Kriminalität - Michael Lindenberg - E-Book

Kriminalität E-Book

Michael Lindenberg

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Beschreibung

Warum werden Menschen kriminell? Wie wird Kriminalität definiert und wie verändert sie sich? Welche Rolle spielen Politik, Gesetzgebung und Gesellschaft dabei? Diesen Fragen widmet sich dieses Buch. Ziel ist es vor allem, das Phänomen Kriminalität soziologisch und empirisch einzuordnen und dabei einen Gegenpol zu oft reißerischen medialen und gesellschaftlichen Debatten zu schaffen. Sozialarbeitende finden in diesem Buch Grundlagen für das Verständnis von Kriminalität, sie erfahren, wie Menschen kriminell werden, und auch, wie Menschen aufhören, kriminell zu sein. Zudem beleuchtet das Buch das grundlegende Spannungsverhältnis von Hilfe und Kontrolle besonders in der Straffälligenhilfe, der Bewährungshilfe und der Gerichtshilfe.

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Inhalt

Cover

Titelei

Zur Reihe »Soziale Arbeit in der Gesellschaft«

1 »Ohne Goffman hätte ich es im Knast nicht ausgehalten.« Zur Bedeutung soziologischer Analyse in der Sozialen Arbeit. Ein Erfahrungsbericht

1.1 Sinnverstehende Soziologie

1.2 Die erste Begegnung: Warum hätte ich es ohne Soziologie im Knast nicht ausgehalten? (Erving Goffman)

1.3 Die zweite Begegnung: Warum ist Abweichung das, was wir als Abweichung bezeichnen? (Howard S. Becker)

1.4 Meine Soziologie für Soziale Arbeit

2 Müssen Strafe und Gefängnis sein? Überlegungen zum Konflikt mit einem Ausflug in die Vergangenheit

2.1 Vormoderne Zeiten

2.1.1 Erstes Bild: Magie und Aberglaube in Eis und Schnee. Konflikte lösen ohne staatlichen Beistand

2.1.2 Übergang: Die Strafe wird erfunden

2.1.3 Zweites Bild: Strafe als verordnete Schande im Spätmittelalter

2.2 Moderne Zeiten

2.2.1 Macht festigt sich zu Herrschaft: Die Entstehung von Staaten und die gleichzeitige Erfindung des Verbrechens

2.2.2 Drittes Bild: Ein Fallbeispiel für die Erfindung eines Verbrechens im 19. Jahrhundert – der Holzdiebstahl

2.2.3 Strafe und Gefängnis als nur eine Form der Reaktion auf abweichendes Verhalten

3 Kriminalität im Spiegel der Statistik

3.1 Überlegungen zur Bedeutung der Statistik für die Praxis Sozialer Arbeit

3.2 Hier sind sie nun: Einige nackte Zahlen

4 Der Trichter oder: Wie Kriminalität handhaben?

5 Warum es gut ist, dass wir nicht alles wissen: Eine etwas andere Sicht auf Kriminalität und ihre Statistiken

6 Das Verbrechen ist immer und überall

7 Konfliktregelung abseits und im Schatten des Staates

7.1 Konfliktregelung abseits des Staates

7.2 Konfliktregelung im Schatten des Staates

8 Die kleinen Diebe hängt man – und die Großen lässt man laufen?

9 Wege aus und in die Kriminalität

9.1 Wie werden Menschen kriminell?

9.2 Wie hören Menschen auf, Straftaten zu begehen?

10 Soziale Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen

10.1 Hilfe und Kontrolle, Nähe und Distanz: Schlüsselbegriffe Sozialer Arbeit

10.2 Entschuldigung – kann ich Ihnen helfen?

10.2.1 Organisierte Hilfe

10.2.2 Helfen – eine Angelegenheit zwischen zwei Menschen?

10.2.3 Hilfe – als Güte?

10.2.4 Helfen – als Hebammenkunst

10.2.5 Strafen, Helfen oder beides? Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen im Zwangskontext

Literatur

Soziale Arbeit in der Gesellschaft

Die Reihe »Soziale Arbeit in der Gesellschaft« macht es sich zur Aufgabe, die gesellschaftlichen Themen aufzubereiten, die eine besondere Bedeutung für die Soziale Arbeit haben – vom Recht auf Unterstützung über Teilhabe bis hin zu sozialen Problemlagen wie Armut. Die einzelnen Bände liefern das Grund- und Orientierungswissen, das Studierende und Sozialarbeiter*innen benötigen, um eine professionelle Haltung zu entwickeln und ihren Adressat*innen auf Augenhöhe zu begegnen.

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/soziale-arbeit-in-der-gesellschaft.html

Der Autor

Michael Lindenberg ist Sozialarbeiter, Kriminologe und Soziologe. Er war von 1998 bis 2019 Professor für Organisationsformen Sozialer Arbeit an der Evangelischen Hochschule Hamburg. Zuvor arbeitete er im Strafvollzug, bei einem freien Träger der Straffälligenhilfe, in der Bewährungshilfe, als wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie als Referatsleiter für Jugendhilfefragen.

Michael Lindenberg

Kriminalität

Anforderungen an die Soziale Arbeit

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-037655-7

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-037656-4epub:ISBN 978-3-17-037657-1

Zur Reihe »Soziale Arbeit in der Gesellschaft«

Unsere Gesellschaft wird immer mehr von inneren Spannungen geprägt: Armut, eingeschränkte Teilhabe, soziale Ungleichheit oder auch Rassismus und Gewalt sind nur einige Themen, die immer wieder hitzig diskutiert werden. In diesem Debattenklima ist es schwierig, zu einer faktenbasierten Bewertung dieser Problemlagen zu kommen, die einer sorgfältigen und nachprüfbaren theoretischen Begründung nicht entbehren. Gerade Sozialarbeitende sind auf solche wissenschaftliche Analysen angewiesen – schließlich sind sie es, die täglich in ihrer Arbeitspraxis mit diesen Problemen und Debatten konfrontiert werden.

Solche Analysen bietet die Reihe »Soziale Arbeit in der Gesellschaft«. In klarer, verständlicher Sprache beantworten die einzelnen Bände für die Soziale Arbeit grundlegende Fragen: Welche Bedeutung haben die Problemlagen für die Gesellschaft und welche Herausforderungen sind damit für die Soziale Arbeit verbunden? In welchen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit spielen sie eine Rolle? Welche Kompetenzen benötigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter und wie können sie diese entwickeln? Und: Wie kann die Soziale Arbeit unterstützen, welche gesellschaftlichen Ziele verfolgt sie dabei und welche Handlungsansätze haben sich dafür bewährt oder müssen noch erarbeitet werden?

Die einzelnen Bände basieren auf einem breiten sozialwissenschaftlichen Fundament. Sie wollen dazu beitragen, Studierende und Fachkräfte der Sozialen Arbeit zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einschlägigen Handlungsfeldern und Arbeitsansätzen einschließlich ihrer professionellen Haltung anzuregen.

1 »Ohne Goffman hätte ich es im Knast nicht ausgehalten.« Zur Bedeutung soziologischer Analyse in der Sozialen Arbeit. Ein Erfahrungsbericht1

Was Sie im ersten Kapitel erwarten können

Im ersten Kapitel zeige ich meine sehr persönliche Sicht auf die Soziale Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen. Meine ersten praktischen Schritte wurden von einigen Soziologen begleitet. In deren Lektüre vertiefte ich mich nach Feierabend, um mit diesem überaus seltsamen Apparat des Gefängnisses einigermaßen zurechtzukommen, und um den Mut zu finden, am folgenden Morgen wieder den Gang durch die Zellenflure zu wagen. Dieses Kapitel ist damit ein Erfahrungsbericht aus erster Hand, aber auch eine theoretische Befassung mit den Verhältnissen im Strafvollzug und deren Wirkung auf die Praxis Sozialer Arbeit. Ich will über das Wechselverhältnis von Theorie und Praxis sprechen und mich darum bemühen, beispielhaft zu verdeutlichen, wie sehr diese beiden Perspektiven miteinander verknüpft sind.

»Sich selbst zu verstehen ist untrennbar mit dem Verstehen anderer verbunden« (Giddens 1984, S. 21). Ohne Praxis keine Theorie und ohne Theorie keine Praxis, denn selbst, wenn wir der Meinung sind, dass wir dieses oder jenes gerade eben aus dem Bauch heraus entschieden haben, steht doch immer eine theoretische Grundlegung dahinter – ob wir nun darum wissen oder nicht. Und umgekehrt ist es genauso: Niemand kann irgendetwas theoretisch bedenken, ohne eine Vorstellung von der Praxis zu haben, über die gerade nachgedacht wird.

Ich gehe in diesem Kapitel in vier Schritten vor und beginne mit einer Darlegung meiner theoretischen Herkunft (▸ Kap. 1.1). In einem zweiten (▸ Kap. 1.2) und einem dritten (▸ Kap. 1.3) Schritt werde ich jeweils meine Begegnung mit einem Soziologen während meiner Tätigkeit in der Sozialen Arbeit schildern und erörtern, wie mich diese Begegnung beeinflusst hat. Viertens werde ich zusammenfassen unter der Frage: Was hilft mir die Soziologie bei meiner Auffassung von Sozialer Arbeit (▸ Kap. 1.4)? Selbstverständlich verbinde ich damit die Absicht, auch Sie, werte Leser*innen, dazu anzuregen, Ihre eigenen Vorstellungen von Ihrer Verknüpfung von Theorie und Praxis zu bedenken.

1.1 Sinnverstehende Soziologie

Ich beginne mit meiner theoretischen Herkunft. Hier spielt der Begriff des »Sinns« eine herausragende Rolle. Wenn ich von Sinn spreche, dann meine ich subjektiv gemeinten Sinn.

Subjektiver Sinn – ein Beispiel

Was subjektiv gemeinter Sinn in der Praxis bedeutet, verdeutlicht Blumer (1969/1986, S. 69) mit diesem Beispiel: »Ein Baum ist für einen Holzfäller, einen Botaniker oder einen Poeten etwas ganz Unterschiedliches; ein Himmelsstern ist für einen heutigen Astronomen oder einen Schäfer der Antike etwas ganz anderes; der Kommunismus erscheint einem Sowjet-Patrioten in einem anderen Licht als einem Wall-Street Broker«2. Nehmen wir nur den »Baum« als das Beispiel für unterschiedliche Auffassungen dieser Naturerscheinung, dann ist es unmittelbar einsichtig, dass der Holzfäller sich überlegen wird, in welche Richtung der Baum fallen soll, wie viel Raummeter Holz verarbeitet werden müssen und wie er abtransportiert werden kann. Nur wenig davon ist für den Botaniker interessant, wenn er winzige Teile des Baumes unter dem Mikroskop untersucht, und der Poet wird sich über die Gegenständlichkeit des Baumes gar keine Gedanken machen wollen, sondern den Baum – vielleicht – als Metapher über das Wachsen, das Sterben und die Vergänglichkeit nutzen.

Es ist daher keineswegs trivial, auch in der Sozialen Arbeit über den subjektiv gemeinten Sinn nachzudenken, denn er beeinflusst das Handeln im Alltag. Als Beispiel dafür beziehe ich mich auf eine fachliche Kontroverse, an der ich selbst teilhaben durfte. In dieser Auseinandersetzung steht auf der einen Seite die Position, dass Soziale Arbeit in der Straffälligenhilfe das spezifisch Sozialpädagogische betonen sollte. Dazu gehört es u. a., dass eine Intervention nur dann sinnvoll ist, wenn die Person selbst eine entsprechende Motivation zur Annahme der Hilfe mitbringt. Aber leider kann in Zwangskontexten diese Motivation nur sehr schwer, wenn überhaupt, erzeugt werden, denn der Mensch, der zur Hilfeannahme motiviert werden soll, kann sich keinesfalls ohne persönliche Nachteile offen dagegen entscheiden (Cornel et al. 2018). Es kann daher sein, dass er das Spiel auf der Vorderbühne mitmacht. Aber sobald er die motivierend gemeinte Besprechung verlassen hat und auf dem Nachhauseweg ist, also gewissermaßen auf der Hinterbühne, sinnt er darüber nach, wie er sich ohne Nachteile verweigern kann. Die andere Position dagegen lautet, dass Motivation in Zwangskontexten selbstverständlich nicht vorausgesetzt werden kann, aber eben keine Vorbedingung für eine gelingende Zusammenarbeit sein muss, denn sie kann auch unter Zwangsverhältnissen erzeugt werden. Dazu muss man allerdings verstehen, dass auf eine erste Phase der Interessenlosigkeit eine Zeit der Motivationsbereitschaft kommen kann. Diese Zeit kann vorbereitet, in Handlungen überführt und aufrechterhalten werden. Jede Phase erfordert jedoch andere Motivierungsstrategien von Seiten der Fachkraft (Zobrist 2021, S. 99).

Beide Positionen können eingenommen und fachlich begründet werden, zumal immerhin Einigkeit besteht, dass es ohne Motivation nicht geht. Nur der Weg zur Erreichung dieses Ziels wird kontrovers behandelt. Je nachdem, welcher Position zugeneigt wird, hat das fundamentale Auswirkungen auf die Praxis. Jene Fachkräfte, die die erste Position einnehmen, werden vielleicht versuchen, weniger eingriffsorientiert zu arbeiten als jene, deren Überzeugung es ist, dass ihre Eingriffe zur Hilfeannahme motivieren können. Jene, die eine Neigung zur ersten Position haben, werden sich nicht die Frage stellen, ob ihre Intervention gerade phasengerecht erfolgt, weil sie es problematisch finden, ein abstraktes Stufenmodell auf Menschen anzuwenden. Die Fachkräfte, die dieses Stufenmodell bevorzugen, werden es dagegen schwierig finden, ohne eine derartige klare Orientierung zu arbeiten und daher ihr Handeln an diesem Modell ausrichten.

Das ist mit subjektiv gemeinten Sinn angesprochen – sie sehen die Sache eben anders. Da dieser subjektiv gemeinte Sinn dann jedoch in ein Handeln – oder auch in ein Unterlassen – überführt wird, beziehen wir diesen Sinn, soweit wir verständlich und erklärungsfähig sind, zugleich auf die Anderen. Diese doppelte Strukturierung aus Sozialem Handeln und dessen Bezug auf eine allgemeine Struktur verleiht dem subjektiv gemeinten Sinn seinen sozialen Charakter. Durch diesen sozialen Charakter wird der subjektiv gemeinter Sinn sinnhaft für mich und die Anderen. Ich gehe also von der soziologischen Grundhaltung aus, dass alle menschlichen sozialen Phänomene auf die Verhaltensweisen Einzelner zurückzuführen sind. Das ist die zentrale Idee des Soziologen Simmel. Sie ist von Alfred Schütz (1981) aufgegriffen worden, einem Hauptvertreter der sinnverstehenden Soziologie. Soziologie verstehe ich daher als die Wissenschaft vom menschlichen Sichverhalten und seinen Konsequenzen. Diese Formulierung geht auf den Soziologen Max Weber zurück, auf den sich wiederum der erwähnte Alfred Schütz bezieht. Diese Soziologie beschäftigt sich daher »nicht mit einer ›vor-gegebenen‹ Welt von Objekten, sondern mit einer, die durch das aktive Tun von Subjekten konstituiert und produziert wird« (Giddens 1984, S. 197).

Dieses aktive Tun bezeichne ich als »Soziales Handeln«. Dieser Begriff orientiert sich ebenfalls an Max Weber und meint »menschliches Tun und Lassen, das dem von den Handelnden selbst gemeinten Sinn nach auf die Handlungen oder den vermuteten Sinn des Handelns anderer Menschen in einer Situation bezogen ist« (AG Soziologie1992, S. 164). Max Weber verdeutlicht dies mit einem Beispiel:

»Nicht jede Art von Berührung von Menschen ist sozialen Charakters, sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des anderen orientiertes eigenes Verhalten. Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen. Wohl aber wäre ihr Versuch, dem anderen auszuweichen und eine auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung, soziales Handeln« (Weber 1972, S. 11).

Obwohl die von mir bevorzugte Soziologie daher davon ausgeht, was Menschen subjektiv sinnen, also von dem, was in ihrer Psyche abläuft, ist sie trotzdem die Wissenschaft von dem, was physikalisch geschieht. Wie das? Weil Sinn stets zu Handlung oder Unterlassung wird und damit auf die Welt einwirkt. Dies vorausgesetzt, ist alles Geschehen in der Sozialen Welt auf das Tun oder Nicht-Tun wirklicher Menschen in wirklichen Situationen zurückzuführen. Wir können nicht immer mit Sicherheit angeben, wer mit wem und warum etwas getan hat, denn wir können nicht jeder feinen Verästelung des sozialen Lebens bis auf den Grund nachgehen. Und selbst wenn wir diesen Versuch unternehmen und endlich am Ende einer besonderen Verästelung angekommen sind, so würden wir darunter wieder eine beginnende Verzweigung finden und so fort. Das ändert aber nichts daran, dass alle diese Verästelungen durch Soziales Handeln von im Prinzip angebbaren Menschen entstanden sind, und dass es prinzipiell möglich ist, diese Menschen zu benennen.

Soziales Handeln: Dualität von Struktur und Verhalten

Soziales Handeln ist daher ein Zweifaches, nämlich strukturierend und zugleich strukturiert. Strukturierend ist der Prozess des Sozialen Handelns, strukturiert ist das Resultat. Die Strukturen sind das Resultat und das Medium Sozialen Handelns zugleich. Dafür gibt es Beispiele. So können ehemalige Inhaftierte berichten, dass die Haftbedingungen in Bayern härter sind als in Schleswig-Holstein. Junge Menschen mit Heimerfahrung differenzieren sehr genau, wo das Personal zugewandt und wo weniger freundlich ist. In beiden Fällen handelt es sich um die Strukturen »Gefängnis« und »Heim«. Und doch können Welten dazwischen liegen, weil die in dieser Struktur tätigen Menschen unterschiedlich damit umgehen. Und da klar ist, dass dem Subjekt in dieser Theorie als kompetenter und kreativ Handelnder der Vorrang eingeräumt wird (Giddens 1984, S. 24), so ist die Einsicht wesentlich, »dass Strukturen nur als reproduzierte Verhalten situativ Handelnder existieren, die klar bestimmbare Intentionen und Interessen haben« (ebd., S. 155).

Dabei ist selbst in Situationen, in denen wir Handlungsohnmacht empfinden, diese aufeinander bezogene Dualität von Struktur und Verhalten grundlegend, da wir angeben können, welche wirklichen Menschen die dieser Ohnmacht zugrunde liegende Struktur produziert und reproduziert haben. Dies trifft etwa auf Prüfungen, auf Gefängnisse, auf die Unterordnung der Kinder unter die Eltern, die Unterordnung der Eltern unter staatliches Handeln, auf die Unterordnung des Staates unter die Wirkkräfte des Kapitals zu. Immer sind wirkliche Menschen am Werk, die die Struktur beleben und formen. Und diese wirklichen Menschen sind bei der Schaffung dieser Verhältnisse stets von ihrem subjektiv gemeinten sozialen Sinn erfüllt. Die Handlungsohnmachten in der Prüfung, bei der Führerscheinstelle oder im Gefängnis sind deshalb sozial – also durch die wirklichen Handlungen wirklicher Menschen – erzeugte Handlungsohnmachten.

Soziales muss daher durch Soziales erklärt werden, wie es Durkheim als soziologischen Grundsatz formuliert hat.

Da ich den Ausgang von meinem subjektiv gemeinten Sinn in seiner historischen und gesellschaftlichen Umklammerung nehme, ergibt sich daraus für mich nun die Notwendigkeit, dies auf mich selbst anzuwenden. Ich bearbeite daher nun innerhalb dieses Verfahrens, wie eingangs angekündigt, in zwei Abschnitten zwei meiner Begegnungen als Sozialarbeiter mit Soziologen. Ich versuche, meinen subjektiv gemeinten Sinn innerhalb meiner sozialen Bezüge und meinen historischen Begrenzungen auszulegen.

1.2 Die erste Begegnung: Warum hätte ich es ohne Soziologie im Knast nicht ausgehalten? (Erving Goffman)

Diese Begegnung führt zurück in ein achtwöchiges Praktikum in einer Strafanstalt für Erwachsene. In meinen während dieser Zeit verfassten Notizen findet sich diese Formulierung:

»Meine Erfahrungen im Vollzug zeigten mit, dass es schwer ist, sich gegen den Willen und die Vorstellungen der Beamten durchzusetzen. Aber man muss sich mit dieser Berufsgruppe wie vielleicht mit keiner anderen während der täglichen Arbeit auseinandersetzen. Zwar hat der normale Aufsichtsbeamte in der Regel kaum Kompetenzen, doch ist das Klima einer Anstalt entscheidend durch diese Berufsgruppe geprägt.«

Und ich schloss diesen Absatz mit der suchenden Formulierung: »Und was prägt den Vollzugsbeamten?«

Wenn ich von »Beamten« schrieb, dann meinte ich damit die Vertreter*innen des »Allgemeinen Vollzugsdienstes«, häufig Handwerker*innen, deren Entscheidung für den Vollzugsdienst und für eine mittlere Beamtenlaufbahn auch von der damit versprochenen Arbeitsplatzsicherheit geprägt ist. Obwohl diese Gruppe in der Gefängnishierarchie der Bediensteten einen niedrigen Status innehat und schlechter bezahlt wird, bildet sie eine stille, aber dennoch unüberwindbare Macht im Strafvollzug. Um mein Praktikum einigermaßen überstehen und begreifen zu können, musste ich meine Tätigkeit stark auf sie beziehen – obwohl ich in vielen Punkten mit meinem subjektiv gemeinten Sinn (▸ Kap. 1.1) ihrer Berufsauffassung und ihren Handlungsweisen nicht zustimmen konnte. Dass ihre mächtige Position nicht nur an ihrer großen Zahl liegen konnte, war mir ahnungsvoll deutlich, und ich entwickelte in meinen Notizen daher eine Reihe von Vermutungen, mit denen ich mir ihre zentrale Stellung erklärte.

Leider machte ich erst gegen Ende meines achtwöchigen Praktikums mit Goffmans bekanntem Buch »Asyle« Bekanntschaft. Es handelt sich dabei zwar um die Untersuchung einer psychiatrischen Anstalt, doch ist diese Untersuchung immer und immer wieder gut begründet bemüht worden, um die sozialen Vorgänge in Gefängnissen zu deuten. Schließlich sind Psychiatrien und Gefängnisse, aber auch Handelsschiffe, Klöster oder Internate Totale Institutionen, weil für ihre Insassen Arbeit, Freizeit und Schlafen in Abgeschiedenheit von der übrigen Welt unter einem Dach stattfinden, während sie vom Personal gemanagt und kontrolliert werden, das hier nur seine Arbeitszeit verbringt.3 Bei Goffman fand ich eine prägnante Formulierung zu meinem Problem mit den Vollzugsbeamt*innen. Diese Formulierung ließ meine selbst zusammengesuchten Gründe sehr verblassen. Goffman sprach von »gruppenspezifischer Rollendifferenzierung« und bezog sich weiter auf die »Soziodynamik der niedrigsten Personenränge«. Zu dieser »Soziodynamik« führte er dann aus:

»Es ist ein besonderes Merkmal dieser Gruppe, dass ihre Mitglieder meist in langfristigen Beschäftigungsverhältnissen stehen und daher Träger der Traditionen sind, während die höheren Personalränge und sogar die Insassen häufig eine hohe Fluktuation aufweisen. Außerdem hat gerade diese Gruppe die Forderungen der Institutionen gegenüber den Insassen zu vertreten. Daher lenken sie mitunter den Hass der Insassen von den höheren Chargen ab und ermöglichen es diesen, eine onkelhafte Freundlichkeit an den Tag zu legen« (Goffman 1972, S. 113 f.).

Ganz genau. Da war ich, der sich nur für kurze Zeit in der Anstalt aufhielt und es sich daher leisten konnte, das Gefängnis mit kritischem Blick von oben zu durchmustern, und der außerdem über die Möglichkeit verfügte, »onkelhaft freundlich« zu sein. Mit dieser Analyse in der Hand war für mich Wissenschaft und ihr Anspruch, »Soziales Handeln deutend zu verstehen« (Weber), fassbar und praktisch geworden. Ich hatte mit dem Begriff der »Soziodynamik der niedrigsten Personenränge« ein Hilfsmittel gewonnen, das mich mehr sehen ließ als nur schlechtgelaunte, mürrische Beamt*innen, die meine ungelenken Versuche beobachteten, mit »Zellenbesuchen Kontakt herzustellen.« Das unter ihrem Verhalten verborgen liegende und dieses Verhalten stabilisierende Gerüst, die »duale Struktur« aus Vorgegebenem und Bewirktem, war mir sichtbar geworden. Die Vollzugsbeamt*innen hatten gute Gründe für ihr Verhalten, ob mir das nun passte oder nicht: Ich würde bald wieder weg sein, sie würden noch viele Jahre bleiben. Ich würde einmal mehr Geld verdienen als sie, denn ich würde nach dem Studium automatisch in eine höhere Gehaltsgruppe eingestuft. Ich konnte freundlich sein, denn ich hatte nichts durchzusetzen, sie jedoch mussten die Regeln vertreten und erledigten das unterschiedlich zugewandt. Es entstand bei mir eine soziologische Vorstellungskraft (Mills 1967). Diese soziologische Vorstellungskraft führte mir deutlich vor Augen, dass ich nicht nur ein in persönliche Schwierigkeiten verwickelter Akteur war (das war ich natürlich auch). Sondern ich verstand zugleich, dass diese starke Position des »mittleren Vollzugsdienstes« auf die besondere Struktur Totaler Institutionen zurückzuführen ist und diese Struktur auf mich zurückwirkte. »Damals wie heute glaube ich« schrieb Goffman in seiner Einleitung »daß jede Gruppe von Menschen [...] ein eigenes Leben entwickelt, welches sinnvoll, vernünftig und normal erscheint, sobald man es aus der Nähe betrachtet« (Goffman 1972, 7). So ging es auch mir. Je länger ich die Abläufe betrachtete, desto sinnvoller, vernünftiger und vor allem normal erschienen sie auch mir.

Diese Strukturen übten auf das Handeln der Strafvollzugsbeamt*innen und auf mein Handeln einen starken Zwang aus, doch zugleich ermöglichten sie unser Handeln. Die dabei entstehenden und hergestellten Wirkkräfte, die ich unsystematisch-praktisch erlebte, hatte Goffman systematisch-theoretisch erfasst. In den vielen Gefängnissen und Lagern auf der ganzen Welt passierte Vergleichbares. Ein Bewusstsein für die organisationsimmanente Lagerung des Problems war entstanden. Ich hatte von Goffmans sozialwissenschaftlicher Sicht profitiert und konnte nun mit seiner Hilfe, obzwar er in erster Linie ein Erkenntnisinteresse und kein Handlungsinteresse wie ich verfolgte, die Praxis besser verstehen. Ich konnte bei der Lektüre seiner Arbeit erkennen, dass Goffman Anstalten und Gefängnisse auf hohem theoretischem Niveau für meine Praxis nützlich erklärte.

Mir gefiel daran, dass Goffman innerhalb des engen Regelwerks des Knastes nach Freiheit für den oder die Einzelnen suchte, also danach, wie Menschen strukturierend mit Struktur umgehen. Er erkundete, wie diese*r Einzelne sich in diesem engen Käfig sein bzw. ihr »Territorium des Selbst« schuf, wie er formulierte. Den Käfig selbst stellte er jedoch nicht in Frage. Das fehlte mir, doch zugleich zog mich diese kritiklose Hinnahme des Käfigs (der Struktur) an. Wie Goffman diesen Mechanismus des Anziehens und Abstoßens zugleich bei mir erzeugte, will ich mit einer Geschichte über ihn verdeutlichen.

»Auf einer Tagung, deren Hauptredner Goffman war, wurde ihm zu Ehren am Abend ein Empfang gegeben, der im Beobachtungsturm einer von Schinkel gebauten Sternwarte – nun ein sozialwissenschaftliches Institut – stattfand. Der Ehrengast wurde begrüßt, sagte einige höfliche Sätze, trat zurück und schien wenige Minuten später verschwunden. Schließlich fand man ihn: auf dem ursprünglich für das Fernrohr vorgesehenen drehbaren Podest am – bezeichnenden – Rand der Abendgesellschaft, deren Gegenstand, Teil und Beobachter er war« (Soeffner 1995, S. 318).

Diese Geschichte erinnerte mich sofort an ein Foto, auf dem ich als junger Mann selbst zu sehen bin: Es ist ein von einem Baukran aus aufgenommenes Bild auf die Grundsteinlegung eines Krankenhausneubaus, an dem ich mitarbeite. Die Festgesellschaft bildet einen geschlossenen Kreis um den Festredner, der noch die Maurerkelle in der Hand hält. Unmittelbar hinter ihm sind Schwesternschülerinnen in weißer Tracht aufgereiht, rechts und links schließen die sozial höhergestellten Honoratioren in Anzügen an die Schülerinnen an. Gegenüber dem Festredner stehen die Bauarbeiter in Sakko, Blouson oder weißem Hemd. Hinter diesem Kreis, in etwa zwei Meter Abstand von ihm, stehen vier türkische Arbeiter in ihrer Sonntagskleidung, in einer Linie aufgereiht und an ein provisorisches Baugeländer gestützt. Und links davon, noch einmal in etwa drei Meter Entfernung von den türkischen Kollegen und vielleicht zehn oder elf Schritte von der am nächsten stehenden Person des geschlossenen Kreises entfernt, stehe ich, mit über der Brust gekreuzten Armen, ebenfalls an dieses Baugeländer gestützt. Ich halte meinen Blick so, dass ich von außerhalb problemlos beobachten kann.

Meine Position auf diesem Foto erklärte mir die Anziehung, die Goffman auf mich ausübte. Über ihn wird geschrieben, dass er es vorzog, »aufmerksam und mitschwimmend zwar, am Rand des Stroms zu bleiben. In seiner Disziplin verkörperte er den Typus des ›marginal man‹, und dies nicht nur als Beobachter, sondern auch als Theoretiker« (ebd., S. 319). Das gefiel mir und gefällt mir bis heute: aufmerksam am Rand des Stroms mitschwimmen. Was mir an Goffman nicht gefiel, hätte ich zur Zeit meines Praktikums vermutlich nicht in Worten ausdrücken können, aber ich kann es heute versuchen: Goffman erklärt nicht, warum die Leute ihre Rollen, ihr Selbst, so spielen, wie sie sie spielen. Er spricht nicht darüber, dass einige Formen des Selbst mehr Gratifikationen nach sich ziehen als andere; er spricht nicht darüber, dass »Macht und Wohlstand Hilfsmittel sind, die die Fähigkeit, ein Selbst erfolgreich darzustellen, mit beeinflussen« (Gouldner 1974, S. 455). Goffman kann sich mit seiner auf die Erscheinungen des Verhaltens zwischen einzelnen Menschen fokussierten Perspektive nicht mit der Frage beschäftigen, wie und ob die Menschen die Strukturen verändern wollen, in denen sie ihr Selbst inszenieren. Er kann zu diesen Strukturen überhaupt nur wenig sagen, denn ihn interessiert der »Interaktionismus«, also jenes, was zwischen den Menschen vorkommt. Er kann daher nicht über Veränderung, sondern nur über Anpassung schreiben, und ganz richtig setzt er immer und fortlaufend voraus, dass wir Menschen uns anpassen wollen – anpassen auch in erdrückenden Organisationen wie dem Knast oder der Psychiatrie, anpassen in Organisationen, die Menschen ihre Individualität nehmen und in denen wir uns nur mit List, Täuschung, mit gewitzten Strategien, mit einem »Management des Eindruckmachens« unsere kleinen »Territorien des Selbst« als kleine Inseln im Meer der Erdrückung schaffen können.

Goffman ist daher zugleich ein Beispiel für die Beschränkungen und Gefahren der sinnverstehenden Soziologie, also der Wissenschaft vom menschlichen Sichverhalten und seinen Konsequenzen, wie ich es mit Max Weber definiert habe. Diese Beschränkung entsteht, wenn das menschliche Sichverhalten als bloße Inszenierung in einem Theater begriffen wird.

Das enthebt diese Perspektive von der Notwendigkeit gesellschaftlichen Gestaltens, weil dieser Anschauung zufolge jede*r selbst sein bzw. ihr Selbst im sozialen Raum der Gesellschaft eigenverantwortlich gestalten kann. Diese Sicht unterschlägt jedoch, dass Menschen sehr wirkungsvoll durch Institutionen, durch ihre Geschichte und auch durch biologische Umstände daran gehindert werden, eben die Rolle einzunehmen, die sie gerne einnehmen würden. Diese Sicht verschweigt weiter, dass Menschen ihre Gesellschaft erfolgreich hierarchisiert haben, zum Vorteil dieser und zum Nachteil jener. Diese Sicht schweigt dazu, dass die realen Handlungsoptionen ungleich verteilt sind. Diese Sicht verheimlicht, dass in einer hierarchisierten Gesellschaft alle Räume hierarchisiert sind und soziale Abstände und Positionen zum Ausdruck bringen. Sie unterschlägt, dass jeder Raum sozial konstruiert und markiert ist; jeder Raum »ist der Austragungsort von individuellen und politischen Kämpfen, in denen es real darum geht, erwünschten Personen, Gütern und Dienstleistungen möglichst nahe zu sein bzw. unerwünschte Personen auf Distanz zu halten« (Bartelheimer 1999, S. 16).

Goffman hat dieses gesehen und gewusst, jedoch nicht darüber geschrieben. Er hatte seine guten Gründe dafür, denn er suchte im Käfig der Gesellschaft ausschließlich nach Freiheitsräumen für die Einzelnen. Darum thematisierte er Verhalten als Resultat von Verhältnissen und nicht die wechselseitige Wirkung von Verhalten und Verhältnissen. Er fragte nicht danach, wie ein Mensch strukturierend gegen die Struktur vorgehen kann, sondern zeigte die Mechanismen der Anpassung unter die Struktur. Er führte ein Bild vor, wonach die Handlungen den Insassen stetige Versuche der Anpassung und nicht der Gestaltung sind.

So viel zu meiner Anziehung an das Denken von Goffman, und so viel zu meiner Skepsis. Beides erklärt jedoch noch nicht, warum er überhaupt so stark auf mich und meine Generation von Sozialarbeiter*innen wirken konnte und auch heute aus gutem Grund in keinem Einführungsseminar in die Kriminologie fehlt. Eingangs habe ich gesagt, dass ich meinem sozialen Sinn in seinen historischen Bezügen nachspüren möchte, oder, mit anderen Worten: wenn Soziales durch Soziales zu erklären ist, so ist auch mein individueller sozialer Sinn durch einen gesellschaftlichen sozialen Sinn zu erklären. Der Soziologe Durkheim hat für dieses Zusammenspiel den Begriff »Kollektivbewusstsein« geprägt. Welches Kollektivbewusstsein erklärt, dass so viele junge Sozialarbeiter*innen mit skeptischem Blick und mit Goffman im Kopf durch die Knast- und Psychiatrieflure geeilt sind? Warum habe ich mich neben vielen anderen für seine Dramaturgie interessiert, warum faszinierte mich die »Illusion des Selbst«, das die Menschen in Goffmans Büchern nach Kräften in Szene setzen? Die Erklärung dafür habe ich erneut bei einem Soziologen gefunden.

Der neue Bourgeois (Alvin Gouldner)

Alvin Gouldner formuliert, dass Goffman in die veränderte Welt des neuen Bourgeois eingedrungen ist. Dieser neue Bourgeois glaubt nicht mehr daran, dass harte Arbeit und das daraus entstehende Produkt allein zum Erfolg führen. Sondern er glaubt, dass gutes Marketing entscheidend ist. Der neue Bourgeois ist kein Held der Arbeit und der Produktion mehr, wie der klassische Bourgeois des 19. Jahrhunderts, sondern vielmehr ein Held der Dramaturgie und der Illusion: »Dramaturgie bezeichnet den Übergang von einer älteren Wirtschaftsform, die um die Produktion zentriert war, zu einer neuen, der es um Reklame und Marketing, einschließlich des Marketing des Selbst geht [...]. In dieser Wirtschaft ist die reine ›Vorstellung‹ von besonderer Bedeutung« (Gouldner 1974, S. 455). Es geht weniger darum, was jemand tut, sondern welchen Stil er*sie sich gibt.

In diesem Übergang befand ich mich als Person: Ich kam aus der Welt der Arbeit, der Produktion, in der ich an meinem Produkt und an meiner Produktionsleistung gemessen wurde. Das war mir mit Beginn des Studiums der Sozialen Arbeit aus der Hand genommen. Nun waren mir Worte, Texte und Zeichen an die Hand gegeben. Ein Held der Produktion wollte ich nicht mehr werden. Aber vielleicht konnte ich durch den klugen Gebrauch von Worten, Texten und Zeichen ein Held der Illusion werden, so wie die vielen kleinen Illusionsheld*innen, mit denen Goffman seine Bücher bevölkerte. Ich stand, kurz gesagt, am Eingang der Dienstleistungsgesellschaft, und die erwartete von mir Stil, Inszenierung, Theater.

Wie also hat mir Goffman im Knast geholfen? Erstens half er mir für eine begrenzte Zeit, eine Distanz herzustellen, indem ich seine Theatermetapher (wir alle spielen Theater, egal wo wir sind, auch im Knast) durchaus ernst nahm. Ich konnte mir damit den ganzen Kram auf Armlänge einigermaßen vom Leib halten. Dadurch hat er es mir ermöglicht, beobachtend im Strom mitzuschwimmen. Zweitens hat er mir den Blick dafür erweitert, wie ungeheuer viel mit Worten und Zeichen auszurichten ist. Drittens hat er ein heilsames Unbehagen in mir ausgelöst, weil ich mehr wissen wollte über das »Warum« der Rollen, nicht nur über das »Wie«. Indem er mir das »Wie« des Verhaltens zeigte, öffnete er mir die Tür, hinter der sich nach meiner Vermutung das »Warum« der Verhältnisse verbarg. Es entstand eine erste Ahnung dessen, was ich im einführenden Teil dieses Kapitels mit der »Dualität von Struktur« angesprochen habe, eine Ahnung über die Wechselwirkung von Verhalten und Verhältnissen.

Er hat es mir daher nicht möglich gemacht, dauerhaft im Gefängnis zu bleiben. Im Gegenteil, er hat mich sogar ermutigt, den Knast wieder zu verlassen, weil ich dort nicht als beobachtender Soziologe, sondern als handelnder Sozialarbeiter angestellt war. Ich musste das Verhältnis von Beobachten und Handeln an einem anderen Ort neu austarieren.

1.3 Die zweite Begegnung: Warum ist Abweichung das, was wir als Abweichung bezeichnen? (Howard S. Becker)

Die nächste Begegnung mit einem Soziologen, die ich hier anführen möchte, beginnt etwa zehn Jahre später in meinem Arbeitszimmer, nun nicht mehr im Gefängnis. Ich sitze in diesem Zimmer als Bewährungshelfer. Bereits im Knast hatte ich begehrlich auf die Bewährungshelfer*innen gesehen. Anscheinend konnten sie ihre Arbeit ziemlich frei und unkontrolliert nachgehen. Dabei waren sie mit eigenem Büro und exklusiven, nur von ihnen selbst zu bearbeiteten Fällen ausgestattet. Außerdem standen sie nach meiner Wahrnehmung ziemlich unbeobachtet am Rand der Kriminaljustiz. Ein idealer Posten, um selbst zu beobachten, dachte ich. Ich wollte gerne dorthin wechseln, ich wollte wieder, wie damals auf der Baustelle, dabei sein und beobachten. Und auch das Klientel wollte ich gern behalten. Denn »Randgruppenarbeit«, wie es damals hieß, sollte es schon sein. Etwa um diese Zeit schrieb ich: »[D]‌ie Randgruppenarbeit als Beruf bietet mir einen Kompromiss für meinen Umgang mit meinen Ängsten und Wünschen an, denn sie ist genau auf der Grenzlinie zwischen Integration und sozialem Ausschluss angesiedelt.« Auf dieser Grenze wollte ich gehen. Ich fand es aufregend und politisch korrekt zugleich, zu diesem von besonderen Menschen bewohnten Grenzgebiet Zutritt haben zu dürfen. Und das noch als Lebenszeitbeamter. Es konnte überhaupt nicht besser sein: Partisan und doch Beamter. Beamteter Partisan. So war ich also weiter mit »Randgruppenarbeit« befasst, saß in meinem eigenen Büro, nur einmal im Jahr von einer Aktenprüfung sanft geplagt, und hatte ansonsten meine Arbeit nicht wirklich vor einer Kontrollinstanz zu verantworten, solange ich meine Berichte an die Gerichte pünktlich ablieferte.

Ich hatte mir eine umfangreiche Arbeitskartei angelegt, deren Stichworte zu drei Aktenordnern führten, in denen ich das benötigte administrative Wissen für die Arbeit abgelegt hatte: von A wie Arbeitsamt mit Leistungstabellen und Öffnungszeiten zu Z wie Zivilprozessordnung mit einschlägigen Vorschriften und Pfändungsfreibetragstabellen. Und ich hatte in der Zeit an mir eine »Selbsterkundung« durchgeführt, wie ich das nannte. 14 Monate hatte ich jeden meiner beruflichen Kontakte in einer Tabelle festgehalten. Daher wusste ich nun, dass ich jeden Monat durchschnittlich 120 Klient*innenkontakte hatte. Diese bestanden jedoch nur zu einem knappen Drittel aus persönlichen Kontakten, ansonsten aus Anrufen der Klient*innen, die auf diese Weise zumeist versuchten, mich aus ihrer Welt herauszuhalten. Und von meiner Seite trug ich zu dieser Zahl von 120 monatlichen Kontakten maßgeblich dadurch bei, dass ich jeden Monat etwa 30 Vordrucke versandte, mit denen ich erst ermutigte, dann dringend bat, dann leicht bedrohte, mich aufzusuchen. Es lag wohl doch etwas mehr Abstand zwischen uns, als ich erhofft hatte.

Ich hatte diese Selbsterkundung stillschweigend durchgeführt und mit keinem meiner Kolleg*innen darüber gesprochen, denn es war ausgesprochen unüblich, seine Arbeit offenzulegen. Ich suchte aber nach einem Ort, um besser zu verstehen, was hier eigentlich los war. Ich begann vorerst eine berufsbegleitende, dreisemestrige Weiterbildung an der Universität Hamburg.

Hier begegnete ich das erste Mal dem Satz des US-amerikanischen Soziologen Howard S. Becker: »Abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so bezeichnen« (1973, S. 8). Ich war bislang der Ansicht gewesen, dass abweichendes Verhalten aus »Sozialfaktoren« entstehe, und ich hielt die Berücksichtigung von Sozialfaktoren für eine progressive Alternative gegenüber biologischen und individualisierenden Erklärungen. Zu den »Sozialfaktoren« zählte ich schlechte wirtschaftliche Verhältnisse, mangelnde Schulbildung, die Zugehörigkeit zur arbeitenden Klasse, schädliche Kontakte zu Kriminellen, die Mitgliedschaft in bestimmten jugendlichen Gruppen, die Altersphase zwischen 16 und etwa 23 Jahren. Ich war nach wie vor der Meinung, die ich Jahre zuvor in meinem Abschlussbericht zu einem Methodenpraktikum formuliert hatte: »Die Mängel der Umwelt liegen meist sonnenklar auf der Hand, individuelles Versagen liegt m. E. am seltensten vor.«

Doch das abweichendes Verhalten deshalb abweichendes Verhalten ist, weil Menschen es so bezeichnen, war mir neu. Kann auf der Welt etwas durch bloße Bezeichnung geschehen? Ganz offensichtlich vertrat Becker diese Ansicht.

Abweichendes Verhalten als ›Bezeichnung‹

Ich lernte bei näherem Hinsehen sein Argument kennen, wonach abweichendes Verhalten von der Gesellschaft als Begriff geschaffen und dieser Begriff auf bestimmte Personen angewendet wird (ebd., S. 8). Ich lernte, dass er etwa folgendes meinte: Die jeweils mächtigen gesellschaftlichen Gruppen schaffen abweichendes Verhalten durch die Aufstellung von Regeln. Mit diesen Regeln bevorzugen sie sich selbst und benachteiligen andere Gruppen. Heinrich Hannover, Kinderbuchautor und Jurist, hat diesen Vorgang gereimt: »Schon jeher hat, wer an der Macht, sich neue Strafen ausgedacht. Vermieden aber wurden Strafen, die die Erfinder selbst betrafen« (Hannover 1993, S. 79).

Erst die Verletzung der geschaffenen Regeln schafft das abweichende Verhalten. Abweichendes Verhalten ist dann keine Qualität der Handlung, sondern eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere. Wörtlich schreibt Becker:

»Wenn eine Regel durchgesetzt ist, kann ein Mensch, der in dem Verdacht steht, sie verletzt zu haben, als besondere Art Mensch angesehen werden, als eine Person, die keine Gewähr dafür bietet, dass sie nach den Regeln lebt, auf die sich die Gruppe geeinigt hat. Sie wird als Außenseiter angesehen« (Becker 1973, S. 1).

Und das bringt er auf den bereits zitierten knappen Satz: »Abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so bezeichnen.« Kriminalität ist daher nicht eine Eigenschaft von Personen, sondern das Ergebnis einer interessierten Bezeichnung oder einer »Zuschreibung« oder einer »Etikettierung«, wie es auch heißt.

Was mit Zuschreibung gemeint ist, will ich mit einer kleinen Geschichte über Picasso illustrieren, die ich Heinz von Foerster abgelauscht habe. Ein Bildliebhaber besuchte Picasso. Dieser Mann brachte seine Kritik an Picassos Malstil zum Ausdruck: »Warum malen Sie so abstrakt? Warum malen Sie nicht richtige Sachen, warum bilden Sie nicht die Realität ab?« – »Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen«, antwortete Picasso. Also holte der Besucher seine Brieftasche heraus und zeigte Picasso ein Bild: »Das ist meine Frau. Das ist ein reales und objektives Bild von ihr. Warum können Sie nicht so malen?« – Picasso zögerte. Schließlich bemerkte er: »Sie ist ein wenig klein, oder? Und sie erscheint mir auch reichlich flach.«