Zwang in der Sozialen Arbeit - Michael Lindenberg - E-Book

Zwang in der Sozialen Arbeit E-Book

Michael Lindenberg

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Beschreibung

Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter üben in ihrer beruflichen Tätigkeit Zwang aus & das wird aber häufig aus dem beruflichen Selbstbild verdrängt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Zwang und Zwangsmittel im Arbeitsalltag eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Für das berufliche Selbstverständnis in der Sozialen Arbeit ist es deshalb unumgänglich, über den eigenen Umgang mit Zwang nachzudenken. Das Buch liefert in einem ersten Schritt eine kritische Einordnung des Zwangsbegriffs. In einem zweiten Schritt wird die Verquickung von Zwang und Sozialer Arbeit vor dem Hintergrund der Renaissance des Zwangs sowie der Kontrollfunktion Sozialer Arbeit erörtert. Abschließend werden der professionelle Umgang mit Zwang sowie alternative Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt und erörtert.

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Die Autoren

Michael Lindenberg (Jg. 1954) ist emeritierter Professor, Sozialarbeiter und Kriminologe. Von 1979 bis 1992 war er als Sozialarbeiter im Strafvollzug, in der freien Straffälligenhilfe und als Bewährungshelfer tätig. Nach dem Studium der Kriminologie von 1987 bis 1992 promovierte er 1996 in Hamburg. 1993 bis 1996 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Hamburg bei Prof. Dr. Fritz Sack, 1996 bis 1998 Referatsleiter in der Behörde für Jugend in Hamburg und 1998 bis 2019 Professor für Organisationsformen Sozialer Arbeit an der Evangelischen Hochschule des Rauhen Hauses in Hamburg. Dort war er von 2003 bis 2004 Prorektor und von 2005 bis 2011 Rektor.

Tilman Lutz (Jg. 1973) ist Professor für Wissenschaft und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg sowie Sozialarbeiter, Diakon und Kriminologe. Von 1997 bis 2005 arbeitete er als Sozialarbeiter in der Jugendhilfe, in der Eingliederungshilfe und in der Schulentwicklung. Von 2000 bis 2002 absolvierte er das Studium der Kriminologie in Hamburg und promovierte dort 2009. Von 2005 bis 2008 war er Dozent am IfW an der Hochschule Neubrandenburg e. V., außerdem von 2009 bis 2011 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen Forschungsprojekten tätig. Von 2011 bis 2020 war er Professor für gesellschaftliche Bedingungen der Sozialen Arbeit & Diakonie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie in Hamburg.

Michael LindenbergTilman Lutz

Zwang in der Sozialen Arbeit

Grundlagen und Handlungswissen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035733-4

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-035734-1

epub:     ISBN 978-3-17-035735-8

mobi:     ISBN 978-3-17-035736-5

Vorwort des Herausgebers

 

 

 

Mit dem so genannten »Bologna-Prozess« galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin »berufliche Handlungsfähigkeit« zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor*innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese(r)-freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

 

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

Zu diesem Buch

 

 

 

»Ich glaube sowieso, wenn die jungen Menschenauf alles hören würden, was die Älteren ihnen sagen,würde jede Entwicklung aufhören und die Welt stillstehen.«(Astrid Lindgren)

Zwang ist überall. Zwang ist daher Bestandteil Sozialer Arbeit. Im Alltag verdrängen wir das häufig. Zwang verträgt sich nicht mit unserem professionellen Selbstverständnis. Zwang und Zwangsmittel werden oft genug als unliebsame Nebenwirkungen ausgeblendet, schließlich soll Soziale Arbeit zum selbstständigen und selbstbestimmten Handeln anleiten, will ermöglichen und ermächtigen. Diese berufliche Grundhaltung ist der erste Anlass und Ausgangspunkt dieses Bandes. Der zweite Anlass besteht in der zunehmenden Legitimierung von Zwang und Zwangsmitteln, die im Widerspruch zu dieser Grundhaltung vermehrt als notwendige und unabdingbare Bestandteile von Sozialer Arbeit und Erziehung in der Praxis und im Fachdiskurs legitimiert werden: Festhalten, Einschließen, Sanktionieren oder das systematische Gewähren und Entziehen von vermeintlichen Privilegien.

Diese Spannung zwischen beruflicher Grundhaltung und zunehmender Legitimation verlangt einen kritischen, selbstvergewissernden Blick auf diesen Begriff. Soziale Arbeit und Zwang sind miteinander verquickt – was bedeutet das in der Praxis? Und welche Folgen hat diese Verquickung für das berufliche Selbstverständnis, die oft zitierte Haltung, kurz: Wie kann im beruflichen Alltag mit dem vorhandenen Zwang und mit Zwangsmitteln professionell und reflexiv umgegangen werden?

In der Erörterung dieses Spannungsverhältnisses konzentrieren wir uns auf die Praxen des Zwangs. Damit sind die Zwangsmittel und -maßnahmen gemeint, die von Sozialarbeiter*innen konzeptionell und geplant oder auch spontan eingesetzt werden. Dafür befragen wir zunächst den Begriff und seine Verwandten Macht, Erziehung und Strafe, um dann die Positionen von Klassiker*innen zu besprechen. In diesem ersten Teil geht es um unterschiedliche Blicke auf die Facetten des Begriffs.

Die Diskurse, die Handlungen und die Haltungen um den Zwang sind nicht in das Belieben der Fachleute gestellt. Sie sind stets Ausdruck sozialpolitischer Ordnungsvorstellungen, mit denen sich die Fachkräfte und Organisationen auseinandersetzen müssen. Daher ordnen wir anschließend die aktuellen Kontroversen um die Legitimität von Zwang in diese Ordnungsvorstellungen ein. Vor diesem Hintergrund beleuchten wir abschließend alternative Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Adressat*innen. Dazu besprechen wir die zugehörigen Menschenbilder, Erziehungsverständnisse und organisatorischen Kontexte.

Dies tun wir auf Basis unserer eigenen Haltung und fachlichen Überzeugung, dass es in der Sozialen Arbeit um Emanzipation, Aneignung und Teilhabe gehen sollte. Zwang und Zwangsmittel bieten dafür keine Hilfe oder Unterstützung.

Wir wollen mit diesem Band zum Nachdenken über den Zwang in der Sozialen Arbeit einladen: Über den Begriff und Formen des Zwangs, vor allem über Hürden und Konflikte im beruflichen Alltag, aber auch über Handlungsmöglichkeiten im Berufsalltag sowie auf der konzeptionellen und institutionellen Ebene. Denn oft halten wir Sozialarbeiter*innen uns für machtloser und begrenzter als wir es sind. Überall ist Zwang. Doch ausgeliefert sind wir ihm nicht.

 

Michael Lindenberg und Tilman Lutz

Inhalt

 

 

 

Vorwort des Herausgebers

Zu diesem Buch

1    Zwang als verdrängtes Thema in der Sozialen Arbeit – zur Einführung

1.1    Zwang in der Sozialen Arbeit?

1.2    Ziele und Aufbau

2    Zwang – Worüber reden wir?

2.1    Überall ist Zwang

2.2    Enger und weiter Zwangsbegriff

2.3    Zwang auf der Mikro-, Meso- und Makroebene mit drei Beispielen

Beispiel 1: Der Strafvollzug

Beispiel 2: Die Kindertagesstätte

Beispiel 3: Die Wohngruppe in der Jugendhilfe

2.4    Formen von Zwangsanwendung, Zwangsmitteln und Zwangsmaßnahmen

2.4.1    Zwangsmomente und Zwangselemente

2.4.2    Körperlicher und psychischer Zwang

2.4.3    Struktureller Zwang

2.5    Über den Zusammenhang von Zwang und Zwangskontexten in der Sozialen Arbeit

3    Pädagogische und soziologische Sichtweisen auf Zwang

3.1.    Verstehen und Deuten: Wissens- und Wissenschaftsverständnisse

3.2    Immanuel Kant: Der Weg in die Freiheit

3.3    Alice Salomon: »Niemand kann für einen anderen leben oder sterben«

3.4    Norbert Elias: Vom Fremdzwang zum Selbstzwang

3.5    Johann Heinrich Pestalozzi: Das Kind will es für sich selbst

3.6    Jean Jaques Rousseau: Der Schein der Freiheit

3.7    Janusz Korczak: Konstitutionelle Pädagogik

3.8    Siegfried Bernfeld: Das Kinderkollektiv und seine Selbstregierung

3.9    Zusammenfassung

4    Begriffsverwandtschaften

4.1    Die Bedeutung von Zwang und verwandter Begriffe für den Fachdiskurs

4.2    Macht und Zwang

4.3    Paternalismus und Zwang

4.4    Gewalt und Zwang

4.5    Strafe und Zwang

4.6    Erziehung und Zwang

4.7    Zusammenfassung

5    Zwang in der Sozialen Arbeit – sozialpolitische Einordnung und Handlungsmöglichkeiten

5.1    Sozialpolitische Einordnung

5.1.1    Aktivierung als Mangel an Eigenverantwortung

5.1.2    Sicherheit durch Risikomanagement

5.1.3    Hilfe und Kontrolle: Der lange Schatten des doppelten Mandats

5.2    Zwangsmittel in der Sozialen Arbeit und Alternativen

5.2.1    Menschenbild und Erziehungsverständnis

5.2.2    Verzeihen und Verständigung

6    Wissen, was wir tun – zusammenfassende Überlegungen zum Umgang mit Zwang im Alltag der Sozialen Arbeit

6.1    Soziale Arbeit als ungewisses Handeln in hoher Verantwortung

6.2    Zwang und Partizipation – eine besondere Herausforderung für die Soziale Arbeit

6.3    Professionelles Handeln als Achtung der Würde

6.4    Die Unendliche Geschichte

Literatur

1          Zwang als verdrängtes Thema in der Sozialen Arbeit – zur Einführung

 

 

 

Im öffentlichen Bewusstsein üben Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter einen helfenden Beruf aus. Sie werden vor allem als Unterstützer*innen wahrgenommen. Damit gelten sie zunächst als unverdächtig, Zwang auszuüben. Ihre Dienstleistungen mögen vielleicht als zu teuer und zu wenig effektiv empfunden werden, und oft sind sie auch schwer zu erklären. Aber in einer funktional differenzierten Welt entstehen immer neue Berufe, von denen wir nichts weiter verstehen müssen. Gerade das ist das Ziel der Arbeitsteilung: Ein*e jede*r konzentriere sich auf ihr*sein Arbeitsfeld.

Allerdings ist es auch so, dass wir, obwohl wir von den beruflichen Gepflogenheiten der Menschen in den vielen Berufen nichts wissen, es uns dennoch häufig nicht nehmen lassen, kritisch mit ihnen umzugehen. Und das häufig zu Recht: Banker*innen können sich mit Hilfe ihres Insiderwissens bereichern, Rechtsanwält*innen können ihre juristischen Kenntnisse nutzen, um zu eigenen Gunsten rechtliche Lücken auszuspähen, Polizist*innen schlagen bei Demonstrationen über die Stränge, Ärzt*innen können zu willfährigen Agent*innen der Pharmaindustrie werden. Nichts davon trifft auf den helfenden Beruf der Sozialen Arbeit zu. Sie helfen. Wer hilft, ist unverdächtig. Zudem ahnen alle, dass dieser Berufsstand auch zur Entlastung des eigenen Lebens beitragen kann. Diese Fachkräfte kümmern sich, wo wir anderen uns nicht kümmern können, wollen oder dürfen.

Wer hilft, hat augenscheinlich keine oder wenig Macht und übt sie auch nicht aus und Zwang schon gar nicht. Auch viele Beschäftigte in der Sozialen Arbeit mögen das so sehen. Macht können sie auch deshalb nicht haben, weil sie, so ihr eigener Eindruck, selbst nur kleine Rädchen im Getriebe einer Sozialbürokratie sind, in der die Entscheidungen über Art, Umfang und Ausgestaltung der Hilfen durch viele Hände gehen müssen. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, weshalb sich nicht wenige in ihrer beruflichen Tätigkeit für tendenziell machtlos halten. Und wer sich als machtlos sieht, kann offensichtlich keinen Zwang ausüben. Diese Haltung kann selbst auf jene zutreffen, die in Eingriffsverwaltungen arbeiten, etwa dem Jugendamt oder gar im Strafvollzug. Beschäftigte in Freizeitheimen, in der Jugendsozialarbeit und in Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit definieren Machtferne und damit Zwangsfreiheit und die Freiwilligkeit ihrer Angebote als zentrales Arbeitsprinzip und Alleinstellungsmerkmal. Auch Beschäftigte in stationären Wohnformen können ihre Position so deuten, dass sie selbst keinen Zwang auf Menschen ausüben, sondern ausschließlich selbst Zwängen unterliegen: denen der bewilligenden bzw. zuweisenden Behörde, denen der eigenen Organisationen, des gesetzlichen Auftrags, des Konzepts und der Arbeitsplatzbeschreibung, dem Zwang der Dienstanweisungen und der Ansagen der Vorgesetzten. Allen diesen Zwängen haben sich die Fachleute und – durch sie vermittelt – die Adressat*innen zu unterwerfen. Da bleibt wenig Raum, sich selbst als machtvoll zu erleben, als eine Person, die mit Zwangsmitteln ausgestattet ist. Das Verdrängen des selbst ausgeübten Zwangs ist in allen Arbeitsfeldern geradezu endemisch. Zwang gehört nicht zum beruflichen Selbstverständnis. Fachkräfte der Sozialen Arbeit haben gelernt zu helfen, nicht zu zwingen. Das Zwingen übernehmen andere Berufsgruppen und Institutionen.

Ganz offensichtlich trifft das jedoch nicht zu. Alle Beschäftigten in der Sozialen Arbeit sind mit Macht ausgestattet und verfügen deshalb auch über Zwangsmittel. Über den Grad lässt sich streiten, ihr Vorhandensein ist allerdings unbestreitbar. In bestimmten Gebieten sind diese Zwangsmittel sichtbar und klar normiert, etwa durch das Strafvollzugsgesetz, das Jugendgerichtsgesetz (JGG), in der Arbeitsverwaltung durch das SGB II und III, durch das SGB XII für die Bezieher*innen von Grundsicherung. Die in diesen Feldern beschäftigten Fachkräfte werden sich damit befassen müssen. Dabei ist die gedankliche Grundoperation folgende: Die Adressat*innen verfügen über Grundrechte hinsichtlich ihrer Freiheit und ihres Anspruchs auf das Führen eines menschenwürdigen und selbstbestimmten Lebens. Diese Grundrechte jedoch können unter bestimmten Bedingungen gesetzlich legitimiert eingeschränkt bzw. entzogen werden. Das ist Zwang – auch in der Sozialen Arbeit, wie sich am SGB VIII verdeutlichen lässt: Dabei handelt es sich um ein Leistungsgesetz, das Ansprüche auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe normiert. Trotzdem sind die Fachkräfte gezwungen, dauerhaft und ständig Einschätzungen zu treffen, ob diese Leistung zusteht oder nicht, aber auch, ob sie angeboten oder aufgezwungen werden soll – mit mehr oder weniger sanftem Druck oder per Gerichtsbeschluss. Denn die nach diesem Gesetz zustehende Leistung ist häufig nicht gewollt. So können die Fachkräfte den Entzug der elterlichen Sorge beantragen oder damit drohen, um so die Leistung gegen den Willen der Adressat*innen durchzusetzen. Dann ist aus dem Anspruch auf eine Hilfe der Zwang geworden, sich einer Hilfe zu unterwerfen. Aus einem individuellen Recht wird dann eine staatliche Zwangsmaßnahme.

1.1       Zwang in der Sozialen Arbeit?

Zwang ist eine nicht selten verdrängte Wirklichkeit in der Sozialen Arbeit. Es ist die Regel, dass Tätigkeiten der Sozialen Arbeit mit der Einschränkung von Handlungsfreiheiten ihrer Adressat*innen verbunden sind. Diese Einschränkungen sind meist nicht das erklärte Ziel, aber sie finden statt. Wenige Ausnahmen bestätigen diese Regel. Jemand mag aus freien Stücken wegen seines Alkoholkonsums in eine Beratungsstelle gehen. Das ist eine Ausnahme, denn vielleicht ist das keine Bedingung des Arbeitgebers oder seines sozialen Umfelds. Spätestens, wenn die Einweisung in eine Suchtklinik bevorsteht, wird er*sie sich jedoch Zwängen unterwerfen müssen, sie*er muss gegen den eigenen Willen bestimmte Dinge tun oder unterlassen. Jemand mag aus freien Stücken eine Erziehungsberatung aufsuchen. Doch spätestens, wenn daraus eine Hilfe zur Erziehung werden soll, weil die Fachkraft das vorgeschlagen hat, wird sich diese Person Zwängen unterwerfen müssen. Für die Beschäftigten in einem helfenden Beruf mag das eine ungeliebte Tatsache sein, aber es bleibt eine Tatsache: Durch die Soziale Arbeit werden die Handlungsoptionen von Menschen eingeschränkt, zum Teil werden sie auch dazu gebracht, gegen ihren eigenen Willen etwas ganz bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. Das geschieht im Strafvollzug genauso wie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Der Unterschied besteht zunächst lediglich darin, dass im ersteren Fall der Eintritt selbst unter Zwang erfolgt, im zweiten Fall nicht. Dieses Faktum des Zwangs ändert sich auch nicht, wenn er im Alltag unbemerkt bleibt oder zu verschwinden scheint:

»Wenn mit der Zeit dieser Zwang nicht mehr empfunden wird, so geschieht dies deshalb, weil er nach und nach Gewohnheiten und innere Tendenzen zur Entstehung bringt, die ihn überflüssig machen; aber sie ersetzen ihn nur, weil sie ja von ihm herstammen« (Durkheim 1961 [1895], S. 108).

Die Einschränkungen der Handlungsfreiheit wie z. B. die Durchsetzung des eigenen Willens gegen den Willen einer anderen Person werden in Praxis und Fachliteratur regelhaft im so genannten »Doppelten Mandat« und/oder im »Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle« (Böhnisch/Lösch 1973; Thieme 2017, Kap. 5.1.3) betrachtet und bearbeitet und auf das konkrete Handeln und Interagieren von Fachkräften mit ihren Adressat*innen bezogen. Daneben ist der Begriff des »Zwangskontexts« (Kap. 2.5) geläufig, mit dem zunächst beschrieben wird, dass Angebote nicht freiwillig in Anspruch genommen werden. Als Zwangskontext werden »alle nicht von den Klient/innen selbst ausgehenden Einflüsse zum Aufsuchen von Einrichtungen der sozialen Arbeit« (Deutscher Verein 2017, S. 1013; Trenzcek 2009, S. 128ff; Kähler 2005) definiert. Zwang bedeutet dann, dass Menschen durch gesetzliche Vorgaben zur Inanspruchnahme Sozialer Arbeit gebracht werden, etwa durch staatliche Eingriffe bei Kindeswohlgefährdung oder durch das mehr oder weniger massive Drängen von anderen, etwa Freund*innen, Nachbar*innen, Sozialen Diensten, der Justiz, um nur einige Beispiele zu nennen.

Soziale Zwänge wie das Drängen des Arbeitgebers oder der Nachbar*innen und Zwangskontexte stehen in diesem Buch jedoch ausdrücklich nicht im Fokus. Im Zentrum stehen die Praxen des Zwangs, die Zwangsmittel, die in der Sozialen Arbeit von Sozialarbeiter*innen konzeptionell und geplant oder auch spontan eingesetzt werden: eben ihr eigenes Handeln. Es geht uns um diese konkreten Zwänge oder Zwangsformen sowie die institutionellen Settings, etwa die geschlossene Tür, die den Adressat*innen die Freiheit nimmt. Wir wollen einladen, darüber nachzudenken, was die einzelne Fachkraft tut, wie sie mit diesem »Berufsschicksal« und diesem zentralen Rollenkonflikt umgeht. Ihre konkreten Zwänge und Zwangsformen treten im Alltag und der Selbstbeschreibung häufig in den Hintergrund. Sie werden als ungeliebte Nebeneffekte nach Möglichkeit ausgeblendet, weil sie das professionelle Selbstbild gefährden. Soziale Arbeit will gemäß ihrer Selbstbeschreibung zum selbstständigen und selbstbestimmten, zum freien Handeln anleiten, sie will ermöglichen und ermächtigen. Das verträgt sich nicht mit Zwang. Doch ist Zwang ein sozialer Tatbestand, und die Negation des Zwangs beseitigt ihn nicht, »ähnlich wie die Luft nicht an Gewicht verliert, wiewohl wir ihre Last nicht mehr fühlen« (Durkheim 1895/1961, S. 108).

Das ist jedoch nur eine Seite der Medaille, nur ein Teil der sozialarbeiterischen Wirklichkeit und ihrer Diskurse. In der Praxis und zunehmend auch in der Methoden- und Fachliteratur werden Zwang und Zwangsmittel teilweise als konstitutiver Teil von Erziehung und Sozialer Arbeit beschrieben. Dabei dominiert allerdings ein diffuser Zwangsbegriff, bei dem die bereits angesprochenen Trennlinien (Sozialer Zwang, Zwangskontexte und Zwangsmittel) verwischt und unscharf werden. Unterschiedliche Formen und Begriffe von Zwang werden unzulässig vermischt: vom Einschluss bzw. der Entziehung von Freiheit über körperliche und gewaltförmige Beschränkung der Handlungsoptionen und Sanktions- bzw. Privilegiensysteme bis hin zur Abwendung von akuter Selbst- bzw. Fremdgefährdung (Nothilfe und Notwehr). Auch gemeinsam vereinbarte Regeln und Verpflichtungen gehören dazu.

Die bisherigen Veröffentlichungen, die ausdrücklich den Zwangsbegriff in der Sozialen Arbeit in den Mittelpunkt stellen, beziehen sich meist auf die Handlungsfelder der Jugendhilfe und deren Formen von Zwang bzw. Gewalt (bspw. Forum Erziehungshilfen 4/2019; Häbel 2016; Menk et al. 2013; Huxoll/Kotthaus 2012; Schwabe 2008) sowie einen neuen Autoritarismus (Widersprüche, Heft 154). Mit Blick auf Strafen und freiheitsentziehende Maßnahmen als spezifische Form des Zwangs existiert ein größeres Spektrum an Literatur, weil hier die Zwangsmaßnahmen Teil der Intervention sind. Einen allgemeiner angelegten Zugang zu Zwang und Praktiken des Zwangs in der Sozialen Arbeit finden wir eher in Zeitschriften, Tagungsberichten und ähnlichen Publikationen (bspw. Baumann 2019; Jugendhilfe 1/2018; SozialExtra 5/2017; Lindenberg/Lutz 2014; Lutz 2011; ZJJ [Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe] 4/2007; Widersprüche, Heft 106 und Heft 113). 2018 hat sich der Deutsche Ethikrat (vgl. kritisch: Rosenbauer/Wölfel 2019) übergreifend, d. h. in unterschiedlichen Bereichen der Sorge- und Sozialarbeit, mit dem Thema »Hilfe durch Zwang« befasst und gefragt, inwiefern und unter welchen Voraussetzungen Zwang als »wohltätig« (und damit als legitim) gelten könne, oder ob wir eine »Renaissance des Zwangs« (Nickolai/Reindl 1999) und repressiver Tendenzen (bspw. Dollinger/Schmidt-Semisch 2011) erleben. Dieser neuere Diskurs um die Legitimität von Zwang als Erziehungsmittel (pädagogisch und rechtlich) in den letzten beiden Dekaden ist ein zentraler Anlass für dieses Buch. Die bestehende Kontroverse darüber und die Relevanz für die Praxis zeigen sich auch rechtlich, etwa an der Novellierung des § 1631b BGB im Jahr 2017. Mit dieser Novellierung wurden freiheitsentziehende Maßnahmen in der Jugendhilfe einerseits durch die Einführung einer gerichtlichen Genehmigung begrenzt. Andererseits verdeutlicht diese Regelung, dass Handlungsbedarf durch das Vorhandensein solcher bisher von den Personensorgeberechtigten genehmigten Zwangsmaßnahmen besteht. Die Novellierung eröffnet durch den Bezug auf den unbestimmten Rechtsbegriff des Kindeswohls die Möglichkeit, Zwangsmaßnahmen rechtssicher zu stellen. Insofern begrenzt diese gesetzliche Normierung Zwangsmaßnahmen nicht nur, sondern ermöglicht sie zugleich, indem sie Legalität schafft. Dies gibt den Fachkräften und ihren Trägern die rechtlich unterfütterte Möglichkeit, Zwangsmaßnahmen und -mittel auch pädagogisch zu legitimieren (Lindenberg/Lutz 2017; Kap. 4; Kap. 5).

1.2       Ziele und Aufbau

Die Beiträge aus der Disziplin und aus der Praxis reflektieren sowohl die unterschiedlichen Begriffsdefinitionen und Bezugspunkte als auch die Erkenntnis, dass Zwang in der Sozialen Arbeit existiert und praktiziert wird. Zwang scheint, wie bereits ausgeführt, ein nicht zu hintergehender Bestandteil der Sozialen Arbeit zu sein. Dafür soll in diesem Buch ebenso ein Bewusstsein geschaffen werden wie für die Diffusität des Begriffs in den Konzepten, Methoden und alltäglichen Praxen. In diesen Praxen erfahren Zwang und insbesondere die hier im Zentrum stehenden Zwangsmittel seit einigen Jahren eine Renaissance: Die Platzzahlen in der geschlossenen Unterbringung und andere freiheitsbeschränkende Maßnahmen steigen ebenso an wie strikte Systeme von Privilegien und Sanktionen (Kunstreich/Lutz 2015; Degener et al. 2020), das »Lob der Disziplin« (Bueb 2006) und die Forderungen nach Möglichkeiten, mehr Druck auszuüben und zu sanktionieren, durchdringen auch die Praxis (Mohr/Ziegler 2012; Mohr 2017). So konstatiert der 14. Kinder- und Jugendbericht die Dominanz eines »Risiko-, Schutz- und Kontrolldiskurs[es]« (BMFSFJ 2013, S. 353). Dollinger (2011, S. 26) spricht vom »Eindruck eines – in welcher Form auch immer – rigider bzw. ›härter‹ werdenden Umgangs mit erwartungs- und normwidrigem Verhalten.«

These

Unsere These ist, dass sich auch in den Institutionen der »Schwäche und Fürsorge«, zu denen etwa die Jugendhilfe gehört, eine Zwangsbereitschaft durchsetzt, die in den Institutionen »Verbrechen und Strafe« (zur Unterscheidung der Begriffe vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 2014) wie etwa Polizei, Justiz und den Gefängnissen, aus Sicht der Sozialen Arbeit zwar immer umstritten, aber als grundlegend betrachtet wurde (Cornel et al. 2018; Zobrist 2018).

Vor diesem Hintergrund wollen wir verdeutlichen, dass es unumgänglich ist, sich stets über den eigenen Umgang mit dem tatsächlich vorhandenen Zwang und den Zwangsmitteln in der Sozialen Arbeit selbstvergewissernd und -reflexiv zu befassen. Um dies zu erreichen, werden zunächst ausgehend von Beispielen die grundlegenden Begriffe geklärt sowie die Verquickung von Zwang und Sozialer Arbeit aufgezeigt, um sodann eine historische Einordnung des Zwangs in der Soziologie und der Pädagogik vorzunehmen. In einem dritten Schritt wird die Begriffsklärung dahingehend vertieft, dass mit Zwang verwandte Begriffe (Macht, Paternalismus, Gewalt, Strafe und Erziehung) diskutiert werden. Mit diesen drei Schritten soll mehr Klarheit in die Diffusität gebracht werden: sowohl bezüglich der unterschiedlichen Füllungen und Facetten des Begriffs als auch der damit verbundenen Handlungsunsicherheiten und vermeintlichen Handlungssicherheiten. Denn beides, Sicherheit und Unsicherheit, ist durch die Verwendung des Begriffs »Zwang« in der jüngeren Fachdebatte und den entsprechenden Konzepten erzeugt worden, und zwar sowohl in den Plädoyers für eine Enttabuisierung bzw. Renaissance von Zwang und Zwangsmitteln in der Sozialen Arbeit als auch in den Kritiken an solchen Konzepten.

Der Zwangsbegriff in der heutigen Sozialen Arbeit und die Rahmungen der angesprochenen Debatten werden in einem vierten Schritt mit Blick auf die sozialpolitischen Entwicklungen eingeordnet. Zu dem Anspruch der Selbstvergewisserung und deren Nutzung im beruflichen Alltag gehört es sodann zwingend, alternative Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Adressat*innen zu verdeutlichen. Dabei konzentrieren wir uns auf Praxen des Verzeihens und Verständigens, die dahinter liegenden Menschenbilder und Erziehungsverständnisse sowie die organisatorischen Kontexte und Voraussetzungen. Davon ausgehend setzen wir uns abschließend mit Fragen der Haltung auseinander. Wir beschäftigen uns insbesondere mit der Partizipation als Leitbild einer aushandelnden Sozialen Arbeit, die die Würde des Menschen unbedingt achtet, sowie den prinzipiellen Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten: Wissen, was wir tun.

Unsere zentrale Unterscheidung von Zwang als allgegenwärtige »soziale Tatsache«, wie Durkheim es formuliert (hier verwenden wir den Begriff des weiten Zwangs), und der (bewusst erzieherisch eingesetzten) Zwangsmittel (hier verwenden wir den Begriff des engen Zwangs) soll eine Thematisierung jener Zwangsmittel und -praktiken ermöglichen, die der Sozialen Arbeit nicht zwingend immanent sind, auch wenn sie in Folge ihres gesellschaftlichen Auftrags mit Macht ausgestattet ist und häufig in Zwangskontexten (Kap. 2.5) realisiert wird. Auch wenn es zweifellos zutrifft, dass Zwang in der Sozialen Arbeit stattfindet, ist damit die Frage, in welcher Form und in welchem Ausmaß Zwangsmittel im engeren Sinn eingesetzt werden, noch nicht beantwortet. Der weite Zwang ist allgegenwärtig und unhintergehbar, der enge Zwang ist dagegen bewusst erzeugt und seine Legitimität als pädagogisches Mittel mindestens zweifelhaft. Mit dieser Unterscheidung beschäftigt sich der erste Teil (bis Kap. 4), mit der Haltung und dem Selbstverständnis der Blick auf die Alternativen (Kap. 5) und das Abschlusskapitel (Kap. 6).

Leitend für unsere Auseinandersetzung und Aufbereitung ist unsere Kritik an Überlegungen, Zwang als – zumindest unter bestimmten Bedingungen – »wohltätig« oder »entwicklungsfördernd« (z. B. Ethikrat 2018; Baumann 2019) zu verharmlosen oder Zwangskontexte als aussichtsreiche Ausgangssituation für Veränderungen zu fassen (Zobrist/Kähler 2017, S. 126). Gleichzeitig lassen sich diese und lässt sich der Zwang in der Sozialen Arbeit nicht ignorieren oder beschönigen. Zwang in der Sozialen Arbeit muss klar benannt und reflektiert werden. Obwohl das so ist, vertreten wir eine Fachlichkeit, die Zwang schon immer als Problem und nicht als Hilfe oder Unterstützung, dagegen stets als Hindernis und nicht als Ermöglichung gesehen hat. Erst Mitwirkung erzeugt den Erfolg, wie schon Alice Salomon als die Begründerin der modernen Sozialen Arbeit wusste: »Niemand kann für einen anderen leben oder sterben« (1926/2008, S. 84).

In der Sozialen Arbeit geht es um Emanzipation und Eigeninitiative, um Aneignung und Teilhabe, nicht um die Anwendung von Zwangsmitteln. Zwang bleibt in jeder Form ein Stachel im Fleisch einer reflexiven Sozialen Arbeit.

2          Zwang – Worüber reden wir?

 

 

 

Was Sie in diesem Kapitel erwarten können

In diesem Kapitel zeigen wir Ihnen die Allgegenwärtigkeit von Zwang. Zwang, ›weit‹ gefasst, ist erst einmal nichts zu Vermeidendes, Gefährliches oder gar Böses. Er ist ganz im Gegenteil unvermeidbar und hilft uns dabei, den Alltag zu bewältigen. Wir alle halten uns an Regeln, ohne dass wir uns darüber groß verständigen müssen, denn dann gäbe es jedes Mal ein großes Chaos. Diese Regeln haben wir verinnerlicht. Deshalb bedarf es normalerweise auch keines ausdrücklichen fremden Zwanges, sondern wir können uns auf einen in uns liegenden Selbstzwang verlassen. Wir sprechen daher in Anlehnung an Norbert Elias auch von einem »Zwang zum Selbstzwang«. Diesen Zwang, aber auch den von anderen gesetzten Fremdzwang, der noch die begrenzte Möglichkeit zu eigenen Entscheidungen lässt, als Handlungsoptionen ermöglicht, nennen wir »weiten Zwang«, weil er eben überall ist. Davon grenzen wir den »engen Zwang« ab. Dieser reduziert die Handlungsmöglichkeiten der Zwangsunterworfenen auf null. Um diesen geht es uns vor allem, denn wie weit wir »engen Zwang« ausüben, bestimmen wir ganz überwiegend selbst. Er ist nicht überall, sondern wird durch unsere eigenen Entscheidungen geschaffen. Wir haben Gestaltungsspielraum beim engen Zwang. Diesen Gestaltungsspielraum wollen wir in allen weiteren Kapiteln ausloten. Mit den folgenden Begriffsbestimmungen und drei Beispielen aus der Praxis Sozialer Arbeit bereiten wir dies vor. Auf diese begriffliche Grundlegung greifen wir dann in allen weiteren Kapitel zurück.

2.1       Überall ist Zwang

Täglich stehen wir vor unzähligen Entscheidungen und Handlungen. Wir sind gezwungen, die Tür zu öffnen, wenn wir ein Haus betreten. Wir sind gezwungen, eine Fahrkarte zu kaufen, wenn wir mit der Bahn fahren. Wenn wir wollen, dass eine Mieterhöhung zurückgenommen wird, sind wir gezwungen, mit dem Vermieter zu verhandeln oder das Rechtssystem zu bemühen. Zwar können wir auch die Tür eintreten oder das Haus nicht oder unbequem durch das Fenster betreten. Wir können auch Schwarzfahren oder zu Fuß gehen. Wir können Vermieter verprügeln oder die Mieterhöhung zähneknirschend akzeptieren. Aber wir treten nicht die Tür ein, wir verprügeln nicht unsere Vermieter. Irgendeine geheime Macht scheint uns davon abzuhalten. Nun, so geheim ist sie auch wieder nicht: Wir wollen keinen Ärger wegen Sachbeschädigung und wir wollen keine Strafanzeige wegen Körperverletzung – und vor allem halten wir solche Handlungsweisen für unangemessen. In der Situation selbst wägen wir das aber nicht bewusst ab. Wir tun es eben nicht. Es gehört sich nicht. Es führt zu nichts – oder allenfalls zu neuen Konflikten.

Diese Beispiele für alltägliche Zwänge zeigen, wie weit der Begriff »Zwang« gefasst wird: Zwang bezeichnet so verstanden materielle, soziale oder zwischenmenschliche Einschränkungen der Entscheidungsfreiheit und Handlungsmöglichkeiten, unabhängig davon, ob diese Einschränkung jeweils beabsichtigt ist oder nicht (Wolf 2008, S. 93). Diesen Einschränkungen unterwerfen wir uns auch unabhängig davon, ob wir den Zwang überhaupt bemerken. Der Soziologe Norbert Elias führt als Grund dafür »Interdependenzen« an. Das Wort meint, dass wir gegenseitig aufeinander angewiesen sind und in dieser Angewiesenheit voneinander abhängen. Interdependenzen unterliegen wir, und sie verbinden uns zugleich. In unserer Angewiesenheit aufeinander müssen wir unser Handeln und vor allem die damit verbundenen Affekte beständig kontrollieren, denn »das Verhalten von immer mehr Menschen muss aufeinander abgestimmt, das Gewebe der Aktionen immer genauer und straffer durchorganisiert sein« (Elias 1976/1991, Bd. 2, S. 317). Und diesem Angewiesensein aufeinander können wir nur entsprechen, wenn wir uns in dem komplizierten Gewebe der menschlichen Aktionen beständig unter großer innerer Anspannung ›richtig‹ verhalten, unsere Triebe und Affekte kontrollieren. Denn die »Hauptgefahr, die hier der Mensch für den Menschen bedeutet, entsteht dadurch, dass irgendjemand inmitten dieses Getriebes seine Selbstkontrolle verliert« (ebd., S. 319). Aus dem zwischenmenschlichen Fremdzwang – »Mach, was ich Dir sage« – wird so ein viel wirkungsvollerer Selbstzwang – »Ich mache es von mir aus, niemand muss es mir sagen.«

Wir bewegen uns in unserem Sozialen Raum beständig in einem Kräftefeld, das wir gemeinsam mit den anderen erzeugen, die sich in diesem Raum befinden. Das ist sehr anstrengend, weil wir immer darüber zu wachen haben, ob wir nun zu viel oder zu wenig Kraft entfalten, wenn wir unseren Beitrag zu dem Gleichgewicht in diesem Kräftefeld leisten. Das ist ein Gedanke von Pierre Bourdieu. Er hat den Sozialen Raum als ein Kräftefeld bezeichnet, »als ein Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse, die allen in das Feld Eintretenden gegenüber sich als Zwang auferlegen und weder auf die individuellen Intentionen der Einzelakteure noch auf deren direkte Interaktionen zurückzuführen sind« (Bourdieu 1985, S. 10). Wir können niemals irgendetwas tun, ohne uns auf andere zu beziehen und ohne dabei ungeschriebene Gesetze einzuhalten, wie der Volksmund sagt, der damit Elias und Bourdieu zustimmt. Für diese ungeschriebenen Gesetze, gerne auch als Selbstverständlichkeiten bezeichnet, gibt es unzählige Beispiele: Wer eine wissenschaftliche Hausarbeit schreibt, muss andere Autor*innen zitieren, wer einen Antrag bei einer Behörde stellt, muss dies schriftlich tun, wer in den Raum einer ihm unbekannten Person eintritt, muss vorher anklopfen und die Einladung abwarten.

Diese Beispiele zeigen deutlich, dass es sich mit dem Zwang gar nicht so offen verhält, wie vielleicht anfangs gedacht, etwa: »Jemand sagt mir, was ich tun muss, und wenn ich es nicht tue, dann kann er mich zwingen.« Sondern eher so: »Ich bin vernünftig und sehe, dass ich selbst bestimmte Wege einhalten und bestimmte Formen wahren muss, um zu meinem Recht zu kommen. Alles andere wäre dumm von mir.«

Zwang wird, obwohl wir gerade auf den durch die gegenseitige Abhängigkeit entstandenen und daher eher unbemerkten Zwang hingewiesen haben, meistens als eine konkrete Einwirkung gefasst. Das können innerpsychische Zwänge (Zwangsstörungen, Zwangshandlungen) sein oder Einflussnahmen von außen, etwa Zwangsarbeit oder Zwangsgeld. Dies sind enger definierte und negativ besetzte Begriffe. Auch die im Duden zuvorderst genannten Synonyme für Zwang – z. B. Druck, Gewalt, Nötigung, Terror, Unterdrückung, Diktat – verweisen eher auf ein enges Verständnis von Zwang, das dessen althochdeutschem Wortursprung »mit der Faust zusammenpressen« (Narr 1999, S. 15) näher ist.

Auch im Recht wird Zwang in einem engeren Verständnis gebraucht. Zwang wird dort stets von außen und gegen den eigenen Willen an Menschen herangetragen: Als Zwangsmittel (§§ 9ff VwVG – Verwaltungsvollstreckungsgesetz) werden die Ersatzvornahme, das Zwangsgeld und der unmittelbare Zwang genannt: »Unmittelbarer Zwang ist die Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt, ihre Hilfsmittel und durch Waffen« (§ 2 Abs. 1 UZwG – Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes). Es geht demnach um direktive Machtausübung mittels Gewalt. Zwang als freiheitsentziehende Maßnahme gegen Kinder und Jugendliche wird aufgrund seiner Gewaltförmigkeit rechtlich klar begrenzt. § 1631b Abs. 1 BGB legt fest, dass eine geschlossene Unterbringung nur zulässig ist, »wenn sie zum Wohle des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- und Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht anders begegnet werden kann.« Freiheitsentzug und der mit ihm verbundene Zwang steht dem Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB – Bürgerliches Gesetzbuch) entgegen. Damit ist das Recht auf eine Erziehung ohne die Zufügung seelischer Verletzungen, ohne körperliche Bestrafung und andere entwürdigende Maßnahmen gemeint. Zwang wird vom Gesetzgeber damit eindeutig eng definiert und in diesem Kontext ausschließlich dann zugelassen, wenn ein Kind vor drohendem erheblichem Schaden zu bewahren ist. Entsprechendes gilt für den allgemeinen Rechtfertigungsgrund der Notwehr (§ 32 StGB – Strafgesetzbuch; § 227 BGB), nach dem Zwangseingriffe in Rechte anderer nur ausnahmsweise zur Abwehr von rechtswidrigen Angriffen erlaubt sind.

Zwang ist offenkundig ein vieldeutiger, kontextabhängiger Begriff. Es ist daher notwendig, jeweils und im Einzelnen aufzuführen, was unter Zwang verstanden werden soll, wenn von diesem die Rede ist – zumindest sofern dies »bedacht und redlich« erfolgen soll (Narr 1999, S. 16).

Für die Soziale Arbeit und deren Verstricktheit mit dem Zwang spielen die vorhin genannten psychologischen, im Individuum selbst verorteten Zwänge (Zwangsstörungen, Triebe, Sucht usw.) zwar eine Rolle. Wir beziehen uns hier jedoch ausschließlich auf Zwang als soziale Handlung, also als eine Handlung, die von Menschen gegenüber anderen Menschen ausgeübt wird. Das ist schon vielgestaltig genug, denn dies kann direkt oder vermittelt über Normen und institutionelle Settings erfolgen. Daher unterscheiden wir im Folgenden zwischen weitem und engem Zwang. Beide spielen in der Sozialen Arbeit und in ihrer Auseinandersetzung um die Legitimität von Zwangsmitteln und -maßnahmen eine zentrale Rolle. Die Unterscheidung zwischen Legitimität und Legalität ist dabei ebenso hilfreich wie bedeutsam: Sprechen wir von Legitimität, dann ist die Frage aufgeworfen, ob der Zwang angemessen, hilfreich, sinnlos oder überflüssig ist. Das sind alles Adjektive, die eine Bewertung ausdrücken, über die also gestritten werden kann. Zwar meint »legitim« auch, dass ein Sachverhalt oder eine Handlung rechtmäßig ist. Wir verwenden diesen Begriff jedoch in seiner üblichen Bedeutung von allgemein anerkannt, vertretbar, vernünftig, berechtigt und moralisch einwandfrei. Sprechen wir von Legalität, sind die Jurist*innen gefragt: Hat der Gesetzgeber das erlaubt, und verhalten wir uns entsprechend dieser gesetzlichen Vorschrift rechtmäßig und mit behördlicher Genehmigung? Darum wird auch vom »Legalitätsprinzip« gesprochen, um zu verdeutlichen, dass etwas prinzipiell festgeschrieben und rechtlich normiert ist. Ein »Legitimitätsprinzip« kann es dagegen nicht geben, weil es immer unterschiedliche Positionen zu der Frage geben wird, was legitim ist. Und das ist im Kern unser Thema: Kann Zwang in der Sozialen Arbeit legitim sein?

2.2       Enger und weiter Zwangsbegriff

Die rechtliche Bestimmung von Zwang hat mit dem eingangs markierten Zwang, dem wir täglich ausgesetzt sind, wenig zu tun. Zu unterscheiden und sorgfältig voneinander zu trennen sind daher ein weiter und ein enger Begriff von Zwang. Dies hängt damit zusammen, dass Zwang nicht nur etwas ist, dem wir unterworfen sind, sondern auch etwas, das wir nutzen können. Er hilft uns in unserem Alltag, so merkwürdig das auch klingen mag. So sind Studierende gezwungen, an die Hochschule zu kommen, um ihr Referat zu halten. Dafür erhalten sie einen Leistungsnachweis. Um diesen zu bekommen, zwingen die Umstände, nämlich die Regeln des universitären Betriebs, ihre Kommiliton*innen dazu, ihnen im Seminar zuzuhören. Anschließend zwingen diese sie dazu, auf ihre Nachfragen zu antworten. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass ein so verstandener weiter Zwangsbegriff wenig tauglich ist, um Zwang in der Sozialen Arbeit adäquat zu fassen und der kritischen Reflektion zugänglich zu machen.

Warum ist das so? An dem Beispiel wird deutlich, dass es für unbeteiligte Außenstehende zwar so aussieht, als ob ausschließlich die Vortragenden die Zuhörenden zwingen. Tatsächlich sind es aber die Regeln, die dazu führen, dass sie das machen; Regeln, denen sie selbst unterworfen sind, mit denen die Vortragenden dann andere unterwerfen, weil am Ende des Studiums alle ein Zertifikat haben möchten, zu deren Ausstellung dann die Hochschule gezwungen ist. So gesehen ist überall Zwang. Daher kommen wir mit diesem weiten Zwang allein nicht weiter und unterscheiden zwischen engem und weitem Zwang. Unsere zentrale Unterscheidung liegt erstens darin, dass die Einschränkung der Handlungsoptionen unterschiedlich weit geht. Bei den genannten Beispielen zum weiten Zwang gibt es, im Gegensatz zum engen Zwang, immer konkrete Handlungsalternativen, auch wenn vielleicht nicht alle gleichermaßen hilfreich oder vernünftig sind. Insbesondere beim »unmittelbaren Zwang« wird dagegen deutlich, dass der enge Zwang darauf gerichtet ist, dass etwas ganz Bestimmtes (und nichts anderes) getan oder unterlassen wird. Zweitens sind die Beispiele des weit gefassten Zwangsbegriffes stets mit dem eigenen Interesse der Zwangsunterworfenen verbunden, also dem Willen, etwas zu tun oder zu unterlassen – die Türe zu öffnen, die*den Vermieter*in zu verklagen oder zu vermöbeln, den Leistungsnachweis zu erwerben usw. In diesem Sinn stellt sich für die konkret Beteiligten die Frage, ob der weite Zwang überhaupt als Zwang erlebt wird und als solcher bezeichnet werden kann. Kann beispielweise sinnvoll von dem Zwang gesprochen werden, die Türe zu öffnen?

Um diese Unterscheidung zwischen engem und weitem Zwang zu verdeutlichen, beginnen wir mit kurzen Definitionen. Danach werden wir anhand von drei Beispielen illustrieren, wie sich diese Unterscheidung in der Praxis der Sozialen Arbeit zeigt.

Definition enger und weiter Zwang

Weiter Zwang beinhaltet die allgegenwärtigen materiellen, sozialen oder zwischenmenschlichen Einschränkungen der Entscheidungsfreiheit und Handlungsmöglichkeiten, unabhängig davon, ob die Einschränkung beabsichtigt ist oder nicht. Wir stellen uns im Gefüge der menschlichen Angelegenheiten und des menschlichen Zusammenwirkens aktiv darauf ein. Daher bemerken wir die Einschränkung nicht als zwingend, schließlich sind wir im Rahmen des weiten Zwangs mit mehr oder weniger Handlungsoptionen ausgestattet. Wir verfügen in unterschiedlichen Graden über Wahlmöglichkeiten – und Freiheiten. Auf eine Reaktion vollständig verzichten können wir jedoch nicht. Kurz gefasst beschreibt Zwang damit den Gegensatz zu Freiheit.

Enger Zwang meint die Durchsetzung des eigenen Willens gegen den Willen einer anderen Person, um diese dazu zu bringen, etwas ganz Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. Wir reduzieren damit die Wahlmöglichkeiten der von uns gezwungenen Person auf null. Sie muss gehorchen. Falls sie das nicht tut, muss sie im Grenzfall mit physischer Gewalt rechnen (Luhmann 2003, S. 9).

2.3       Zwang auf der Mikro-, Meso- und Makroebene mit drei Beispielen