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Inspektor K. verbringt seinen Urlaub in den Bergen, als er vom Tod seines Freundes Wolfgang Waagner hört. Waagner ist beim Heckenschneiden in eine Heugabel gestürzt. War es ein Unfall oder Mord? Inspektor K. stöbert in Waagners Vergangenheit und stößt auf Catherine Grioche, eine französische Wissenschaftlerin. Er besucht sie in Paris, muss jedoch unverrichteter Dinge wieder die Heimreise antreten. Catherine hat seit über dreißig Jahren keinen Kontakt zu Waagner gehabt. Monate später taucht sie plötzlich in Linz auf und Inspektor K. sieht sich mit seltsamen Gefühlen konfrontiert. Er reist mit Catherine nach Monte Carlo und kommt ihr im Palais der Garibaldis näher, als sich das für einen ermittelnden Polizisten und eine verheiratete Zeugin schickt.
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Seitenzahl: 572
WILHELM HUCH
Tödliches Heckenschneiden
am Mondsee
Marco Island Books
Wilhelm Huch
Tödliches Heckenschneiden
am Mondsee
Kriminalroman
Alle Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Palm Beach – 1928
Am Horizonttauchten die beiden im italienischen Renaissance-Stil gebauten Zwillingstürme des Breakers Hotels auf. Auf der Spitze des einen Turms flatterte die amerikanische Flagge, den anderen Turm zierte die Fahne Floridas. Das von Schultze und Weaver erbaute Hotel nahm Joe beim ersten Anblick gefangen. Er hatte die Villa Medici in Rom nicht gesehen, doch wenn sie den Architekten des Hotels als Vorbild gedient hatte, wäre Rom wohl eine Reise wert gewesen. Joe fuhr den mit weißem Kiesel bedeckten und von prächtigen Palmen, Sträuchern und Blumenbeeten gesäumten Weg bis vor das Luxushotel entlang. Sein eigens für ihn gelb gestrichener Ford T Tudor gab ein letztes seufzendes Motorgeräusch von sich, als Joe den Wagen zwischen durchaus mondäneren Automobilen abstellte. Er half Betty aus dem Fahrzeug und geleitete sie über die Treppen zu dem von einem gewaltigen Portikus umfassten Eingang des Hotels. Sie hatten in ihrem billigen Hotelzimmer, das sie in Palm Beach bewohnten, täglich geübt, wie sie über die Eingangsschwelle des Breakers schweben, das Flair europäischen Hotelerieadels verbreiten und sich als Percy Adlon und Feodora von Remenhagen ausgeben würden. Joe hatte den echten Percy ein einziges Mal bei einem Ball in New York getroffen und sich dessen wesentlichste Züge eingeprägt. Dank seines außergewöhnlichen musikalischen Gedächtnisses hatte er sich auch Percys Akzent schnell zu eigen gemacht. Dennoch beschlichen Joe Zweifel, als er mit Betty zwischen den Säulen der Eingangshalle ging. Würde er sich fernab von Berlin und New York erfolgreich als Percy Adlon ausgeben können?
Einen Moment blieben Joe und Betty unschlüssig in der Lobby stehen. Sie verstanden es, ihr Zögern sofort in großes Erstaunen über den Prunk der sie umgebenden Architektur zu wandeln. Riesige Kandelaber hingen von einem mit Fresken verzierten Deckengewölbe herab. An den unzählbaren Säulen standen dem Palazzo Carrega-Cataldi in Genua gleichsam virtuell entliehene Thronsessel. Riesige rote Samtteppiche dämpften den Schall der Hotelgäste. Waren die Teppiche auf den Marmorböden wirklich aus Samt? Joe wusste es nicht zu beantworten. Er musste sich auf seine Rolle als selbstbewusster Hotelerbe aus Berlin konzentrieren und analysierte das Inventar der Hotellobby nicht näher. Es irritierte ihn, dass er und Betty die einzigen Gäste in der Eingangshalle waren. Dadurch konnte er nicht beurteilen, ob die farblich ehrfurchtgebietenden Teppiche wirklich den Schall der Tritte und Gespräche allfälliger Gäste reduziert hätten. Joe rief sich in Erinnerung, dass er absichtlich den Hochsommer für diesen Besuch ausgewählt hatte. Zu dieser Jahreszeit nahmen nur die preisbewussten Reisenden die mörderische Hitze in Palm Beach auf sich, um zu Hause mit einer Nacht im Breakers prahlen zu können. Ob es noch Heimatgemeinden gab, in denen eine Übernachtung im Breakers für Erstaunen gesorgt hätte? Florida hatte seit dem Hurrikan im Herbst 1926 den Höhepunkt seines Booms bereits hinter sich. Im Breakers zeigte sich das deutlich, da viele der an die Lobby anschließenden Luxusgeschäfte geschlossen waren. Oder hing das mit dem eingeschränkten Hotelbetrieb im Hochsommer zusammen?
„Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?“
Wie aus dem Nichts tauchte ein livrierter Hotelpage vor Joe und Betty auf. Joe übergab seine gefälschte Visitenkarte und erklärte dem Pagen, dass er mit William R. Kenan, Jr., verabredet war. Kenan war Präsident der „Florida East Coast Hotel Company“, die das Breakers drei Jahre zuvor erbauen hatte lassen.
„Mr. Kenan ist derzeit leider nicht in Palm Beach. Wir rechnen mit seiner Ankunft nicht vor Samstagabend, Sir.“
Joe erklärte dem Pagen, dass ihm dies bekannt war. Bis zu Kenans Ankunft wollte er das wunderschöne Hotel kennenlernen und sich von einer anstrengenden Geschäftsreise ausruhen. Der Page begleitete Joe und Betty an die Rezeption, an der die beiden als Percy Adlon und dessen Verlobte eine Suite im zweiten Stock zugewiesen bekamen. Während Hotelbedienstete das Gepäck auf die Zimmer brachten und Betty sich den Genüssen eines Bades hingab, saß Joe auf der Ocean View Terrasse und kostete einen Fagler Express Cocktail. Nicht zum ersten Mal waren er und Betty mit weniger als hundert Dollar in der Tasche in einem Luxushotel abgestiegen, um es sich ein paar Tage oder Wochen auf Kosten des Hauses gutgehen zu lassen. Zum geeigneten Zeitpunkt traten sie die Flucht an und ließen hinter sich einen manchmal verärgerten, manchmal amüsierten Hoteldirektor zurück. Das Leben mit verschiedenen Identitäten war Joes Lebensinhalt geworden, seit er vor zwei Jahren in die Vereinigten Staaten gekommen war. Dass er in Betty eine kongeniale Partnerin gefunden hatte, sah er als Fügung des Schicksals an. Als sie ihm beim ersten Rendezvous seine Taschenuhr gestohlen hatte, kühlte dies sein für sie entbranntes Feuer nicht ab. Er erkannte vielmehr, dass sie nicht nur ein gefälliges Äußeres, sondern auch besondere Fertigkeiten besaß, die für ein Leben, wie er es zu führen beabsichtigte, geradezu perfekt waren. Bisher hatten sie sich in den verschiedenen Hotels stets unter Allerweltsnamen eingemietet und blieben nur so lange, dass niemand Verdacht schöpfte, wenn sich Einschleichdiebstähle häuften. Mit den erbeuteten Schmuckstücken und kleineren Geldbeträgen, die Betty bei ihren nächtlichen Streifzügen einkassierte, konnten sie in durchschnittlichen Hotels für einige Zeit ganz gut leben. Wenn sich ihre Geldbörse zu leeren begann, quartierten sie sich im Luxushotel der nächsten Großstadt ein. Neben dem Komfort, den die ersten Häuser am Platz boten, gab es einen weiteren Vorteil: Es wurde selten eine Vorauszahlung verlangt, da sich dies bei der Klientel von Luxushotels nicht schickte.
In Palm Beach wollte Joe eine Stufe höher steigen. Hier würde ein „Mr. Smith“ oder „Mr. Gildenbrand“ nicht reichen. Diesmal musste es ein Adlon, ein echter Adlon sein. Percy Adlon, der Sohn des berühmten Louis Adlon aus Berlin, der von seiner Stiefmutter nach Amerika verbannt worden war und in New York sein Leben fristete, sollte Joes Deckname für ein nicht unbedeutendes Unterfangen werden. Die Vorbereitungen waren nicht allzu zeitintensiv gewesen. Denn konsequentes, diszipliniertes und ausdauerndes Verfolgen einer Idee war Joes Sache nicht. Dieser Charakterzug hatte ihn daran gehindert, einen herkömmlichen Beruf zu ergreifen. Bei Joe musste alles schnell gehen. Von der Idee bis zur Ausführung durften maximal einige Tage vergehen, sonst verlor er das Interesse daran. Außerdem durfte jede Beschäftigung, die zu Geld führen sollte, nicht mit großer Mühe oder Anstrengung, weder in physischer noch psychischer Hinsicht, verbunden sein. Dafür grämte sich Joe nicht, wenn ein Coup wegen mangelnder detailversessener Vorbereitung einmal danebenging. Wichtig war, dass sein angeborenes schauspielerisches Talent für die nächste Geldbeschaffung ausreichte. Und letztlich tat er nichts lieber, als den Gatten seiner liebenswerten Betty, auch als Mrs. Smith und Mrs. Gildenbrand bekannt, zu spielen. Betty war zunächst nicht begeistert, dass ihr nächstes Abenteuer im hochsommerlichen Florida stattfinden sollte. Aber sie liebte Joe nun einmal und außerdem konnten sie es sich nicht aussuchen, wann Jennifer Bleems im Breakers residierte.
Die Bleems oder, wie man sie in New York nannte, die „Goddess of Roses“ war ein viel bejubelter Broadway-Star, der sich der Zuneigung einer riesigen Fangemeinde und des Millionärs Henry Goldman erfreute. Goldman war nicht nur ihr väterlicher Förderer und Türöffner für die großen Broadway-Shows, sondern auch ihr heimlicher Geliebter. Während er seine Frau Babette jeden Sommer für einige Wochen an die Côte d’Azur schickte, durfte die Bleems im Breakers bei sengenden Temperaturen auf das jährliche Stelldichein mit ihrem Gönner warten. Dies war naturgemäß nicht in den amerikanischen Tageszeitungen zu lesen. Über Bettys Kontakte hatte Joe von dieser äußerst lukrativen Liaison gehört. Der Vorteil des Breakers im Juli und August war für die Bleems, dass der amerikanische Geldadel nicht in Florida, sondern in gemäßigteren Gefilden seinen Urlaub verbrachte. So konnte die Diva ihren an den Schläfen ergrauten, darüber glänzend blanken, sonst durchaus attraktiven, weil unvorstellbar reichen Mr. Goldman unter Palmen umarmen, ohne Angst vor schneller Entdeckung ihrer Liebschaft haben zu müssen.
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Joe sah Betty zu, wie sie ihr blütenweißes Kostüm anzog, dessen Kragen mit einem Hermelin geschmückt war.
„Wird dir in diesem Aufzug nicht zu heiß werden?“, fragte Joe und zündete sich eine Zigarette an.
„Ehrlichere Leute als wir vergießen bei ihrer Arbeit auch so manchen Schweißtropfen. So schlimm wird es schon nicht werden. Außerdem möchte ich mein geschmeidiges Seidenkleid für die Nacht der Nächte verwenden. Du weißt, was ich meine?“
Bettys blaue Augen leuchteten, als sie Joe ein bezauberndes Lächeln schenkte. Joe wusste, was sie meinte. Sie waren drei Nächte vor dem Termin mit Kenan im Breakers angekommen, um vor Kenans Ankunft den Ort ihres hoffentlich größten Coups wieder verlassen zu haben. Joe nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette, schlug die Beine übereinander und streckte sich auf der Tagesdecke seines Bettes aus. Er hatte sein Sakko abgelegt und wollte so auf Betty warten. Sie trat zu ihm ans Bett, beugte sich über ihn und gab ihm einen flüchtigen Kuss.
„Dann werde ich einmal losziehen und die Umgebung erkunden. Vielleicht lässt sich im Vorbeigehen etwas einstecken.“
Betty schlenderte den Flur entlang und stieg die Feuertreppe in den fünften Stock hinauf. Es war drei Uhr morgens und alle im Hotel schienen zu schlafen. Auch der Liftboy war auf seinem Stuhl neben dem Aufzug eingenickt. Betty hielt ihre Schuhe in der einen Hand und öffnete mit der anderen die Tür zu einer vom Hauptflur nicht einsehbaren Suite. Die Tür war nicht verschlossen. Mit den Bewegungen einer Raubkatze drückte sich Betty ins Innere der Suite, durchschritt zielstrebig den Salon und horchte eine Weile an der Tür des angrenzenden Schlafraumes. Nur die regelmäßigen Atemzüge einer schlafenden Person waren zu vernehmen. Betty steckte ihre Schuhe in die Außentaschen ihrer Jacke und drückte die Klinke der Schlafzimmertür hinunter. Ein leichtes Knarren ließ sie kurz erstarren. Alle Türen im Breakers waren bisher gut geölt und ließen sich ohne das geringste Geräusch öffnen und schließen. Auch diesmal funktionierte die Tür einwandfrei. Das Knarren kam vom Bett. Der schlafende Mann hatte sich bewegt und seinen Kopf Betty zugewandt.
„Im Schlaf schauen selbst die größten Schurken wie Engel aus“, dachte sich Betty und betrachtete das runde, von verschwitzten Haarlocken gesäumte Gesicht des Unbekannten. Er atmete weiter regelmäßig und sah nicht danach aus, im nächsten Moment aufzuwachen. Betty wartete einen Augenblick, bevor sie sich vorsichtig dem Nachtkästchen näherte. Mit flinken, durch langjährige Praxis geübten Bewegungen nahm sie die Uhr, die Geldtasche und einen großen Siegelring an sich, entnahm dem Portemonnaie die Geldscheine und legte es an seinen Platz zurück. Wenige Sekunden später stand Betty wieder auf dem Flur und probierte die nächste Tür.
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„Entschuldigen’s, hätten’s was dageg’n, wenn ich mich an Ihren Tisch setz’? Ich hab’ g’hört, Sie komm’n aus Deutschland?“
Der junge Mann musste Anfang dreißig sein, hatte große, leuchtend blaue Augen, eine für sein zartes Gesicht überdimensionierte Nase, einen hellen Schnurrbart und einen vorbildlich gekämmten Kurzhaarschnitt. Er stand in seinem dunkelblauen Anzug, seiner darunter sichtbaren, aus dem gleichen Stoff gewebten Weste und einer hellblau gestreiften Fliege vor Joe, als wollte er um die Hand von Joes Tochter anhalten. Abgesehen davon, dass Joe keine Tochter hatte, war ihm sofort aufgefallen, dass der Störenfried seiner nachmittäglichen Kaffeestunde kein Landsmann sein konnte.
„G’statt’n, Joseph Roth, derzeit arbeitsloser Reisereporter und Muse suchender Schriftsteller.“
„Freut mich!“
Joes Antwort klang nicht überzeugend. Man sah ihm an, dass er die Konversation mit einem Europäer nicht erwartet hatte und sie gerne vermieden hätte.
„Wenn es Ihnen ung’leg’n kommt, will ich Ihre Ruhe natürlich nicht stör’n. Ich dacht’ bloß, man trifft nicht jed’n Tag ein Mitglied der Familie Adlon“, fuhr Roth fort.
Joe sprang auf, bot dem Ankömmling einen Platz an und holte das Verabsäumte nach:
„Percy Adlon, aber das scheinen Sie schon zu wissen. Selbstverständlich können Sie sich hier niederlassen. Ich freue mich, fern der Heimat eine deutsche Stimme zu hören. Ein bisschen deutsches Parlieren schadet in dieser subtropischen Hitze auch nicht. Sie sind Schriftsteller? Muss ich mich genieren, von Ihnen nichts gelesen zu haben?“
Roth machte es sich im Lehnstuhl neben Joe gemütlich, steckte sich eine Zigarette an und betrachtete Joe für kurze Zeit schweigend. Dann antwortete er:
„Ich glaub’ nicht, dass Sie Abonnent der Wiener Arbeiterzeitung g’wes’n sind, als Sie in Berlin lebt’n. Soweit ich weiß, liest man in Ihren Kreis’n auch nicht die Frankfurter Zeitung.“
„Naja, ich habe Berlin vor einigen Jahren verlassen. In meiner Jugend habe ich zugegebenermaßen keines der von Ihnen genannten Blätter gelesen. Darin haben Sie also veröffentlicht?“
„Ja, meine beid’n erst’n Romane wurd’n dort ab’druckt. Es hat sie später auch als Bücher zu kauf’n geb’n. Aber zu dies’m Zeitpunkt dürft’n’s bereits in den Staat’n g’wes’n sein. Wann sind’s eigentlich hierher komm’n?“
Joe bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Der fremde Schriftsteller, der seinem Dialekt nach kein Deutscher, sondern Österreicher oder Schweizer sein musste, war ihm unheimlich. Was wollte er von ihm? Wollte er ihn enttarnen? Joe musste vorsichtig sein und gab ausweichend zur Antwort:
„Das ist einige Zeit her, kann mich gar nicht mehr so genau erinnern.“
In diesem Moment trat Betty zu den beiden an den Tisch. Joe nahm dies zum willkommenen Anlass, das Thema zu wechseln.
„Darf ich vorstellen: Miss Betty von Rückenstein, meine Verlobte. Herr Joseph Roth, viel gelesener Romancier aus Deutschland.“
Betty reichte Roth ihre Hand, die in cremefarbenen Lederhandschuhen steckte. Roth sprang von seinem Platz auf und hauchte einen Kuss auf ihre Hand.
„Hoch erfreut, meine Teure, und ich dacht’, Sie wär’n Frau Adlon! Aber lass’n’s mich richtigstellen, ich bin kein Landsmann im engeren Sinn. Ich komm’ aus Österreich, einem heut’ leider nicht mehr existierend’n Österreich. Denn das hat die Welt nicht zuletzt mit Hilfe Ihres Kaisers aus den Geschichtsbüchern g’fegt. Was die Leserzahl meiner Romane betrifft, so hält sie sich zu mei’m Leidwesen noch in eng’n Grenz’n. Das ist der Grund, weshalb ich als Reisereporter mein Dasein frist’n muss. Dummerweise bin ich in dieser Profession derzeit ohne Anstellung.“
„Sie Ärmster! Aber so schlecht kann es Ihnen nicht gehen, wenn Sie im Breakers logieren“, antwortete Betty. Sie lächelte Roth kurz an, um danach einen verstohlenen, fragenden Blick an Joe zu richten.
„Wissen’s, meine Gnädige, manchmal gibt’s im Leb’n Schicksalsfügung’n, die’s auch ei’m arm’n Schriftsteller hie und da ermöglich’n, an so schönen Ort’n wie hier abzusteig’n. Übrigens, Ihr Verlobter und ich hatt’n g’rad über seine Ankunft in Amerika vor drei Jahr’n, glaub’ ich, g’sproch’n.“
Joe lief es kalt über den Rücken. Er hatte, was ihm noch nie passiert war, Betty nicht mit dem aktuell benutzten Namen vorgestellt. Dieser angebliche Schreiberling verwirrte ihn. Wusste er, dass Joe nicht Percy Adlon war? Ja, Joseph Roth wusste von seines Namensvetters Versteckspiel. Aber er wollte es nicht zu Joes und Bettys Nachteil an die große Glocke hängen. Die von ihm angedeuteten Schicksalsfügungen hatten sich in Berlin zugetragen. Zunächst hatte Roth im Zuge seiner Tätigkeit für den Berliner Börsen-Courier mehrfach die Gelegenheit gehabt, das Hotel Adlon zu besuchen, wo er zum einen viele seiner Interviewpartner, später auch Freunde und Bekannte zu treffen sich angewöhnte. Zum anderen war er dort, was Joe nicht mehr überraschte, als Roth ihm dies mit knappen Worten auseinandersetzte, mit dem Chef des Hauses und Joes vermeintlichem Vater, Louis Adlon, bekannt geworden.
„Seh’n’s, mein lieber Percy oder wie auch immer Sie mit richtig’m Nam’n heiß’n mög’n, einmal hatt’ ich die Freud’, Ihr’n Ruf-Vater in sei’m Arbeitszimmer für ein’ Artik’l im Börs’n-Courier zu sprech’n. Natürlich war das größte Photo auf sei’m Schreibtisch das seiner Frau Hedda. Aber mein darauf spezialisiertes Reporteraug‘ erspähte auch ein kleines Photo seiner erst’n Frau und seiner Kinder. Da hab’ ich den Percy g’seh’n, den’s vergeblich vorzugeb’n versuch’n.“
Die zweite Schicksalsfügung war für Joe von größerer Bedeutung. Denn niemand Geringerer als Babette Goldman hatte Joseph Roth diese Reise in die Vereinigten Staaten bezahlt. Der reisende Schriftsteller hatte von ihr den Auftrag bekommen, in Florida den Gerüchten nachzugehen, wonach ihr Gatte ein Verhältnis mit der Bleems hatte. So kreuzten sich im Breakers zufällig die Lebenslinien eines auf detektivischen Nebengleisen verweilenden Schriftstellers und eines erfolgreichen Hochstaplers und Betrügers. Joe war alles andere als erfreut. So knapp vor einem der größten Vermögenstransfers seiner Karriere schien er nun wohl unverrichteter Dinge das Breakers-Hotel wieder verlassen zu müssen.
„Lieber Herr Roth, ich sehe, es war ein großer Fehler, Ihre Werke nicht gelesen zu haben. Da hätte ich nicht nur Ihre schriftstellerischen Fähigkeiten rechtzeitig zu bewundern gewusst, sondern erraten, dass Sie im Grunde viel lieber ein Kriminalinspektor geworden wären. Werden Sie mich und meine Verlobte der Polizei übergeben?“
Joe nahm einen kräftigen Zug an seiner Zigarette, nippte an seinem Kaffee und legte die Hände auf den Tisch vor sich, als ob er darauf wartete, dass ihm Roth die Handschellen anlegen würde. Doch Joes Enttäuschung über die Enttarnung war zu früh ins Stadium der Verzweiflung übergegangen. Roth erwiderte mit einem Augenzwinkern:
„Aber, Herr Adlon, wer wird denn gleich so überhastet hand’ln? Sich den Namen eines europäisch’n Hotelierssohn anzumaß’n, is’ doch kein Verbrech’n. Außerdem lieb’ ich kleine Verwandlungstricks. Vielleicht könn’n’s mir bei mei’m Auftrag ein wenig unter die Arme greif’n. Denn off’n und ehrlich: Den Spionageauftrag der reizend’n Frau Goldman hab’ ich bloß weg’n meiner prekär’n finanziell’n Lage ang’nomm’n. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt das Talent zum Detektiv hab’. Aber Sie als Verwandlungskünstler sind doch sicher in der Lage, mir die nötig‘n Beweise zu beschaff’n.“
„Was meinen Sie mit ‚Beweisen’?“ Joe ließ seinen Blick von Roth zu Betty und wieder zurück schweifen. Roth spielte den Enttäuschten.
„Aber, Herr Adlon. Tun’s doch nicht so stumpfsinnig! Ich brauch’ ein’ Beweis für Herrn Goldmans Verhältnis mit Frau Bleems. Je schneller ich den hab’, desto schneller kann ich nach Europa z’rück, meine Erfolgsprämie bei Frau Goldman abhol’n und an mei’n Büchern weiterschreib’n, ohne ständig an die Finanzierung meines nächst’n Frühstücks denk’n zu müss’n.“
„Wäre es unter diesen Umständen nicht besser, Sie ließen sich ein bisschen Zeit mit der Überführung von Goldman, machten sich im Breakers eine schöne Zeit und schrieben hier an Ihren Romanen?“Joe warf Betty einen überraschten Blick zu, die sich erstmals in das Gespräch der beiden Männer eingemischt hatte.
„Ja, gnädige Frau, daran hatt’ ich auch ‘dacht. Aber die Idee ist mir bei meiner Ankunft in Florida sofort entfleucht. Wer will denn hier zu dieser Jahreszeit und bei dies’n Temperatur’n bloß ein’ Tag länger als nötig verweil’n?“
In Gedanken hatte Joe bereits einen Plan gefasst, wie er seiner Zufallsbekanntschaft zu den gewünschten Beweisen verhelfen und sich selbst einen eleganten Ausweg aus seiner so plötzlich misslichen und kurz darauf wieder rosiger scheinenden Situation bahnen konnte.
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Es entsprach nicht seinen Vorstellungen von Arbeitsteilung, doch die äußeren Umstände hatten es diesmal erzwungen, dass Joe neben Betty über die leeren Gänge des Breakers schlich. Betty hatte ihr dunkelgrünes Seidenkleid angezogen, unter dessen changierenden Farbtönen ihre ausgeprägten Körperumrisse gut zur Geltung kamen. Joe musste sich auf die kleine Box in seinen Händen konzentrieren, um beim Anblick von Bettys Rücken nicht auf Gedanken zu kommen, die mit ihrem Vorhaben nicht vereinbar waren. Betty hatte keine Schuhe an. Sie schwebte mit ihren von hellgrünen Seidenstrümpfen umnetzten Füßen lautlos über die mit persischen Teppichen ausgelegten Gänge im 5. Stock. Als sie beim Liftboy im 2. Stock vorbeigeschlichen waren, unterbrach dieser sein Nickerchen und bot ihnen seine Dienste an. Geistesgegenwärtig warf sich Betty um Joes Hals und steckte dem Liftboy hinter Joes Rücken einen Dollar zu. Der Liftboy erkannte, dass seine Dienste nicht mehr benötigt wurden, und schlief wieder ein. Der Liftboy im 5. Stock, in dem die Suite der Bleems lag, hatte einen tieferen Schlaf. Ohne Probleme gelangten Joe und Betty an ihm vorbei zur Tür der Bleems. Joe zog sich einen schwarzen Strumpf über das Gesicht, Betty platzierte eine venezianische Karnevalsmaske vor ihren Augen. Mit großer Sorgfalt drückte Betty die Türklinke nach unten. Die Tür war verschlossen. Betty nahm von ihrer Halskette einen kleinen versilberten Dittrich, steckte ihn ins Schloss und nach wenigen Sekunden war der Weg in die Zimmerflucht der Bleems frei.
„Wenn sie abgeschlossen hat, ist sicher ihr lieber Henry bei ihr“, raunte Betty Joe zu, der ihr eilig ins Innere der Suite folgte.
Vorsichtig, dennoch mit raschen Schritten durchquerten die nächtlichen Besucher das Vorzimmer, den Salon und das Ankleidezimmer, um an der Tür des Schlafzimmers kurz Halt zu machen. Betty lauschte einen Moment, bevor sie die Türe leise öffnete und einen Blick in das Zimmer warf. In der Mitte stand ein riesiges Himmelbett aus massivem Mahagoniholz. An allen vier Seiten hingen weiße Seidenvorhänge herab, die die Schläfer nicht sofort erkennen ließen. Betty und Joe näherten sich, erst im Gänsemarsch, dann sich trennend von zwei verschiedenen Seiten der Schlafstätte. Behutsam zog Joe einen Vorhang zur Seite. Zu seiner Genugtuung sah er zwei Körper zwischen den Kissen und Decken liegen. Während sich Betty am Nachtkästchen der selig träumenden Broadway-Diva zu schaffen machte, schlich Joe um das Bett herum, um von dessen Fußende einen Blick auf das geheime Liebespaar zu werfen.
„Hier liegt das Herz nicht“, flüsterte Betty, „glaubst du, dass sie es um den Hals hat?“
Joe sah sich im Dunkel des Zimmers um, nahm eine Taschenlampe aus seiner Hosentasche und leuchtete für ein paar Augenblicke die Wände des Schlafzimmers aus. Betty war dem kleinen Lichtstrahl gefolgt. Kurz vor dem Verlöschen der Taschenlampe sah sie etwas Blaues aufblitzen. Wie ein Panther, der sich auf seine Beute stürzen wollte, glitt Betty zur Kommode am Fußende des Himmelbettes. Dort hatte sie eine Schmuckschatulle mit geöffnetem Deckel wahrgenommen, in der das Ziel ihres heutigen Ausflugs lag: Le cœur de la mer. Sie hatten sich nicht getäuscht. Henry Goldman hatte seiner singenden Mätresse den teuersten Saphir seiner Zeit geschenkt. Oder war es nur eine Leihgabe? Ein Präsent für die Dauer ihrer Liaison, das bei Beendigung des Tête-à-Tête retourniert werden musste? Nein, Henry Goldman machte keine zeitlich befristeten Geschenke. Er war ein Mann der alten Schule. Er wusste Eleganz und Manieren zu kombinieren, verband Geschäftssinn mit dem Ausreizen rechtlicher Graubereiche und war sich der Vergänglichkeit von Reichtum und Liebe bewusst. Es war höchst unwahrscheinlich, dass er das wertvollste Geschenk, das jemals einer Vertreterin des irdischen Lebensglückes gemacht worden war, mit einer auflösenden Bedingung versehen hatte. Es dauerte kaum fünf Sekunden, in denen Betty sich über Goldmans Generosität Gedanken machte, das Goldcollier mit dem blauen Herzen aus der Schatulle nahm und Joe in die Tasche seines Anzugs steckte.
Joe verstaute die Taschenlampe, öffnete erneut den Vorhang und brachte seinen Photoapparat am Fußende des Himmelbettes in Stellung. Betty trat an die Seite des Bettes, wo Goldman schlief, lockerte die Träger ihres Kleides und zog das Bettlaken vorsichtig zurück, das sich Goldman bis zur Brust gezogen hatte. Bei der sommerlichen Hitze mutete es grotesk an, dass es im Bett überhaupt Decken gab. Betty konnte sich lebhaft vorstellen, wie der Milliardär versucht hatte, seinen unansehnlichen, wenig wohlgeformten Körper, der nur mit einer Short bekleidet war, vor seiner Geliebten zu verstecken. Die Bleems, ebenfalls nicht perfekt gebaut, hatte ihre Rundungen und fleischigen Verwerfungen in ein loses Korsett aus Seide gepackt. Sie sah im Schlaf unschuldig schön aus, aber keineswegs so mondän und verführerisch wie auf den Plakaten ihrer Broadway-Shows.
Ein heller Blitz erleuchtete das Nest des alten Liebhabers und seiner Mätresse. Joe wusste, dass er nur eine Chance hatte. Die hatte er hoffentlich gut genutzt. Er ließ den Blitzspiegel unter das Bett fallen, verschloss hastig den Photoapparat und rannte bei der Tür hinaus. Fast gleichzeitig rissen Goldman und die Bleems ihre Augen auf, konnten in der Dunkelheit jedoch nur Bettys Silhouette sehen.
„Wer sind Sie?“
„Was ist passiert?“
„Henry, wo bist du?“
Während Betty die Zimmertür ins Schloss fallen hörte, riefen Goldman und seine Geliebte aufgeregt durcheinander. Goldman griff mit seiner Hand durch den Vorhang hindurch und versuchte, die Lampe auf dem Nachtkästchen zu erreichen. Das war der Augenblick, auf den Betty gewartet hatte. Sie nahm seine Hand, führte sie an den Lichtschalter und, als der Raum erleuchtet war, ließ sie Goldmans Hand langsam über ihr Kleid streifen. Mit der anderen Hand öffnete sie den Seitenvorhang und konnte so in die verdutzten Gesichter sehen. Das aufgeschreckte Pärchen verfolgte gebannt, wie sich Bettys Kleid in spielerischer Langsamkeit selbstständig machte. In einer eleganten Fließbewegung glitt es von Bettys Schultern, über ihre Brüste und Beine hinab. Obwohl Betty die Nummer des „fließenden“ Kleides schon hunderte Male geübt und in der Praxis vorgeführt hatte, tat sie es diesmal zum ersten Mal in Gegenwart einer Frau. Bisher hatten nur Männer das Schauspiel miterlebt und in allen Fällen war der Erfolg bemerkenswert. In dieser Nacht erlebte Betty den Effekt bei einem aus seinen Liebesträumen gerissenen Paar. Er war überwältigend. Er war so gewaltig, dass ein medizinischer Notfall nicht ausgeschlossen war. Jennifer Bleems brachte nicht mehr als ein röchelndes „Henry“ über ihre Lippen. Goldman starrte mit offenem Mund und hellwachen, auf die Größe seiner Nase angewachsenen Augen die nackte Frau an.
„Entschuldigen Sie, gnädige Frau, dass ich Ihre nächtliche Ruhe gestört habe. Aber Herr Goldman war so freundlich, mir beim Nachmittagstee den Schlüssel seiner Suite zuzustecken. Ich ahnte nicht, dass er nicht alleine ist. Sie erlauben?“
Während der erste Teil ihrer Ansprache an die Bleems gerichtet war, nahm Betty bei den letzten Worten Goldmans Hand, die noch an ihrem Oberschenkel hing und dort das Kleid vorübergehend gehindert hatte, zu Boden zu gleiten, und legte sie vorsichtig zu Goldman ins Bett. Mit zwei schnellen Griffen hatte sie sich ihr Kleid übergezogen und schlüpfte bei der Schlafzimmertür hinaus. Sie lief durch das Ankleidezimmer, den Salon und das Vorzimmer und stand wieder auf dem Flur. Während sie die Türe vorsichtig schloss, hörte sie aus scheinbar weiter Ferne ein weiteres „Henry!“.
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Auf dem Weg von Palm Beach nach Miami gerieten Joe und Betty in ein starkes Gewitter. Der Regen prasselte mit solcher Intensität auf die Windschutzscheibe des Ford T, dass Joe den Verlauf der Straße nur erahnen konnte. Da er, soeben vom Kleinganoven zum Millionär aufgestiegen, nicht riskieren wollte, in dem subtropischen Regenguss sein Automobil in den Straßengraben zu lenken und sich und seiner Gefährtin das Genick zu brechen, hielt Joe den Wagen am Straßenrand an. Es schien unwahrscheinlich, dass seine Verfolger, so es solche überhaupt gab, bei diesem Wetter seiner Spur folgen würden. Betty saß mit zufriedenem Lächeln neben ihm und umklammerte fest ihre Handtasche. Sie fragte sich, ob dieses Naturereignis ihren erfolgreichen Coup in letzter Sekunde vereiteln würde. Oft hatte sie von den sintflutartigen Regenfällen während Floridas heißen Sommermonaten gehört. Zuweilen hatten es unglückliche Automobilisten aus Florida auf die Titelseite der großen Tageszeitungen in New York, Chicago oder Baltimore geschafft, wenn sie bei ähnlichen Wetterverhältnissen von der Straße abgekommen und in ihren für die damalige Zeit hochmodernen Fahrzeugen gestorben waren.
Joe verschwendete an diese singulären Schicksale keinen Gedanken. Er freute sich, dass ihr Vorhaben so reibungslos gelungen war. Die Krönung wäre es sicherlich gewesen, wenn er Mr. Kenan zum Verkauf des Breakers hätte bewegen können. Doch hierzu war die Zeit nicht reif genug. Kenan war im Gespräch mit Joe, das sie am Tag nach dem nächtlichen Besuch der Bleems geführt hatten, einem Verkauf des defizitären Hotels nicht abgeneigt. Der Gedanke, das Breakers unter Führung der gerade entstehenden Adlon Gruppe in eine rosigere Zukunft gleiten zu sehen, gefiel ihm. Allerdings waren die Interessen der anderen Aktionäre der Florida East Coast Hotel Company zu berücksichtigen. Ob sie mit dem angebotenen symbolischen Kaufpreis von einem Dollar bei Übernahme aller Schulden einverstanden gewesen wären, erschien höchst fraglich. Wie meistens in solchen Fällen waren die Investoren des Breakers dank formvollendeter, den Tatsachen wenig entsprechender Bilanzen über das wahre Ausmaß der Verschuldung und dank poetisch ausgeschmückter, die Realität kaum berücksichtigender Mittel- und Langfristplanungen über die dunklen Zukunftsaussichten des Hotels völlig im Ungewissen. So hatte Joe mit Kenan vereinbart, dass sich Kenan bei Joe alias Percy Adlon melden würde, wenn die Leerstände des Hotels auch die letzten Aktionäre der Florida East Coast Hotel Company von einem Verkauf unter dem Einstandspreis überzeugt hätten.
Im Grunde hatte sich Joe äußerst ungern von seinem nächtlichen Schnappschuss getrennt. Er musste allerdings einsehen, dass dies Teil seines Handels mit dem Reiseschriftsteller Roth war. Außerdem konnte sich Joe damit den Rücken freihalten. Während er und Betty sich mit dem Cœur de la mer ungestört aus dem Staub machten, wollte sich Roth um Goldman kümmern. Ob Roth der geeignete Erpresser war und dem Millionär genügend Furcht einflößen konnte, damit dieser nicht zur Polizei ging, bezweifelte Joe. Nach der Lektüre des Romans Hotel Savoy, den er von Roth als Abschiedsgeschenk bekommen hatte, hielt es Joe zumindest für wahrscheinlich, dass Roth Goldman dessen prekäre Lage ausreichend plastisch und blumenreich darzulegen vermochte. Darin hatte sich Joe nicht getäuscht. Zwar war Goldman des Deutschen nicht so weit mächtig, dass er sämtlicher ironischer, zynischer und apokalyptischer Zwischentöne von Roths „Bekennerbrief“ gewahr wurde. Dennoch verstand er das in formvollendetem kakanischem Deutsch verfasste Schreiben so weit, dass er den Zusammenhang zwischen dem Schweigen über das gestohlene Schmuckstück und dem Vermeiden eines vor dem Scheidungsrichter endenden Ehestreites mit seiner gelegentlich innig geliebten Babette erkannte. Goldmans Angst vor seiner Ehefrau war so groß, dass er seine Geliebte Hals über Kopf auf die Straße setzte und das Verhältnis für beendet erklärte. Sodann breitete er über den Verlust des teuren Colliers den Mantel des Schweigens.
Wie es der von Joe geförderte Zufall wollte, hatte sich Joseph Roth von Percy Adlon in jenem Augenblick in der Hotellobby verabschiedet, als ein sichtlich aufgelöster Goldman an der Rezeption seine Rechnung beglich und eiligen Schrittes den Ort der verhängnisvollen Liebesnacht verließ. Der Bleems hatte der ertappte Liebhaber die Suite für eine weitere Woche im Voraus bezahlt. Damit wurde der Sturz der Broadway-Diva auf die Straße zumindest gemildert. Eine Woche hielt auch die Bleems für ausreichend lang, um sich Gedanken über die Launenhaftigkeit alternder Mäzene und eine Auffrischung ihres Liebeslebens zu machen.
„Na, mein lieber Adlon, ich wünsch’ Ihnen alles Gute auf Ihrem wohl weiterhin verwinkelt’n Lebensweg! Ich nehm’ an, Sie werd’n die erbeutete Trophäe baldigst zu Geld mach’n?“ Verschmitzt lächelte Roth, als er Joe die Hand zum Abschied reichte.
„Das wird von meiner geliebten Verlobten abhängen. Ich glaube fast, dass sie den Cœur de la mer am liebsten um ihren wunderschönen Hals baumeln lassen möchte. Ich hoffe, ich kann sie davon überzeugen, dass wir das blaue Steinchen zur Existenzgründung verwenden sollten. Meinst du nicht, meine Liebste?“
Joe küsste Betty auf die Stirn. Er erinnerte Roth daran, Babette Goldman das Photo frühestens in vier Wochen zu übergeben und verließ mit Betty, gefolgt von zwei Hotelpagen mit ihrem Gepäck, das Breakers. Diesmal hatte Joe die Hotelrechnung ausnahmsweise bar bezahlt – mit dem Geld, das Joseph Roth für das kompromittierende Bild lockergemacht hatte.
Buch 1 – Henriette und Catherine
Juli 2013
Vom Horizont hörte Inspektor K. das Rauschen des nahen Wasserfalls und im Augenwinkel sah er die auf der Weide grasenden Kühe. Im Mittelpunkt seines Blickfeldes und im innersten Fokus seiner Aufmerksamkeit stand jedoch der Inhalt eines Buches, das er nicht im Vorübergehen lesen wollte. Die Zwergenfalle war wie jedes Buch seines Lieblingsschriftstellers W. Huch ein Kompendium von Verwirrungen und Komplexitäten. Es war überfüllt mit Personen, die sich nicht durch unterschiedliche Charaktere, sondern nur durch ihre Namen voneinander unterschieden. Die spannungslose Story war von Widersprüchen und Absurditäten übersät und trotzdem genoss Inspektor K. jede Seite. Er versank dermaßen in dem Roman, dass er das Gefühl hatte, den Fall gemeinsam mit Kommissar Slivehouse vom New York Police Department zu lösen. Da nicht nur der berühmte Cœur de la mer, ein Saphir, der den Untergang der Titanic am Hals einer reichen Witwe miterlebt hatte, gestohlen, sondern auch Jeremy Goodmarquer, der Besitzer eines Juweliergeschäfts ermordet worden war, konnte Inspektor K. seine Expertise bei der Suche nach den Raubmördern virtuell einbringen. Er fühlte sich mit Kommissar Slivehouse wie durch ein geheimes Band verbunden. Vermutlich lag das daran, dass sich der literarische Chefermittler bei der Aufklärung von weiteren Einbrüchen in renommierte Juwelierläden nicht gerade durch ausgeprägte Verstandesstärke oder genuine Intuition auszeichnete. Inspektor K. kannte die latente Angst, wegen Erfolglosigkeit aus der Mordabteilung in die Drogenabteilung zurückversetzt zu werden. Dem New Yorker Polizisten schien es nicht viel anders zu ergehen als ihm selbst. Die Fälle waren kompliziert, die Verdächtigen meist verschlossen oder – falls mit maßgefertigten Alibis ausgestattet – besonders redselig, die Spuren rar und leicht zu übersehen. Auch Slivehouses Kombinationsgabe schien seiner eigenen nicht unähnlich zu sein. Immer wieder kam es zu Blockaden im Hirn des seelenverwandten Polizisten und seine Denkkanäle verwickelten und verschlangen sich so ineinander, dass es unmöglich schien, den Geheimnissen der verschiedenen Verbrechen auf den Grund zu kommen.
Warum hatte der Nachtwächter vom „seligen Mr. Goodmarquer“ gesprochen, fragte sich Inspektor K. und schloss das Buch. Er ging zum Kühlschrank und wollte sich gerade etwas zu trinken holen, als das Telefon läutete. Es war Hofrat Magreiter:
„Tut mir leid, K., dass ich dich im Urlaub störe. Aber es gibt einen Fall, der dich interessieren wird. Erinnerst du dich an den Mondseer Mord vor fünf Jahren?“
Inspektor K. runzelte die Stirn. Er hatte gehofft, seine Urlaubswoche in Ruhe mit seinen Krimis verbringen zu können und zwischendurch den einen oder anderen Marlene-Dietrich-Film auf DVD anzusehen. Dass er bereits am ersten Urlaubstag von seinem ehemaligen Chef belästigt wurde, fand er nicht gerecht. Doch bevor er etwas sagen konnte, hörte er, wie die Telefonleitung unterbrochen wurde. Vielleicht war sein Urlaubsort auf der Alm nicht so schlecht gewählt. Er drückte die Rückwahltaste und erhielt von einer netten Computerstimme die Information, dass der gewählte Teilnehmer derzeit nicht erreichbar war. Das hieß wohl, dass er sich weiter an den stupiden Ermittlungsversuchen von Kommissar Slivehouse ergötzen konnte. Diesem war es mittlerweile – durch Zufall – gelungen, die verschwundene Leiche des Juweliers Goodmarquer zu finden. Laut Obduktionsbericht war Goodmarquer vor rund fünf Monaten erdrosselt worden. Slivehouse hatte ihn allerdings erst wesentlich später einvernommen. Gespräch mit einem Toten oder Doppelgänger?
„Ein echter Dummkopf, dieser Slivehouse!“, entfuhr es Inspektor K. Er dachte daran, dass ein Zeuge vom „seligen Mr. Goodmarquer“ gesprochen hatte und deshalb von Goodmarquers Ableben gewusst haben musste, ehe es der Polizei oder den Medien bekannt war. Das bedeutete, dass der Zeuge in die Sache tiefer involviert war, als er zugeben wollte. Inspektor K. erinnerte sich an den abrupt unterbrochenen Anruf von Magreiter und versuchte neuerlich, ihn anzurufen. Die Verbindung war nach wie vor unterbrochen. Inspektor K. tauchte wieder in die Welt des New York Police Departments ein, in der Slivehouse unverhofft Unterstützung von einem erfahrenen und ihm freundschaftlich verbundenen Kollegen bekam. Dass dieser „Rightforsight“ hieß, entsprach W. Huchs Faible für wohlklingende Namen. Mit Rightforsights Hilfe gelang es Kommissar Slivehouse, den Kopf der Einbrecherbande zu identifizieren. Bis zu dessen Verhaftung musste Inspektor K. Slivehouse auf einigen Umwegen und in so manche Sackgasse begleiten. So wurden rund dreihundert kleinwüchsige Kriminelle verhaftet, da der Einbruch in Goodmarquers Juweliergeschäft nur von jemandem begangen worden sein konnte, der kleiner als einen Meter sechzig war. Dass diese Personen bald enthaftet werden mussten, focht Slivehouse nicht an. Inspektor K. blickte durch das kleine Fenster ins Freie. Das nasstrübe Wetter hatte ihn in die Almhütte zurückgedrängt. Er machte sich eine Kanne Malventee, wickelte sich in eine Wolldecke ein und setzte sich in seinen Lesestuhl. Eine Packung roter Lindor-Kugeln stand neben ihm auf dem Boden. Es fehlten ihm knapp vierzig Seiten, bis das Geheimnis der Zwergenfalle geklärt und der Doppelgänger des ermordeten Juweliers gefunden war. Als bei einem Autounfall – welch Zufall! – ein weiterer Verdächtiger in einem zartrosa lackierten Cadillac starb und ein Großteil der Beute, nicht jedoch der Cœur de la mer, auftauchte, zog sich die Schlinge um des Mörders Hals weiter zu. Auf der vorletzten Seite seines Krimis kam W. Huch nicht mehr umhin, den Sohn des ermordeten Juweliers als Täter zu entlarven.
Inspektor K. betrachtete das Buch in seinen Händen und schüttelte den Kopf:
„Wenn mein lieber Huch da nicht ein wenig über das Ziel hinausgeschossen ist! Eine solche Aneinanderreihung von Zufällen und konstruierten Beziehungsgeflechten kann es im wirklichen Leben gar nicht geben. Und dieser vertrottelte Slivehouse! Im Vergleich zu ihm bin ich ein echter Sherlock Holmes! Oder wollte Huch mit dieser Geschichte nicht so talentierten Polizisten Mut machen und ihnen zeigen, dass es immer noch schlimmer geht?“
Inspektor K. lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss eine Lindor-Kugel. In diesem Augenblick läutete erneut das Telefon. Es war wieder Magreiter:
„Du bist wohl am Ende der Welt, weshalb ich mich kurzhalte: Dein Freund Waagner ist gestorben. Es sieht nach einem Unfall aus. Aber du weißt, ich habe da immer meine Bedenken. Am besten unterbrichst du kurz deinen Urlaub und schaust bei den Kollegen in Mondsee vorbei. Einen schönen Tag noch!“
Inspektor K.s Stimmung fiel binnen Sekunden vom Zenit des trivialen Amüsements über Slivehouses Abenteuer auf den eiskalten Boden der Verzweiflung über die Nachricht von Waagners Tod. Wenn Wolfgang Waagner tot war, bedeutete das nicht nur, dass Inspektor K. einen guten Freund verloren hatte. Es hieß auch, dass niemand mehr diese Geschichte zu Ende erzählen würde. Denn Waagner hatte einen Teil seiner knappen Freizeit dafür verwendet, das Leben um ihn herum schriftlich festzuhalten. Wer würde nun die Rolle des nicht immer der Wahrheit verpflichteten Chronisten übernehmen? Würde sich überhaupt jemand finden, der seine Zeit damit vergeuden würde, über Menschen zu schreiben, die niemanden interessierten, und von Taten zu berichten, die keinen historischen Wert besaßen? Es bedurfte der Rückbesinnung auf den von Wolfgang Waagner stets verabscheuten Fortschritt der Technik: Der Computer, zu jener Zeit Laptop genannt, und die Schreibmaschine, in den Jahrzehnten vor Geburt des Computers Hilfsmittel der schreibenden Zunft, mussten Waagners Aufgabe übernehmen. Und sie taten es.
Wolfgang Waagner war es nicht vergönnt gewesen, ein erfolgreicher Buchautor zu werden. Dementsprechend war seine Schreibmaschine nichts Besonderes. Nach der Computerinvasion war sie antiquiert, aber keineswegs berühmt. Auf ihr hatte Waagner alle seine Bücher geschrieben, die in Wahrheit Manuskripte oder Typoskripte geblieben waren und rückwirkend keinen Glanz auf ihre Tastatur werfen konnten. Die alte Swinging Typewriter, wie sie Jahre später von einem Literaturstudenten ohne Grund genannt wurde, hatte auf merkwürdige Weise vom Ableben ihres Besitzers erfahren. Sie stand auf dem Schreibtisch in Waagners Arbeitszimmer, als man Waagners Leichnam neben ihr auf einer alten Couch aufbahrte. Wer die Idee zur Aufbahrung hatte, entzog sich ihrer Kenntnis. Die Swinging Typewriter war sich allerdings bewusst, dass sie von nun an alleine, ohne Waagners Hilfe, die kommenden und vergangenen Geschehnisse aufzeichnen musste. Hierzu gehörte auch die erste Begegnung zwischen Waagners erster Frau Henriette und ihrem zweiten Traummann.
2.1 Linz – 2002
Henriette, geborene Magreiter, geschiedene Waagner, hatte seit Kurzem die Devisenabteilung hinter sich gelassen und war zur Firmenkundenbetreuerin in einer Linzer Bank aufgestiegen. Sie saß in ihrem geräumigen Büro, als es an der Tür klopfte und Hartmut Grünwald eintrat. Er wurde bei seiner Hausbank vorstellig, weil er die Kreditlinie für sein Unternehmen ausweiten wollte. Dass er bei diesem Anlass die Liebe seines Lebens treffen würde, überraschte alle Beteiligten. Die Chance, dass es zwischen ihm und Henriette funken würde, war nicht groß, da die junge Bankmanagerin Hartmut nur durchschnittlich sympathisch fand. Vor allem sein Äußeres, und Henriette legte großen Wert auf Äußerlichkeiten, zog sie nicht in seinen Bann. Ihr geschiedener Mann hatte ebenfalls keine Ähnlichkeit mit Robert Redford oder George Clooney. Aber er sah wenigstens Anthony Perkins in Psycho ähnlich. Hartmut hingegen konnte man wegen seiner wenigen Haare nicht einmal mit Kojak, dem legendären Glatzkopf der amerikanischen Polizeiserie, verwechseln. Sein Gesicht war rundlich und machte einen gemütlichen Eindruck. Das von Zeit zu Zeit um seine Mundwinkel spielende, rasch zurückgenommene Lächeln zeugte von einer gewissen Schüchternheit. Henriette konnte rückblickend nicht sagen, ob sie in Hartmuts Augen bereits bei diesem ersten Treffen einen Anflug von Verliebtheit entdeckt hatte. Zu sehr war sie von den Kreditunterlagen abgelenkt, die auf ihrem Tisch lagen. Überdies bewirkte Hartmuts Kleidung – wie üblich trug er schwarze Jeans und einen dunkelgrauen Rollkragenpullover –, dass Henriette ihn nur als Bankkunde und nicht als Mann wahrnahm. Beim Thema „Männer“ drehte sich bei ihr damals alles um den Sohn eines reichen Unternehmers, der sie mit psychopathischen Anfällen tyrannisierte. Die Zeit zwischen ihrer ersten und zweiten Ehe gehörte wahrscheinlich zu den schlimmsten Phasen ihres Lebens. Ihr ganzes Denken war eingebettet zwischen dem Hoffen auf eine neue erfüllte Beziehung und dem Bangen angstvoll durchwachter Nächte.
Hartmut Grünwald war einer von Henriettes Firmenkunden, der korrekterweise zur Kategorie „Großkunde“ gehört hätte. Infolge eines Computerfehlers wurde er irrtümlich als „Firmenkunde“ geführt, der als Kreditnehmer nicht der höchsten Bankehren würdig war. Unabhängig von seiner bankinternen Einordnung war Hartmut wie alle anderen Besucher der heiligen Bankhallen den regelmäßigen Versuchen seiner Bankbetreuer ausgeliefert, ihm Aktien-, Anleihen- und Rohstofffonds, Bausparverträge, Kredit- und Lebensversicherungen, Devisen Futures und Swaps sowie sonstige erst in Entwicklung stehende Finanzprodukte zu verkaufen. Als Firmenkundenbetreuerin musste Henriette ihre Kunden monatlich nach deren persönlichem Befinden und finanziellen Bedürfnissen befragen und sich Monatsbilanzen vorlegen lassen. Auch über die Gesundheit der Frau Gemahlin, der Kinder und des Hundes sollte geplaudert werden. Dass ausgerechnet Hartmut, dieser mittelgroße, nicht besonders durchtrainierte, fast kahlköpfige Mann in den Vorhof ihres Herzens vordringen würde, war ein Gedanke, der wegen seiner Absurdität nicht existierte und als Totgeburt Henriettes Gehirn nie erreichte. Hartmut hingegen wusste vom ersten Moment an, als er Henriettes strahlend blaue Augen sah, dass er auf die Frau seines Lebens gestoßen war. Es war keine Liebe auf den ersten Blick, denn zu unerreichbar erschien ihm Henriette. Beinahe wäre er beim Betreten ihres Büros vor Ehrfurcht erstarrt. Es war ihm, als wäre er Kleopatra persönlich begegnet. Obwohl er sich seiner oberösterreichischen Vorfahren über Jahrhunderte sicher war, hatte er das Gefühl, dass ihm ein altägyptisches Gen innerlich befahl, sich vor der Königin seines – ägyptischen, nicht oberösterreichischen – Volkes auf den Boden zu werfen. Seine Knie wurden weich. Mit größter Mühe konnte er verhindern, dass sein Körper zu Boden glitt und er sich im Staub vor Kleopatras Füßen als gehorsamer Untertan zu erkennen gab. Dabei hatte Henriette keine Ähnlichkeit mit Kleopatra. Mit ihren weißblonden Haaren, ihrem rundlichen Gesicht und ihrer Stupsnase war sie eher das krasse Gegenteil von Kleopatra. Auch deren angeblich herrschsüchtiges Verhalten, dem sich selbst Julius Cäsar beugen musste, hatte nichts mit Henriettes Wesen gemein. War es das Majestätische in ihrem Gehabe? Nein, majestätisch konnte man Henriette nicht nennen. Als Schönheitskönigin wäre sie allenfalls durchgegangen. Nicht jedoch im Büro, wo ein elegantes, schlichtes graues Kostüm ihre körperlichen Vorzüge bescheiden verbarg, die einer Schönheitskönigin im Bikini alle Ehre gemacht hätten.
Verkrampft dachte Hartmut an den Grund seines Bankbesuches. Unsicheren Schrittes ging er auf Henriette zu, die freudestrahlend mit einem unvorstellbar großen Lächeln, das in jeder anderen Situation durchaus als Lachen zu bezeichnen gewesen wäre, hinter dem Schreibtisch hervorgetreten war. Sie streckte Hartmut ihre Hand zur Begrüßung entgegen und sagte mit lauter, nicht unangenehmer Stimme:
„Ja, grüß Gott, Herr Grünwald! Es freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen!“
Hartmut wusste, dass Henriette diesen Satz, gegebenenfalls ein wenig transponiert, bereits hunderte Male zu anderen Kunden gesagt hatte. Trotzdem überkam ihn die Gewissheit, dass er der glückliche Gewinner einer Audienz bei Kleopatra war, die ihn zu allem Überdruss fragte, ob er Hoflieferant für Datteln, Kamele und Lidschatten werden wollte. In einem musste man Hartmut Recht geben: Henriette sah damals zu Beginn des neuen Jahrtausends blendend aus. Obwohl sie Ende zwanzig und innerlich von ihrer Scheidung und der folgenden sehr komplexen, wenn nicht teuflischen Beziehung arg gezeichnet war, hatte sie das Kunststück zu Wege gebracht, wie Anfang zwanzig auszusehen. Mit ihrem frischen, geradezu an saftige Nektarinen erinnernden Gesicht konnte sie sofort jeden Mann gefangen nehmen. Sie war sich ihrer Wirkung auf Männer bewusst und verdankte ihr zum Teil ihren raschen Aufstieg in der Bank. Allerdings nahm sie im täglichen Berufsleben von dieser sie so kennzeichnenden Eigenschaft bewusst keine Kenntnis, was ihr nicht schwerfiel. Die Kreditunterlagen und Investmentangebote erforderten ihre ganze, ungeteilte Aufmerksamkeit. Selbst bei dem sprichwörtlichen Multitasking, das sie nach eigenen Angaben besonders gut beherrschte, gelangte ein Gedanke an den Mann im „Firmenkunden“ nicht an die Oberfläche ihres Denkens.
Waagners Leichnam war vor einer Woche abtransportiert worden. Seither hatte niemand sein Arbeitszimmer betreten. So konnte die Swinging Typewriter ungestört vor sich hinschreiben. Sie tat es mit derselben Inbrunst, mit der Waagner zu seinen Lebzeiten seiner Fantasie freien Lauf gelassen und seine Märchen zu Papier gebracht hatte. Waagners Schreibmaschine besaß jedoch weniger Fantasie als er. Dieses Manko versuchte sie durch ihr spezielles Wissen wettzumachen. Durch die intensive Zusammenarbeit mit Waagner wusste sie von seinen oft versponnenen Geschichten. Da sie seine Gedanken lesen konnte, war ihr alles bekannt, was in Waagners Kopf und dessen Umwelt vor sich ging.
2.2 Linz – 1970 bis 1999
Henriette war die Enkelin der eleganten Hoteldiebin Betty, die sich Jahre nach ihrem erfolgreichen Besuch im Breakers in einen österreichischen Gendarmen verliebt hatte. Bettys Herzensbube hatte an einem Fortbildungskurs für kriminalpolizeiliche Ermittlungsmethoden in New York teilgenommen und sie überredet, mit ihm nach Österreich zu ziehen. Kurz danach marschierte Hitler ein und der Gendarm machte dank seiner früh geäußerten Sympathie für den Nationalsozialismus rasch Karriere. Betty wurde Mutter eines strammen Stammhalters, der später als Hofrat Magreiter Mentor und väterlicher Freund von Inspektor K. wurde. Dass Magreiter Junior auch bei der Polizei landete, war weder durch seine Abneigung gegenüber Schusswaffen noch durch die zweifelhafte politische Einstellung seines Vaters vereitelt worden. Ausschlaggebend für seine Flucht zur Linzer Kriminalpolizei war gewesen, dass er den Tratsch seines Dreimäderlhauses beim Mittagstisch nicht ertragen konnte. Henriette Magreiter und ihre ältere Schwester waren der ganze Stolz ihrer Eltern, besonders ihres Vaters. Die Freude über den hübschen Nachwuchs wurde bloß dadurch getrübt, dass die Mädchen nach dem Spracherwerb diese Gabe so extensiv nutzten, dass Magreiter jede noch so von Schusswechseln geprägte Verbrecherjagd als Oase der Ruhe empfand.
Vor seinem Eintritt in den Polizeidienst hatte Hofrat Magreiter erfolgreich Jus studiert und Richard Krafft-Ebings Psychopathia sexualis aus dem Jahr 1886 gelesen. Darin fand er den Leitspruch für sein eigenes und das Leben seiner Töchter: Eine sozialen und sittlichen Interessen dienende sexuelle Stellung des Weibes ist nur als Ehefrau denkbar. Dementsprechend richtete er Henriettes Erziehung einzig am Ziel, einst eine ehrbare Ehefrau zu sein, aus und wollte sie in den Künsten des Kochens, Nähens und Hausgesangs bestmöglich ausbilden. Die Ergebnisse der Gesangsausbildung im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert, als junge Menschen lieber Popsongs als Schuberts Klangperlen nachträllerten, waren nicht mehr so erfreulich wie in weiter zurückliegenden Epochen. Außerdem fehlten Henriette die hiefür nötigen Stimmbänder. Stattdessen mühte sie sich durch jahrelang widerwillig absolvierte Klavierstunden, deren Resultat weder die Mühe noch das investierte Geld wert waren.
Womit Magreiter nicht gerechnet hatte, war die Obstruktion, die seine Ehefrau all seinen Plänen heimlich entgegensetzte. Ohne sein Wissen war Henriette nicht in die vorgesehene Haushaltungsschule eingeschrieben, sondern in das örtliche Gymnasium geschickt worden. Die intensive Beschäftigung mit dem Strafgesetzbuch, dem der Familienvater einen Kommentar widmete, und die Ortsabwesenheit als Präsident eines weit entfernten Polizeirayons führten dazu, dass Magreiter von Henriettes Besuch des Gymnasiums erst ein Jahr vor ihrer Matura erfuhr. Zu diesem Zeitpunkt hätten die wesentlichen Grundlagen der Kochkunst längst vermittelt sein müssen. Andererseits hatte der näherkommende Abschluss einer Höheren Schule für den nicht ehrgeizlosen Vater auch seinen Charme. Magreiter war hin- und hergerissen. Er war von seiner Frau sehr und von sich nicht unbeträchtlich enttäuscht. Dass er sich als ein den Verbrechern immer einen Schritt vorauseilender Kriminologe so hatte täuschen lassen! Aber vielleicht hatte das alles etwas Gutes an sich?
War es göttliche Fügung oder banaler Zufall? Just zu jener Zeit, da Magreiter zum ersten Mal hörte, dass Henriette ihre Zeit mit Latein und Mathematik statt mit Backen und Garen zubrachte, stolperte er über Otto Weiningers Buch Geschlecht und Charakter aus dem Jahr 1903. Das Büchlein hatte sich zwischen die Seiten einer antiquarischen Ausgabe des österreichischen Strafgesetzes von 1852 verirrt. Mit großem Interesse las Magreiter davon, dass das „Rätsel Weib“ gelöst worden war. Es kam, wie es kommen musste. Magreiters Weltbild abseits der Welt des Verbrechens und des Rechts erfuhr innerhalb der Zeitspanne, in der Henriette vom süßen Baby zur hübschen jungen Dame gereift war, einen deutlichen Wandel. Der Verrat seiner Frau am scheinbar gemeinsam festgelegten Leitbild, aus den Töchtern ehrbare Ehefrauen zu machen, trug entscheidend zu Magreiters Sinneswandel bei. Er, der die Juristerei nicht als von Gott gegeben, sondern im Sinne der Aufklärung als Instrument zur Befreiung des Menschen von falschen Wertvorstellungen angesehen hatte, verfiel aufgrund seiner leidvollen Erfahrung und von Weiningers Buch aufgestachelt einer neuen Doktrin: Die Frau war „nichts“. Das Weib ist nichts, und darum, nur darum kann es alles werden … Das Weib mag alles scheinen und alles verleugnen, aber es ist nie irgendetwas in Wahrheit.
So war Hofrat Magreiter, Vater zweier Töchter, treuer und liebevoll sorgender Ehemann, plötzlich dreimal von nichts umgeben. Von einer ihn hintergehenden Ehefrau, einer Gymnasiastin, die nicht wusste, wie man einen Kochlöffel hielt, und einer ihn am Wochenende immerhin mit Kuchen verwöhnenden älteren Tochter, die ebenfalls ohne sein Wissen die Matura gemacht hatte. Was sollte er empfinden? Freude, dass sie gesund waren und sehr gelungen schienen, wenn man ihre äußeren optischen Reize berücksichtigte? Sollte sich Magreiter unter diesen Umständen weiter den Kopf zerbrechen, ob seine Töchter jemals heiraten würden? Welcher, zumindest mit den Schriften Krafft-Ebings und Weiningers vertraute, Mann würde so wahnsinnig sein, eine Frau mit Matura zu heiraten? Sollte er sich noch Sorgen machen, wie er seine Mädchen an den richtigen Mann bringen würde? Oder waren sie, wie seine Frau behauptete, tatsächlich in der Lage, selbst für sich zu sorgen?
Das hatte einen besonderen Reiz. Damit hätte sich das Thema der Mitgift, die ihm zahlreiche schlaflose Nächte bereitet hatte, mit einmal in nichts aufgelöst. Magreiter brauchte nicht mehr darauf zu hoffen, dass die einschlägigen Paragraphen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches rechtzeitig geändert würden. Nicht mehr hoffen, dass sich seine Töchter mit dem Heiraten so lange Zeit ließen, bis der gesellschaftliche Umbruch die überholten Bestimmungen aus der Zeit von Kaiser Franz beseitigen würde. Falls sich die Prophezeiungen seiner Frau bewahrheiteten, wonach junge, gut ausgebildete Frauen nicht mehr heiraten mussten, um glücklich zu werden, brauchte er nicht mehr für die rauschenden Hochzeitsfeste zu sparen. Er konnte auch aufhören, lustige Anekdoten zu sammeln, die die obligat langweiligen Hochzeitsansprachen auflockern sollten. Der mögliche Entfall der Ansprachen als Vater der Braut zauberte ein Lächeln auf Magreiters Gesicht, als er gedankenverloren über der Neuausgabe seines Kommentars zum Strafgesetzbuch saß.
Aber Magreiter wurde von seiner Frau nicht nur einmal hinters Licht geführt. Trotz ihres Einsatzes für die bestmögliche Ausbildung ihrer Töchter, die Henriette zahllose qualvolle Nachhilfestunden in fast allen Oberstufenfächern bescherte, hatte Magreiters Ehefrau die Absicht nicht aufgegeben, aus ihren Töchtern ehrbare Ehefrauen zu formen. Dieser Wunsch erschien ihr am ehesten erfüllbar, wenn sie sich rechtzeitig nach ehrenwerten Ehemännern umschaute. Sobald die richtigen Schwiegersöhne gefunden waren, konnten diese selbst dafür sorgen, dass aus Henriette und ihrer Schwester ehrbare Ehefrauen wurden. Frau Magreiter durchforstete akribisch ihren und ihres Mannes Freundeskreis nach passenden Männern im heiratsfähigen Alter. Die Fragen, die sie allein zu beantworten hatte, da sie ihren Mann in ihr dunkles Geheimnis nicht vor Fixierung des Hochzeitstermins einweihen wollte, waren jenen von Hofrat Magreiter nicht unähnlich, als er sich noch Vater von Töchtern in der Haushaltungsschule wähnte: Was war der passende Altersunterschied zwischen Schwiegersohn und Braut in spe? Sollte man die Studienwahl der Söhne ihrer Freunde abwarten, damit die finanzielle Zukunft neben dem Erbe auch durch den Verdienst der Schwiegersöhne gesichert war? Die erste Wahl für die siebzehnjährige Henriette fiel auf einen verheißungsvollen Jusstudenten, der bei Studienbeginn einen Ehrgeiz versprühte, der für die Zukunft eine steile Karriere als Wirtschaftsanwalt versprach. Als sich der junge Student jedoch kurz vor Studienende gegen die Anwaltei und für die Berufslaufbahn eines Polizisten entschied, kühlte Henriettes Liebe schnell ab und sie ließ den künftigen Inspektor K. kurzerhand stehen.
Für Henriettes Schwester lief bereits der erste Versuch wie am Schnürchen. Frau Magreiter wurde in einer angesehenen Architektenfamilie fündig. Der Schwiegersohn in spe empfand das nötige Maß an Sympathie für seine Zukünftige und war durchaus bereit, das gut gehende Architekturbüro seines Vaters fortzuführen. Das Zeichenbrett gegen eine Polizistenuniform zu tauschen, kam ihm nicht in den Sinn. Die Mitgift war schnell ausverhandelt und die Diskussionen über die Gästeliste dauerten kaum länger, als Henriettes Schwester für die Wahl des Hochzeitskleides benötigte. Bei der Hochzeitsfeier, die im Palais Kaufmännischer Verein stattfand, wurde Henriette von Wolfgang Waagner begleitet. Im großen Ballsaal wurde Waagner erstmals von der Ahnung beschlichen, dass Henriettes Mutter schon die nächste Hochzeit plante.
Das erste gemeinsame Bild von Waagner und Henriette, das die Swinging Typewriter in alten Photoalben entdeckte, stammte aus den 1970er Jahren. Henriette mochte drei Jahre alt gewesen sein, Waagner rund drei Jahre älter. Er saß am Rande eines Swimmingpools und war an dem, was um ihn vorging, nicht sonderlich interessiert. Insbesondere nahm er nicht wahr, dass seine spätere Frau im Evakostüm um den Swimmingpool in ihren kurzen Beinchen herumtänzelte. Zwei Jahrzehnte später war Waagner im zweiten Anlauf von Henriettes Mutter auserkoren, ihr zweiter Schwiegersohn zu werden. Waagners heißes Verliebtsein beschleunigte die Dinge mehr, als Henriettes Furcht vor einer abgekarteten Beziehung das Unvermeidliche hätte bremsen können. Hofrat Magreiter, der über die vorbildlich inszenierte Hochzeit seiner älteren Tochter überrascht und danach über das Eintreffen des ersten Enkelkindes maßlos entzückt gewesen war, hatte seiner Frau inzwischen ihre Hinterlist verziehen und sein verbrechenserprobtes Gehirn hegte nicht den geringsten Zweifel, dass Henriettes Ehe ebenso erfolgreich sein würde wie jene seiner älteren Tochter. Zwischen der ersten Kuppelstunde auf glattem Tanzparkett und dem Ave-Maria im Mariendom, wo Henriette, in ein cremefarbiges Hochzeitskleid gehüllt, zögernd ihr Ja-Wort gab, lag zwar eine längere Zeitspanne, als Henriettes Schwester vom ersten Kuss bis zum Läuten der Hochzeitsglocken benötigte. Im Gegenzug fiel Henriettes Hochzeitsfest um eine Nuance rauschender, beeindruckender und kostspieliger aus. Dass Henriette und ihr Bräutigam die Ehe in der Hochzeitsnacht wegen übermäßigen Alkoholkonsums und Übermüdung der Ehegatten nicht vollzogen, wusste weder Magreiter noch seine Frau. Dass darin ein böses Omen liegen würde, ahnte auch Henriette nicht. Für sie stand der Kinderwunsch ohnehin nicht an erster Stelle ihrer Lebensprioritäten. Henriette sah es mit Wohlwollen, dass sich Waagner als akademisch gebildeter Autoverkäufer rasch die Karriereleiter emporarbeitete und jeden Monat üppige Prämien auf seinem Bankkonto eingingen. Um nichts dem Zufall zu überlassen und nicht ebenso unwissend über die wichtigsten Vorgänge in ihrer jungen Ehe zu sein, wie ihr Vater einst über den schulischen Werdegang seiner Töchter gewesen war, hatte Henriette eine Ausbildung zur Bankkauffrau begonnen. Dies brachte ihr sechzehn Monatsgehälter und den direkten Zugriff auf Waagners Bankkonto.
So schnell es den Berg zu Erfolg und Glück hinaufgegangen war, so schnell schien der Gipfel erreicht zu sein. Es waren keine drei Jahre vergangen und das junge Glück stürzte sich gleichsam von den Zinnen der Burg Wildberg. Über die Hintergründe des unerwarteten und in seiner Abwicklung raschen Endes von Henriettes Ehe wusste die Swinging Typewriter nicht viel. Hier war Waagners Schreibmaschine mit einem sonderbaren Fall von Amnesie ihres Herrn konfrontiert. Hatte sich Waagner zu Lebzeiten oft an die unmöglichsten Details seiner Schulzeit erinnern können, so schien es, als ob seine Ehe mit Henriette vollkommen aus seinem Gedächtnis gelöscht war. Nur mehr die äußeren Eckdaten waren ihm vor seinem Tod geläufig und nur auf diese konnte sich die Swinging Typewriter stützen. Wie in jeder Ehe war es gelegentlich zu kleinen Streitereien gekommen, die jedoch nach kurzer Zeit in harmonischen Versöhnungsfesten endeten. Ob Waagner mit seinem flotten Zweisitzer und den alljährlichen New-York-Besuchen die Erwartungen seiner innig angebeteten Frau zu hoch geschraubt hatte? Oder hätte er von Anfang an im Plaza, Waldorf-Astoria oder Pierre statt in günstigen Mittelklassehotels absteigen sollen? Einen Fehler hätte Waagner nicht begehen sollen: Henriettes Humorlosigkeit zu unterschätzen. Eines Tages hatte er leichthin den Vorwurf erhoben, Henriette arbeite zielstrebig auf sein frühzeitiges Ableben hin. Das Motiv für den beabsichtigten Mord enthielt er ihr vor, mit der ihr unterstellten Tötungsmethode stieß er sie vermutlich vor den Kopf. Durch einen für drei Tage angesetzten Kurzausflug nach Paris zur Hochzeit von Henriettes Cousin sollte Waagners Ermattungspegel, der durch die Arbeit als erfolgreicher Autoverkäufer bereits lebensbedrohende Ausmaße angenommen hatte, so weit erhöht werden, dass der Tod durch Erschöpfung unausweichlich war. Die Absurdität dieses Vorwurfes dürfte Henriette entgangen sein. Welcher Dreißigjährige stirbt an einem einmaligen, wenngleich stressigen Ausflug nach Paris? Und welche Frau würde ihren Mann beseitigen, der erst am Anfang einer vielversprechenden Autoverkäuferkarriere stand und von dem sie lediglich einen kleinen – japanischen – Sportwagen, eine nicht abbezahlte Eigentumswohnung und zwei verstimmte Gitarren erben konnte?
Obwohl der von Waagner geäußerte Verdacht an den Haaren herbeigezogen war und von jeder anderen einsichtigen Ehefrau an Henriettes Stelle als Laune des überarbeiteten Gemahls mit Gleichmut übergangen worden wäre, erschien Waagners Anschuldigung Henriette entweder als erstes Zeichen einer psychischen Erkrankung oder als überraschende Entdeckung ihrer geheimen Mordpläne. Von jenem Tag an war die eheliche Kommunikation zwischen den Ehegatten abrupt abgebrochen. Als sich Waagner später – zunächst halbherzig, dann sehr ernsthaft – bei Henriette für die Mordunterstellung entschuldigte, war es zu spät. Henriette schwieg weiter, bis ihr ein folgenschwerer Satz über die Lippen rutschte: „Ich habe mit meinem Anwalt gesprochen.“ Damit hatte sie in Waagners Universum eine Grenze überschritten. Innerhalb weniger Tage waren der Scheidungsvergleich aufgesetzt und der Termin bei Gericht fixiert. Dass die Scheidung ausgerechnet am Hochzeitstag erfolgte, war Waagners letzter persönlicher Triumph in einer unerquicklichen Provinzposse. Nach exakt drei Jahren war Henriette keine ehrbare Ehefrau mehr. Sie war wieder frei und zuversichtlich, als geschiedene, erfolgreiche Bankmanagerin das Leben in größeren Zügen zu genießen, als dies an Waagners Seite möglich gewesen war.
2.3 Linz – 2002 bis 2009
Über Henriettes zweiten Mann wusste die Swinging Typewriter nicht viel zu berichten. Er entstammte einer Unternehmerfamilie und wurde nach Jahren des bloßen Sohnseins selbst Unternehmer. Davor hatte Hartmut Grünwald wie alle Männer seines Alters Phasen höchster Glückseligkeit und tiefster Niedergeschlagenheit zu durchleben, ehe ihm der Erlösungsengel in Henriettes Gestalt begegnete. Was das Geheimnis seines Erfolges bei Henriette war, wusste niemand genau. Dass es mit seinen Fähigkeiten zwischen den Bettlaken zu tun haben mochte, hielt Hartmut nicht für denkunmöglich. Näherliegend war, dass sein sonniges Gemüt, seine stets ein Bonmot verströmende Lebensart und sein fröhliches Lachen Henriettes Zuneigung zu ihm erweckte. Eines wusste Hartmut in den ersten Wochen seligen Verliebtseins nicht. Seine angehimmelte Kleopatra war eine Autoliebhaberin, die Besitz und Reichtum gerne zur Schau stellte. Ihr erstes Auto war ein BMW, der bereits andeutete, wohin die Reise gehen würde. Es war ein kleiner BMW, dessen Heck abscheulicherweise an unpassender Stelle abgeschnitten war. Aber es war das Auto eines Premiumherstellers. Henriettes schwarzer BMW signalisierte den Menschen, dass seine Besitzerin wusste, was sie wollte: Reichtum, Prestige und die kleinen Annehmlichkeiten, die das Leben sonst noch lebenswert machten. Henriette hatte ihr Leben von Anfang an darauf ausgerichtet, in möglichst kurzer Zeit ihre Ziele zu erreichen. Ihre ersten beruflichen Sporen verdiente sie sich im Vertrieb von Anzeigen für diverse Braut-, Kulinarik- und Maturaball-Führer, ehe sie über gute Verbindungen ihres Vaters in einem bodenständigen Kreditinstitut unterkam. Die Bankkarriere verlief geradlinig, ohne die bei Protektionskindern zu erwartenden Abkürzungen. Ihr freundliches Wesen machte sie bei Kolleginnen und Kunden gleichermaßen beliebt. Die tägliche Mühsal, die das stundenlange Stehen am Schalter verursachte, und die Angst, Opfer eines Banküberfalles zu werden, nahm sie mit Blick auf das näherkommende Leben in Luxus in Kauf. Vom Schalter ging es in die Devisenabteilung, wo fehlende Fachkenntnisse durch ihr gewinnendes Wesen und ihre beglückende Kommunikationsfähigkeit kompensiert wurden.
Als Hartmut Henriette zum ersten gemeinsamen Abendessen ausführte, tat er dies mit einem großen schwarzen deutschen Auto. Ob Henriette da bereits ein Leben an Hartmuts Seite ernsthaft in Erwägung zog, konnte die Swinging Typewriter