Tödliches Erbe auf Usedom - Elke Pupke - E-Book

Tödliches Erbe auf Usedom E-Book

Elke Pupke

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Beschreibung

Im idyllischen Seebad Koserow ist ein Mord geschehen. Das Opfer wird von wenigen betrauert, da es sich durch sein egoistisches Verhalten viele Feinde gemacht hat. Tante Berta, die erfolgreiche Hobbydetektivin aus Bansin, interessiert sich zunächst nicht besonders dafür, denn das Verbrechen ist nicht in ihrem Heimatort geschehen. Auch als sie von einigen der zahlreichen Verdächtigen gebeten wird, den Mord aufzuklären, zögert sie. Ihr fehlt die Grundlage ihrer bisherigen erfolgreichen Ermittlungen, das Insiderwissen. Und dann geschieht ein zweiter Mord. Tante Berta glaubt weder an einen Zufall, noch an einen Serienmord. Als sich überraschend ein Motiv erkennen lässt, kommt sie dem Mörder auf die Spur und kann auch diesen Fall noch vor der Polizei aufklären.

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Seitenzahl: 361

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Tödliches Erbe auf Usedom

Elke Pupke

TÖDLICHES ERBE AUFUSEDOM

Prolog

Hugo ist sehr verwirrt. Und ein bisschen ängstlich. Er ist noch nie allein durch den Ort gelaufen. Obwohl er sich hier auskennt. Sogar im Wald. Mama geht ja eigentlich immer den gleichen Weg mit ihm entlang. An dem Imbissstand vorbei, wo es im Sommer so schön nach Bratwurst riecht. Aber der ist jetzt schon geschlossen. Dann um die Ecke, noch ein Stück bergauf, dicht an der Steilküste entlang. Dort bleiben sie immer stehen und Mama blickt aufs Meer. Das interessiert ihn nicht, er läuft lieber ein Stück in den Wald, er mag das weiche Moos zwischen den hohen Bäumen. Manchmal raschelt es im Gebüsch, dann läuft er schnell zurück, er ist nicht sehr mutig. Aber Mama passt schon auf, sie ruft ihn immer gleich, wenn sie ihn nicht mehr sieht. Einmal ist er einem Hasen nachgelaufen, der war natürlich viel zu schnell für ihn, und plötzlich stand er ganz allein mitten im Wald. Zum Glück hat er Mama nach ein paar Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen, wiedergefunden. Sie hat mit ihm geschimpft, aber er war trotzdem unendlich erleichtert.

Seitdem traut er sich nicht mehr, allein durch den Wald zu gehen. Da gibt es wahrscheinlich gefährliche Tiere und man kann sich verlaufen und findet nie wieder nach Hause. Also geht er jetzt auf der Straße entlang. Schön an der Seite, wie er es gelernt hat, auch wenn hier nicht viele Autos fahren. Da vorn, in dem Haus mit dem schönen großen Garten, wohnt sein Freund Max. Doch der ist heute nicht draußen, es regnet nämlich schon wieder.

So, jetzt um die Ecke, dann ist er gleich zu Hause. Hier muss er die Straße überqueren, das darf er sonst nicht allein, aber was soll er machen?

Das Tor steht offen, er geht die kurze Treppe hinauf zur Haustür. Und nun? Er hat Hunger und Durst, ihm ist kalt, er möchte endlich ins Trockene. Aber es ist niemand da, der ihm die Tür aufmacht.

Lange steht er unter dem Vordach, zittert vor Kälte und weiß nicht, was er machen soll. Als es endlich aufhört zu regnen, geht er die Treppe wieder hinab und trottet langsam auf dem gleichen Weg zurück, den er vorhin gekommen ist. Zurück zu Mama.

Sie muss ihn doch nun endlich nach Hause bringen. Es wird schon wieder so dunkel, gleich regnet es wieder. Er hasst den Regen. Und er friert jetzt schon so furchtbar.

Was ist denn heute los? Er ist ja einiges von ihr gewöhnt. Aber dass sie einfach auf dem kalten und nassen Waldboden liegen bleibt, sich überhaupt nicht bewegt, kein Wort sagt und nur mit weit aufgerissenen Augen in die Luft starrt, geht dann doch zu weit.

Sonntag, 17. September

»Also meinetwegen könnte der Sommer jetzt zu Ende sein«, stöhnt Anne und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Das ist doch nicht normal. Den ganzen August hindurch hatten wir Herbstwetter und nun wieder diese Hitze. Ich brauche das nicht mehr.«

»Setz dich endlich hin und hör auf zu meckern.« Tante Berta blickt noch einmal auf den reich gedeckten Frühstückstisch, nickt zufrieden und reicht ihrer Nichte Sophie den Brötchenkorb.

Die drei Frauen sitzen am Stammtisch der Pension Kehrwieder.

Das gemeinsame Sonntagsfrühstück ist ein Ritual, auf das sie großen Wert legen. Es klappt nicht immer, oft muss Anne, die als Gästeführerin auf Usedom tätig ist, arbeiten, umso mehr genießen sie es.

Auf dem weiß gedeckten Tisch stehen verschiedene Käsesorten, Salate, eine Schüssel mit Rührei, Schinken, Marmelade und Honig. Aber das Essen ist nicht das Wichtigste. Der Sonntagmorgen ist die beste Zeit, um die vergangene Woche auszuwerten, ganz in Ruhe Meinungen auszutauschen und ein bisschen zu tratschen. In diesem Kreis darf man das. Wenn andere dabei sind, selbst vor Kollegen oder Freunden, sind sie vorsichtiger. Berta weiß zu viel über ihre Mitmenschen, die ihr alles Mögliche anvertrauen und sich auf ihre Diskretion verlassen. Sophie ist von Natur aus zurückhaltend in ihren Äußerungen.

Anne ist das egal, sie spricht aus, was ihr gerade einfällt und tritt damit oft genug in Fettnäpfchen.

Auch äußerlich könnten die beiden Frauen nicht unterschiedlicher sein. Anne ist groß und kräftig, ihr roter Lockenkopf, inzwischen etwas verblasst und mit grauen Haaren durchsetzt, ragt aus jeder Gästegruppe heraus. Sophie wirkt neben ihr noch kleiner und zierlicher, auch ihre Haare sind zurzeit rot, allerdings nicht von Natur aus. »Bleib ja sitzen und entspann dich endlich«, befiehlt Berta und stößt Sophie mit dem Brötchenkorb an. Die ist reflexartig halb aufgestanden, als sie im Gastraum einen Tisch entdeckt, auf dem benutztes Frühstücksgeschirr steht. Die Gäste gehen gerade die Treppe zu den Zimmern hinauf. Seufzend lässt sie sich auf ihren Platz zurückfallen, beobachtet aber ungeduldig die junge Kellnerin, die in aller Ruhe das Frühstücksbüfett inspiziert, eine leere Schüssel herunternimmt und die Platten zurechtrückt.

»Will noch jemand Geflügelsalat?«, fragt Anne, während sie sich das Schälchen schon auf ihren Teller stellt und mit der Gabel darüber kreist. »Na gut, dann esse ich den jetzt auf. Brötchen will ich nicht mehr, zu viele Kohlenhydrate.« »Was sind das denn wieder für Töne, sag bloß, du machst mal wieder Diät. Hast du nicht gesagt, nie wieder -«

»Ich mach keine Diät«, unterbricht Anne die alte Frau, »ich will mir bloß nicht schon wieder neue Winterklamotten kaufen.«

»Du hattest doch letztes Jahr diese schöne dicke Jacke, die dir so gut steht. Passt die nicht mehr?«

»Passt schon, aber nicht mir. Die war schweineteuer und ich hab gestern mal probiert – ich krieg sie gerade so zu. Mit einem dicken Pullover darunter wird es eng.«

»Ja, das war sie im letzten Jahr auch schon. Du hättest sie gleich eine Nummer größer kaufen sollen.«

»Ich hab eben gedacht, ich würde noch ein bisschen abnehmen.«

»Das denkst du seit mindestens dreißig Jahren«, stellt Berta fest.

»Du bist genau richtig, so wie du bist«, beendet Sophie die Diskussion. Sie beobachtet wieder die Kellnerin, die jetzt endlich die Tische abräumt. Dann sieht sie auf die Uhr.

»Wo bleibt Paula eigentlich? Sie sollte schon seit zehn Minuten hier sein. Hoffentlich ist sie nicht krank, wir haben heute einige Ab- und Anreisen.«

»Sie wird schon kommen«, beruhigt Anne die Freundin. »Wenn nicht, helfe ich dir. Aber Paula hätte bestimmt angerufen, wenn etwas wäre.«

Bevor Sophie antworten kann, kommt die Zimmerfrau atemlos um die Ecke. »Entschuldige, Sophie, ich stand im Stau.«

»Nun hol erst mal Luft. Und dann setz dich hin und trink eine Tasse Kaffee«, übernimmt Berta das Kommando. »Hast du schon gefrühstückt?«

»Nein, ich komme direkt von Koserow. Vera hat heute Morgen angerufen, da bin ich noch schnell hingefahren.« Als sie Bertas missbilligende Miene sieht, fährt sie schnell fort: »Stellt euch vor, bei ihr ist wieder eingebrochen worden. Sie war natürlich in heller Aufregung.«

»Ja, natürlich.« Berta schüttelt den Kopf über so viel Naivität. »Und natürlich ist wieder nichts gestohlen worden, oder? Ich frage mich nur, warum sie immer dich anruft und nicht die Polizei.«

»Na ja, sie hat ja schon ein paar Mal bei der Polizei angerufen. Aber die glauben ihr nicht, eben weil nie etwas fehlt. Jedenfalls vermisst sie nichts, aber man weiß es doch nicht, das Haus ist groß.«

Sophie hat inzwischen ein Frühstücksgedeck für ihre Angestellte geholt und eine Kanne Kaffee. »Wer möchte noch?« Anne deutet mit vollem Mund auf ihre Tasse. Sie gönnt sich nun doch noch ein Brötchen, dick mit Erdbeermarmelade bestrichen. Bis zum Winter, wenn sie die Jacke braucht, ist es noch lange hin.

Auch Paula schneidet ein Brötchen auf und sieht sich suchend auf dem Tisch um. »Geflügelsalat ist leider alle«, bedauert Anne, »aber hier – der Eiersalat ist auch lecker.«

Berta reicht der Frau die Butter und sieht sie immer noch kritisch an. »Ich glaube, deine Tante hat nur Langeweile, vielleicht fühlt sie sich auch einsam. Aber du solltest nicht immer gleich springen, wenn sie ruft. Mach ihr mal eine Ansage. Sag ihr, dass du auch noch ein eigenes Leben hast, sonst wird das immer schlimmer.«

Paula nickt resigniert. »Wahrscheinlich hast du recht, ich lasse mir zu viel von ihr gefallen. Aber was soll ich machen? Ich kann sie doch nicht im Stich lassen. Meine Mutter hat sehr an ihr gehangen, es war nun mal ihre kleine Schwester. Die Familie war immer sehr eng und Vera ist die Einzige, die noch lebt.«

‚Ein alter Drachen ist sie trotzdem‘, denkt Berta, behält ihre Meinung aber für sich. »Hat sie nicht einen Sohn?«, fragt sie stattdessen.

»Ja, Knut, aber der lebt irgendwo im Westen. Der ist schon solange weg, ich glaube, der meldet sich auch gar nicht mehr bei seiner Mutter. Vera spricht selten von ihm, ich mag auch nicht fragen.«

›Ist wohl auch besser so‹, denkt Anne, die sich dunkel an Knut erinnert. Sie trinkt ihren Kaffee aus und steht auf, um ihrer Freundin zu helfen, die bereits das Frühstücksbüfett abräumt. »Stellt einfach alles hin, ich kümmere mich nachher darum«, bittet Renate, die gerade aus der Küche kommt. Sie holt sich eine Tasse Kaffee und setzt sich stöhnend neben Paula an den Tisch.

»Hast du wieder Rückenschmerzen?«, fragt Berta mitleidig. »Na ja, es geht schon, ich muss mich bloß immer mal hinsetzen. Aber es wird Zeit, dass die Saison zu Ende geht.« Sie sieht Paula an und wechselt das Thema. »Hat Vera dich wieder aus dem Bett geholt? Also, mit mir würde sie das nicht machen. Ich würde das Telefon nachts einfach abschalten.« »Ja, hab ich mir auch schon vorgenommen. Aber ich trau mich nicht. Es könnte ja mal was Ernstes sein. Dass sie stürzt oder so.« Etwas hilflos sieht die dünne Frau die mütterlich wirkende, vollbusige Köchin an. Sie blinzelt und rührt nervös in ihrem Kaffee. Von ihrem Brötchen hat sie gerade einmal abgebissen und es dann wieder auf den Teller gelegt.

»So geht das aber auch nicht weiter, Paula. Du solltest mal mit ihrem Arzt sprechen. Vielleicht ist sie schon ein bisschen dement. Dann braucht sie eine Pflegestufe und es kommt regelmäßig jemand, der nach ihr sieht.«

»Aber das will sie ja nicht! Ich habe es nur mal angedeutet, da wurde sie richtig böse. Sie will keine fremden Leute im Haus haben, sagt sie. Ich kann sie doch nicht zwingen.« »Das wirst du wohl müssen. Meine Tochter Finja ist Altenpflegerin, die erzählt manchmal, wie schlimm das ist. Die alten Leute machen das ja nicht mit Absicht, aber das ist so eine Belastung, also bei aller Liebe –«

»Na nun warte erst mal ab«, beschwichtigt Berta. »Ich glaube eigentlich, dass sie ganz gesund ist und dich nur aus Langeweile schikaniert. Weil du es dir gefallen lässt.«

»Aber vielleicht wurde doch wirklich bei ihr eingebrochen?«, erwägt Paula. »Sie war so aufgeregt und ängstlich. Ich glaube nicht, dass sie mir was vorgemacht hat.«

»Hast du nicht gesagt, dass sie einen Hund hat? Was hat der denn gemacht? Hat er wenigstens gebellt?«

Paula zuckt ratlos mit den Schultern. »Keine Ahnung. Davon hat sie nichts gesagt. Aber Hugo ist nun auch nicht gerade ein Wachhund. Wenn wirklich ein Fremder im Haus war, hat er sich wahrscheinlich unter Veras Bett verkrochen.«

Donnerstag, 21. September

Vera Eichenberg seufzt erleichtert, als sie in den Schatten ihres Hauses tritt und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Nun ist es doch noch einmal so warm geworden. Sie hatte gehofft, der Sommer sei vorbei. Früher hat sie die Sonne geliebt, konnte stundenlang im Strandkorb liegen und war immer stolz auf ihre Bräune. Dass das nicht gesund war, wusste sie damals nicht. Na ja, ihr hat es wohl nicht weiter geschadet, außer dass sie jetzt ziemlich faltig im Gesicht und am Hals ist, aber das ist ihr nun, mit 70 Jahren, ziemlich egal. Außerdem hat sie in den letzten 20 Jahren ganz schön zugelegt, ihr Gesicht ist voller geworden, direkt aufgedunsen, das füllt die tiefen Falten wieder auf.

Ihr Aussehen, auf das sie früher großen Wert gelegt hatte, ist jetzt ihre geringste Sorge. Vielmehr belastet sie ihre angeschlagene Gesundheit, die schmerzenden Gelenke und die Atemnot. Aber auch nicht so sehr, dass sie sich beim Essen zurückhalten würde. Schon während sie schwitzend und stöhnend die paar Stufen zu ihrer Haustür erklimmt, freut sie sich auf ihre Tasse Kaffee und das Stück Torte, das in ihrem Kühlschrank auf sie wartet.

»Hugo, nun komm schon!« Sie schließt die Tür auf und dreht sich nach dem kleinen Terrier um, der noch am Gartentor schnüffelt. »Riechst du etwa die bösen Männer, die bei uns im Haus waren?«, fällt ihr ein, aber dann schüttelt sie resigniert den Kopf. »Nein, die sind bestimmt hinten über den Zaun geklettert, hier vorne ist es viel zu hell. Ich frage mich nur, weshalb du nicht gebellt hast. Bestimmt hattest du Angst. Ich hätte mir vielleicht doch einen großen Hund holen sollen, einen Schäferhund vielleicht?« Hugo ist inzwischen an ihr vorbei ins Haus gelaufen, schaut in sein leeres Wassernapf und kläfft vorwurfsvoll.

»Nein, mein Schatz, das war gar nicht so gemeint«, versichert Vera schnell. »Du bist doch Mamas Liebling. Kriegst auch gleich ein Leckerli, warte, ach so, Wasser willst du. Ich muss mich jetzt aber erst mal hinsetzen.«

Sie lässt sich auf einen Küchenstuhl fallen, streift die Schuhe von den Füßen und brabbelt weiter vor sich hin. Wenigstens ist der Hund da, der ihr aufmerksam zuhört, sonst müsste sie Selbstgespräche führen. Die Stille im Haus erträgt sie nicht, sie ist auch nicht gern allein.

Am liebsten wäre ihr, Paula würde ganz zu ihr ziehen, aber die hat ihren Sohn Tom, der noch immer bei ihr wohnt. Und beide hier zu haben, wäre ihr wieder zu viel. Oder? Sie denkt darüber nach, während sie Kaffeewasser aufsetzt und Hugos Näpfe füllt. Eigentlich ist Tom ja ein netter Junge. Und er könnte einiges tun im Haus und Garten. Ob er genauso ein Faulpelz ist wie Knut, ihr eigener Sohn? Wahrscheinlich. Aber das ist ihr auch nicht so wichtig. Sie will nur nicht mehr allein sein.

In der ersten Zeit nach dem Tod ihres Mannes hat es sie gar nicht gestört. Im Gegenteil, sie hat ihre Freiheit und Unabhängigkeit genossen. Aber in letzter Zeit ist sie ängstlich geworden. Vielleicht auch, weil sie sich nicht mehr so gut bewegen kann, ein Einbrecher hätte von ihr nichts zu befürchten. Sie hört nachts Geräusche im Haus – Schritte auf der Treppe und Türenklappen. Oder bildet sie es sich doch nur ein, wie Paula vermutet? Zweimal hat sie schon die Polizei gerufen, aber die haben nicht nur keine Einbrecher, sondern auch keine Spuren gefunden. Nicht mal ein offenes Fenster. Und es wurde anscheinend nichts gestohlen. Noch mal kann sie da nicht anrufen, die glauben ihr sowieso nicht. Sehen sie nur zweifelnd an. Und mitleidig. Das Mitleid ist noch viel schlimmer. Sie sprechen mit ihr, wie mit einem kleinen Kind und die nette junge Polizistin hat etwas von einem Arzt gesagt. Vera hat sich geschämt und war sich selbst nicht mehr sicher, ob sie wirklich etwas gehört oder es sich nur eingebildet hatte. Nur gut, dass Paula da ist. Die kümmert sich gut um sie und kommt auch immer, wenn sie gebraucht wird. Das kann man ja wohl auch erwarten von einer Nichte, wenn man weiter niemanden mehr hat. Vielleicht wird ihr die ständige Fahrerei von Bansin nach Koserow doch mal zu viel und sie kommt selbst auf die Idee, zu ihrer Tante zu ziehen?

Vera überlegt, mit ihrem Kaffee und dem Kuchen raus auf die Terrasse zu gehen. Oft wird sie das in diesem Jahr nicht mehr können, für die nächste Woche ist schon ein Wetterumschwung angesagt und dann wird es wohl endlich Herbst werden. Aber dann müsste sie den Sonnenschirm aufspannen, das schafft sie nicht allein. Kurz überlegt sie, Paula anzurufen, aber sie will den Bogen nicht überspannen, die wirkte heute Morgen schon etwas gereizt. Wahrscheinlich ist sie auch noch auf Arbeit.

Die dicke Frau blickt hinüber in den Nachbargarten, an der anderen Seite des Doppelhauses. Hansi ist nicht zu sehen. Egal, schließlich ist sie sauer auf ihn.

Hugo hat heute auch keine Lust, in den Garten zu laufen. Er muss sich von dem Spaziergang erholen und hat sich bequem unter dem Küchentisch ausgestreckt.

»Hast recht, mein Schatz, es ist viel zu warm draußen«, stimmt Vera ihm zu. »Mama bleibt auch hier.« Sie stellt ihre Tasse und die Torte auf den Tisch, setzt sich wieder hin und rührt zwei Stück Zucker in den Kaffee.

Während die Frau genüsslich die fette Buttercremetorte in sich hineinschaufelt, fällt ihr Blick auf den großformatigen Kalender an der Wand. Sie erwartet, dort ein Foto der Bansiner Bäderarchitektur zu sehen, wie immer in den letzten drei Wochen. Sie stutzt, legt langsam die Kuchengabel ab und starrt auf das Bild. Es zeigt eine Dorfkirche in einer Schneelandschaft. Ein idyllischer Anblick, der bei Vera Entsetzen auslöst. Wer war in ihrer Küche und hat das Kalenderblatt von Dezember aufgeschlagen? Ohne lange nachzudenken, greift sie zum Telefon und gibt eine Kurzwahlnummer ein.

»Paula!« Sie hält sich nicht lange mit einer Begrüßung auf. »Es war doch jemand im Haus! Ich hab das schon die ganze Zeit gespürt. Und nun seh ich gerade, dass mein Kalender umgeblättert ist. Du musst herkommen, ich hab Angst allein im Haus.«

Sie hört nur kurz zu, dann unterbricht sie die Beschwichtigungsversuche ihrer Nichte.

»Ich bin jetzt doch wohl wichtiger, als die fremden Leute, für die du arbeitest, oder? Ich könnte in meinem eigenen Haus ermordet werden. Oder einen Herzschlag bekommen, wenn plötzlich mitten in der Nacht ein Fremder vor mir steht.« Ihr Ton wird weinerlich. »Wenn das deine Mutter wüsste, dass du mich so im Stich lässt. Dass ich um deine Hilfe betteln muss. Womit hab ich das verdient? War ich nicht immer gut zu euch? Und nun, wo ich alt und krank bin und Hilfe brauche, habe ich niemanden.«

Sie beendet das Gespräch, legt das Telefon neben ihren Teller und wartet darauf, dass Paula zurückruft und sich entschuldigt. Sie wird ihr sagen, dass sie sich gleich für ein paar Tage Sachen mitbringen soll. Sie kann in Knuts Zimmer schlafen. Veras Blick fällt wieder auf den Auslöser ihrer Panikattacke. Hat sie den Kalender vielleicht selbst umgeblättert? Irgendwann in den letzten Tagen hat sie doch mal überlegt, auf welche Wochentage Weihnachten in diesem Jahr fällt. Möglich wäre es.

Aber egal. Sie will nicht mehr allein im Haus sein. Paula ist schwach, die wird schon nachgeben und hier einziehen, wenn sie nur hartnäckig bleibt. Dann kann sie auch öfter putzen, leckeres Essen für ihre Tante kochen und mit Hugo Gassi gehen. Bei diesen Aussichten bessert sich Veras Laune erheblich und als das Telefon klingelt, ist sie besonders freundlich. »Sei nicht böse, meine Kleine, ich hab es nicht so gemeint«, jammert sie mit kläglicher Stimme. »Ich will dir ja auch gar nicht zur Last fallen. Ich fühle mich nur so hilflos, weißt du. Mir geht es so schlecht, ich habe dauernd Schmerzen, ich kann mich kaum noch bewegen. Die Tabletten helfen da auch nicht mehr. Und dann diese Angstzustände! Ich kann kaum noch schlafen. Die ganze Nacht lausche ich, ob ich irgendwelche Geräusche von unten höre. Es ist alles so furchtbar! Jeden Abend wünsche ich mir, dass ich einschlafe und nicht wieder aufwache.« Sie lauscht einen Moment und erwidert dann mit schwacher Stimme: »Ja, das wäre lieb von dir. Ich bin dir so dankbar. Macht es dir auch wirklich nichts aus? Wäre es nicht einfacher, wenn du dir ein paar Sachen mitbringst und doch hier schläfst? Na, du kannst es dir ja noch überlegen. Dann bis gleich.«

Im Kehr wieder schüttelt Berta den Kopf über Paula, die das Telefon aus der Hand legt und sie hilflos anblickt.

»Hast du dich also doch wieder breitschlagen lassen? Und wenn ich nicht aufgepasst hätte, hättest du dich wohl noch darauf eingelassen, zu ihr zu ziehen.«

»Was soll ich denn machen? Sie ist alt und krank und hat nun mal niemanden außer mir.«

»So alt ist sie gar nicht. Über zehn Jahre jünger als ich.«

»Stimmt«, wundert sich Paula. »Aber sie ist krank. Sie hat ständig Schmerzen und kann kaum noch laufen.«

»Aha. Was genau hat sie denn eigentlich?«

»Ach, alles Mögliche. Sie hatte einen Bandscheibenvorfall, ihre Kniegelenke sind kaputt und ihr Blutdruck ist viel zu hoch. Und mit dem Magen hat sie auch was. Sie muss jeden Tag eine Menge Tabletten nehmen.«

Bevor Berta ihre Meinung dazu äußern kann – sie hat kurz überlegt, wie sie es Paula sagen kann, ohne deren Tante zu beleidigen – mischt sich Anne in das Gespräch.

»Was ist denn eigentlich mit ihrem Sohn, Knuti, sollte der sich nicht um sie kümmern?«

Sie stellt ihre Kaffeetasse ab und setzt sich mit an den Tisch. »Nein«, Paula schüttelt den Kopf. »Der lebt irgendwo bei Köln. Er leitet da eine Firma und hat keine Zeit, seine Mutter zu pflegen. Außerdem ist er verheiratet und Vera versteht sich nicht sonderlich gut mit ihrer Schwiegertochter. Keine Ahnung weshalb, darüber spricht sie nicht.«

»Mit wem versteht Vera sich schon. Aber du glaubst doch nicht ernsthaft, dass unser Knuti eine Firma leitet? Der Strolch –«

»Nun lass Paula in Ruhe«, unterbricht Berta. »Seine Mutter wird ja wohl wissen, was er macht. Und uns geht das überhaupt nichts an.«

Die schlanke Frau nickt erleichtert, streicht sich durch die kurzen Haare und sieht zu Sophie hinüber. »Ich hab ja eigentlich noch keinen Feierabend«, stellt sie nach einem Blick auf die Uhr fest. »Aber ich bin jetzt ein bisschen unruhig wegen Vera. Ob ich wohl etwas früher gehen kann? Die Zimmer sind soweit fertig.«

»Na klar, hau ab«, entscheidet Berta großzügig. »Oder, Sophie?«

Ihre Nichte nickt, ohne zu wissen, worum es geht. Sie ist gerade mit der Überprüfung einer Getränkerechnung beschäftigt und Tante Berta wird es schon richtig machen. Wie immer.

Nachdem die Zimmerfrau sich hastig verabschiedet und das Haus verlassen hat, wendet die alte Frau sich wieder an Anne. »So, nun erzähl mal, was ist mit diesem Knut? Ich kann mich gar nicht an den erinnern. Wie alt ist der eigentlich?«

Anne lacht. »Ich denke, das geht uns nichts an? Na gut. Also, der ist ungefähr zehn Jahre jünger als ich, so Ende vierzig, glaube ich. Und der hat nie irgendwas auf die Reihe gekriegt. Ich weiß gar nicht, ob der einen Schulabschluss hat, seine Kellnerlehre hat er jedenfalls abgebrochen. Dann hat er mal in dieser und mal in jener Kneipe gejobbt, aber sein Geld hauptsächlich mit Spielautomaten und Zigarettenschmuggel und sowas verdient. Ein Kleinkrimineller eben. Er hatte überall Schulden und Meinungsverschiedenheiten über Eigentumsverhältnisse.«

»Du meinst, er hat geklaut.«

»Genau. Vor ungefähr zwanzig Jahren ist er dann in den Westen gegangen. Seitdem habe ich den auch nicht mehr wiedergesehen.«

Berta überlegt. »Jetzt erinnere ich mich auch wieder an ihn. Er war mal hier und wollte mir einen Spielautomaten andrehen. Ich wollte so ein Ding aber nicht. Der Einzige, der daran gewinnt, ist doch immer nur der Betreiber. Das wollte ich meinen Gästen nicht antun. Die meisten von denen, die hier an meinem Stammtisch saßen, hatten sowieso nicht viel Geld.« »Das ist wohl wahr.« Anne erinnert sich gut an diese Zeit um die Jahrtausendwende, obwohl sie damals noch nicht so oft hier war. Inzwischen hat sich hier alles verändert. Aus dem heruntergewohnten FDGB-Ferienheim ist eine moderne Pension geworden, die gesamte untere Etage ist ein heller freundlicher Gastraum mit großen Fenstern, durch die man auf die Strandpromenade und die Ostsee blickt.

Nur die Küche und die Sanitärräume sind noch abgeteilt. Der Haupteingang der Pension befindet sich an der Rückseite des Hauses, an der Straßenseite. Links vom Eingang, in einer Nische zwischen der Rückwand der Rezeption und der Küchentür steht der Stammtisch, das einzige, das aus Bertas alter Kneipe erhalten geblieben ist.

Der große runde Tisch ist fast so alt wie das Haus selbst. Vor mehr als hundert Jahren stand er im Frühstücksraum der neu eröffneten Christlichen Pension an der Bansiner Strandpromenade. Der Besitzer war ein alter Kapitän, Bertas Großvater, der seinen Ruhestand auf einer Veranda mit Blick auf die Ostsee verbrachte, während sich sein Sohn und vor allem seine Schwiegertochter um die Gäste kümmerten.

Die Umwandlung des Hauses für das vornehme Publikum in das FDGB-Ferienheim Fortschritt hat er nicht mehr erlebt. Sein Sohn ist früh verstorben und seine beiden Enkeltöchter bekamen mit ihrer Mutter eine kleine Wohnung im Dachgeschoss des Hauses. Der Tisch und vier Stühle gehörten zu den wenigen Möbelstücken, die sie mit nach oben nahmen. Fast vierzig Jahre lang diente er der Familie als Esstisch, an ihm hatte Bertas Mutter auf die neuen Verwalter des Hauses und die neuen Gäste geschimpft. Bis zu ihrem Tod hat sie sich über den Verlust des Familienbesitzes gegrämt.

An diesem Tisch haben Berta und ihre Schwester gespielt und ihre Hausaufgaben gemacht.

Später haben Bertas Nichte Sophie und deren Freundin Anne an kalten Winter- und verregneten Sommertagen daran gesessen, gespielt, getuschelt und gekichert.

Sophie wohnte mit ihren Eltern in Berlin, hat aber alle Ferien bei ihrer Tante in Bansin verbracht und schon damals war Anne ihre beste Freundin.

1990 ließ Berta den Tisch wieder hinunterbringen. Mit seiner Größe eignete er sich gut als Stammtisch.

Berta hatte viele Stammgäste in der Kneipe, die nun wieder ihr gehörte. Jahrelang hatte sie als Köchin in diesem Haus gearbeitet und gar nicht mehr daran gedacht, dass es eigentlich das Eigentum ihrer Familie war. Nun hatte sie es zurückbekommen, betrieb halbherzig die Pension und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Sie hatte weder Mann noch Kinder und plötzlich auch keine Kollegen mehr, die ihr bislang die Familie ersetzt hatten. Und das Haus? Ihr erster Gedanke, als sie erfuhr, dass es nun wieder ihr gehörte, war: »Wie traurig, dass unsere Mutter das nicht mehr erlebt hat.« Berta empfand die Rückübertragung hauptsächlich als Belastung.

Dabei ist das Haus schön, harmonisch fügt es sich wunderbar in die wilhelminische Bäderarchitektur des Kaiserbades ein. Die schneeweiße Fassade ist noch immer stuckverziert, große Fenster zur Seeseite hin lassen hohe helle Zimmer erahnen, eine großzügige Freitreppe führt zur Strandpromenade herunter.

Aber die Nutzung im ›Arbeiter- und Bauernstaat‹ hatte Spuren hinterlassen, innen wie außen. Das Dach war schadhaft, die Fassade ebenso, Heizung und Sanitäranlagen in katastrophalem Zustand. Erschwerend kam hinzu, dass das Gebäude unter Denkmalschutz stand. Um es wieder als Pension betreiben zu können, waren umfangreiche Baumaßnahmen notwendig, zu denen Berta weder Kraft noch Lust hatte. Außerdem hätte sie in ihrem Alter vermutlich gar keinen Kredit bekommen. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als das Haus zu verkaufen. Angebote gab es genügend. Dennoch zögerte sie den Entschluss hinaus. Zum einen weil es ihr widerstrebte, den Familienbesitz, das Haus, das ihr Großvater erbauen ließ, das ihre Mutter so leidenschaftlich geliebt hatte, nun endgültig in fremde Hände zu geben. Zum anderen waren ihr die Männer, die ihr so großzügige Angebote machten – »eigentlich gegen jede Vernunft, nur aus Sympathie zu Ihnen und aus Liebe zu der wunderschönen Bäderarchitektur, ein anderer würde das Haus sicher abreißen, es lohnt sich ja kaum so viel Geld hineinzustecken« – äußerst suspekt. Das Wort ›Betrüger‹ las sie in ihren lauernden Blicken und hörte es in den vor Freundlichkeit triefenden Stimmen.

Der Stammtisch war zu der Zeit der Mittelpunkt ihres Lebens. Jeden Abend saß sie hier mit den Leuten zusammen, deren Welt sich ebenso rigoros verändert hatte, wie die ihre. Viele waren arbeitslos oder hatten nur im Sommer Arbeit. Andere bekamen, ebenso wie sie selbst, eine kleine Rente, von denen sie aber hohe Mieten bezahlen mussten. Selbst die Fischer, früher die reichsten Leute im Ort, mussten sich inzwischen einschränken.

Vormittags kochte sie für ihre Stammgäste, der Preis für das Essen lag nur wenig über dem Wareneinsatz, ähnlich war es mit den Getränkepreisen. Am Ende des Monats schrieb sie an, manchen Deckel ließ sie auch ganz unter den Tisch fallen.

Dass sie dabei nichts verdiente, war ihr egal, sie konnte von ihrer Rente leben, zumal sie keine Miete zahlen musste.

Aber natürlich war ihr bewusst, dass das nicht ewig so weitergehen konnte. Am Haus musste dringend etwas getan werden, die Schäden wurden immer größer.

Dass Sophie die Pension übernahm, betrachtet sie noch heute als den größten Glücksfall ihres Lebens.

Von den alten Stammgästen ist kaum noch jemand übrig geblieben, was hauptsächlich an den nun realistischen Gaststättenpreisen und dem Rauchverbot liegt. Aber der große runde Tisch steht immer noch hier und an ihm verbringt Berta nach wie vor die meiste Zeit.

Es ist Feierabendverkehr, vor dem Kreisel am Erdbeerhof hat sich mal wieder ein Stau gebildet. Paula seufzt ungeduldig. Wie gern würde sie jetzt zu Hause auf dem Sofa sitzen, die Füße hochlegen und ihren spannenden Krimi weiterlesen. Sie wäre auch gern noch bei Berta und Anne sitzen geblieben, hätte mit ihnen Kaffee getrunken und geredet.

Wie gut, dass sie diese Stelle gefunden hat! In dem großen Hotel, in dem sie vorher war, hatte sie kaum Kontakt zu den Kollegen. Sie stand ständig unter Zeitdruck, so und so viel Minuten für jedes Zimmer, da blieb keine Zeit zum Reden. Die meisten der jungen Frauen sprachen sowieso Polnisch, da fühlte sie sich oft wie eine Außenseiterin, wenn sie miteinander lachten und scherzten. Ihr Handy ließ sie meist zu Hause oder in ihrer Tasche im Umkleideraum, Veras Anrufe konnte sie überhaupt nicht gebrauchen. Abends, zu Hause, musste sie sich dann die Vorwürfe ihrer Tante anhören und hatte ständig ein schlechtes Gewissen.

Als Berta Kelling sie ansprach und fragte, ob sie Lust hätte, im Kehr wieder als Zimmerfrau zu arbeiten, zögerte sie keinen Moment. Als Bansinerin kannte sie die alte Wirtin schon ewig und wusste sofort, dass bei ihr nicht nur die Arbeit entspannter sein würde, sondern dass sie auch endlich wieder ein Umfeld hatte, in dem sie sich wohlfühlte.

Mit Berta kann man über alles sprechen, auch private Probleme sind bei ihr gut aufgehoben. Sie hört zu, sie beruhigt und gibt kluge Ratschläge. Inzwischen mag Paula auch die ruhige, vernünftige Sophie und Anne, die sie mit ihren losen Sprüchen aufmuntert.

Endlich biegt sie in den Kreisverkehr ein und dann in das Seebad. Eine Weile fährt sie hinter zwei Radfahrern her, dann verlässt sie die Hauptstraße und kommt in den ruhigen Teil von Koserow. Vor dem Doppelhaus in der Vinetastraße bleibt sie stehen und steigt aus. Bevor sie die Haustür aufschließt, atmet Paula noch einmal tief durch.

‚Sie kann nichts dafür, sie meint es nicht so, ich bin ganz ruhig‘, beschwört sie sich selbst und zwingt ein Lächeln in ihr Gesicht.

Erwartungsgemäß wird sie dann auch mit einem abgrundtiefen Stöhnen empfangen. »Da bist du ja endlich! Ich dachte schon, ich erlebe es nicht mehr, dass du kommst.«

»Tante Vera, ich war heute Morgen erst hier«, wagt Paula, nun doch leicht gereizt, einzuwerfen.

»Ach, war das wirklich heute Morgen? Mir erschien es wie eine Ewigkeit. Weißt du, wenn man immer Schmerzen hat, verliert man das Zeitgefühl. Und dann diese Angstzustände! Ich habe so ein Herzrasen, als würde es aus der Brust springen.«

»Hast du deine Tabletten genommen?« Paula bemüht sich um Sachlichkeit. »Und hast du genug getrunken? Das ist wichtig, du weißt, was die Ärztin gesagt hat.«

»Ja, ja. Die immer mit ihren klugen Reden. Sie hat auch gesagt, ich soll mich mehr bewegen. Aber ich bin so schwach, weißt du. Ich habe einen kleinen Spaziergang mit Hugo gemacht. Danach war ich völlig erschöpft.«

»Hast du denn was gegessen?«

»Ja, ich hab mir ein bisschen von der Hühnersuppe warm gemacht, die du gekocht hast. Aber ich brauche ja nicht mehr viel und ich habe auch gar keinen Appetit. Morgens eine Scheibe Toast und mittags ein paar Löffel Suppe, das reicht mir völlig.«

Die beiden dick belegten Brötchen zum Frühstück, die beiden Bratwürste am Imbissstand, von denen Hugo eine halbe abbekommen hat und das Stück Torte am Nachmittag unterschlägt sie. Paula muss nicht alles wissen.

Die seufzt. »Na ja. Ich kann dir ja mal wieder was Leckeres kochen. Worauf hättest du denn Appetit?«

»Ach, eigentlich auf gar nichts«, jammert die schwere Frau. Ihr teigiges Gesicht scheint vor Selbstmitleid zu zerfließen, die Mundwinkel sind nach unten gezogen. Wie eigentlich immer. Paula kann sich nicht erinnern, wann sie ihre Tante zum letzten Mal lächeln gesehen hat.

»Was macht Knut eigentlich?«, fragt sie in der Hoffnung, die Tante ein wenig aufzumuntern.

Und tatsächlich: Veras Gesichtszüge entspannen sich, sie richtet sich ein wenig auf und ihre Augen strahlen plötzlich. Sie atmet schnell ein, will etwas sagen, zögert dann aber.

»Was ist? Geht es ihm gut? Oder hat er wieder was angestellt? Mir kannst du es doch ruhig erzählen.«

»Er hat gar nichts angestellt, im Gegenteil.« Vera klingt beleidigt. »Ihm geht es sogar sehr gut. Er leitet jetzt eine große Firma.«

»Ja, das hast du schon mal gesagt«, erwidert Paula mürrisch. »Du glaubst das nicht, stimmt’s? Er wollte mir Geld schicken, damit ich mir was Schönes kaufen kann oder eine Reise mache. Das kann ich aber nicht mehr, dazu bin ich viel zu krank. Er würde mir auch ein gutes Pflegeheim bezahlen. Aber darüber muss ich erst mal nachdenken.«

»Wann hat er das denn gesagt? Und warum hast du es mir nicht erzählt?«

»Das hab ich doch gerade.«

»Ja, nachdem ich gefragt habe. Wann hast du denn mit ihm gesprochen?«

»Das ist schon ein paar Tage her.« Sie sieht ihre Nichte von der Seite an, schiebt ihr Wasserglas auf dem Tisch hin und her, trinkt einen Schluck und gibt dann zu: »Knut wollte nicht, dass ich darüber rede. Er sagt, das klingt so nach Angeberei.« »Blödsinn! Knut war schon immer ein Angeber, tu nicht so, das weißt du genau. Also – was steckt wirklich dahinter?«

Vera wundert sich ein wenig. Paula ist in letzter Zeit viel selbstbewusster geworden. Das macht wahrscheinlich ihr neuer Umgang im Kehr wieder.

»Na ja, er will nicht, dass es sich auf der Insel herumspricht, dass er Geld hat.«

»Wahrscheinlich hat er hier noch Schulden«, vermutet Paula. »Oder er will nicht angepumpt werden. Von der Verwandtschaft zum Beispiel.«

»Was? Meinst du damit etwa mich?«

»Dich nicht gerade. Aber Tom vielleicht.«

»So, jetzt reicht es aber!«Wenn es um ihre Söhne geht, sind sie beide sehr empfindlich. Zumal die beiden sich in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich sind. Auch Tom lebt lieber fröhlich in den Tag hinein, als arbeiten zu gehen. Aber zumindest ist er noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten.

»Wenn es Knut so gut geht, dann kann er sich gefälligst auch um dich kümmern und dir zum Beispiel eine Pflegekraft bezahlen. Dann brauche ich nicht andauernd herzukommen. Für mich ist das nämlich auch nicht einfach, das kannst du mir glauben. Und ich muss mich nicht auch noch beleidigen lassen.«

»Ach Paula, bitte, nun sei doch nicht so böse.« Vera schluchzt. »Das war dumm von mir, was ich gesagt habe, ich hab es nicht so gemeint. Ich bin dir doch so dankbar. Und Knut macht es bestimmt mal wieder gut. Er weiß doch auch zu schätzen, was du für mich tust, wirklich.«

»Ja, ja.« Paula seufzt. Vielleicht glaubt ihre Tante ja wirklich alles, was ihr Sohn ihr erzählt. Einfach, weil sie es glauben will. Obwohl sie es besser wissen müsste. Aber egal, von Knut ist jedenfalls keine Hilfe zu erwarten und ihr wird nichts weiter übrig bleiben, als sich um die alte Frau zu kümmern. Sie blickt aus dem Fenster und sieht einen mittelgroßen schmächtigen Mann über das Nachbargrundstück gehen. Hans-Dieter Eichenberg ist nicht nur der Nachbar, sondern auch der ehemalige Schwager von Vera. Ihr verstorbener Ehemann war sein älterer Bruder.

Allerdings haben die beiden schon zu dessen Lebzeiten jahrelang nicht mehr miteinander gesprochen. Paula weiß bis heute nicht, was zwischen ihnen vorgefallen ist. Auch jetzt schnauft Vera nur verächtlich, als ihre Nichte vorschlägt, sich mit dem Mann zu versöhnen.

»Was auch immer mal gewesen ist, dein Mann ist tot und ihr solltet die Vergangenheit endlich ruhen lassen. Schließlich seid ihr Nachbarn und könntet euch gegenseitig helfen.« »Wobei soll der mir helfen? Der will mich nur ausnutzen, ich kenn den doch. Das hat der schon mit Harald gemacht.« »Ich kann mich aber erinnern, dass sich die beiden sehr gut verstanden haben. Die sind doch immer zusammen angeln gewesen. Was ist denn damals eigentlich passiert?«

»Ach, das ist doch nun egal. Ich will mit dem jedenfalls nichts zu tun haben.«

Vera steht stöhnend vom Küchenstuhl auf. »Machst du die Hühnersuppe noch einmal heiß? Du kannst mir auch eine Stulle schmieren, die ess ich dann später. Ich geh schon mal in die Stube, meine Sendung fängt gleich an. Bringst du mir dann meine Tabletten? Und ein Glas Wasser. Oder besser einen Pfefferminztee.«

Paula tut, was ihr aufgetragen wurde und bringt Tee, Essen und Tabletten ins Wohnzimmer. »Bevor du gehst, guck doch nochmal in den Keller, ob die Hintertür wirklich zu ist«, bittet Vera, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. »Mir ist dauernd so, als ob da unten jemand herumschleicht. Und kontrolliere auch die Fenster hier im Erdgeschoss. Und Hugo muss dann auch sein Futter haben und frisches Wasser. Vielleicht kannst du auch noch eine kleine Runde mit ihm gehen, dann muss ich das nachher nicht mehr. Mir tut mein Knie wieder so weh.«

Als Paula alles erledigt hat, ist auch Veras Sendung zu Ende. Sie lehnt sich stöhnend auf dem Sofa zurück. »Gib mir mal das Kissen da. Ach, ich weiß gar nicht, wie ich sitzen soll.«

Sie deutet auf den Sessel neben sich. »Komm, setz dich doch noch ein bisschen her und erzähle mir was. Es redet ja sonst niemand mit mir.«

›Das ist ja wohl deine eigene Schuld‹, denkt Paula und bleibt stehen. »Ich muss nach Hause, Tante Vera. Ich bin müde und muss morgen wieder früh aufstehen. Brauchst du noch was? Hugo ist versorgt und die Fenster sind alle fest geschlossen. Du kannst also ruhig schlafen.«

»Wenn ich überhaupt schlafen kann, bei diesen Schmerzen. Willst du nicht doch hierbleiben?«, versucht sie es noch einmal halbherzig.

Als sie das Auto ihrer Nichte anspringen hört, geht Vera zur Haustür, schließt von innen ab und lässt den Schlüssel stecken. Dann holt sie eine große Schachtel Nougatpralinen aus der Anrichte, stellt sie auf den Couchtisch und macht es sich auf dem Sofa gemütlich.

Sonnabend, 23. September

Berta blickt zu Sophie hinüber. »Was machst du da eigentlich? Wollen wir nicht endlich Kaffee trinken? Ich hab Kuchen mitgebracht, der steht in der Küche.«

»Ja, ich komm ja gleich. Ich habe nur die Getränke aufgefüllt, gestern Abend habe ich endlich mal wieder einen guten Umsatz gemacht.«

»Na siehst du. Jetzt kommen die älteren Gäste, die gönnen sich auch mal ein gutes Essen und trinken ein Glas Wein dazu. Du kommst genau richtig«, fügt sie an Anne gewandt hinzu, die gerade hereinkommt.

Es ist die ruhige Zeit zwischen Mittags- und Abendgeschäft. Die drei trinken Kaffee, Berta lobt den Kuchen. »Obwohl der natürlich völlig überteuert ist, man sollte wirklich mal wieder selbst backen«. Auch Sophies Laune ist heute besser als in der letzten Zeit. Nach einem ziemlich flauen Sommer läuft das Herbstgeschäft gut an.

»Was ist denn mit dir los? Machst du doch schon wieder eine Diät?« Missbilligend beobachtet Tante Berta Anne, die nur ein halbes Stück Kuchen gegessen hat und sich jetzt zurücklehnt.

»Nein. Aber ich war heute Mittag mit dem Bus in Kamminke, bei der Fischräucherei. Ich habe ein riesiges Stück frisch geräucherten Lachs mit Kartoffelsalat gegessen. Ich bin immer noch pappsatt. Aber das war so lecker.« Sie seufzt zufrieden. »Die Gäste waren begeistert, das hat sich beim Trinkgeld bemerkbar gemacht. So könnte es immer sein.« »Na endlich mal wieder. In letzter Zeit hast du nur gemeckert über deine Gäste«, stellt Berta fest. »Aber das ist im Herbst ja immer so.«

»Stimmt. Um diese Zeit hab ich meistens die Schnauze voll. Aber ich hatte in letzter Zeit auch wirklich nur Idioten. Desinteressiert, nörglig und unverschämt. Dazu volle Straßen, jeden Tag Stau und schlecht gelaunte Busfahrer. Da macht der Job dann richtig Spaß.«

Sie trinkt einen Schluck Kaffee. »Aber heute war es mal wieder ganz entspannt, ich hatte wirklich nette Gäste. Hallo Tom!«

»Das freut mich für dich. Ich übrigens auch.« Der Mann, der gerade hereingekommen ist, bleibt neben dem Tisch stehen und grinst die Frauen an. »Ist meine Mutter schon weg?«

»Ja, vor einer halben Stunde.« Berta sieht zu dem dicklichen Mann hoch. Mit seinen kurzgeschorenen blonden Haaren und den vorstehenden Zähnen erinnert er ein bisschen an ein Meerschweinchen. Sie hatte immer den Eindruck, dass er auch den Verstand eines solchen habe. Aber nun arbeitet er als Gästeführer, also kann er doch nicht ganz dumm sein. »Nun setz dich schon hin und nimm uns nicht die Ruhe. Willst du ein Stück Kuchen?«

Paulas Sohn nickt und greift zu, während er sich an den Tisch setzt. »Habt ihr auch noch einen Kaffee für mich?«

Sophie holt einen Pott Kaffee und bringt auch einen Teller mit. Etwas betreten legt Tom den Kuchen darauf ab und wischt mit der Handkante die Krümel vom Tisch.

»Also läuft es bei dir?«, fragt Anne. »Du hast ja jetzt auch gut zu tun, oder?«

»Ja, wirklich.« Er klingt begeistert. »Einen besseren Job kann ich mir gar nicht wünschen. Ich verdiene gut dabei und es macht sogar richtig Spaß. Ehrlich, Anne, dafür bin ich dir ewig dankbar.«

»Na ja, ich hab dir ja nur den Tipp gegeben und ein bisschen was vermittelt. Fahrradguides sind im Moment sehr gefragt und wir haben kaum noch jemanden auf der Insel. Schön, wenn du es so gut hinkriegst. Nutz die Zeit mal noch, über Winter wirst du kaum Aufträge bekommen. Es sei denn, du machst dann auch Busfahrten …«

»Nee, das ist nicht mein Ding«, unterbricht er und erklärt, an Berta gewandt »Ich bin ja einmal mit Anne mitgefahren. Also, was die alles erzählt und so frei, ohne abzulesen, die ganzen Zahlen und das – das krieg ich in meine Birne nicht mehr rein. Da bleib ich über Winter lieber zu Hause und kassiere Bürgergeld.«

Ohne darüber gesprochen zu haben, vermuten alle drei Frauen, dass er das auch jetzt tut und seinen Nebenverdienst dabei verschweigt. Aber nicht einmal Berta sagt etwas dazu, sie will auch gar nicht genau darüber nachdenken. Sie weiß ja, dass Paula ihren einzigen Sohn ziemlich verwöhnt hat und es immer noch tut, dass er faul und leichtsinnig in den Tag hineinlebt – aber sie mag ihn trotzdem. Er ist nicht besonders schlau, aber auch nicht berechnend, sondern naiv, schnell begeistert von einer Idee, die er aber auch genauso schnell wieder aufgibt. Man kann ihm eigentlich nichts übel nehmen und Berta versteht, dass Paula sich von ihm ausnutzen lässt. Die macht es gern und hat sich noch nie beschwert.

Tom ist gerade dreißig geworden, wirkt mit seinem runden Gesicht und dem offenen, freundlichen Blick aber jünger. Eine feste Beziehung hat er nicht. Wie von irgendwelchen Ideen ist er auch von Frauen schnell begeistert und auch schnell wieder enttäuscht. Zurzeit ist er bis über beide Ohren in Kati verliebt, die Kellnerin im Kehr wieder.

Als Kati hereinkommt, strahlt er über das ganze runde Gesicht. »Komm her, ist noch Kuchen übrig«, bietet er großzügig an.

Die junge Frau schüttelt verlegen den Kopf. »Ich bin schon ziemlich spät dran«, erklärt sie. »Ich zieh mich schnell um, dann decke ich die Tische ein.«

Auch Sophie geht wieder an ihre Arbeit. Anne räumt den Tisch ab und hilft ihr dann, Getränke aus dem Keller zu holen. Berta bleibt mit Tom allein am Stammtisch sitzen. »Sag mal, was hältst du von deiner Tante Vera?«, fragt sie direkt. »Ist die wirklich krank? Oder schikaniert sie deine Mutter nur aus Langeweile? Fährst du eigentlich auch mal nach Koserow und kümmerst dich um sie?«