Tödlicher Caffè - Enrico Palumbo - E-Book
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Tödlicher Caffè E-Book

Enrico Palumbo

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Beschreibung

Frühlingserwachen in Ligurien. Caponnettos Freude über seinen Beitrag zur Überführung eines Mörders an der Seite von Commissario Bonfatti währt nur kurz. Während er sich wieder der Osteria Il Golfo und ihrer attraktiven Pächterin Giulia widmen möchte, holt ihn seine Vergangenheit ein. Ein Gefängnisausbruch in München alarmiert nicht nur das bayerische LKA, sondern auch die italienische Polizei. Caponnetto muss zwischen Zuppa und Dolce erkennen, dass seine Zeit als Carabiniere zwar offiziell vorbei ist, aber noch lange nicht abgeschlossen.

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Das Buch

Frühlingserwachen in Ligurien. Caponnettos Freude über seinen Beitrag zur Überführung eines Mörders an der Seite von Commissario Bonfatti währt nur kurz. Während er sich wieder der Osteria Il Golfo und ihrer attraktiven Pächterin Giulia widmen möchte, holt ihn seine Vergangenheit ein.

Ein Gefängnisausbruch in München alarmiert nicht nur das bayerische LKA, sondern auch die italienische Polizei. Caponnetto muss zwischen Zuppa und Dolce erkennen, dass seine Zeit als Carabiniere zwar offiziell vorbei ist, aber noch lange nicht abgeschlossen.

Der Autor

Enrico Palumbo, 1972 in Karlsruhe geboren, hat in München und Venedig studiert. Bevor er in die Wirtschaft wechselte, war er als Journalist für deutsche und italienische Nachrichtenagenturen und Medien tätig. Nach beruflichen Stationen u. a. in Prag, Mailand und Zürich lebt er seit 2019 wieder in Karlsruhe. »Tödlicher Caffè« ist der zweite Band seiner Krimireihe um den pensionierten Carabiniere Giuseppe Caponnetto.

Die Geschichte und Charaktere in diesem Roman sind rein fiktiv und haben keinerlei Entsprechung in der Realität.

Chi nasce tondo non può morire quadrato.

Wer rund geboren ist, kann nicht eckig sterben.

Italienisches Sprichwort

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Epilog

I

Caponnetto war früh dran, er hörte Vögel zwitschern. Die Luft roch nach Frühling.

Wer nicht am Meer lebt und dort nur gelegentlich ein paar Tage verbringt, bemerkt es oft nicht, aber im Frühling riecht das Meer anders: frisch, belebend und weniger salzig als im Winter. Mitunter duftet es sogar leicht erdig, mit einer süßlichen Note, die an Blumen erinnert. Das liegt an den Algen, die sich bei steigenden Temperaturen vermehren, und an den Frühlingswinden, die ihre verschiedenen Gerüche vom Meer an die Küste tragen.

Frühling ist Caponnettos Zeit. Schon immer fühlte er sich in dieser Jahreszeit besonders inspiriert, voller Energie und Tatendrang.

Vor drei Wochen war er zum ersten Mal frühmorgens auf sein neues Sportrad gestiegen. Seither verließ er täglich gegen acht Uhr sein Apartment am Hafen von Savona. Diese Morgenroutine tat ihm gut.

Heute jedoch begann er seine Tour früher als gewöhnlich. Nur deswegen hatten ihn die Männer im schwarzen SUV verpasst. Sie würden auf ihn warten – das war ihr Auftrag.

Nach seinem Unfall auf der Via Aurelia vor acht Monaten hatte Caponnetto verschiedene Phasen durchlaufen: Im Krankenhaus verdrängte er zunächst, welche Einschränkungen die Verletzungen für seinen Dienst bei den Carabinieri bedeuten würden. Mit der Knieprothese kam die Gewissheit, dass wenig wieder so sein würde wie zuvor. Und mit dieser Einsicht kam der Zorn: ›Warum gerade ich? Warum gerade jetzt?‹

Damals glaubte er noch, er sei einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Er wollte daran glauben, dass die Kollision auf der Küstenstraße zwischen Finale Ligure und Noli ein tragischer Unfall mit Fahrerflucht gewesen war.

Während der Reha dachte Caponnetto darüber nach, wie er trotz seiner eingeschränkten Diensttauglichkeit die Ermittlungen gegen die Agromafia fortsetzen könnte. Er war zu dem Schluss gekommen, dass er keine halben Sachen machen wollte, und entschied sich, lieber ganz aufzuhören. Als dann unerwartet seine Zia Antonella starb, überdeckte die Trauer um seine Tante seine eigene Trauer um sein altes Leben.

Noch am Tag seiner Verabschiedung in den Ruhestand war Caponnetto durch seinen Freund Commissario Bonfatti in einen neuen Fall verwickelt worden. Gemeinsam hatten sie den Mord an einem alten Mann aufgeklärt. Sie hatten zwar nicht erwartet, mit Lob überhäuft zu werden, aber auch nicht, dass sie mit Polemik überzogen würden.

Caponnetto wollte sich nicht noch einmal in eine solche Situation bringen lassen. Schon gar nicht jetzt im Frühling. Er hatte Ideen, er hatte Pläne. Sein Leben war nahezu perfekt – wäre da nicht die Sache mit Stefania gewesen. Aber irgendetwas war ja immer!

*

Commissario Bonfatti saß in Savona hinter seinem Schreibtisch im dritten Stock der Questura und blätterte entspannt durch den Lokalteil der La Stampa. Aktuell gab es in seiner Zuständigkeit keinen Fall von öffentlichem Interesse. Daher konnte er hoffen, dass ihm heute nicht wieder sein eigenes Gesicht aus der Zeitung entgegenspringen würde. Auf den Fotos fand er sich meist unvorteilhaft dargestellt – von den Begleittexten ganz zu schweigen.

Nach dem »Fall Serra« hatten die lokalen Blätter die Geschichte mehrere Tage lang genüsslich ausgeschlachtet: Auf die Titelseite »Ex-Carabiniere rettet gescheiterte Ermittlung der Polizei« folgte ein Artikel mit der Überschrift »Polizei löst Mordfall – den Carabinieri sei Dank!«. Am dritten Tag druckten sie schließlich die Frage »Wer ist besser, die Polizei oder die Carabinieri?«. Fakten suchte man im Text vergeblich, unter der Schlagzeile fanden sich lediglich Zitate einer Straßenumfrage.

Als ob es nicht genug Polemik über die Zusammenarbeit zwischen der Polizia di Stato und den Carabinieri gäbe.

Heute dominierte den Lokalteil ein Bericht über die archäologischen Arbeiten in Albisola. Die Provinzverwaltung hatte aus einem EU-Fond Gelder eingeworben, um die Ausgrabungen an einem Landhaus aus der Römerzeit wiederaufzunehmen.

Die Villa war eines der archäologischen Überreste aus der Zeit von Alba Docilia. Diese antike Stadt befand sich an der Stelle des heutigen Zentrums von Albisola Superiore und war ein wichtiger Knotenpunkt einer Straße, die Rom mit der ligurischen Küste und später mit Südgallien verband. Diese strategische Lage machte Alba Docilia zu einem bedeutenden Zentrum für Handel und Verkehr. In jener Zeit wurde auch der Grundstein für die Tradition der Keramik- und Töpferkunst in der Region gelegt. Bis heute ist Albisola ein bedeutendes Zentrum der Keramikkunst in Italien.

Von den Ausgrabungen versprachen sich die Stadtverwaltung und die Gewerbetreibenden in Albisola zusätzlichen Tourismus aus den anderen Provinzen Liguriens und dem Piemont. Schon seit Wochen wurde mit Anzeigen geworben, und sowohl lokale als auch überregionale Medien berichteten über die Vorbereitungen für die Ausgrabungen.

Irgendwie hatte man es sogar geschafft, ein Fernsehteam der staatlichen Rundfunkgesellschaft Italiens, kurz RAI, an den kleinen Küstenort zu locken, das dann im dritten Programm darüber berichtete, noch bevor der heutige Tag als Termin für den Spatenstich feststand.

Böse Zungen behaupteten, die Nichte eines der Gemeinderatsmitglieder von Albisola habe eine Freundin, deren Schwager in Rom mit einem Mann Padle spiele, dessen Bruder als Pförtner bei der RAI tätig war und daher einen Redakteur kenne, der im dritten italienischen Fernsehprogramm für TG3, die Regionalnachrichten, arbeitete. Dieser habe dann in einer Konferenz mit den Regionalstudios verkündet, er würde gerne mehr schöne Beiträge über die antiken Wurzeln Italiens senden. So habe man es geschafft, das Thema auf die Agenda der Regionalredaktion von TG3 in Genua zu setzen.

›Sollen sie ruhig mehr über Kultur berichten, statt immer nur über Mord und Totschlag‹, dachte Bonfatti. Sein Mobiltelefon klingelte. Der Commissario schaute auf das Display und nahm den Anruf an.

„Buon giorno, Dottore Hering“, Bonfatti war froh, dass der Polizeihauptkommissar des LKA Bayern so gut Italienisch sprach, denn sein Englisch war mehr als eingerostet.

„Ich grüße Sie, mein Lieber. Wie geht es unserem Freund?“

„Ganz ehrlich?“

„Ja, bitte.“

„Er hat sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen.“

„Und das heißt?“

„Er hat mich genauso abblitzen lassen wie Sie. Ich habe mehrmals versucht, mit ihm zu reden, seit Sie mich angerufen haben, aber er bleibt stur. Caponnetto meint, die Sache interessiere ihn nicht, er wolle nach vorne schauen, bla bla bla.“

„Und was denken Sie?“

„Ich weiß nicht, warum er sich so verhält. Mir sind zwar die Hände gebunden, aber ich habe im Rahmen meiner Möglichkeiten natürlich trotzdem etwas unternommen.“

„Da bin ich aber gespannt“, sagte Hering, lehnte sich in den Stuhl zurück und schaute aus seinem Münchner Bürofenster auf die Marsstraße.

„Also, wie gesagt: Mir sind leider die Hände gebunden. Die Berichterstattung über unsere Ermittlung in dem Mordfall …“, Bonfatti zögerte.

„Ja, ich habe das mitbekommen“, sagte Hering trocken.

„Caponnetto hat mir eine Ausgabe der Zeitung geschickt …“

„Die mit dem Foto, auf dem ich so dämlich aussehe?“, fragte der Commissario.

Hering räusperte sich.

„Ja, ich glaube, da war auch ein Foto von Ihnen in der Zeitung.“

„Und das hängt jetzt in Ihrem Büro in München an der Wand neben dem des Ministerpräsidenten?“, fragte Bonfatti lachend.

„Nein, mein Lieber, ich habe die Zeitung weitergegeben. Die Botschaft, die mir Caponnetto damit senden wollte, habe ich verstanden“, antwortete Hering.

„Sie meinen, dass er mehr Aufmerksamkeit hat, als ihm lieb ist, und er seine Ruhe haben will?“, fragte Bonfatti nach.

„Ja“, entgegnete Hering knapp.

„Ich habe die Zeitung übrigens an Simone Noce weitergegeben.“

Simone Noce, genannt U Muto, der Stumme, war in Abwesenheit mehrfach verurteilt und über zehn Jahre flüchtig gewesen. Bei länderübergreifenden Ermittlungen war U Muto vor einigen Wochen den Fahndern des LKA Bayern unerwartet ins Netz gegangen, als ihn eine Beamtin bei einer Abhöraktion an seiner Stimme erkannt hatte.

Noce war mit Anfang 30 an der Schilddrüse operiert worden. Dabei hatte der Chirurg wohl versehentlich einen der Muskeln verletzt, die den Kehlkopf steuern. Seither war Noces Stimmfunktion beeinträchtigt, und er sprach nur noch selten. Stattdessen verständigte er sich mit Gesten oder schrieb kleine Zettelchen. Wenn er doch einmal etwas sagte, klang seine Stimme wie ein Flüstern, manchmal wie ein Krächzen.

Der Chirurg, der Noce operiert hatte, war wenige Wochen nach der Operation verschwunden. Einige Tage später fand man den Arzt stranguliert im Kofferraum seines Autos – mit herausgeschnittener Zunge.

Noces körperliche Einschränkung hatte seinem Aufstieg in der kriminellen Organisation nicht geschadet, im Gegenteil. U Muto war zur Verkörperung eines bei Mafiosi beliebten Sprichwortes geworden: »Wer weiß, schweigt. Wer spricht, weiß nicht«

„Vor zwei Tagen habe ich Noce nochmal vernommen. Da habe ich ihm die Zeitung mitgebracht“, sagte Hering.

Bonfatti blinzelte.

„Und?“, fragte er, obwohl er die Antwort erahnte.

„Na, was denken Sie? Er hat seinem Spitznamen alle Ehre gemacht“, entgegnete Hering.

„Chi sa, non parla; chi parla, non sa.", sagte der Commissario und zitierte das besagte Sprichwort.

„Ja genau“, bestätigte Hering und erzählte Bonfatti, wie er am Ende der Vernehmung Noce das Telefonat vorgespielt hatte, in dem das Attentat auf Caponnetto erwähnt wurde: „Der Capitano hat unsere Botschaft bekommen. Er wird uns keinen Ärger mehr machen, und wenn doch, wissen wir ja, wo wir ihn finden.“

Die Sätze waren laut und deutlich zu hören gewesen. Gesprochen hatte nicht Noce, sondern ein Mann, dessen Identität die Polizei noch nicht kannte.

Hering hatte Noce gefragt, wer dieser mutmaßlich Auftraggeber des Attentats auf Caponnetto sei. Aber U Muto hatte nur leicht das Kinn angehoben und seine Zunge sanft gegen den Gaumen geschnalzt, was einen scharfen abweisenden Ton erzeugte.

„Na schön, Signor Noce. Ich verstehe“, hatte Hering erwidert und aus seiner Tasche die Ausgabe der La Stampa hervorgeholt.

„Die Zeitung können Sie trotzdem behalten. Ein kleiner Gruß aus Ihrer Heimat. Die werden Sie so schnell nicht wiedersehen.“

Das war vor zwei Tagen gewesen. Jetzt, während Hering und Bonfatti über ihn sprachen, plante Simone Noce seine Flucht. U Muto wollte – nein, musste – nach Italien reisen und sich um eine Angelegenheit kümmern, die keinen Aufschub duldete.

*

Der Jüngere der beiden Männer im schwarzen SUV trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad.

„Wir sollten anrufen und Bescheid geben.“

„Entspann Dich“, entgegnete der Mann auf dem Beifahrersitz, „er hat sich vermutlich heute nur verspätet. Du wirst sehen, gleich kommt er raus.“

„Und wenn nicht?“

„Dann können wir in zehn Minuten immer noch anrufen.“

Kaum hatte er den Satz beendet, klingelte sein Mobiltelefon. Die beiden Männer schauten sich an, ihre Blicke kreisten in der Fahrerkabine des SUVs umher, als ob sie erwarteten, ein Mikrofon zu entdecken.

„Sagt bloß nicht, ihr habt ihn verloren?!“, bellte es aus der Freisprechanlage. Die beiden richteten sich in ihren Sitzen auf. Wieder ließen sie ihre Köpfe kreisen. Sie schwiegen betreten.

„Keine Antwort ist auch eine Antwort. Habe ich es mir doch gedacht! Ihr fahrt jetzt sofort nach Pietra Ligure. Wenn er dort bis heute Mittag nicht auftaucht, bezieht Ihr wieder Posten in Savona. Und Ihr ruft mich an, sobald Ihr wieder Sichtkontakt habt. Verstanden?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, legte der Mann auf.

„Fahr schon los“, sagte der Beifahrer, „und halt bloß Deine Klappe.“

Der Fahrer drückte den Startknopf und lenkte den SUV Richtung Autostrada dei Fiori.

II

An den meisten Tagen fuhr Caponnetto morgens mit seinem Rad von Savona aus nach Osten. Der aufgehenden Sonne entgegen radelte er hoch über den Hügelkamm, vorbei am Krankenhaus San Paolo und zurück zur Küstenstraße in Richtung Albisola. Dort war die Piazza Matteotti sein Wendepunkt.

An der Pilar Bar trank er einen Cappuccino, aß eine Brioche und blätterte in den Zeitungen. Anschließend nahm er den kürzeren Weg entlang der Via Aurelia zurück nach Savona.

Zu seiner Zeit im aktiven Dienst hätte er sich solche Routinen nie erlaubt – Routinen machen Menschen berechenbar. Und wer berechenbar war, bot ein leichtes Ziel.

Heute war er früher aufgestanden, da er eine längere Tour in Richtung Westen geplant hatte. Sein Ziel war Pietra Ligure – dort wollte er nach dem Rechten sehen in dem Haus, das einst seiner Tante gehört hatte und nun teilweise von ihm bewohnt, teils umgebaut wurde.

Zum Mittag würde er in die Osteria Il Golfo gehen, die ebenfalls zum Nachlass seiner verstorbenen Tante gehörte. Bei dem Gedanken, die Pächterin der Osteria wiederzusehen, wurde ihm etwas mulmig, aber Giulia aus dem Weg zu gehen war auf Dauer keine Lösung.

Die Begegnung mit der attraktiven Frau war für Caponnetto vor allem unangenehm, weil sie ihn daran erinnerte, was für ein Hornochse er gewesen war. Gerade als er und Giulia sich nähergekommen waren, hatte er sich von Stefania überrumpeln lassen.

Seine Ex-Freundin war mehr oder weniger überraschend vor seiner Tür gestanden. Hätte er doch an jenem Abend nur auf seine Intuition gehört und Stefania das Gästebett hergerichtet! Aber es war anders gekommen, und seitdem hatte er Giulia gegenüber ein schlechtes Gewissen – eigentlich ohne Grund, denn zwischen ihm und Giulia war ja noch nichts gewesen. Sie hatten sich öfter in der Osteria gesehen, die sie und ihn als Pächterin und Verpächter verband. Mit jeder Begegnung war Giulia etwas freundlicher zu ihm gewesen. Er hatte sich bemüht, sie besser kennenzulernen und sein Interesse an Giulia nicht verborgen gehalten. Doch dann war Stefania aus Mailand gekommen und hatte alles auf den Kopf gestellt. Er hatte geglaubt, dass die Nacht auch ein Neuanfang mit ihr sein könnte. Jedoch überraschte ihn Stefania schon am Morgen, noch vor dem Frühstück, mit der Nachricht, dass sie zur EPPO nach Luxemburg wechseln würde.

Caponnetto erinnerte sich, dass Stefania schon früher öfter über die Europäische Staatsanwaltschaft gesprochen hatte, die bei grenzüberschreitenden, schweren Fiskaldelikten ermittelte, insbesondere bei Mehrwertsteuer- und Subventionsbetrug zu Lasten der EU. Dass Stefania jetzt nach Luxemburg wechseln wollte, hatte ihn jedoch überrascht und war zugleich ein klares Signal für Caponnetto, dass sie sich nicht binden wollte – zumindest nicht an ihn.

Zu allem Überfluss waren sie im Streit auseinandergegangen. Wieder einmal lag es an einem Missverständnis zwischen ihnen. Caponnetto hatte das Gesicht verzogen, als ihm Stefania eröffnete, dass sie nach Luxemburg wechseln würde – aus Enttäuschung und ein wenig auch aus Ärger über sich selbst.

Stefania hatte seine Reaktion anders interpretiert. Sie glaubte, er missbilligte ihr Engagement bei der EPPO, weil sie sich nun auch mit der Agromafia beschäftigte und sie ihn mit ihren Erfolgen übertrumpfen könnte.

Anders als landläufig angenommen waren das Pantschen von Olivenöl und andere Formen von Etikettenschwindel tatsächlich nur ein Deliktsbereich der Agromafia. Viel größere Gewinne wurden durch Subventionsbetrug und Schmuggel von Lebensmitteln erzielt. Stefania würde sich also bei der EPPO ebenfalls mit der Agromafia beschäftigen, doch nichts lag Caponnetto ferner als solche Rivalitäten und Vergleiche. Zumal er ganz offiziell im Ruhestand war. Dass Stefania dies noch immer nicht erkannt hatte, ihn noch immer nicht verstand, ärgerte Caponnetto mehr als ihr Vorwurf, er gönne ihr den Erfolg nicht. So waren sie auseinandergegangen, noch bevor Caponnetto ihr von der Textnachricht erzählen konnte, die ihn am Vorabend erreicht hatte.

»Müssen reden. Es geht um Deinen Unfall«, hatte der Text gelautet. Caponnetto hatte zunächst nicht reagiert. Später, nach dem Streit und als Stefania gegangen war, hatte er sich leer und einsam gefühlt.

In dieser Stimmung hatte Caponnetto an jenem Morgen zum cellulare gegriffen und Kriminalhauptkommissar Manfred Hering eine Antwort auf dessen Textnachricht geschrieben, die viel abweisender klang, als sie gemeint war.

*

Die Frau mit den roten Haaren rollte die Matte zusammen und zog das Gummiband fest. Sie schaute auf ihre Smartwatch und überlegte, wie viel Zeit ihr noch blieb. ›Haare waschen, dann erst morgen‹, dachte sie und zog auf dem Weg ins Bad ihr Top aus.

Vor dem Spiegel betrachtete sie zufrieden ihre Bauchmuskeln und strich dann sanft mit dem linken Zeigefinger über die leicht verhärtete Stelle unterhalb des Schlüsselbeins. Sie setzte den Daumen darauf und schob ihn mit leichtem Druck kreisend von innen nach außen. Schließlich drehte sie sich zur Seite und betrachtete zunächst ihren Bizeps, dann ihr Schulterblatt. Dort, wo die Kugel eingedrungen war, sah die Narbe deutlich besser aus als an der Austrittsstelle am Rücken. Dort war die Wunde größer gewesen und es war schwieriger, die Narbe zu pflegen.

Zwei Kugeln hatte ihre Schutzweste aufgefangen: Eine auf Höhe des Bauchnabels und eine etwas oberhalb vom Brustbeinansatz. Die dritte Kugel hatte sie am äußeren Rand der Überziehweste neben dem Klettverschluss erwischt – zum Glück ein glatter Durchschuss.

Sie zog die Leggings und ihren Slip aus und stellte sich unter die Dusche. In einer Stunde wurde sie erwartet. Dann würde sie einen neuen Auftrag bekommen – endlich!

*

„Avanti“, rief Commissario Bonfatti, und Francesca Nobile trat in sein Dienstzimmer.

„Buon giorno, Ispettore! Wie war die Fortbildung in Bologna?“

„Buon di, Commissario! Es war sehr interessant. Wir haben einen ganzen Tag lang nur über Mozzarella gesprochen – wie die Agromafia durch illegale Wachstumshormone die Milchproduktion der Büffelkühe steigert, Kuhmilch oder Milchpulver dazu mischt, um die Kosten zu senken, und mit Kalk den Gerinnungsprozess beschleunigt.“

„Das klingt ziemlich ekelhaft“, bemerkte ihr Kollege Gianni Sestri, der inzwischen hinter sie getreten war und das Gesicht verzog.

„Sagen Sie bloß nicht, dass Nobile Ihnen den Appetit verdorben hat, Sestri!“, rief Bonfatti belustigt. Nobile trat zur Seite, sodass Bonfatti und Sestri sich direkt ansehen konnten.

„Äh, nein Signor Commissario. Wenn Sie mich schon fragen: Ich würde jetzt meine Pause machen.“

„Sind Sie deswegen zu mir gekommen?“, fragte Bonfatti, der bemerkt hatte, dass Sestri einen Zettel in der Hand hielt. Dabei deutete er mit dem Zeigefinger der rechten Hand zweimal in Richtung der linken Hand von Sestri, drehte dann die Hand und winkte Sestri dann mit dem Zeigefinger zu sich. Sestri schaute erst zu Nobile, dann wieder zum Commissario und trat zwei Schritte nach vorne.

„Ich würde wirklich gerne eine kurze Pause machen und etwas essen …“

„Der Zettel, Sestri. Was steht auf dem Zettel?“, fragte Bonfatti ungeduldig.

„Bei der Ausgrabung in Albisola“, druckste Sestri, „da wurde eine Leiche gefunden, aber eine ganz alte. Ist also nicht so eilig!“

„Wie alt?“, fragte Nobile.

„Na so zwischen 20 und 25 Jahren.“

„Aber was reden sie da, Agente? 25 Jahre sind doch nicht alt“, sagte Bonfatti ungehalten.

„Ich glaube, er meint, die Leiche ist schon 20 Jahre oder mehr tot, richtig?“, warf Nobile ein.

Sestri nickte heftig mit dem Kopf.

„Ja, genau. Die von der Ausgrabung haben gemeint, der Tote würde da schon über 20 Jahre liegen.“

„Aha, und deswegen meinen Sie, wir könnten erst noch einen Caffè trinken und eine Focaccia essen, bevor wir losfahren?“, fragte Bonfatti.

„Ja genau“, sagte Sestri erleichtert.

Der junge Polizist strahlte über das ganze Gesicht, bis er den bohrenden Blick von Nobile bemerkte. Seine Kollegin schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Also ich hole dann Mal den Wagen, Signor Commissario“, sagte Sestri kleinlaut.

Bonfatti drehte seinen Kopf zu Nobile.

„Und Sie kommen mit!“

*

In Pietra Ligure fuhr der schwarze SUV auf der Viale Europa in Richtung Via S. Francesco. Die beiden Männer wussten, dass sie nicht direkt vor Caponnettos Haus parken konnten. Dort würden sie sofort auffallen. Sie suchten daher nach einer Seitenstraße oder einem Gebäude, dass ihnen ein gutes Versteck bot, und zugleich erlaubte Caponnetto zu sehen, wenn er sich seinem Haus näherte.

„Also ich sage Dir, wir verplempern hier nur unsere Zeit”, grummelte der ältere der beiden Männer.

„Warum soll Caponnetto ausgerechnet heute nach Pietra Ligure fahren, wenn er sonst immer in die andere Richtung fährt?”

Der Mann am Steuer betrachtete seine Fingernägel und schüttelte den Kopf.

„Pasquale, Du denkst zu viel. Und Du redest zu viel. Wir sollen in Pietra warten, also warten wir in Pietra. Basta!”

„Trotzdem würde ich gerne wissen, warum der Alte so sicher ist, dass wir heute hier warten sollten und nicht anderswo.”

„Er hat seine Quellen. Mehr müssen wir nicht wissen. Du nicht, und auch ich nicht. Hai capito?”

„Ja, natürlich habe ich verstanden”, knurrte Pasquale, „keine Fragen stellen, nur Befehle ausführen.”

*

Caponnetto war der SUV vor einigen Tagen zum ersten Mal in Savona aufgefallen. Das Modell an sich war nicht ungewöhnlich; man sah häufiger Fahrzeuge dieses Typs auf den Straßen, aber die abgedunkelten Scheiben hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Dann glaubte er, den Wagen auf dem Parkplatz der alten Bahnstation in Albisola wiedererkannt zu haben, und hatte sich das Kennzeichen gemerkt. Beim nächsten Mal wollte er prüfen, ob es der gleiche Wagen war – falls es ein nächstes Mal gäbe.

Während all der Jahre im Dienst der Carabinieri war es für ihn zur Gewohnheit geworden, seine Umgebung zu beobachten, auf Unregelmäßigkeiten und Abweichungen zu achten. Und auf das, was nicht in die Szenerie passte, etwa ein Motorradfahrer, der in Palermo einen Helm trug. Was andernorts eine normale Sicherheitsmaßnahme war, konnte in den Straßen von Palermo oder Neapel Gefahr bedeuten, wenn sich hinter dem Helm ein Killer versteckte. Eben weil dort kaum jemand ohne Helm fuhr, konnte ein plötzlich auftauchender Fahrer mit Helm gefährlich sein.

Auch ein Fahrzeug, dem man in wenigen Tagen mehrmals begegnete, konnte Gefahr bedeuten. Es war so gesehen ein glücklicher Zufall für Caponnetto, dass ihm ein Fiat 500 an der Kreuzung Via Soccorso und Via S. Francesco die Vorfahrt nahm.

Um die Kollision zu vermeiden, bog Caponnetto mit seinem Sportrad rechts in die Via Soccorso ein, statt geradeaus weiterzufahren. Er wollte zweimal links abbiegen und etwas oberhalb vom Spielplatz wieder auf die Via S. Francesco stoßen.

Als er jedoch in die Via Alberti einbog, sah er am Ende der Straße einen schwarzen SUV. Caponnetto drehte sofort um.

*

Die Absperrung, die errichtet worden war, um allzu neugierige Besucher der Ausgrabungen auf Distanz zu halten, bildete nun eine natürliche Barriere für die Tatortsicherung. Das erleichterte die Arbeit der Ordnungskräfte, die nach der Meldung der Archäologen als Erste vor Ort gewesen waren.

Als sie Bonfatti erkannten, hoben die Männer das Metallgitter zur Seite, um den Commissario in den inneren Bereich der Absperrung vorzulassen.

Unter einem weißen Zelt lag ein größtenteils freigelegtes Skelett. Daneben kniete Cristina Donati und machte Fotos.

„Signor Commissario“, sagte sie zur Begrüßung und zwinkerte Bonfatti an. Der lächelte zurück und erwiderte: „Und, Frau Pathologin, was haben Sie heute für mich?“

„Männlich, wie alt er zum Todeszeitpunkt war, kann ich noch nicht genau sagen. Vielleicht Ende 20, vielleicht auch Anfang 30. Ansonsten stimme ich den Archäologen zu. Die Leiche liegt hier vermutlich schon 20 oder 25 Jahre. Ich bin gleich mit der Dokumentation fertig, dann können wir einladen. Den abschließenden Bericht kriegst Du in den nächsten Tagen, erste Ergebnisse vielleicht schon bis heute Abend.“

„Oh, ein Grund mehr, mich auf heute Abend zu freuen“, antwortete Bonfatti.