Du bist ja auch eine fantastische Profilerin.«

»Aber wer bist Du denn eigentlich?«

Johannes schwieg eine Weile und seine Mimik ließ Bi im Unklaren, um dann fortzufahren:

»Und warum bist Du zur Polizei gegangen?«

»Es war viel profaner. Ich wollte in den öffentlichen Dienst. Einen sichereren Arbeitsplatz. Das wollten auch meine Eltern. Nur, ich wollte keinen Bürojob, sondern jeden Tag draußen mit Menschen zu tun haben, ganz direkt. Vielleicht bin ich auch zur Polizei gegangen, weil mein Großvater Soldat war und gegen die Nazis in Deutschland gekämpft hat.

Und ich hab es nicht bereut. Ich weiß jetzt, die Arbeit ist Motivation genug. Ich bin in einem tollen Team.

Der Dienst ist aber nicht immer einfach. Du möchtest Menschen helfen, die oftmals unsägliches Leid erfahren haben und kannst denen nur die Genugtuung geben, die Täter hinter Schloss und Riegel gebracht zu haben, was den Opfern aber nicht wirklich weiterhilft.

Aber manchmal steigen in mir auch Rachegefühle auf. Und davor muss ich mich hüten. Denn sonst würde ich manchmal zu weit gehen.«

»Als Racheengel habe ich Dich noch nie gesehen.«

»Besser nicht. Aber sag mal. Hast Du den Professor Reimer gekannt.«

»Reimer?«, Johannes setzte nach:

»Wer soll das sein?«

»Ja, Norbert Reimer, er ist – sorry war – Leiter des Philosophischen Instituts.«

»Nö. Kenn ich nicht. Das war bestimmt nach meiner Zeit. Ich bin übrigens gleich in der Unibibliothek, um ein paar Bücher für Alice auszuleihen. Da kann ich mich ja auch nach dem Philosophen umschauen.«

»Gut. Ich muss gehen. Wenn Dir noch was einfällt, kannst Du mich anrufen oder eine WhatsApp schicken.«

»Mach ich. Geh ruhig los. Ich bin diesmal mit Zahlen dran.«

»O.k. Mach’s gut Johannes.«

Sie drückte ihn kurz und beeilte sich auf dem Weg zu ihrem Auto.

Johannes schaute noch mal schnell auf sein Handy und rief alle Dienste ab. Es gab nichts Wichtiges.

Er lehnte sich zurück und dachte kurz nach.

Das Stahlblau des Himmels war irgendwie härter geworden.

Die Tiefgarage war gesperrt, warum auch immer. Also musste er weiter weg parken.

Auf dem Weg zum Eingang der Bibliothek sah er auf der anderen Seite die Gebäude der Philosophischen Fakultät, die seit undenklicher Zeit eingerüstet waren, weil die Fassade mit ihren Außenbalkonen ziemlich marode und einsturzgefährdet war, während drum herum neue hochmoderne Gebäude hochgezogen wurden.

Das musste aber schon vor langer Zeit passiert sein, denn inzwischen machten die Gerüste selbst schon einen maroden und renovierungsbedürftigen Eindruck. Das Oeconomikum war in einem besseren Zustand und mit zahlreichen Überwachungskameras ausgestattet. Das machte ihn schon etwas wehmütig.

Der Aufzug kam schnell und er fuhr in die dritte Etage.

Er fand noch ein Platz an einem PC, was zu dieser Zeit äußerst selten war. Per WhatsApp schrieb er seiner Frau eine Mitteilung über die Ereignisse.

Sie schrieb zurück und teilte ihm mit, dass sie den Professor zwar kannte, aber keine Vorlesungen bei ihm besucht hatte, weil sie sich für seine Themen nicht interessiert hatte.

Jetzt war er aber doch neugierig geworden und loggte in den elektronischen Bibliothekskatalog ein. Er suchte Seiten des Philosophischen Instituts auf, um mehr über den Toten zu erfahren. Als er auf die Seite der Mitarbeiter des Instituts klickte, ploppte eine Seite auf mit: »Service Temporarily Unavailable.«

»Schön.«, dachte er. »Wahrscheinlich wegen der Ermittlungen gesperrt.«

Aber so was machte Johannes neugierig. Widerspenstig suchte er weiter und er war als Personalberater sehr gut im Recherchieren.

Er gab in der Suchmaske den Namen ‚Reimer, Norbert‘ ein.

Das System war wie immer ein bisschen langweilig. Doch dann kommt die Antwort: ‚Keine Ergebnisse‘.

Hat er sich vertippt? Also noch mal. Wieder kommt: keine Ergebnisse.

»Sehr merkwürdig!«, dachte er.

Er klappte sein eigenes Tablet mit Tastatur auf und loggte sich ins WLAN ein. In Worldcat.org suchte er wieder nach ‚Reimer, Norbert‘. Er fand eine ganze Reihe von Büchern. Worldcat zeigt die Bücher auch mit den jeweiligen Standorten weltweit an. Die Bücher von Reimer fanden sich rund um die Welt in den Universitätsbibliotheken. Als er dann aber auf den Link zur ULB Düsseldorf als Standort ging, bekam erneut eine Fehlermeldung.

Er schrieb an Bi eine WhatsApp und schilderte, was er gefunden hatte und fragt sie, ob sie schon ILIAS gecheckt hatte.

Er ging noch auf die Seiten von XING und Linkedin, um in den Plattformen zu suchen, aber er fand nichts Interessantes auf den ersten Blick.

Er überlegte, was er tun sollte. Irgendwie machte es ihn ja doch neugierig, und deshalb fuhr er mit dem Fahrstuhl runter und ging zum Infostand der ULB.

»Ich hab mal eine Frage?«

»Gerne«, sagte die Frau im InfoCenter.

»Ich habe ein Buch von Professor Norbert Reimer im Katalog gesucht und bekomme nur ‚keine Ergebnisse‘.«

»Haben Sie es noch nicht gehört? Professor Reimer ist verstorben.«

»Ja, aber doch nicht seine Bücher. Sorry, das passt jetzt nicht.«

»Schon gut! Das haben wir auch schon gemerkt, aber wir haben keine Erklärung dafür. Wenn Sie ein bestimmtes Buch von ihm ausleihen wollen, können sie es nach der Systematik der Bibliothek sicher in den Regalen finden.«

»Gut, ich probiere es mal aus. Vielen Dank auch.«

Bevor er wieder in die dritte Etage fuhr, fiel ihm ein, dass er ja noch Bücher für seine Frau ausleihen sollte. Sie hatte ihm die Titel auf einer Liste per Mail zugesandt. Es waren alles Bücher zur Medienethik.

Er konnte sie problemlos ausleihen. Er packte sie in eine der Stofftaschen, die er in seiner Aktentasche immer dabeihatte.

Er brauchte jetzt einen Kaffee und ging ins Ex Libris, das für die Tageszeit noch immer voll war, aber dennoch in einer Ecke einen Platz bot. Er öffnete sein Tablet und suchte nach Büchern von Reimer. Er notierte sich noch einige Titel und fuhr noch mal in die 3. Etage, gab seine Tasse zurück und fuhr wieder in die dritte Etage der Bibliothek. Hier fand er auf Anhieb auch zwei Lehrbücher der Philosophie von Reimer, die er zur Ausleihe mitnahm. Sie waren aber nicht ausleihbar.

Das System streikte. Ziemlich irritiert und sauer ging er zum Infostand.

»Das kann ich mir auch nicht erklären«, war die freundliche Antwort.

»Sie können die beiden Bücher ruhig hierlassen.«

Da er nicht mehr viel Zeit hatte, verließ er die Bibliothek, ohne in die Bücher hineinzuschauen.

Als er zu seinem Parkplatz ging, war es schon fast dunkel geworden. Der Himmel war eigenartig verfärbt. Rostbraun.

Er fuhr nach Hause und fand an der Tür zum Wohnzimmer ein Post-it:

»Lieber Joey,

bin mit einer Freundin im Kino.

Es läuft Churchill.

Soll ein toller Film sein. Super gespielt!

Hab Dir was kaltgestellt.

Bis nachher.

Ich freu mich auf Dich.

Liebe Grüße Lizzie.«

Die Lasagne schmeckte auch aus der Mikrowelle perfekt und der Rotwein passte, wie es besser nicht sein konnte. Er genoss es einfach.

Er holte sich ein zweites Glas Wein aus der Küche und sah, dass sein Smartphone sich mit WhatsApp meldete:

»Lieber Johannes,

ich darf Dir nichts Genaues über unsere Ermittlungen mitteilen.

Aber ILIAS war ein Treffer.

Alles gelöscht!!!

Kannst Du morgen um 13:00 zu uns ins Polizeipräsidium kommen?

Mein Chef will Dich sprechen.

Herzliche Grüße Bi ☺☺☺.«

Er schrieb zurück:

»Liebe Bi,

Kein Problem.

Was verschafft mir die Ehre?

Herzliche Grüße Johannes.«

»Lass Dich überraschen«, war ihre Antwort.

Johannes dachte über die Einladung nach. Philosophie war höchstens noch sein Hobby. Das hatte er Bi ja gerade erklärt. Lizzie würde sagen ein, ‚Violon d’Ingres‘ wie die Leidenschaft des französischen Malers Ingres für das Geigenspiel. Aber er war sich klar darüber, Ingres war kein Meister an der Geige und er nicht ein Meister der Philosophie.

Aber Jungens werden ja nie erwachsen und bleiben ewig Spielkinder. Er amüsierte sich darüber, jetzt noch Räuber und Gendarm zu spielen. Er war sich aber darüber im Klaren, dass er wegen Bi die Einladung schon sehr ernst nehmen musste und sein Bestes tun musste.

Er konnte ja nicht ahnen, gegen wen er noch spielen würde.

Er notierte sich den Termin und schaltete den Fernseher an und wartet auf Lizzie …

Es lief Terminator III. Aber darauf hatte er keine Lust und zappte zum WDR, um vielleicht doch noch die Nachrichten mitzubekommen. Aber die waren schon vorbei. Er versuchte es mit dem Ersten. Es liefen die Tagesthemen mit Ingo Zamperoni. Nach den Weltnachrichten kam auch ein Bericht über den Tod des Düsseldorfer Professors.

Es wurde kurz die Pressekonferenz in Düsseldorf gezeigt, in der auch Bi auftrat. Die Informationen waren spärlich und Bi sagte nur, dass die Ermittlungen angelaufen waren und aus ermittlungstaktischen Gründen keine weiteren Hinweise gegeben werden konnten.

In der Diele ging die Tür auf und Alice kam heim.

»Hallo Lizzie, wie war der Film?«

»Ich fand ihn gut. Der Churchill war ja schon eine interessante Persönlichkeit.«

»Kannst Du Dich noch an unsere Reise nach Cornwall erinnern und die Besichtigung von Chartwell in der Nähe von Kent erinnern.«

»Ja, das war beeindruckend. Der Geist in diesem Haus zeigt, dass es gut war, dass er Hitler besiegt hat. Wie war es bei Dir?«

»Ich habe mich mit Bi im Weise getroffen. Und weißt Du, was passiert ist? In der Uni wurde ein Philosophieprofessor tot aufgefunden.«

»Wieso das denn?«

»Ja das weiß man nicht. Man glaubt nur, dass er an irgendeinem Gift gestorben ist. Ob das ein Selbstmord oder Mord war, ist noch völlig unklar und ein Rätsel für die Polizei. Kanntest Du den?«

»Wen?«

»Sorry. Reimer. Ich kann mich an den nicht erinnern.«

»Ja, ich kannte den. Ich fand aber seine Themen nicht so interessant.«

»Deine Bücher habe ich Dir ins Arbeitszimmer gelegt.«

»Danke! Aber was sagt denn Bi dazu?«

»Erst einmal nix. Das darf Sie auch nicht. Aber sie hat mich aus irgendeinem Grund morgen ins Polizeipräsidium gebeten.«

»Dich? Hast Du ne Ahnung warum?«

»Eigentlich nicht.«

»Hast Du was gegessen?«

»Ja. Etwas von der leckeren Lasagne. Aber ein bisschen Hunger hab ich noch. Du auch.«

»Ja.«

Er ging in die Küche und kurz nach dem Piepen der Mikrowelle kam er mit einem Tablett mit zwei Tellern Lasagne und zwei Gläsern Rotwein in Wohnzimmer zurück.

»Guten Appetit!«

»Danke, lass uns anstoßen. Es war ein langer Tag.«

»Was denkst Du den über den Vorfall?«

»Na ja, Philosophen und Gift, das kommt selten vor.«

»Also erinnert das Ganze an Sokrates?

Und jetzt zum Wohl!«

»Was aber merkwürdig ist, ist, dass irgendjemand alle Daten in der Uni gelöscht hat, die was mit dem Professor zu tun haben. Auf den Seiten des Instituts, in der Bibliothek, in ILIAS.«

»Was ist ILIAS?«

»Das ist eine Lernplattform, auf der man Lehrmaterialien hochladen kann und den Studierenden seiner Vorlesungen Mails schreiben kann, sofern sie sich angemeldet haben.«

»Alles gelöscht? Wie geht das denn?«

»Gute Frage. Tja, wenn ich das wüsste. Aber das wird die Kripo ja rauskriegen.«

»Und was sagt Bi?«

»Ich sagte ja. Sie hat mich für morgen um 13:00 ins Präsidium eingeladen. Ich weiß aber noch nicht ganz warum.«

»O.k. Lass uns schlafen gehen. Ich muss morgen früh raus.«

Der Zeitplan von Johannes war heute ziemlich eng. Er hatte ein paar Termine bei TARGET. Das war die Personalberatungsfirma, für die er als Senior Consultant arbeitete. Es fiel ihm ein, dass er wegen der Geschichte gestern ganz vergessen hatte, nach Büchern zum Thema Profiling zu suchen.

Er machte sich auf den Weg zu seinem ersten Termin mit einem Bewerber für eine Stelle als Leiter Produktmanagement. Er hatte heute insgesamt sechs Bewerber eingeladen. Er wollte ein bisschen früher da sein, um mit seiner Mitarbeiterin noch einmal die Zeiten abzuklären. Außerdem sollte sie vermeiden, dass sich die Bewerber begegneten. Aber das war Routine.

Mit einem wollte er eigentlich mittags essen gehen, um nicht den ganzen Tag zu hungern. Er bat sein Büro, den Termin auf nachmittags zu verschieben und den Tisch zu stornieren.

Wenigstens hatte er noch Zeit für eine kurze Kaffeepause, bevor er sich zu dem Termin mit Bi im Präsidium zu machen.

»Guten Morgen liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich habe Sie hierhergebeten, damit wir – wie üblich – eine Mordkommission anlässlich des Todes von Professor Norbert Reimer bilden. Ich werde die Leitung übernehmen. Der Fall ist ziemlich ungewöhnlich. So etwas hatten wir – glaube ich – hier noch nie gehabt.«

Im Konferenzraum des Präsidiums zeigte die Wanduhr exakt 11 Uhr an. Das ganze Team hatte sich erwartungsvoll versammelt.

Nach dieser Begrüßung ging Hauptkommissar Schumann zu seinem Notebook und rief eine PowerPoint-Präsentation auf.

Auf der Titelseite erschien der Name der Mordkommission. Er hatte sie ‚Sokrates‘ genannt, was nicht ohne Schmunzeln vor der Gruppe im Raum quittiert wurde.

»Bevor ich die Frage stelle, wie wir uns aufteilen, möchte ich noch kurz berichten, was wir bis heute morgen wissen. Danach können wir ja überlegen, wie wir uns organisieren.

Also wir wissen noch ziemlich wenig über den Tathergang.

Gefunden wurde der Professor von einer Reinigungsfrau, die dann sofort ihre Chefin angerufen hat, die uns dann sofort alarmierte. Frau Walker und Herr Ashkan waren die Ersten am Tatort. Danach kam die KTU.«

Bi nickte zustimmend.

»Die Tür war nicht abgeschlossen und war dies auch schon nicht, als die Reinigungskraft in dem Raum sauber machen wollte«, fuhr Schumann fort.

Es konnte nur der Tod festgestellt werden und auf dem Schreibtisch fanden wir einen übel riechenden Becher, der offensichtlich ein Gift enthielt.

An seiner Bürotür war ein Schild angebracht mit der Aufschrift ‚Prüfung – bitte nicht stören‘. Den Zeitpunkt des Todes, die Substanz in dem Becher usw. ermitteln wir noch. Es liegt nahe, dass es sich um Schierling handelte.

Wir haben seinen Dienstrechner beschlagnahmt. Einen Privaten und ein Smartphone haben wir nicht gefunden. Ob es Selbstmord oder ein Verbrechen war, können wir eindeutig noch nicht sagen. Ein Abschiedsbrief oder etwas Ähnliches war nicht vorhanden. Fragen?«

Es kamen keine.

»Ich habe mir schon mal Gedanken zur Zusammensetzung gemacht.«

Er rief mit seinem Pointer die nächste Folie auf, auf der die Namen der 12-köpfigen Gruppe und ihre jeweilige Funktion in der Mordkommission aufgeführt waren.

Bi bekam die Fallanalyse, die sie sich mit Julia Hoffmann, Lena Dobberke, Ashkan Horri und Dominik Bischoff teilen sollte.

Schumann verteilte noch die restlichen Aufgaben für die Mordkommission und zeigte wieder auf die Leinwand. »Gibt es zur Aufteilung noch Fragen? Dann würde ich sagen: An die Arbeit. Die Spur führt nach Athen.«

Johannes hatte schon einiges von Bi über Schumann gehört. Er war wohl – so hatte er gehört – ein Kriminaldirektor. Bi hatte ihn als sehr kompetent und geschliffen im Auftritt beschrieben. Man bekam mit ihm aber auch immer sehr viel zu lachen. Denn er war sehr scharfsinnig und konnte auch ausgesprochen bissig sein.

Bei den Kollegen war er aber sehr beliebt. Sie hatten nichts Negatives über ihn erzählt.

Johannes wurde im Empfang schon vor Bi erwartet, die ihm auch beim Sicherheitscheck half. Er bekam einen Besucherausweis und ging mit Bi zum Auszug.

»Und um was geht es gleich?«

»Wir wollen Dich für die Ermittlungen engagieren.«

»Wieso?«

Die Idee fand er zunächst ‚strange‘.

»Ist nur so eine Idee von Schumann.«

»Witzig. Wie kann ich Euch denn in einem Mordfall an einem Philosophen helfen, der auf ziemlich merkwürdige Weise umgebracht wurde?«

»Weiß ich jetzt auch noch nicht. Wie gesagt, ist ne Idee vom Chef.«

Als sie in Schumanns Büro kamen, kam die Sekretärin gerade aus seinem Büro, in das sie Kaffee, Tee und ein paar Kaltgetränke gebracht hatte.

Schumanns Büro im neuen Trakt wirkte hell und war außergewöhnlich stilvoll eingerichtet. An der Wand hingen drei große Bilder mit Blumen als Motiv, die von außergewöhnlicher Leuchtkraft waren.

Auf einem Sideboard standen drei japanische Porzellanfiguren die zwei Samurais und eine Geisha verkörperten. Die Haltungen der Figuren waren anmutig und die Farben des Porzellans von überwältigender Schönheit. Die Figuren waren aber nicht kitschig, sondern unauffällig und modern interpretiert.

Schumann begrüßte Bi und Johannes und bat beide an einen Couchtisch.

Johannes warf noch einmal einen ehrfürchtigen Blick auf die drei japanischen Figuren:

» – ?«

Doch, bevor er etwas herausbrachte, lächelte Schumann schon und wusste, dass er schon wieder eine Erklärung zur Herkunft der Figuren abgeben musste.

»Ja, ich liebe das Ensemble und hätte es gerne zu Hause. Es ist aber das Geschenk des japanischen Konsuls in Düsseldorf. Wir haben vor ein paar Jahren die Ermordung eines japanischen Unternehmers sehr diskret aufgeklärt, der sich sehr stark und überaus erfolgreich für die Community in Düsseldorf engagiert hat.«

»Ja, ja, ich glaube, ich habe von dem Fall gehört. Wollte der nicht auch in Düsseldorf Karnevalsprinz werden.«

»Aber deshalb ist er nicht umgebracht worden. Die Figuren gehören natürlich der Behörde. Ich darf Sie allerdings in meinem Zimmer aufstellen.

Was möchten Sie trinken?«

Bi und Johannes entschieden sich für Kaffee, der sogar im Präsidium nicht schlecht schmeckte.

»Ja, vielen Dank Herr Dr. Schwarz, dass Sie so spontan meine Einladung angenommen haben. Sie haben ja von Frau Walker und aus der Presse von dem mysteriösen Tod von Professor Reimer gehört.

Die Presse heizt uns übrigens schon ganz schön ein.«

Er zeigte auf einen Stapel der lokalen Zeitungen, die die Nachricht auf die erste Seite gebracht hatten.

Obenauf lag der Düsseldorfer Express mit der Headline:

‚Geheimnisvoller Mord Philosophieprofessor an der Uni ermordet‘

Das hatte zwar noch kein BILD-Niveau, aber bei der lief die Nachricht auch unter ferner liefen.

»Grundsätzlich können wir noch nicht sicher sagen, dass es sich um Mord handelt, aber wir müssen das natürlich in Erwägung ziehen. Und wenn es der Fall wäre, dann ist die Tötungsart schon merkwürdig. Was aber noch auffälliger ist, ist, dass man Daten in der Hochschule gelöscht hat. Das kann nicht jeder, wie mir unsere IT gesagt hat.

Nun, Frau Walker hat mir schon einiges von Ihnen und Ihrer Tätigkeit erzählt. Sie jagen als Headhunter ja auch Menschen und benutzen dabei so etwas wie ein Profiling. Obwohl wir bei der Polizei – wie das oft fälschlicherweise behauptet wird – so etwas nicht kennen. Wir nennen das bei uns Fallanalyse. Frau Walker ist unsere Spezialistin für Fallanalysen.

Aber ich habe auch gehört, Sie haben Philosophie studiert?«

»Ja, das ist richtig, ist aber auch schon ewig lange her, wenn ich Zeit habe, ist das immer noch ein Hobby von mir.«

»Gut. Wir werden natürlich in alle Richtungen ermitteln: privates Umfeld, Hochschule usw. Was uns noch interessieren würde, wären mögliche Zielpersonen im Bereich Philosophie in beruflichen Netzwerken.

Und da Sie ja für eine internationale Personalberatung arbeiten, könnte ich mir vorstellen, dass Sie uns hier helfen könnten. Wir werden Sie hierfür natürlich finanziell entschädigen.«

»Hm. Haben Sie irgendeine konkrete Vorstellung, einen Verdacht? Ich meine, wir sind schon eine sehr gut operierende Personalberatung mit sehr viel Erfahrung und bester Vernetzung global. Nur Philosophie ist nicht unsere Branche. Die wäre auch nicht lukrativ.«

»Das glaube ich gerne«, entgegnete Schumann belustigt.

»Mir fehlt nur irgendein Ansatz. Was kann ich konkret für Sie machen?«

»Ehrlich gesagt, das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Es ist auch nur eine vage Vermutung, dass wir dort etwas herausfinden. Aber ich möchte einfach, dass wir alles versuchen.«

»O.k. Aber da wird ja XING und Linkedin nicht das Richtige sein. Also müsste man mal schauen, welche Netzwerke es noch so gibt. Wir haben als Unternehmen natürlich bei den beiden Netzwerken noch besondere Suchmöglichkeiten gebucht. Viel verspreche ich mir allerdings nicht davon.«

»Das denken wir oft auch, wenn wir ermitteln. Aber wir gehen manchmal Hunderten von Spuren nach.«

»Ich beneide Sie nicht um Ihre Frustrationstoleranz und finde Ihre Idee ja auch gut, obwohl …«

Johannes zuckte mit den Schultern.

»Wenn Sie irgendeine Hilfe brauchen, wo wir Sie unterstützen könnten. Kein Problem.«

Johannes sah kurz zu Bi rüber. Es war ja schließlich ihre Idee.

Er drehte sich wieder zurück zu Schumann:

»Mord, Philosophie und Profiling. Das hat schon seinen Charme. Ich werde mal darüber nachdenken und ein paar Sachen ausprobieren. Ich melde mich dann und sage Ihnen, was ich davon halte und was vielleicht dabei herauskommen könnte. Ihre Idee hat mich jedenfalls neugierig gemacht. Ich will Ihnen aber auch nichts versprechen. Aber Sie wissen ja, irgendwas geht immer.«

»Super!«

Schumann griff nach seiner Brieftasche und entnahm ihr eine Visitenkarte, die er Johannes übergab.

»Sagen Sie mal«, warf Schumann lachend ein:

»War Sokrates nicht der Philosoph, der gesagt hat: ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘?«

»Ja, nicht ganz genau. Er hat gesagt: ‚Ich weiß, dass ich nicht weiß‘ und das ist ein großer Unterschied.«

»Da haben Sie was für meine Allgemeinbildung getan. Das klingt auch viel besser. Das könnte ein Claim für uns sein. So fangen wir immer an oder sollten es tun. Wirklich genial der alte Philosoph.«

»Nun ja, man könnte auch fragen, was sieht ein Blinder, wenn er sieht, was er nicht sieht«, entgegnete Johannes.

»Ich glaube, das wird was mit uns in dem Fall«, erwiderte Schumann.

»Ja, gerne. Ich hätte nur vielleicht als Erstes ein paar Anhaltspunkte, aus denen wir handfeste Hypothesen entwickeln können.«

»Das sehe ich auch so. Und dann setzen wir eben das ockhamsche Rasiermesser an und prüfen, welche Erklärung die einfachste ist. Das klingt ein bisschen wie im Lehrbuch. Sie wissen ja. Man muss alles richtigmachen, aber keiner sagt einem, wie das geht. Das war übrigens auch einer der Gründe, warum ich nie Lust auf einen Lehrauftrag an unserer Hochschule hatte.«

Schumann schmunzelte bei seiner Äußerung.

»Sie wissen ja. In der Praxis ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis größer als in der Theorie.«

Johannes nickte bestätigend und erblickte dann das Zitat auch auf dem Schreibtisch von Schumann.

»Also wir suchen eine Nadel im Heuhaufen?«

»Ich glaube, wir suchen erst einmal einen Heuhaufen«, entgegnete Schumann.

»Bei dessen Suche wir noch nicht einmal wissen, ob wir Heuhaufen suchen.«

»Genau! Aber damit hätten Sie als Dozent nicht nur Ihre Studenten überfordert«, sagte Johannes, dem ein solches Denken aber gefiel.

»Da mögen Sie recht haben. Aber die Erfahrung sagt uns doch auch, dass das Verbrechen mehr oder minder immer so sind, wie wir sie sehen, denn wir könnten sie ja nicht beobachten, wenn es anders wäre.«

Anschließend plauderten Sie noch einige Zeit über Gott und die Welt, den Fachkräftemangel bei der Polizei, die neusten Restaurants im Düsseldorfer Hafen und natürlich auch die Zustände im Präsidium und die schicken neuen Ideen aus dem Innenministerium.

Bei Profis dauern solche Gespräche nie länger als fünfundvierzig Minuten. Johannes verabschiedete sich von Schumann und Bi begleitete ihn zum Ausgang. Bi war gespannt auf seine Reaktion.

»Wie findest Du Schumann?«, fragte sie neugierig Johannes.

»So auf den ersten Eindruck hin sehr sympathisch? Und wenn Du mich als Berater fragst. Ich denke, er ist ein Vollprofi. Das spürt man. Wir werden – glaube ich – noch ne Menge Spaß zusammen haben. Sorry geht ja um Mord oder Selbstmord.«

»Schön. Hast Du ihn auf eine Idee gebracht?«

»Noch nicht wirklich. Ich muss selber noch darüber nachdenken. Sollen wir uns demnächst wieder treffen? Bis übermorgen bin ich unterwegs.«

»Was hältst Du von Montag nächster Woche wieder im Weise um elf Uhr?«

»Soweit ich weiß, habe ich da noch nichts vor. Gut, dann treffen wir uns wieder im Weise. Wenn was dazwischenkommt, schicke ich Dir eine Nachricht.«

»Dann mach es gut Johannes!«

»Du auch Bi! Bis Montag! Und schon mal ein schönes Wochenende.«

Johannes fuhr nach Hause; seine Frau würde erst später kommen.

Er ging in sein Homeoffice und schaltete sein Notebook und sein Tablet an. Er checkte seine Mails und ging einige Bewerbungen durch, die er erhalten hatte. Er schrieb noch eine Mail an TARGET mit ein paar Anweisungen für morgen. Er war zufrieden mit sich.

Für heute machte er Schluss. Er musste nur noch für morgen packen. Er ging hinaus auf seinen Balkon und machte es sich gemütlich oder wollte es zumindest tun. Also goss er erst mal die Pflanzen. Er zündete sich eine Zigarette an und ließ die beiden Tage Revue passieren. Er fand das alles sehr spannend. Dass ihm Schumann diese Aufgabe zutraute, empfand er als professionelle Ehre.

»Die schönsten Aufgaben sind die, von denen man nicht weiß, wie man sie löst.«

Aber war es nicht mehr?

Wollte er sich nicht ein bisschen gruseln?

Er hatte noch nie im Leben wirklich Angst gehabt.

Und er hatte auch eines gelernt: dass die Welt der Natur und Geschichte gegenüber unserem Autismus von einer erhabenen Indifferenz sein kann. Aber genau deshalb wollte er sich auch nie kleinkriegen lassen.

Schon als Kind hatte er gelernt, dass ein Spielzeug, das er aus den Augen verloren hatte, nicht auf wütende Schreie reagiert, sondern nur durch Suchen gefunden werden konnte.

Also machte er sich entschlossen und arglos auf den Weg.

»Was ist das noch mal genau für ein Gift, wenn es das ist?«, fragte er sich und holte sein Tablet auf den Balkon und googelte ‚Schierling‘.

Den ersten Artikel fand er nicht spannend, also googelte er weiter und wurde fündig. Er fand auch schnell eine PDF-Datei mit dem Titel: ‚Pflanzliche Gifte und Drogen – Gifte mit lähmender und krampfauslösender Wirkung auf die Muskulatur.‘

Das Gift Koniin, das im gefleckten Schierling vorkommt, lähmt die Muskeln. Es stinkt und hat einen ganz unangenehmen Geruch, der an eine Mäuseurin erinnert. Normalerweise trinkt man das nicht freiwillig. Im antiken Griechenland wurde der Schierlingsbecher zur Exekution verwendet.

Berühmt geworden ist es durch den Tod des Sokrates. Das Gift wird sehr rasch resorbiert und geht auch durch die Haut und ruft aufsteigende Lähmung hervor. Sie beginnt an den Beinen und wandert langsam nach oben. Die Stimme wird heiser, bis sie versagt. Eine zunehmende Lähmung der Zwerchfellmuskulatur führt zum Ersticken. Das Bewusstsein ist bis zuletzt vollständig erhalten.

»Kein schöner Tod für einen Philosophen, bei vollem Bewusstsein zu sterben«, dachte er.

»Weder für Sokrates oder Reimer. Aber – wenn es Mord war – was haben die gemeinsam und warum hat jemand Interesse am Tod von Reimer?«

Er machte sich eine Tasse Kaffee und ging wieder an sein Tablet auf dem Balkon und suchte Norbert Reimer. Sein Schriftenverzeichnis war mehr als opulent.

»Gibt es etwas, womit er sich nicht beschäftigt hat?« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und dachte nach.

»So komme ich nicht weiter.

Der hat philosophisch nichts ausgelassen. Aber warum hat man Sokrates überhaupt ermordet? Und welchen Zusammenhang gibt zu Reimer?«

Es gab für Johannes mehr Fragen als Antworten. Für heute Abend jedenfalls hatte er genug. Oder?

Er rekapitulierte und schrieb in OneNote:

Mögliche Täter:

→ Hochschullehrer (an anderen Hochschulen?)

→ Widersacher?

→ Morden die?

→ Hochschulpersonal (Ermittlungen Bi)

→ Familie (Ermittlungen Bi)

→ Freunde (Ermittlungen Bi)

→ Studenten (Ermittlungen Bi)

→ Islamisten (kommt Gift bei denen vor?)

→ Geheimdienste (die haben keinen Humor!)

→ Verderber der Jugend (MeToo-Debatte?)

→ Sonstige (???)

→ IT-Kenner (Bezug zu Philosophie?)

Mehr fiel ihm heute Abend nicht mehr ein. Also wartete er, bis Lizzie nach Haus kam.

Sie hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Als sie kam, war beiden nach Ruhe und Entspannung.

Nach dem gemeinsamen Abendessen konnten sie nicht sehr viel mehr, als gemeinsam noch einen Absacker trinken und ein bisschen fernsehen. Die Tagesschau war langweilig und überraschungsfrei. Sie gingen früh zu Bett und nachdem das Licht aus war, haben sie bestimmt noch gegähnt und sich für eine weitere Nacht eingekuschelt.

Bis Montag machte Johannes Business als usual. Die Geschäfte liefen, und er hatte sehr wenig Zeit, über den Mordfall nachzudenken. Weit kam er deshalb auch nicht und deshalb freute er sich auf das nächste Treffen mit Bi im Weise am Montag.

Er hatte kein Problem, einen Parkplatz zu finden. Das Wetter war nicht sehr freundlich, sondern eher diesig oder uselig, wie es hier hieß … Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher auf einem Stehtisch vor dem Lokal aus und ging hinein. Bi war noch nicht da. Aber bevor er sich noch eine Zeitung schnappt, kam sie doch schon.

»Hallo Bi. Wie geht’s?«

Sie umarmten sich kurz und küssten sich flüchtig auf die Wangen.

»Eigentlich ganz gut. Hast Du schon bestellt?«

»Nein. Aber die wissen schon, was wir haben wollen.«

Die georgische Kellnerin kam an den Tisch und fragte: »Guten Tag, schön dass Sie wieder hier sind. Was darf ich bringen?«

»Bi, was möchtest Du?«

»Einen Latte.«

»Und ich nehm einen Kaffee, wie immer.«

»Bist Du weitergekommen?«

»Nicht wirklich. Ich kann Dir ja nicht alles verraten. Aber bisher haben wir keine Anhaltspunkte.«

»Vielleicht sollten wir uns über unsere Arbeitsweisen unterhalten«, schlug Johannes vor.

»Ihr macht ja so was wie Profiling, obwohl das bei Euch anders heißt.«

»Richtig, Profiling gibt es nur im Krimi. Bei uns heißt das ganz langweilig im Amtsdeutsch Fallanalyse.«

»Und wie geht das?«

»Nun wir schauen uns den Tatort an und versuchen, Rückschlüsse zu ziehen. Gibt die Tötungsart irgendwelche Hinweise auf den Täter. Hat er versucht, das Opfer wegen etwaiger wertvoller Gegenstände aus dem Weg zu räumen? Oder warum hat er noch zusätzlich besonders brutal gehandelt? Dann hätte man schon zwei unterschiedliche Sichtweisen, die man verfolgen müsste. Also wir fragen danach, warum jemand eine Tat begeht.«

»Hm.«

»Das Büro von Professor Reimer – so unsere KTU – zeigt nichts als den Toten und einen handelsüblichen Trinkbecher, den es in jedem zweiten Lokal in Düsseldorf gibt. Wir haben definitiv keine Spuren gesichtet. Nichts.«

»Und wie schätzt Du das mit der Datenlöschung ein?«, wollte Johannes wissen.

»Na ja, wir denken ja immer schnell in Kausalitäten. Aber eins habe ich aus meinem Studium mitgenommen. Wir denken immer viel zu schnell in Kausalitäten. Und das geht häufig daneben.«

»Du hast Recht Bi. Damit spielt ja auch jeder x-beliebige Krimi.«

»Na ja, ich hoffe, wir reden jetzt nicht über Krimis im Fernsehen.«

»Gut! Aber es ist ja auch mein erster realer Kriminalfall.«

»Aber bei Euch heißt es doch auch Profiling, oder?«

»Ja.«

»Und wie geht das?«

»Wir haben uns ja schon häufig darüber unterhalten. Aber ich habe wohl dabei mehr von Dir gelernt.

Also, wenn ich für einen Kunden eine Position besetzen soll, dann machen wir mit dem eine sogenannte PA. Das heißt eine Positionsanalyse. Das ist im Prinzip eine Langversion einer Stellenanzeige. Darin ist das Anforderungsprofil definiert.

Manchmal müssen wir dem Kunden aber auch vermitteln, dass sein Profil nicht mehr für die Zukunft reicht. Und dann stoßen wir auch schon mal in Familienunternehmen auf Zwiste in der Geschäftsführung, die wir lösen müssen. Wenn wir Glück haben, gelingt uns das auch, wird daraus ein weiterer Beratungsauftrag.

Wenn wir dann Bewerbungen bekommen, schauen wir uns also die Profile der Kandidatinnen und Kandidaten an.«

»Schön, wie Du das gendergerecht sagst.«

»Das lernt man mit der Zeit. Nur bei Ärzten ist das egal. Eine Ärztin schreibt auch, dass sie sich um die Stelle eines Oberarztes bewirbt. Aber Ärzte sind alle ziemlich schmerzfrei.

Wir vergleichen dann in einem Matching die Profile und gucken, was zusammenpasst oder wo es Lücken gibt.«

»Das heißt, Ihr fragt, ob die Kompetenzen der Kandidaten zu den Aufgaben passen?«

»Und Kandidatinnen! Ja, genau.«

»Das ist ja schon ein Unterschied zu unserer Arbeit«, fasste Bi zusammen.

»O.k.?«

»Also ganz grob. Wir fragen über unsere Art der Fallanalyse eher in die Richtung, warum hat er es getan und ihr danach, wer so etwas tun könnte.«

»Richtig. Wer hat welche Kompetenz für den Job und in welcher Qualität könnte er ihn ausführen. Mich langweilen die Anschreiben, in denen steht, ‚ich suche eine neue Herausforderung‘, ohne, dass erklärt wird, was den Autor denn dazu befähigt.«

»Wieder was gelernt Johannes«, kommentierte Bi.

»Ja, ich habe den Eindruck, ihr fragt eher ‚biografisch‘ und wir eher ‚handwerklich‘. Ist das so richtig?«, wollte Bi wissen.

»Ja. Genau.«

»Vielleicht ergänzt sich das?«

»Davon bin ich überzeugt. Wir müssen beide Ansätze nur zusammendenken.«

»Da sind wir mit Deinem aber ein bisschen im Vorteil.«

»Das glaube ich nicht. In der Art, wie man den Professor getötet hat, steckt sicher auch die Frage nach dem Motiv für den Mord.«

»Hast Du denn schon was herausgefunden oder eine Idee?« Bi schaute Johannes fragend an.

»Gute Frage. Das ist wie ein Puzzle. Wir kennen nur einen Tatort, eine Art der Tötung und im Büro des Professors gab es keine weiteren Spuren. Bisher haben wir jedenfalls keine gefunden. Dafür hat sich aber jemand in IT der Uni gehackt und das ist vielleicht ein grober Hinweis.

Du würdest jetzt fragen, warum macht das jemand. Sind es mehrere Täter? Ich will mich nicht wiederholen. Ich frage mich, wer so was tun kann. Und kann man den Kreis eingrenzen? Ich hab mir mal ein paar Notizen gemacht.«

»Drehen wir uns nicht ein bisschen im Kreis?«, unterbrach ihn Bi.

Johannes zog ungerührt sein Tablet aus seiner Tasche.

»Die üblichen Verdächtigen könnten zunächst aus dem näheren Umfeld kommen.«

»Na klar: Kollegen, Verwaltungspersonal, Studierende, Familie, Freunde und Bekannte. Daran arbeiten wir allerdings bereits.«

»Und wenn wir den Kreis weiterziehen?«

»Wie meinst Du das.«

Die Hinrichtung sieht vielleicht nach einer Exekution aus, nach einem Anschlag.«

»Wer könnte einen Anschlag verübt haben?«

»Sokrates galt als Verderber der Jugend und Gotteslästerer.«

»Denkst Du an #MeToo?«

»Denkbar? Islamisten, die Uni ist stolz auf ihren hohen Anteil an ausländischen Studenten.«

»Glaube ich nicht. Die murksen die Leute doch anders ab.«

»Na ja: Der Palästinenserchef Arafat ist ja unter recht merkwürdigen Umständen in Paris gestorben und in der Presse – so kann ich mich erinnern – tauchte die Verschwörungstheorie auf, dass Polonium im Spiel sein könnte. Das ist ja schon Hightech. So wurde das, soweit ich weiß, in Al-Dschasira gezeigt.

Aber trotzdem, Schierling sieht nicht wirklich nach Islamisten aus.«

»Ich hoffe, die Geheimdienste wissen das.«

»Ich glaube, Du überschätzt deren Humor.«

Bi lachte, offensichtlich kannte sie ihre Kollegen.

»Ich glaube, Du unterschätzt die Polizei.«

»Eure Truppe und Deinen Chef bestimmt nicht. Aber Geheimdienste?«

Bi musste schon wieder lachen. Ihr machte das Gespräch Spaß mit Johannes. Sie mochte seine Art von Kreativität, die nicht frei war von einem Hauch von Pedanterie. Sein Aktenschrank im PC war sicher sehr geordnet aber auch voll.

Inzwischen war ihre nur für Johannes erkennbare leichte Blässe wieder ihrer Sonnenbankbräune gewichen.

»Gibt es schon einen Täterkreis?«

»Von IT müssten die was verstehen. Aber was haben die Nerds mit Sokrates am Hut.«

»Oder warum gerade die?«

»Dazu muss ich erst mehr von Sokrates und von Reimer verstehen. Da bin ich gerade dabei. Ich gehe gleich noch mal in die Uni. Die Bücher sind ja nur im virtuellen Katalog weg. Sie müssten ja aber in den Regalen noch herumstehen. Danach muss ich aber noch arbeiten und ins Büro.«

»Gut. Wenn ich was Neues habe, sage ich Dir Bescheid.«

»Ich auch. Sag mal, wie geht es Lizzie und Deiner Tochter Larissa?«

»Lizzie geht’s gut. Lyssa auch. Lizzie hat zwar Probleme mit kranken Kolleginnen und Kollegen und muss ziemlich viel Vertretungsunterricht leisten. Mit Geschi und Französisch ist das schon ganz schön viel. Besonders ärgert sie sich über die Ignoranz der Schulpolitik, die ständig auf den Lehrern rumhackt. Die Eltern werden auch immer bescheuerter. Was im übrigen Leben schiefläuft, muss die Schule wieder geradebiegen. Und dann kommen die mit Ansprüchen an, weil ihre Kinder natürlich hochbegabt sind. Respekt gibt es auch immer weniger.«

»Das kannst Du wohl sagen. Erleben wir täglich.«

»Den ständigen Ruf nach mehr Digitalisierung kann sie auch nicht mehr hören. Die sollen erst mal anlog den Schimmel in den Toiletten entfernen und jeden Raum mit modernen Beamern und nem anständigen WLAN ausstatten. Von Excel haben die in Mathe auch noch nichts gehört. Die Weiterbildung hat sie privat bezahlt. Eine Mitarbeiterin von mir hat ihr das beigebracht.«

»Geschichte und Französisch. Schöne Kombination.

Aber Du hast mir ja schon mal erzählt, warum sie die Fächer studiert hat.«

Johannes erzählte ihr, dass Lizzie frankophil ist und schon früh bei einem Schüleraustausch Spaß gekriegt hatte, denn die Franzosen sind sehr stolz auf ihre ‚Grande Nation‘ und hatten ihre Revolution.

Aber sie versuchte auch die Lücke in den Schulbüchern in Deutschland und Frankreich zu schließen, um zu einem besseren europäischen Verständnis der Geschichte der beiden Länder zu kommen, hatte sie doch den Eindruck, ihre Kolleginnen und Kollegen hielten recht wenig von den französischen Schulen.

»Aber sonst geht es. Lyssa macht bald ihr Abi und hat sich zum Führerschein angemeldet. Die Sommerferien sind dieses Jahr ziemlich früh und wir wollen am Wochenende unseren Urlaub planen.«

»Oh, schön. Wisst Ihr schon, wo es hingehen soll?«

»Vielleicht nach Kanada? Lyssa soll ja noch einmal mitkommen. Vielleicht nehmen wir auch ihre Freundin mit. Wir kennen ihre Familie ganz gut und die hätten auch nichts dagegen. Und Christiane ist ganz angenehm. Wir würden dann allerdings nicht mit einem Wohnwagen fahren, denn das wäre schon sehr eng.«

»Und was habt Ihr geplant?«

»Wir müssen leider auch in den Ferien los. Ich wollte mit Frederick und Flo gerne nach Kroatien. Wir haben Freunde, die ein Ferienhaus in der Nähe von Split haben. Und wir können noch deren Segelboot nutzen. Und Flo hat ja letztes Jahr einen Segelschein gemacht.«

»Ja, das hattest Du ja erzählt.«

»Das Problem ist allerdings, dass Frederick noch in einem Projekt Kiel steckt und wir noch nicht genau planen können. Ich hoffe, es klappt aber mit Kroatien.«

»Was macht Frederick noch mal in Kiel?«

»Was Du ab und zu auch machst. Er berät ein Unternehmen im Changemanagement. Das ist ein guter Auftrag. Er hat sogar noch Zeit zum Segeln. Aber unsere Wochenendehe ist schon Mist seit vier Monaten. Mir wäre es lieber, er wäre in meiner Nähe.«

»Das kann ich verstehen.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile über dies und das.

»Johannes, ich muss langsam weg. Und lass Deine Brieftasche stecken. Diesmal bin ich dran.«

»Gut. Du stehst nicht weit weg von mir, dann können wir ja gemeinsam zu unseren Autos gehen.«

Nachdem Bi bezahlt hatte, machten Sie sich auf den Weg.

Bi’s knallrote Giulia stand zwei Autos von dem dunkelgrünen Jaguar von Johannes entfernt. Man sah ihrem Alfa nicht an, dass es ein Quadrifolglio war, um den sie von Ihren Kolleginnen und Kollegen sehr beneidet wurde. Aber man wusste im Präsidium, was ihr Mann machte.

Den XJ fuhr Johannes aus Leidenschaft, wohlwissend, dass einige seiner treudeutschen Kunden, das nicht unbedingt gut fanden. Man fuhr schließlich Mercedes, BMW oder Audi und natürlich Porsche.

PS-mäßig konnte er es mit Bi’s Alfa und seiner Ferrarimaschine mit 510 PS nicht aufnehmen.

»Mach’s gut Bi und grüß die Deinen.«

»Du auch Johannes. Bis bald.«

Er stieg in sein Auto und fuhr zur Uni.

Er hatte nicht viel Zeit wegen eines Termins bei TARGET.