Tora und Fest - Georg Braulik OSB - E-Book

Tora und Fest E-Book

Georg Braulik OSB

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Beschreibung

Der sechste Sammelband des Verfassers in dieser Reihe enthält Artikel zum Deuteronomium und Aufsätze zur Liturgie. Der erste Teil erarbeitet Besonderheiten der deuteronomischen Theologie. Der zweite liturgische Teil behandelt die Verehrung alttestamentlicher Heiliger, das Verständnis des "Pascha-Mysteriums" und die Rolle der Tora bei der Erneuerung der nachkonziliaren Liturgie, die Charakterisierung Marias als Inbild Israels in der benediktinischen Marienvesper und das an Gott als Vater und Erlöser gerichtete Klagelied Jes 63,7–64,11..

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StuttgarterBiblischeAufsatzbände 69

Herausgegeben vonThomas Hieke und Thomas Schmeller

Georg Braulik

Tora und Fest

Aufsätzezum Deuteronomiumund zur Liturgie

© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2019

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller

Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg

Druck und Bindung: Sowa Sp. z o.o., ul. Raszynska 13, 05-500 Piaseczno, Polska

Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart

Printed in Poland

eISBN 978-3-460-51074-6

ISBN 978-3-460-06691-5

Abtprimas Gregory Polan OSBin Dankbarkeit gewidmet

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Deuteronomium

Eine Gesellschaft ohne Arme.Das altorientalische Armenethos und die biblische Vision

In: Internationale katholische Zeitschrift Communio 44 (2015), 563–576.

Lohnverweigerung und Sippenhaftung.Zu Schuld und Strafe im Buch Deuteronomium

In: Thomas Fornet-Ponse (Hg.), Überall und immer – nur hier und jetzt. Theologische Perspektiven auf das Spannungsverhältnis von Partikularität und Universalität (Jerusalemer Theologisches Forum 29), Münster 2016, 13–37.

»Heute« im Buch Deuteronomium. Tora und Bundesschluss

In: Bibel und Liturgie 90 (2017), 11–22.

Das Ende einer Karriere?Zum Dekalog in Deuteronomium 5 nach der revidierten Einheitsübersetzung

In: Bibel und Liturgie 90 (2017), 138–148.

Alltägliche Ernährung und festliches Mahl im Buch Deuteronomium.Vom Essen Israels in der Wüste, im Verheißungsland und im Tempel

In: Melanie Peetz – Sandra Huebenthal (Hg.), Ästhetik, sinnlicher Genuss und gute Manieren. Ein biblisches Menü in 25 Gängen. Festschrift für Hans-Winfried Jüngling SJ (Österreichische Biblische Studien 50), Frankfurt am Main 2018, 193–227.

Hat Gott die Religionen der Völker gestiftet?Deuteronomium 4,19 im Kontext von Kultbilderverbot und Monotheismus

Unveröffentlicht.

II. Liturgie

Verweigert die Westkirche den Heiligen des Alten Testaments die liturgische Verehrung?

In: Theologie und Philosophie 82 (2007), 1–20.

Die Erneuerung der Liturgie und das Alte Testament an den Beispielen Pascha-Mysterium und Tora.Zur Konzilskonstitution »Sacrosanctum Concilium«

In: Protokolle zur Liturgie 7 (2017), 13–48.

Maria als Inbild Israels.Eine bibeltheologische Betrachtung zur Marienvesper des Benediktinischen Antiphonale

In: Erbe und Auftrag 93 (2017), 422–430.

»Du bist doch unser Vater! ›Unser Erlöser von jeher‹ ist dein Name«

In: Internationale katholische Zeitschrift Communio 47 (2018), 4–18.

English Abstracts

Verzeichnisse

Vorwort

Meine fünf Aufsatzsammlungen, die in den »Stuttgarter biblischen Aufsatzbänden« erschienen sind, enthielten ausschließlich Beiträge zum Deuteronomium bzw. zur Nachgeschichte dieses Buches in anderen alttestamentlichen Schriften. Dagegen ist der vorliegende sechste Band – wie sein Titel bereits andeutet – thematisch zweigeteilt. Der erste, umfassendere Teil enthält wiederum Arbeiten zum Deuteronomium, die in manchem auf andere Bücher der Tora ausgreifen. Der zweite, kürzere Teil vereint unter dem Stichwort »Fest« – verstanden als Oberbegriff von Feier und Fest im engen Sinn – Aufsätze zur Liturgie. Sie reichen von der Verehrung der alttestamentlichen Heiligen in der lateinischen Kirche bis zu den Klagefeiern Israels in der Exils- bzw. Nachexilszeit. Die Vielfalt der Themen verdankt sich vor allem den Vorgaben, die mir bei Gastvorträgen oder von Seiten der Festschriftherausgeber und der Redaktoren von Zeitschriften gemacht wurden. Mit einer Ausnahme wurden alle Artikel in den letzten fünf Jahren veröffentlicht. Sie werden jetzt nachgedruckt, um leichter verfügbar zu sein. Aufgenommen wurde außerdem ein bisher ungedruckter Aufsatz, der den Umfang eines Zeitschriftenartikels bei weitem überschreitet. Die einzelnen Beiträge sind innerhalb jedes Teiles nach ihrem Erscheinungsdatum gereiht. Ihre Publikationsangaben können dem Inhaltsverzeichnis entnommen werden. Der Text der Nachdrucke ist gegenüber der Erstveröffentlichung weitgehend unverändert geblieben. Kästchen mit den Seitenanfängen ermöglichen es, auch den ursprünglichen Druck zu zitieren. Doch wurden sachliche und sprachliche Fehler korrigiert. An einigen Stellen habe ich in eckigen Klammern kurze Ergänzungen eingefügt, die mir für das bessere Verständnis wichtig erscheinen.

Die exegetischen Untersuchungen des ersten Teils sind, obwohl sie anlassbezogen entstanden, zum Großteil Begleitstudien zu einem Kommentar des Deuteronomiums, an dem ich gemeinsam mit Norbert Lohfink SJ arbeite. Ein Einleitungsband über die Sprache und literarische Gestalt dieses Buches soll demnächst in den »Österreichischen Biblischen Studien« erscheinen.

Mein Dank gilt auch beim vorliegenden Sammelband vor allem Norbert Lohfink. Er hat alle Manuskripte, öfters auch die vorausgehenden Fassungen, vor der Drucklegung kritisch gelesen und mit mir besprochen. Bedanken muss ich mich außerdem bei Prof. Dr. Thomas Hieke, der mein Buch als Herausgeber in die Reihe aufgenommen und seine Veröffentlichung umsichtig betreut hat. Nicht zuletzt danke ich auch Frau Dr. Andrea Klug (Mainz) für ihre Hilfe bei der Gestaltung des Manuskripts.

Ich widme diesen Sammelband dem Alttestamentler und Musiker Abtprimas Gregory Polan OSB in herzlicher Verbundenheit.

Georg Braulik OSBBenediktinerabtei Unserer Lieben Frauzu den Schotten in Wien

I. Deuteronomium

Eine Gesellschaft ohne Arme

Das altorientalische Armenethos und die biblische Vision

1Die Sorge für die Armen im Alten Orient und in Israel

563 Bei Grabungen in Khirbet Qeiyafa wurde 2008 ein Ostrakon, eine beschriftete Tonscherbe, entdeckt. Der Fundort, eine von Mauern umgebene israelitische Verwaltungsstadt, liegt 27 km südwestlich von Jerusalem im Grenzgebiet zwischen Judäa und dem Philisterland. Die nur bruchstückhaft erhaltene Tinteninschrift auf dem Ostrakon ist einzigartig. Sie stammt aus dem 10. vorchristlichen Jahrhundert, aus der Zeit König Davids. Vielleicht handelt es sich um eine Schülerübung. Einige Schriftzeichen lassen sich nur hypothetisch rekonstruieren. Gershon Galil von der Universität Haifa hat – mit manch diskutabler Lesart – die folgende Übersetzung des Ostrakons vorgeschlagen:1

… du sollst […] nicht tun, sondern diene […]

Hilf zum Recht dem Skla[ven] und der Witwe.

Hilf zum Recht der Wais[e] [und] dem Fremdling.

Tritt ein für den Arm[en und] die Witwe.

Verteidige [den Armen] in den Händen des Königs. Schütze den Ar[men und]

den Sklaven

[unter]stütze den Fremdling.

Dieser hebräische Text ist in mehrfacher Hinsicht eine Sensation. Er bildet ein frühes außerbiblisches Zeugnis für die hohe Sensibilität, die es schon damals gegenüber sozialen Problemen in Israel gab. Vor dem sozio-ökonomischen Hintergrund seiner Zeit wirft er ein Schlaglicht auf die Nöte der gesellschaftlichen Randschichten. Auffallend ist, dass er sich offenbar nicht an den König, sondern an das Volk wendet. Wir werden später bei der biblischen Sozialgesetzgebung auf den gleichen Adressaten treffen. Zugleich 564 unterscheidet sich die Inschrift dadurch grundlegend von vergleichbaren altorientalischen Texten. Sie verlangt von jedem – vielleicht sogar als Dienst Gottes (s. Zeile 1) – den Rechtsbeistand und die Sorge für Sklaven, Witwen, Waisen, Fremde und Bedürftige. Eine ähnliche Zuwendung zu den Armen belegen auch viele andere Dokumente der Antike.2 Zwar dürfte die Realität anders ausgesehen haben. Aber wir können davon ausgehen, dass Ägypten und Mesopotamien, das Hetiterreich und Kanaan wahrscheinlich ein höher entwickeltes Armenethos hatten als unsere moderne Weltgesellschaft. Ein paar Zitate aus der altorientalischen Literatur sollen dieses Ideal im Folgenden illustrieren. Denn erst vor diesem kulturellen Hintergrund lässt sich die Einbindung Israels in seine Umwelt, aber auch die Besonderheit der biblischen Botschaft verstehen.

Im Alten Orient wurde die Oberschicht zur Sorge für die Armen erzogen. Ihre Ausbildung spiegelt sich vor allem in der Weisheitsliteratur. Da heißt es zum Beispiel in der Lehre für König Merikare am Ende des 3. vorchristlichen Jahrtausends: »Beruhige den Weinenden, quäle keine Witwe, verdränge keinen Mann von der Habe seines Vaters«. In der Lehre des Ani am Ende des 2. Jahrtausends findet sich die Ermahnung:

Du darfst nicht dein Essen verzehren, während ein anderer dabeisteht und du nicht deinen Arm auch für ihn nach der Speise ausstreckst […] Der Mensch ist ein Nichts. Der eine ist reich, der andere ist arm […] Auch du kannst in die Lage kommen, dass ein anderer dir Brot reichen muss.

In autobiographischen Grabinschriften Ägyptens aller Epochen erklären die wohlhabenden Verstorbenen, was jeder dem 125. Kapitel des ägyptischen Totenbuchs zufolge vor dem göttlichen Richter bekennen muss: »Brot gab ich den Hungrigen, Wasser den Durstigen, Kleidung den Nackten.«

Für das Recht der Armen zu sorgen war insbesondere die Pflicht der Könige. In der Lehre für Merikare heißt es sogar, Gott habe »die Fürsten dazu erschaffen, den Rücken der Schwachen zu stützen.« Deshalb galt es zum Beispiel nach dem ugaritischen Daniil-Epos aus dem 14. vorchristlichen Jahrhundert als die Hauptaufgabe des Stadtkönigs, sich am frühen Morgen zum Stadttor zu begeben, wo die Bürger ihre Rechtsstreitigkeiten austrugen. Dort »verhalf er der Witwe zu ihrem Recht, sprach er rechtes Urteil zugunsten der Waise.«

Am besten sind Recht und Praxis des königlichen Rechts in Mesopotamien bezeugt. Seit der Mitte des 3. Jahrtausends rühmten sich die mesopotamischen Könige ihrer häufigen Schuldenerlasse und Rechtsreformen. Um wirtschaftliche Katastrophen abzuwenden und die hoffnungslos Verschuldeten vor dem bitteren Tagelöhner-, ja Sklavenschicksal zu bewahren, erließ der König aus jeweils freiem Beschluss einen allgemeinen Schuldenerlass. Damit zwang er die Gläubiger, auf ihre Forderungen zu verzichten, und ermöglichte so ein neues Leben in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher 565 Freiheit. Dieser soziale und ökonomische Ausgleich bildet auch einen Topos der Prologe und Epiloge der Gesetzeskodizes. Schon das älteste uns bekannte Rechtsbuch, der Kodex Urnammu, behauptet: »Die Waise wurde nicht dem Reichen überantwortet, die Witwe wurde nicht dem Mächtigen überantwortet.« Witwen und Waisen gelten im ganzen Alten Orient als typische Beispiele für Menschen, die an den unteren Rand der Existenzmöglichkeit geraten sind. Jahrhunderte später erwähnt Hammurabi von Babylon im Epilog seines Gesetzeswerkes nicht nur die sozialen Maßnahmen, sondern erklärt seinen Kodex selbst zum Mittel, den Unterdrückten zu helfen:

Damit der Starke den Schwachen nicht unterdrückt,

um der Waise und der Witwe zu ihrem Recht zu verhelfen,

habe ich in Babel […] in Esagila, dem Tempel, […]

meine überaus wertvollen Worte auf meine Stele geschrieben

und sie vor der Statue von mir, dem »König der Gerechtigkeit«, aufgestellt,

um das Recht des Landes zu ordnen,

um die Entscheidungen für das Land zu fällen,

um dem Unterdrückten Recht zu verschaffen.

Der »unterdrückte Mensch« könne jederzeit in den Tempel kommen und dort »sorgsam die beschriftete Stele« lesen. Sie werde »ihm seinen Fall erklären«, sodass »sein Herz aufatmen kann«. Welche Überraschung hätten allerdings der »unterdrückte Mensch« oder eine Waise oder Witwe erlebt, wenn sie dem Ratschlag Hammurabis folgend die 282 Paragraphen des Kodex gelesen hätten. Sie hätten in ihnen keinen Rechtssatz über die »Armen« oder »Unterdrückten« gefunden. Denn keine der mesopotamischen Gesetzessammlungen enthält eine Sozialgesetzgebung. Im Gegensatz zu den Pro- und Epilogen verschweigen sie nämlich die Armut. Möglicherweise ist diese Diskrepanz entstehungsgeschichtlich zu erklären. Das hieße: Die reinen Gesetzessammlungen entstammen dem Lehr- und Diskussionsbetrieb des »Tafelhauses«. Sie wurden erst in einer späteren Phase durch Prologe und Epiloge erweitert und bekannt gemacht. Nach ihrer Veröffentlichung kehrten die Gesetzbücher wieder in den Schulbetrieb der juristischen Eliten im Tafelhaus zurück und beeinflussten über ihre Ausbildung die Rechtsprechung. Wie auch immer man den unterschiedlichen Umgang mit den Armen deutet, in den uns vorliegenden Gesetzbüchern des Alten Orients stehen einander in Pro- und Epilog einerseits und Rechtssätzen andererseits zwei Weltentwürfe gegenüber. Sie unterscheiden sich dadurch von der Bibel. Denn in ihr fehlen die Armen in keiner der großen Sammlungen von Einzelgesetzen.

Das hohe Ethos der Armenfürsorge beruhte im Alten Orient auf der Überzeugung, dass die Götter selbst die Schützer und Retter der Armen waren. Weil der Sonnengott in jedes Dunkel hineinleuchtet, galt er überall als 566 Gott der Gerechtigkeit und der gelingenden menschlichen Sozialordnung. Als solcher liebte er vor allem die Armen und sorgte für sie. In Ägypten wurde meist Amun, der sich als belebender Geistgott auch der kleinsten und hilfsbedürftigsten Lebewesen annahm, von den Armen angerufen oder gepriesen. Dafür gibt es vor allem in der Ramessidenzeit (13. bis 11. Jahrhundert v. Chr.) eine Fülle von Zeugnissen, weshalb man sogar von einer »Religion der Armen« spricht. Die Beteuerung der damaligen Beter, sie seien »Arme«, war ein wichtiger Ausdruck der sogenannten »persönlichen Frömmigkeit«. So heißt es in einem Gebet an Amun-Re als den Schöpfer- und Sonnengott:

Du gibst Sättigung ohne Speise, du gibst Trunkenheit ohne Trank.3

Mein Herz möchte dich sehen.

Mein Herz ist froh, Amun, du Schützer der Armen.

Du bist der Vater der Waise, der Gatte der Witwe.

Wie lieblich ist es, deinen Namen zu nennen.

Er ist wie der Geschmack des Lebens.

Er ist wie der Geschmack von Brot für ein Kind,

wie ein Gewand für den Nackten,

wie der Duft eines Blütenzweiges zur Zeit der Sommerhitze.

Das Volk Israel, das zur gleichen altorientalischen Kultur gehört, teilt diese ethischen Überzeugungen. Das zeigen die anfangs zitierte Tinteninschrift auf dem Ostrakon, aber auch viele Texte des Alten Testaments.4 Auch Israels Könige waren verpflichtet, den Armen beizustehen. Psalm 72 spiegelt die gleiche Ideologie, wenn er vom König sagt: »Er rettet den Gebeugten, der um Hilfe schreit, den Armen, und den, der keinen Helfer hat. Er erbarmt sich des Gebeugten und Schwachen, er rettet das Leben der Armen. Von Unterdrückung und Gewalttat befreit er sie« (Verse 12–14). Nach dem Propheten Jeremia ist König Joschija von Juda diesem Ideal nahe gekommen: »Er hat für Recht und Gerechtigkeit gesorgt […]. Dem Schwachen und Armen verhalf er zum Recht. Heißt nicht das, mich wirklich erkennen – Spruch JHWHs?« (Jer 22,15–16). Am Einsatz für die Armen erweist sich letztlich auch die Gottheit eines Gottes. Im hochmythologischen Psalm 82 fordert JHWH deshalb die Götter auf: »Verschafft Recht den Unterdrückten und Waisen, verhelft den Gebeugten und Bedürftigen zum Recht! Befreit die Geringen und Armen, entreißt sie der Hand der Frevler!« Weil die Götter das nicht tun, verlieren sie ihre Gottheit und müssen »sterben wie Menschen« (Verse 3–4 und 7). Dass dagegen JHWH der Retter der Armen ist, durchzieht die Psalmen wie ein Leitmotiv. Bei vielen Klage- und Bittliedern fühlt man sich deshalb an die Armen-Frömmigkeit Ägyptens erinnert. Dennoch gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen dem altorientalischen und dem biblischen Ethos. Er zeigt sich bereits zu Beginn der Geschichte Israels, und zwar bei der Befreiung aus Ägypten. 567

2Wie reagiert JHWH, der Gott Israels, auf die Armut?

Die Götter der Völker sorgten dafür, dass den Armen geholfen wurde. Aber dass es immer Arme geben wird, war selbstverständlich. Sie hatten an den Rändern der altorientalischen Gesellschaft ihren festen Platz. Dagegen rettete der Gott Israels nicht nur einzelne Arme oder kleine, in besondere Not geratene Gruppen. Er begnügte sich nicht mit der Milderung des Elends, sondern griff in das System ein, das ökonomische Ausbeutung und soziale Deklassierung produzierte. Nach dem Alten Testament verrottete der Sklavenstaat in den ägyptischen Plagen, die er letztlich über sich selbst brachte, und ging mit dem Pharao und seiner Streitmacht in den Fluten des Roten Meeres unter. Das Buch Exodus lässt erkennen, dass JHWH die Hebräer, das heißt praktisch: die ganze Unterschicht Ägyptens, aus ihrer Armut herausführte. Weil dieser Auszug von Gott allein gewirkt ist, wird er als jede Naturgesetzlichkeit sprengendes Wunder geschildert. Er findet sein Ziel in einem paradiesischen Land, in das Gott hineinführt. In dieser Theologie des Exodus aus dem knechtenden System in eine neue Gesellschaft liegt das eigentlich Spezifische und Neue der Bibel. Das sogenannte kleine historische Credo Israels formuliert deshalb als Zusammenfassung der Erzählungen des Buches Exodus:

Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns zu Armen und legten uns harte Fronarbeit auf.

Wir schrieen zu JHWH, dem Gott unserer Väter, und JHWH hörte unser Schreien und sah unsere Armut, unsere Arbeitslast und unsere Unterdrückung.

JHWH führte uns mit starker Hand und hocherhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten.

Er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land: ein Land, wo Milch und Honig fließen. (Dtn 26,6–9)

In diese mythische Fülle des Landes konnten die Armen kommen, weil sie zuvor am Gottesberg Sinai zum »Volk JHWHs« umgeschaffen worden waren (Ex 19,4–6) und eine unvergleichlich gerechte Sozialordnung (Dtn 4,6–8) erhalten hatten. Wenn sich Israel auf diese Gabe und Aufgabe einließ, brauchte es im Volk Gottes keine Armen mehr zu geben. Die dafür theologisch-juristisch maßgeblichen Texte stehen in der deuteronomischen Sammlung von Einzelgesetzen (Deuteronomium 12–26), der letzten der drei großen Gesetzessammlungen des Pentateuchs. Sie will in ihrer Endgestalt als legislativer Gesamtentwurf verstanden werden, die in der Disposition ihrer Gesetze der Anordnung des Dekalogs folgt. Das heißt: sie steht, wie der Dekalog, unter dem »Vor-Wort« der Befreiung aus dem ägyptischen Sklavenstaat (Dtn 5,6). Nicht einmal die moderne Befreiungstheologie, der das Verdienst zukommt, die sozialen und ökonomischen Dimensionen der Exodus-Botschaft deutlich gemacht zu haben, hat die radikale Dynamik der Herausführung Israels aus Ägypten 568 auf eine Gesellschaft ohne Arme hin erkannt, wie sie ihren Niederschlag im Recht des Deuteronomiums gefunden hat. Die »Welt«, die es für die sozial schwachen Gruppen konzipiert, begnügt sich nicht mit einer »vorrangigen Option für die Armen« oder »einer Kirche der Armen« – dies entspräche nur dem allgemeinen Ethos der damaligen altorientalischen Kultur. Das deuteronomische Gesetzeswerk verklärt die Armen nicht. Es findet sich auch nicht mit der Realität der Armut ab. Denn Armut ist nicht gottgewollt. Das Deuteronomium rechnet vielmehr mit der Möglichkeit, dass von Gott und seinen Erlösungstaten her eine gerechte und deshalb gesegnete Gesellschaft verwirklicht werden kann. Sie ist keine sozialromantische Utopie, sondern hat ihren konkreten Ort inmitten des »Volkes«, also der »Familie Gottes«.5

3Das Recht der Armen und die Beseitigung der Armut

Das Gesetz des Deuteronomiums, des fünften Buches Moses, ist für eine agrarische Gesellschaft formuliert. In ihr zeigen sich soziale Unterschiede vor allem am Besitz von Grund und Boden. Er bildete die Existenzgrundlage der Familien. Über keinen Landbesitz verfügten von Berufs wegen die Priester bzw. die Leviten und wer in Abhängigkeit lebte wie die Menschen ohne Familie, die wir missverständlich als »Sklaven« bezeichnen. Dann solche, die sich als Tagelöhner durchbringen oder als Schuldknechte auf Jahre hinaus verdingen mussten. Ferner die sogenannten »Fremden« oder »Schutzbürger«, also Einwanderer und Asylanten. Schließlich die Witwen, die nicht in ihren Familienverband zurückkehren konnten, sowie die von ihnen zu versorgenden Kinder, die Waisen. Sie alle bildeten im Alten Orient die »Armen«, die auf Wohltätigkeit anderer angewiesen waren. An dieser Stelle greift das soziale Reformprogramm des Deuteronomiums ein. Es erwartet ganz nüchtern, dass die Gesellschaft gewöhnlich in Reiche und Arme, Herren und Knechte auseinanderdriftet. Deshalb konstruiert es mit Hilfe eines sorgfältig abgestimmten Systems von Einzelgesetzen eine Welt, in der diese Menschen keine Armen mehr sein müssen. Norbert Lohfink hat diese, auch in der Bibel einzigartige Neuordnung erstmals herausgearbeitet.6 Dazu im Folgenden.

In diesem Konzept nimmt das deuteronomische Gesetz erstens eine Sprachregelung vor. Anstelle der mindestens sechs Wörter, mit denen im Hebräischen weithin unterschiedslos über die Hilfsbedürftigen gesprochen wird, verwendet es nur mehr zwei Ausdrücke, mit denen die materiell »Armen« bezeichnet werden: ʿanî und ʾæbjôn. Ferner fasst es die Fremden, Waisen und Witwen, diese Trias klassischer personae miserabiles, in einer festen Wortreihe zusammen und nimmt sie aus dem Wortfeld der Armut heraus. 569 Das heißt: Diese Reihe wird niemals mit Wörtern oder konkreten Erscheinungsformen verbunden, die auf Armut verweisen.

Zweitens sichert das Deuteronomium allen Bevölkerungsgruppen, die nicht über Grundbesitz verfügen, mit Hilfe des Rechts den wirtschaftlichen Bestand und die volle Teilnahme am Leben Israels. Seine Bestimmungen beugen der Verelendung vor, schützen die sozial Schwachen und greifen regulierend in den Ablauf zunehmender Verschuldung ein. Doch betrifft nicht jedes Gesetz alle Gruppen, also die Leviten, Sklaven, Fremden, Waisen und Witwen. Nur die Gesetze über die beiden jährlichen Ernte-Wallfahrtsfeste, das Wochen- und das Laubhüttenfest, richten sich an alle Genannten.

Es sind vor allem zwei Problemzusammenhänge, in die das Deuteronomium regelnd eingreift.[7] Das erste Problemfeld betrifft die Phasen einer sich steigernden Verschuldung. Denn auch bei legalen Vorgängen des Schuldenwesens konnten ein freier Mann oder eine freie Frau Haus und Hof verlieren und schließlich als Sklave oder Sklavin enden. Nur in dieser Situation, die den Kleinbauern Palästinas stets drohte und in der Armut immer von neuem entstehen konnte, werden die beiden Bezeichnungen für die »Armen« gebraucht. Die fünf Gesetze, die den unaufhaltsam erscheinenden Verarmungsprozess mildern, aufhalten und rückgängig machen sollen, werden folgendermaßen wirksam: Ein Bauer gerät zum Beispiel durch Missernten oder Misswirtschaft in Not und benötigt ein Darlehen, um seinen Hof weiter bewirtschaften zu können. Hier fordert das Gesetz von Dtn 15,7–11 den Mitisraeliten auf, ihm einen zinsenlosen Notkredit zu gewähren. Dennoch kann der Verschuldete bald gezwungen sein, sich in einem anderen Betrieb als Tagelöhner zu verdingen. Dann sichert ihm und seiner Familie das Gesetz von 24,14 f. die tägliche Lohnauszahlung. Wenn es ihm dennoch nicht gelingt, die Schuld zurückzuzahlen, gibt es ein Darlehen gegen ein Pfand, wobei die Bestimmung von 24,12 f. für einen menschenwürdigen Umgang mit dem Pfand Vorsorge trifft. Schließlich kann sich die Schuldenlast so stark erhöhen, dass eine Personalhaftung fällig wird, das heißt: eine Schuldknechtschaft, die im Alten Orient zwar selbstverständlich, zugleich aber eine der härtesten Institutionen war. Dann darf der Gläubiger den Eintritt in das Schuldsklavenverhältnis nach dem Gesetz von 15,1–3 im Brachjahr nicht verlangen. Vermutlich muss sogar die Schuld in diesem siebten Jahr als getilgt betrachtet werden. Aus den gelegentlichen königlichen Schuldenerlassen in Mesopotamien ist nämlich im Deuteronomium eine regelmäßige Einrichtung geworden. Wird die Personalhaftung jedoch in einem anderen als dem siebenten, dem Brachjahr vollzogen, dann muss die eingetretene Schuldknechtschaft nach 15,12–18 im nächsten Brachjahr beendet werden. Es darf zu keiner hebräischen Sklavenschicht kommen. Der entlassene Israelit oder die Israelitin sollen von ihrem bisherigen Herrn mit Vieh und Saatgut ausgestattet werden, damit sie sich eine neue Existenz 570 aufbauen können. Nur in diesem fünften Gesetz fehlt die Armenterminologie, weil inzwischen ein anderer Stand, nämlich der des Schuldsklaven, gegeben ist. Besonders wichtig ist bei diesen Gesetzen, dass sie eine Nachbarschaftshilfe für den verschuldeten Armen auch bei beträchtlichem eigenem wirtschaftlichem Risiko, ja sogar bei Vermögensverlust beanspruchen. Und ferner, dass in ihnen für hilfsbedürftige Volksgenossen die Bezeichnung »Bruder« – übrigens in geschlechtlich inklusiver Sprache – eingeführt wird. Diese Motivation der »Brüderlichkeit« ist in der neuen Volk-Gottes-Theologie des Deuteronomiums verankert, die auf die Ideale des egalitären Israel der Frühzeit zurückgreift und die Klassenbarrieren einer geschichteten Gesellschaft überwindet. Denn die brüderlich-schwesterliche Gesellschaft reicht von den Schuldsklaven (15,12) bis zum König, der »sein Herz nicht über seine Brüder / Geschwister erheben soll« (17,20).

Neben dem Verschuldungsvorgang bildet das Versorgungsrecht ein zweites juristisches Problemfeld. Seine Gesetze regeln (zumindest auch) die Versorgung derjenigen Bevölkerungsgruppen, die keinen eigenen Grundbesitz haben oder aus anderen Gründen nicht autark existieren können. In sieben dieser Gesetze steht die Reihe »Fremde, Waise und Witwe«. Da sie nicht überall steht, handelt es sich um einen breiteren Zusammenhang, der auch andere Gruppen, zum Beispiel die Leviten, und manchmal Gruppen ohne die Fremden, Waisen und Witwen betrifft. Sklave und Sklavin scheinen dabei weniger versorgungsbedürftig zu sein als sie. Denn sie gehören zur Familie. Wie schon die Terminologie dieser Gesetze beweist, geht es um ein durchkalkuliertes System, das nicht Armut beseitigen, sondern eine normale, nicht durch eigenen Bodenbesitz gegebene Ernährung sichern soll. Diese Versorgung wird nicht freiwilligen Spenden überantwortet, ist keine Armenfürsorge, sondern bildet einen Rechtsanspruch:

In jedem dritten Jahr sollst du den ganzen Zehnten deiner Jahresernte in deinen Stadtbereichen abliefern und einlagern, und die Leviten, die nicht wie du Landanteil und Erbbesitz haben, die Fremden, Waisen und Witwen, die in deinen Stadtbereichen wohnen, können kommen, essen und satt werden, damit JHWH, dein Gott, dich stets segnet bei der Arbeit, die deine Hände tun. (Dtn 14,28–29)

Im jeweils dritten und sechsten Jahr nach der Ackerbrache soll der Zehnte nicht zum Jerusalemer Tempel gebracht werden.8 Er verbleibt vielmehr als eine Art Sozialversicherung am Heimatort und wird dort zur Verteilung eingelagert. Damit geht »Liebe vor Opfer« (vgl. Hos 6,6; Mt 12,7). Außerdem muss im Tempel über die Ablieferung dieser »heiligen Abgaben« ein Bekenntnis abgelegt werden (Dtn 26,12–15). Die Verantwortung dafür trägt also nicht wie im Alten Orient der König, sondern jeder einzelne Israelit. Dass die Leviten, Fremden, Waisen und Witwen zu essen haben, ja von diesem »Zehent Gottes« wirklich satt werden können, ist zugleich die 571 Voraussetzung für den Segen Gottes und damit für das Gelingen aller Arbeit des Wohlhabenden. Also bleiben auch die Spender von Gott Abhängige und Empfangende.

Fremde, Waisen und Witwen haben neben der normalen Nahrungsmittelversorgung außerdem das Recht auf die Nachlese bei den drei wichtigsten agrarischen Produkten Palästinas:

Wenn Du dein Feld aberntest und eine Garbe auf dem Feld vergisst, sollst du nicht umkehren, um sie zu holen. Sie soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören, damit JHWH, dein Gott, dich bei jeder Arbeit deiner Hände segnet. Wenn du einen Ölbaum abgeklopft hast, sollst du nicht auch noch die Zweige absuchen. Was noch hängt, soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören. Wenn du in deinem Weinberg die Trauben geerntet hast, sollst du keine Nachlese halten. Sie soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören. Denk daran: Du bist in Ägypten Sklave gewesen. Darum mache ich es dir zur Pflicht, diese Bestimmung einzuhalten. (Dtn 24,19–22)

Die deuteronomischen Gesetze erinnern beim Verhalten gegenüber sozial Unterprivilegierten also immer wieder an die eigene Sklaverei in Ägypten und an den Exodus, aber auch an den Segen, der für den Wohlhabenden daraus entspringt. Dennoch bildet nicht die persönliche Befreiungserfahrung der Adressaten des Deuteronomiums die tiefste Begründung, sondern das Verhalten Gottes, das Israel durch seine Solidarität nachahmen soll: »Er verschafft Waisen und Witwen ihr Recht. Er liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung – auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen« (Dtn 10,18–19).

Über Kleidung und Nahrung hinaus wird schließlich auch beseitigt, was Armut am bittersten macht – der Ausschluss von der gemeinsamen Freude. Alle Gruppen sollen vollen Anteil an den Festen Israels erhalten. Obwohl sie keinen eigenen Grund und Boden besitzen und damit über keinen Ernteertrag verfügen, nehmen sie als gleichberechtigte Glieder der »Familie JHWHs« an den Opfermählern von Wochen- und Laubhüttenfest, also der beiden Erntefeste, teil. Dtn 16,11 (und ähnlich 16,14) heißt es ausdrücklich: »Du [– das sind der freie Mann und seine Frau –] sollst vor JHWH, deinem Gott, fröhlich sein, du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, auch die Leviten, die in deinen Stadtbereichen Wohnrecht haben, und die Fremden, Waisen und Witwen, die in deiner Mitte leben.«

Hier ist die Mystik der Gottinnigkeit von den Riten am Altar weg in das Miteinander der fröhlichen Mahlgemeinschaften gezogen. Weil hier alle Glieder Israels ohne soziale Unterschiede »vor JHWH« versammelt sind, verwirklichen sie realsymbolisch bereits eine geschwisterliche Gesellschaft. 572

4»Es wird bei dir keine Armen mehr geben« (Dtn 15,4)

Die Vision einer »Gesellschaft ohne marginale Gruppen« ist zwischen die juristischen Vorschriften des Brach- und Erlassjahres – den Verzicht auf Ansprüche in jedem siebten Jahr (Dtn 15,1–3) – und die daraus folgende Paränese über eine Kredithilfe für arme Israeliten (Dtn 15,7–11) eingeschoben. Sie reflektiert grundsätzlich über die Armen in Israel9:

Eigentlich sollte es bei dir gar keine Armen geben; denn JHWH wird dich reich segnen in dem Land, das JHWH, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt und das du in Besitz nimmst, wenn du auf die Stimme JHWHs, deines Gottes, hörst, auf dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, achtest und es hältst. Wenn JHWH, dein Gott, dich segnet, wie er es dir zugesagt hat, kannst du vielen Völkern gegen Pfand leihen, du selbst aber brauchst nichts zu verpfänden … (Dtn 15,4–6)

Der Grund dafür, dass es in Israel keine Armen mehr zu geben braucht, liegt im Segen Gottes. Das Land, das Gott seinem Volk gibt, ist eine Quelle materiellen Reichtums – ein Land, »wo du prächtige Häuser gebaut hast und sie bewohnst, wo deine Rinder, Schafe und Ziegen sich vermehren und Silber und Gold sich bei dir häuft und dein gesamter Besitz sich vermehrt« (Dtn 8,12–13). Die von Gott geschenkten reichen Erträge hängen allerdings am Gehorsam des ganzen Volkes. Nur wenn jeder und jede Einzelne die deuteronomische Sozialordnung befolgt, kann ihre Welt einer sozial gerechten Gesellschaft auch Realität werden. Wird sie verwirklicht, ergibt sich als Konsequenz: Israel »kann vielen Völkern leihen«, kann also individuelle Darlehensgeschäfte mit Nicht-Israeliten machen; und es »braucht nichts zu verpfänden«, das heißt: es bleibt wirtschaftlich unabhängig. Hier zeigt sich, wie wirklichkeitsnah das Deuteronomium die bestehenden Gegensätze von Reich und Arm sieht, ethisch argumentiert – und bei seiner Vision bleiben kann.

Es fügt nämlich am Ende der Erlassjahresgesetze hinzu: »Die Armen werden niemals ganz aus dem Gebiet deines Landes verschwinden« (Dtn 15,11). Zwar heißt es nicht: aus Israel. Denn wo Armut ist, ist Israel nicht mehr. Wohl aber: »aus deinem Land«. Diese Feststellung ist keine Rechtfertigung, zu resignieren und sich mit einer Linderung des Elends der Armen zufriedenzugeben. Entscheidend ist der Zusammenhang, in dem dieser Satz steht. Er beschreibt jene Welt, die das vorliegende Gesetz – eine bei bedrückender Not jederzeit fällige Kredithilfe – provoziert:

[Wenn bei dir ein Armen lebt, irgendeiner deiner Brüder in irgendeinem deiner Stadtbereiche in dem Land, das JHWH, dein Gott, dir gibt, dann sollst du nicht hartherzig sein und sollst deinem armen Bruder deine Hand nicht verschließen. Du sollst ihm deine Hand öffnen und ihm gegen Pfand leihen, was der Not, die ihn bedrückt, abhilft. Nimm dich in Acht, dass du nicht in niederträchtigem Herzen den Gedanken hegst: Bald kommt das siebte Jahr, das Brachjahr!, und deinen armen Bruder böse ansiehst und ihm nichts gibst, sodass er JHWH gegen dich anruft und Strafe für diese Sünde über dich kommt. Du sollst ihm etwas geben, und wenn du ihm gibst, soll auch dein Herz nicht böse darüber sein; denn wegen dieser Tat wird dich JHWH, dein Gott, segnen in allem, was deine Hände schaffen. Die Armen werden niemals ganz aus deinem Land verschwinden. Darum mache ich dir zur Pflicht: Du sollst deinem notleidenden und armen Bruder, der in deinem Land lebt, deine Hand öffnen. (Dtn 15,7–11)]

Es gibt nur wenige Rechtsätze, die mit so vielen emotionellen Ermahnungen an den Einzelnen appellieren. 573 Denn das »Bruder-Ethos«, das hier verlangt wird, lässt sich eigentlich nicht juristisch fassen: Geschwistern muss, wie es in einer Familie selbstverständlich ist, sobald sie in Armut verstrickt sind, geholfen werden, aus ihrer Notlage herauszukommen, und sei es auch unter erheblichen finanziellen Opfern. Wer allerdings einem Armen das überlebensnotwendige Notdarlehen verweigert, sodass er deshalb »zu Gott schreit« (Vers 9), gerät in Sündenschuld. Diese »himmelschreiende Sünde« kann nur durch den Tod des Sünders gesühnt werden. Doch steht dieser harten, göttlich sanktionierten Abwehr allererster Anzeichen entstehender Armut die Segenszusage Gottes für jeden gegenüber, der seine Hand öffnet und jetzt gibt, was gebraucht wird (Vers 10). Das deuteronomische Gesetz sieht also die stets neu aufkommende Armut als bleibende Gefahr. Dennoch wirbt es für die Möglichkeit, sie zu überwinden, ehe sie sich in einer Klasse von Armen verfestigen kann.

5»Es gab keinen unter ihnen, der Not litt« (Apg 4,34)

Die zwei konträren Formulierungen der deuteronomischen Brachjahresgesetze über die Beseitigung und das Bleiben der Armut werden beide vom Neuen Testament zitiert, allerdings in ganz verschiedenen Phasen der Heilsgeschichte. Zunächst erzählt das Evangelium (Mk 14,3–9 Par) von der Salbung Jesu mit Nardenöl in Bethanien, im Haus Simons des Aussätzigen. Sie geschieht wenige Tage vor der Passion Jesu. Eine Frau nähert sich Jesus, zerbricht eine Alabastervase und gießt ihm das teure Öl über das Haar. Die Jünger schimpfen über die Verschwendung, denn um den Erlös hätte eine Familie ein Jahr lang leben können. Sie sind noch ganz in der vormessianischen Welt gefangen, in der Arme immer vorhanden sein werden. Jesus verteidigt die Frau mit den Worten: »Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn die Armen habt ihr immer bei euch und ihr könnt ihnen Gutes tun so oft ihr wollt; mich aber habt ihr nicht immer […] Sie hat im Voraus meinen Leib für das Begräbnis gesalbt.« (Verse 7–8). Die Frau löst mit ihrer Symbolhandlung all die Vorgänge aus, die zu Jesu Tod am Kreuz und seinem Begräbnis führen. Denn sofort danach geht Judas zu den Hohenpriestern, um Jesus an sie auszuliefern. So ist Jesus, der Todgeweihte, der eigentlich Arme. Aber sein Tod ist so weltverändernd, welterneuernd, dass daneben alle anderen Nöte wesenlos werden. Wendet man sich dieser Todesarmut des Messias zu, wird die übrige Armut überwunden. Deshalb wird künftig von der Liebe dieser Frau zu Jesus erzählt werden, wo man das Evangelium verkündet. Es ist das »Evangelium für die Armen Gottes«, von dem das Jesaja-Buch (vgl. Jesaja 61) spricht, weil jetzt die Gottesherrschaft anbricht und mit ihr die Armut zu Ende ist. 574

Sie zeigt sich in der neuen gesellschaftlichen Lebensform des durch Jesus gesammelten Israel nach der Ausgießung des Gottesgeistes am Wochen-/ Pfingstfest und dem Anbrechen der messianischen Welt. Die Apostelgeschichte schildert sie in der Gemeinde von Jerusalem – nicht als ein nostalgisches Ideal, sondern als Urbild, als Prototyp der Kirche:

Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. […] Es gab auch keinen unter ihnen, der Not litt. Denn alle, die Grundstücke oder Häuser besaßen, verkauften ihren Besitz, brachten den Erlös und legten ihn den Aposteln zu Füßen. Jedem wurde davon so viel zugeteilt, wie er nötig hatte. (Apg 4,32–35)

Lukas spricht hier nicht von einem christlichen Liebeskommunismus – der wäre eine Verharmlosung und nach einer überheizten Anfangsphase wohl wieder rasch vorbei. Er redet auch nicht von allgemeinem Besitzverzicht und Gemeineigentum. Es geht durchaus um Privateigentum. Es gab Reiche, die ein Grundstück oder Haus verkauften und den Ertrag der Gemeinde zur Verfügung stellten. Aber keiner war dazu verpflichtet (vgl. Apg 5,4). Und es war auch nicht der Normalfall. Es zeigte nur, welcher Geist alle beseelte: Keiner sagte von dem, was er besaß, es sei sein Eigentum. Alles war für sie gemeinsam da. Das war – wie der Exodus – ein Wunder. Offenbar ging man mit dem, was man hatte, anders um – einmütig, im Einverständnis, im Blick aufeinander und aufs Ganze. Und deshalb war in der Urgemeinde die Armut weg: »Es gab unter ihnen keinen, der Not litt«. Lukas spielt mit diesem Satz auf den deuteronomischen Entwurf einer Gesellschaft ohne Arme an.10 Was Israel sollte und wollte, angesichts dessen es aber immer wieder versagt hatte, war jetzt aus der Kraft von Tod und Auferstehung Jesu Wirklichkeit geworden. Zwar erlebte man auch in der Jerusalemer Urgemeinde noch Armut. Aber es waren immer nur Randfälle. Die aktuelle Not, zum Beispiel die durch das Wachstum der Gemeinde verursachte Vernachlässigung der Witwen, wurde erkannt, in einer Versammlung aufgegriffen und durch die Institution der »Sieben« für den »Dienst an den Tischen« beseitigt (vgl. Apg 6,1–7).11 Dagegen waren die allgemeine Hungersnot, die später ausbrach (Apg 11,28–30), und die Kollekte des Paulus für die »Heiligen in Jerusalem« (Röm 15,26) keine normalen Voraussetzungen für das Funktionieren der Gemeinde und nicht systembedingt.

Die Armut war nicht aus der römischen Welt verschwunden. Aber sie konnte in den Gemeinden, die in Freiheit und Geschwisterlichkeit handelten, überwunden werden. Die Kirche war der eigentliche Ort der Befreiung aus der Armut.[12] Von ihr aus sollte die gesamte Gesellschaft verwandelt werden. Sie darf sich deshalb nicht damit begnügen, ein soziales Bewusstsein zu vermitteln oder zu einer globalisierten Solidarität mit den Armen zu 575 motivieren.13 Eine »vorrangige Option für die Armen« hat nur dort ihre Berechtigung, wo die Armut noch etabliert ist. Welche Impulse lassen sich dann, wenn wir bei der »Wirtschaftsethik« des Deuteronomiums bleiben, für unsere Situation daraus gewinnen? Ich kann sie nur mehr andeuten.

6Wirtschaften aus der Fülle des Segens14

Das Deuteronomium wendet sich mit seinem Gesellschaftsmodell zwar an das Volk Gottes. Dennoch stellt es auch die Weltökonomie vor die Grundfrage: Was sind Ausgangspunkt und Ziel unseres Wirtschaftens? Die moderne Wirtschaftstheorie geht vom Mangel in der Welt aus, der durch Arbeit zu überwinden ist. Dabei stehen weder die Gemeinschaft noch Fragen der sozialen Gerechtigkeit im Blickpunkt. Gesellschaftlicher Reichtum wird vielmehr durch eine möglichst hohe Produktivität des Einzelnen erreicht. Sie ist das Ziel. Gegenüber diesem Konzept einer Marktwirtschaft, die zur Bedarfsdeckung unter Knappheitsbedingungen organisiert ist, bildet für das Deuteronomium die Fülle des vorausgehenden Segens, den Gott seinem Volk schon geschenkt hat, den Ausgangspunkt. Es ist Aufgabe der ganzen Gesellschaft, diesen Segen zu erhalten und zu mehren. Das ist allerdings nur möglich, »wenn du auf dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, achtest und es hältst« (Dtn 15,5; vgl. Verse 10 und 18) – das heißt: wenn eine gerechte Sozialordnung herrscht. Sie hat ihren Maßstab immer im »Recht der Armen«.15 Auch das persönliche Eigentum ist diesem Gemeinwohl verpflichtet. Aus biblischer Sicht bleibt diese soziale Gerechtigkeit trotz aller angeblichen »Sachzwänge der Ökonomie« die entscheidende Voraussetzung für ein gelingendes Wirtschaften. Denn nur durch sie kann der Kreislauf des Segens16 weitergehen – mit dem Ziel einer Gesellschaft ohne Arme.

1Gershon Galil, The Hebrew Inscription from Khirbet Qeyafa/Neṭaʿim. Script, Language and History, in: Ugarit-Forschungen 41 (2009), 193–242, englischer Text 196 nach den fünf Originalzeilen und 221 nach Sätzen geordnet (Literatur 232–238). Teilweise andere Lese-, Übersetzungs- und Interpretationsvorschläge bietet z. B. Émile Puech, L’ostracon de Khirbet qeyafa et les débuts de la royauté en Israël, in: Revue biblique 117 (2010), 162–184.

2Zu den folgenden Textbeispielen s. vor allem Norbert Lohfink, Armut in den Gesetzen des Alten Orients und der Bibel, in: Studien zur biblischen Theologie (Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 16), Stuttgart 1993, 239–259, 239–244. Zur sozialen Haltung der alten Ägypter s. insbesondere Hellmut Brunner, Die religiöse Wertung der Armut im Alten Ägypten, in: Wolfgang Röllig (Hg.), Das hörende Herz. Kleine Schriften zur Religions- und Geistesgeschichte Ägyptens (Orbis Biblicus et Orientalis 8), Freiburg/Schweiz – Göttingen 1988, 189–214.

3Christlich gesprochen hieße das: Du bist das Lebensbrot, der Lebenstrank; vgl. Brunner, Wertung (s. Anm. 2), 201.

4Einen guten Überblick über das Phänomen der Armut und seine geschichtliche Entwicklung in Israel sowie über verschiedene Formen des Verhaltens gegenüber der Armut gibt Rainer Kessler, »Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein« (Dtn 15,4). Alttestamentliche Grundlagen zum Umgang mit Armut und Armen, in: Johannes Eurich – Florian Barth – Klaus Baumann – Gerhard Wegner (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart 2011, 19–35.

5Das Phänomen wird gesamtbiblisch und im Gespräch mit der modernen Befreiungstheologie dargestellt von Norbert Lohfink, Gott auf der Seite der Armen. Zur »Option für die Armen« im Alten Orient und in der Bibel, in: Ders., Das Jüdische am Christentum. Die verlorene Dimension, Freiburg im Breisgau 1987 (21989), 122–143 und 257–260.

6Norbert Lohfink, Das deuteronomische Gesetz in der Endgestalt – Entwurf einer Gesellschaft ohne marginale Gruppen, in: Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur III (Stuttgarter biblische Aufsatzbände 20), Stuttgart 1995, 205–218.

7[Zum ökonomischen Hintergrund s. Rainer Kessler, Wirtschaft und Geld in der Lebenswelt der alttestamentlichen Texte, in: Stefan Alkier – Rainer Kessler – Michael Rydryck, Wirtschaft und Geld (Lebenswelten der Bibel), Gütersloh 2016, 12–60, besonders 36–40.]

8Zum Folgenden vgl. Georg Braulik, Deuteronomium 1–16, 17 (Die Neue Echter Bibel 28), Würzburg 1986, 110.

9S. dazu Jeffries M. Hamilton, Social Justice and Deuteronomy. The Case of Deuteronomy 15 (Society of Biblical Literature Dissertation Series 136), Atlanta/Georgia 1992; Rainer Kessler, Das Erlassjahr Dtn 15,1–11. Ein Gebot und seine Umsetzung, in: Theologie und Glaube 100 (2010), 15–30.

10Zur Prägung des urchristlichen Gemeindelebens durch das Deuteronomium vgl. Georg Braulik, Die Freude des Festes. Das Kultverständnis des Deuteronomium – die älteste biblische Festtheorie, in: Studien zur Theologie des Deuteronomiums (Stuttgarter biblische Aufsatzbände 2), Stuttgart 1988, 161–218. [Zur lukanischen Darstellung der Ökonomie des Reiches Gottes im Dienst Jesu und in der sozialen Praxis der frühen Kirche, insbesondere den Zitaten von Jes 61,1–2/58,6 in Lk 4,18–19 und Dtn 15,4 in Apg 4,34 s. David Andrew Smith, »No Poor Among Them«. Sabbat and Jubilee Years in Lukan Social Ethics, in: Horizons in Biblical Theology 40 (2018), 142–165; zur sozialgeschichtlichen Plausibilität der Apostelgeschichte s. Stefan Alkier – Michael Rydryck (Hg.), Paulus – Das Kapital eines Reisenden. Die Apostelgeschichte als sozialhistorische Quelle (Stuttgarter Bibelstudien 241), Stuttgart 2018.]

11Vgl. Hans Hubert Klein, Sie waren versammelt. Die Anfänge christlicher Versammlungen nach Apg 1–6 (Frankfurter Theologische Studien 72), Münster 2015.

12[Vgl. Peter Brown, Der Schatz im Himmel. Der Aufstieg des Christentums und der Untergang des römischen Weltreichs, Stuttgart 2017.]

13Vgl. Die Kirche der Armen und die Globalisierung: Concilium 51 (2015) Heft 3. Zum Diskurs über »Die Kirche der Armen« s. Paulo Fernando Carneiro de Andrade, Die Option für die Armen und das Lehramt. Katholische Soziallehre vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis Aparecida, ebd. 292–301.

14Zum Folgenden vgl. Rainer Kessler, Altes Testament und gegenwärtige ethische Herausforderungen. Das Beispiel der Wirtschaftsethik, in: Christian Frevel, Mehr als Zehn Worte? Zur Bedeutung des Alten Testaments in ethischen Fragen (Quaestiones Disputatae 273), Freiburg 2015, 374–392, 389–391. Sein knapper theologisch-ökonomischer Ausblick zieht vor allem die Folgerungen aus dem Zinsverbot (Dtn 23,20–21), den Bestimmungen über den Schuldenerlass (Dtn 15,1–11) und dem Gesetz über die Freilassung von Schuldsklaven/sklavinnen (Dtn 15,12–18).

15Vgl. Milton Schwantes, Das Recht der Armen (Beiträge zur biblischen Exegese und Theologie 4), Frankfurt am Main 1977.

16Vgl. Frank Crüsemann, Gottes Fürsorge und menschliche Arbeit. Ökonomie und soziale Gerechtigkeit in biblischer Sicht, in: Maßstab Tora. Israels Weisung für christliche Ethik, Gütersloh 2003, 190–207.

Lohnverweigerung und Sippenhaftung

Zu Schuld und Strafe im Buch Deuteronomium*

13 Mein Vortrag ist zwei Rechtssätzen gewidmet, die seit der Antike bis heute aktuell geblieben sind. Doch geht es meinen Fallstudien zu Lohnverweigerung und Sippenhaftung im deuteronomischen Gesetz nicht um die Modernität ihrer Lösungsansätze. Sie möchten vielmehr einen Einblick in das alttestamentliche Verständnis von Schuld und Strafe geben. Dazu gehört auch die grundsätzliche Frage, welche Funktion derartige Rechtssätze im Alten Orient und insbesondere in Israel erfüllen sollten. Im Fall unserer beiden Bestimmungen reicht das Anliegen sogar noch weiter. Denn Schuld und Strafe angesichts des verweigerten Lohns werden im Rahmen eines Gesellschaftsentwurfs »definiert«, der verhindern will, dass sich in Israel eine Schicht von Armen bleibend verfestigt und ihr Elend reproduziert. Im Verbot der Sippenhaftung aber werden Vergehen und Strafe aus einem kollektiven Schuldzusammenhang gelöst und juristisch auf den Einzelnen beschränkt.

1Der Textzusammenhang – Die kleine »Sozial-Tora« Dtn 24,10–18

Lohnverweigerung und Sippenhaft, an denen wir beispielhaft Schuld und Strafe im Recht Altisraels studieren wollen, gehören zu einer Sammlung von Einzelsatzungen, die heute die Kapitel 12–26 des Buches Deuteronomium bilden. Dieses deuteronomische Gesetz enthält in 24,10–18 vier Bestimmungen, die man als kleine »Sozial-Tora« bezeichnet hat.1 Sie gebietet den Israeliten, den gesellschaftlich Schwa-14chen, Armen und Unschuldigen unter ihnen ihr Recht nicht zu verweigern. Zum Text dieser »Weisung« siehe die rechte Spalte von Tafel 2. Worum geht es den vier Rechtssätzen? Im Folgenden gebe ich zunächst einen kurzen Überblick.2 Anschließend gehe ich auf die Rechtssystematik der Sozial-Tora ein.

Die erste Bestimmung Dtn 24,10–13 behandelt den Abschluss eines Vertrags über einen Kredit:

10 Wenn du deinem Nächsten irgendein Darlehen gibst, sollst du, um das Pfand zu holen, nicht sein Haus betreten. 11 Du sollst draußen stehen bleiben, und der Mann, dem du das Darlehen gibst, soll dir ein Pfand nach draußen bringen. 12 Und wenn der Mann arm ist, sollst du sein Pfand nicht über Nacht behalten. 13 Bei Sonnenuntergang sollst du ihm das Pfand unbedingt zurückgeben. Dann kann er in seinem Mantel schlafen, er wird dich segnen und du wirst vor JHWH, deinem Gott, im Recht sein.

Bei der Aufnahme eines Kredits3 war es in Israel und seiner Umwelt wahrscheinlich üblich, die Arbeit eines Mitglieds der Familie des Schuldners unter Hypothek zu nehmen. War der Schuldner nach Ablauf der Rückgabefrist nicht in der Lage, das Darlehen zurückzuerstatten, konnte der Gläubiger auf die Arbeit dieser Person zurückgreifen. Beim Vertragsabschluss übergab der Schuldner dem Gläubiger als Symbol für die übernommene Verpflichtung ein Kleidungsstück.4 Das Deuteronomium setzt offenbar diesen Rechtsbrauch voraus. Weil nur die Übergabe, nicht aber der Besitz des Mantels erforderlich war, kann es die Rückgabe des Rechtssymbols vor Einbruch der Nacht verlangen. Die Rückgabeforderung wird sogar eigens motiviert: durch menschliches Mitgefühl und vor allem durch die Zusage, dass der Gläubiger durch sein Verhalten göttlichen Segen gewinnen kann.

Der zweite Rechtsfall Dtn 24,14–15 behandelt die Lohnauszahlung an den Taglöhner:

14 Du sollst einen armen und notleidenden Taglöhner unter deinen Brüdern oder unter deinen Fremden, die in deinem Land innerhalb deiner Stadtbereiche wohnen, nicht ausbeuten. 15 An seinem Tag [dem Tag, an dem er arbeitet] sollst du ihm auch seinen Lohn geben. Die Sonne soll darüber nicht untergehen; denn er ist in Not 15 und lechzt danach. Dann wird er nicht JHWH gegen dich anrufen, und es wird keine Strafe für eine Sünde über dich kommen.

Ein Taglöhner lebt vom Verkauf seiner Arbeitskraft und benötigt täglich seinen Lohn. Seine Mittellosigkeit macht ihn vom Arbeitgeber abhängig und liefert ihn jeder Art von sozialwidrigem Verhalten aus. Die Lohnarbeiter rekrutierten sich vor allem aus den ansässigen, landbesitzlosen »Fremden«. Das Deuteronomium fordert für den Fremden in dieser Situation, in der seine Existenz extrem bedroht ist, das gleiche Recht wie für den »Bruder«, den bodenbesitzenden Israeliten, und nennt ihn deshalb »deinen Fremden«. Wie dem Schuldner bei Sonnenuntergang der Mantel als Pfand zurückgegeben werden soll, so darf beim Arbeiter die Sonne nicht vor Ausbezahlung seines Lohnes untergehen. Die Motivation für die Entlohnung bildet die Kehrseite zum Segen im vorausgehenden Gesetz: Wenn der Arbeitgeber den Lohn nicht verweigert, entgeht er einer Bestrafung für die sonst begangene »Sünde«, im hebräischen Text ḥēṭʾ. Das ist der Schlüsselbegriff meines Vortrags, auf den ich noch ausführlich zu sprechen kommen werde.

Daran schließt in Dtn 24,16 das Verbot der Sippenhaftung an. Gemeint ist die Verantwortung der Sippe für eine Tat, die von einem ihrer Mitglieder begangen wurde. Dabei kann es um stellvertretende oder kollektive Haftung5 gehen. Der deuteronomische Rechtssatz ist mit der vorhergehenden Bestimmung durch das gemeinsame Wort ḥēṭʾ verbunden. Doch steht hier nicht wie in 24,15 die Strafe im Vordergrund, sondern die strafbare »Verfehlung«. Das Verbot in V. 16 lautet:

Väter sollen nicht zusammen mit den Söhnen hingerichtet werden und Söhne sollen nicht zusammen mit den Vätern hingerichtet werden. Jeder soll wegen seines Verbrechens hingerichtet werden.

Meine Übersetzung weicht etwas von der Wiedergabe der Einheitsübersetzung 1980 ab, in der es heißt: »Väter sollen nicht für Ihre Söhne mit dem Tod bestraft werden«. Es geht dem Deuteronomium jedoch nicht um stellvertretende Bestrafung der »Väter anstelle ihrer Söhne« oder »der Söhne anstelle ihrer Väter«, sondern um die gemeinsame Bestrafung von Angehörigen, also der »Väter zusammen mit den Söh-16nen« und umgekehrt. [Analoges gilt auch für die revidierte Einheitsübersetzung 2016, die vom Leitungsgremium der Revision gegen mich als »Kompromisslösung« durchgesetzt wurde: »Väter sollen nicht wegen ihrer Söhne und Söhne nicht wegen ihrer Väter mit dem Tod bestraft werden.«] Zumindest wurde der Rechtssatz in 2 Könige 14,6 als Verbot einer für Väter und Söhne gemeinsamen Todesstrafe verstanden – ich gehe später noch darauf ein. Die hebräische Präposition ʿal ist daher als »hinzu«, »zusammen mit« zu übersetzen.6 Ähnlich gibt übrigens die Neue Zürcher Bibel die Stelle wieder: »Die Väter samt den Kindern« usw.

Die beiden letzten Verbote Dtn 24,17–18 sichern den Rechtsanspruch der wirtschaftlich und gesellschaftlich Schwächsten:

17 Du sollst das Recht von Fremden, die Waisen sind, nicht beugen. Du sollst das Kleid einer Witwe nicht als Pfand nehmen. 18 Denke daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich JHWH, dein Gott, dort freigekauft. Darum mache ich es dir zur Pflicht, diese Bestimmung einzuhalten.

Wenn sich Israel seiner Deklassierung zum Sklaven und der Befreiung durch seinen Gott bewusst bleibt, wird es sich aufgrund der eigenen Erfahrung an die beiden Verbote halten. Der wirtschaftsrechtliche Terminus pādāh, »freikaufen«, kennzeichnet die Herausführung der Israeliten aus Ägypten als Rechtsakt einer Auslösung von Sklaven. Er ist in metaphorischer Form für die Befreiungs- und Erlösungsvorstellung des Deuteronomiums charakteristisch.7

Was die vier juristischen Bestimmungen zusammenschließt, ist zunächst ihr forensischer Hintergrund: Sie gehören alle zum Problemfeld »gerechtes Gericht«. Das zeigt sich bereits an den rechtlich-religiösen Haupttermini. Sie stehen in der zweiten Spalte von Tafel 1. Es sind: »Gerechtigkeit« (ṣedāqāh); dann der Begriff ḥēṭʾ, den ich je nach Kontext mit »Strafe« für eine »Sünde« oder mit »Verbrechen« wiedergegeben habe; schließlich »Recht« (mišpāṭ), ein Terminus, der im Alten Testament oft mit »Gerechtigkeit« verbunden ist. Die feste Wendung »Gerechtigkeit und Recht« erscheint hier aufgesprengt: ihre Glieder sind auf das erste und letzte Gesetz aufgeteilt. In den vier Bestimmungen folgen somit die Ausdrücke »Gerechtigkeit – Strafe (ḥēṭʾ) – Verbrechen (ḥēṭʾ) – Recht« in einer chiastischen Struktur aufeinander. »Chiastisch« – das heißt, in einer Anordnung, bei der die einzelnen Elemente in der zweiten Texthälfte in umgekehrter Reihenfolge zurücklaufen, eventuell mit gewissen Veränderungen der einzelnen Glieder. In der Spalte »Aufbau« der Tafel 1 werden sie durch die Buchstabenfolge A – B – B’ – A’ symbolisiert. 17

Dieser systematische Aufbau signalisiert, dass die Bestimmungen der Sozial-Tora aus der Sicht der Redaktion zusammengehören und sachlich kohärent sind. Die palindromischen Stichwortbezüge werden noch durch weitere Entsprechungen verstärkt: Das erste und das letzte Gesetz der Sozial-Tora in 24,12–13 und 24,17 sind auch thematisch, nämlich durch ihre Pfandbestimmungen, aufeinander bezogen. Ferner hat die vermiedene Strafe in 24,15 – »keine Strafe für eine Sünde wird über dich kommen« – ein Gegenstück in der Begrenzung der Strafe auf den schuldigen Verbrecher in 24,16.

Neben dieser am Ende sich rundenden Abfolge gibt es auch eine gewissermaßen absteigende Gliederung: Die Rechtssätze sind paarweise zunächst dem göttlichen und dann dem menschlichen Gericht zugeordnet. Beide Foren sind in der vorletzten Spalte der Tafel 1 vermerkt, die Spalte »lineares Gegenspiel« symbolisiert sie durch Buchstaben. Das erste Gesetzespaar (24,10–15) verbindet, dass der »Arme« noch vor Sonnenuntergang wieder zu seinem gepfändeten Mantel bzw. der »Arme und Notleidende« zu seinem Lohn kommen muss. Auch die zwei Motivationen entsprechen einander: Sie betreffen beide zunächst die menschlichen Bedürfnisse des Notleidenden und dann das Gottesverhältnis des Gläubigers beziehungsweise des Arbeitgebers, das mit seinem sozialen Verhalten unlöslich verbunden ist. Sie stehen zugleich komplementär zu einander: Wie der Segen des Armen zur Feststellung von »Gerechtigkeit« führt – »du wirst vor JHWH im Recht sein« –, so bleibt vor Sündenstrafe bewahrt, wer den Notschrei des Armen, auch des Fremden, vermeidet – »er wird nicht JHWH gegen dich anrufen«. Im ersten Gesetzespaar hat der Arme und Notleidende also Gott zum Anwalt. Dem zweiten Gesetzespaar (24,16–18) gemeinsam ist, dass es in jedem Gesetz um Prinzipien der Rechtsprechung geht: Im Umgang mit Kapitalverbrechen betont 24,16 den Grundsatz der Verantwortung des Einzelnen und bei dem gesellschaftlich Schwächsten, dem vaterlosen Fremden, schärft 24,17 den Grundsatz der Rechtsgleichheit ein.

Eine letzte Beobachtung: Drei Gesetze beziehen sich auf die klassischen personae miserae, die traditionellen Sozialfälle an den Rändern jeder altorientalischen Gesellschaft: 24,12 und 14 nennen den »Armen« bzw. »Notleidenden« sowie den »Fremden«, der Nichtisraelit und deshalb außerordentlich hilfsbedürftig ist.8 Ähnliches gilt in 24,17a 18 vom »Fremden, der Waise ist«. 24,17b führt schließlich die »Witwe« an, die ebenfalls eines besonderen Rechtsschutzes bedarf.9 Während Witwen und Waisen seit ältester Zeit im Alten Orient sozial geschützt wurden, ist die Sorge um den Fremden ein in der eigenen Geschichte begründetes, spezifisches Anliegen Israels.10 Das Bundesbuch spricht in Ex 22,20–21 erstmals von den »Fremden« sowie den »Witwen und Waisen«, in Ex 23,6 vom »Recht des Armen«. Die für das Deuteronomium sonst kennzeichnende feste Formel von den »Fremden, Waisen und Witwen« fehlt allerdings in allen diesen Gesetzen. Auf diese Trias beziehen sich erst die in Dtn 24,19.20–21 folgenden Nachlesebestimmungen, die in V. 22 wie die Sozial-Tora in V. 18 mit der Erinnerung an den Sklavenaufenthalt Israels in Ägypten schließen. Ich komme später darauf zurück.

Ich habe den Aufbau der Sozial-Tora ausführlicher besprochen, weil die beiden uns vornehmlich interessierenden Rechtssätze nicht ohne ihren engsten redaktionellen Zusammenhang verstanden werden können. Er ermöglicht uns im Folgenden, »Schuld und Strafe« auf dem Forum des göttlichen wie des menschlichen Gerichts zusammenzuschauen.1119

2Schuld und Strafe – Zum Ganzheitsdenken des Alten Testaments

Ich habe das Wort ḥēṭʾ in den Bestimmungen über den Taglöhner und die Sippenhaftung je nach Zusammenhang verschieden übersetzt – einmal mit Strafe für eine Sünde und dann als Verbrechen.12 Denn unsere moderne Unterscheidung von Vergehen bzw. Sünde und Strafe hat im alttestamentlichen Denken keine Entsprechung. Es gibt im Hebräischen nicht einmal ein Wort für Strafe. Was für uns verschiedenartige Teile eines Geschehensablaufs sind, erfasst das hebräische Denken und sein Sprachgebrauch als ganzheitliche Wirklichkeit. Der Begriff ḥēṭʾ – das Gleiche gilt übrigens auch für andere Termini wie ʿāwôn oder ḥaṭṭāʾt – enthält alles: erstens die gott- bzw. gemeinschaftswidrige Tat; zweitens ihre Qualifikation als »Sünde«, wenn sie ausdrücklich Gott betrifft, oder als »Vergehen« angesichts des menschlichen Rechts; und drittens die Folge dieser Tat, nämlich die Strafe. Wir haben es also mit einem umfassenden Phänomen zu tun. Gerhard von Rad beschreibt es in seiner Theologie des Alten Testaments folgendermaßen:

Die böse Tat war nur die eine Seite der Sache, denn mit ihr war nun ein Böses in Lauf gesetzt, das sich früher oder später gegen den Täter oder seine Gemeinschaft wenden mußte. Die »Vergeltung«, die den Bösen erreicht, ist nach dieser Vorstellung jedenfalls nicht ein nachträgliches forensisches Vorgehen […], sondern sie ist eine Ausstrahlung des nunmehr weiterwirkenden Bösen; in ihr erst kommt das von ihr ausgelöste Böse wieder zur Ruhe. Man hat diese Vorstellung eine »synthetische Lebensauffassung« genannt, weil in ihr das Handeln des Menschen einerseits und sein Ergehen andererseits noch nicht als zwei voneinander getrennte und selbständige Dinge verstanden werden […]. Im Gegenteil, hier wird das engst mögliche Korrespondenzverhältnis von Tat und Ergehen vorausgesetzt […]. Das hat Israel für eine Grundordnung seines ganzen Daseins gehalten, die Jahwe in Kraft gesetzt hatte und über deren Funktionieren er wachte.13

Vergehen, Sünde aufgrund eines bewussten und vorsätzlichen Verhaltens gegen Recht und Ethos schaffen, wie Klaus Koch formuliert, eine »schicksalswirkende Tatsphäre«.14 Das heißt: Das Verbrechen umgibt den Täter wie eine unsichtbare Sphäre und bewirkt im Lauf der Zeit das unheilbringende Geschick. Nur Gott kann jemanden dieser Sünde-Unheil-Verhaftung entreißen oder die innerweltliche Tatsphäre 20 durch sein vergebendes Eingreifen vernichten. Weil der Mensch nicht nur Individuum ist, sondern innerhalb einer Gemeinschaft steht, betreffen die Folgen einer Tat nicht nur den Einzelnen. Die Tatsphäre wirkt auch ansteckend in die Gesellschaft hinein. Eine Verletzung des Rechts bzw. Gottesrechtes hat also letztlich auch für das ganze Volk zerstörerische Folgen. Sie ist im wörtlichen Sinn »gemeingefährlich«. Ich kann hier nicht mehr auf die Kritik an einem Automatismus des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, bei dem das göttliche Handeln zu kurz zu kommen scheint, eingehen. Auch nicht darauf, dass es neben einer »schicksalswirkenden Tatsphäre« auch eine in Rechtsbegriffen gefasste, in der gesellschaftlichen Solidarität verwurzelte »Vergeltung« gibt.15 Nur erwähnen kann ich noch, dass das Alte Testament auch eine Art innerweltlicher Guttat-Heil-Verhaftung kennt, bei der Gottes Mitwirkung als noch gewichtiger erscheint als bei der Sünde-Unheil-Verhaftung und die ebenfalls eine soziale Dimension hat.

Das wegen des Ganzheitsdenken schwer übersetzbare Wort ḥēṭʾ ist für das Deuteronomium der rechtlich wie sozialethisch maßgebliche Begriff für »Schuld« – diese im profan-juristischen Sinn eines »Vergehens« und im theologischen Sinn einer »Sünde« – und zugleich der Begriff für die Tatfolge, die Strafe. Den Charakter der Sünde betont das zu ḥēṭʾ gehörende Verb ḥāṭāʾ in der Wendung »sich gegen JHWH verfehlen« (1,41; 9,16; 20,18; vgl. 9,18). Die Septuaginta übersetzt ḥēṭʾ durchgehend mit hamartía, »Sünde«. ḥēṭʾ ist der im Deuteronomium am häufigsten, nämlich 8-mal, verwendete »Sündenbegriff«.16 Er findet sich in sieben Paragraphen seiner Rechtssammlung 21 (Kap. 12–26), genauer: in den Kap. 15 und 19–25.17 Ich erwähne die Siebenzahl, weil sie im Deuteronomium die Bedeutung eines Sachverhalts unterstreicht.18 Diese Gesetze belegen einerseits das Tatsphäredenken und andererseits das Rechtsdenken. Anders gesagt: Sie vereinen die Verletzung eines »Gemeinschaftsverhältnis eines Einzelnen gegenüber anderen Menschen und gegenüber Gott« mit »rechtlicher Verfehlung und Gericht«.

Zum Tatsphäredenken. An vier Stellen akzentuiert das Deuteronomium den altisraelitischen »Tun-Ergehen-Zusammenhang« durch die folgende Tatfolgebestimmung: wehājāh bekā ḥēṭʾ, »und in dir wird Sündenstrafe sein«, das heißt: »die Strafe für diese Sünde wird über dich kommen«. Die Formulierung akzentuiert trotz des objektivierenden Ganzheitsdenkens die subjektive Verantwortung und warnt vor Selbstzerstörung. Der Satz steht zum ersten Mal in 15,9 bei der Kredithilfe für einen »notleidenden Bruder« und damit verbunden zweitens in 24,15 bei der pünktlichen Auszahlung des Lohns. In beiden Fällen sanktioniert er sozial-humanitäre Innovationen der deuteronomischen Armengesetzgebung. Beide Male wird ḥēṭʾ durch das »Schreien eines Armen zu Gott« ausgelöst. Zum dritten und vierten Mal findet sich die Formel in den Bestimmungen über Gelübde in 23,22–23. Sie gehören als Schulden gegenüber Gott assoziativ zum Schuldenrecht. Bemerkenswert ist dabei: Um im Fall der Nicht-Erfüllung eines Gelübdes nicht ḥēṭʾ, Sünde, auf sich zu laden, wird als Präventivmaßnahme empfohlen, Gott nichts zu geloben. Die Erfüllung des Gelübdes kann kontrolliert werden. Denn die »freiwilligen Gaben«, mit denen man das Gelübde einlöst, gehören zu den in 12,6.11.17.26 aufgelisteten Opfern, die im Jerusalemer Tempel, dem einzig legitimen Heiligtum, dargebracht werden müssen. 22

Zum Rechtsdenken. In den anderen vier Belegen (19,15; 21,22; 22,26; 24,16) qualifiziert das Deuteronomium eine Tat als ḥēṭʾ, ohne diese Formel zu gebrauchen. Es bestimmt sie juristisch als ein Verbrechen, auf das notwendig der Tod folgt. Die Todesstrafe wird in 21,22 und 22,26 sogar ausdrücklich genannt. In dieser zweiten Gruppe von ḥēṭʾ-Belegen des Deuteronomiums geht es um Vergeltung und menschliches Gericht. Das Gesetz über die Zahl der Zeugen bei todeswürdigen Vergehen in 19,15 und das Verbot der Sippenhaftung in 24,16 gehören sogar zum Prozess- und Strafrecht. Sie setzen voraus, dass ein menschliches Gericht das begangene Verbrechen feststellt und das Todesurteil vollstreckt. An diesen Stellen objektiviert erst das Deuteronomium die Urteilsfindung durch die Zeugenregel, und zwar auch bei ḥēṭʾ, also Verbrechen, und verbietet sogar bei ḥēṭʾ die Kollektivhaftung von Familienmitgliedern.

So stellt sich spätestens jetzt die Frage, was altorientalische und speziell alttestamentliche Rechtssammlungen leisten sollten, wenn sie im Blick auf Schuld und Strafe das Recht mit dem Ethos sowie das menschliche mit dem göttlichen Gerichtsforum verbanden.19 Die Antwort ist nach wie vor diskutiert. Ich skizziere im Folgenden die heute plausibelste These.2023

3Gesetzbuch oder Schultext? Zur Funktion altorientalischer und biblischer Rechtssammlungen

Im Unterschied zu unseren modernen Gesetzbüchern handelt es sich bei den Rechtkodifizierungen des Alten Orients, etwa beim Kodex Hammurabi, nicht um präskriptive Rechtstexte. Das lässt sich zum Beispiel daran erkennen, dass sich die Rechtsprechung, die in vielen Prozessurkunden erhalten geblieben ist, bei richterlichen Entscheidungen niemals auf ein Gesetzbuch beruft. Sie beruhte vielmehr auf Gewohnheitsrecht und Präzedenzfällen. Dagegen dienten Rechtssammlungen als deskriptive Texte und boten wahrscheinlich Modelle zur juristischen Ausbildung der intellektuellen Elite im »Tafelhaus«. Die Problemlösungen, die sie mit Hilfe solcher juristischer Schulbücher lernte, beeinflussten dann etwa als Gelehrtengutachten indirekt die Gerichtsentscheidungen.

Ähnliches wie für das Keilschriftrecht dürfte auch für die älteste Gesetzeskodifizierung des Pentateuchs gelten, für das sogenannte Bundesbuch, dessen Redaktion heute meist im 8. Jahrhundert v. Chr. angesetzt wird, obwohl einzelne Bestimmungen Jahrhunderte älter sein dürften. Später verlief die Entwicklung in Israel allerdings anders als im Zweistromland. Dort war das Recht stets Königsrecht, wenn auch göttlich sanktioniertes. Als in Israel die alte Ordnung immer mehr ins wirtschaftliche und soziale Chaos glitt, bedurfte das Recht einer neuen, nicht-staatlichen Rechtsbegründung. Dies leisteten in Jerusalem die Priester, die vermutlich den größeren Teil der intellektuellen Elite darstellten. Sie begründeten die Geltung des von ihnen schriftlich verwalteten und weiterentwickelten Rechts direkt im göttlichen Willen. Einer der letzten Könige Jerusalems, Joschija von Juda (640–610 v. Chr.), hat im ausgehenden 7. Jahrhundert die Gottunmittelbarkeit des Rechts sogar zum staatlichen Prinzip gemacht. Obwohl die drei großen Rechtskodifikationen des Alten Testaments – das Bundesbuch in Exodus 21–23, das sogenannte Heiligkeitsgesetz in Levitikus 17–26 (ob man es als ursprünglich selbständiges Rechtskorpus ansieht oder ob man heute unter diesem Namen vielleicht nur einfach diese Kapitel zusammenfasst) und das deuteronomische Gesetz – im Unterschied zu altorientalischen Rechtssammlungen göttlich begründetes Recht darstellten, wurden sie deshalb nicht als präskriptiv geltend betrachtet. [Sie hatten jedoch hohe »erkenntnistheoretische Autorität«.21] Irgendwann unter der Perserherrschaft, also nach dem Zusammenbruch des Staates 586 v. Chr. und dem babylonischen Exil, wurden sie in einer literarisch-juristischen Großaktion zum Pentateuch, den fünf Büchern 24 Moses, vereinigt und galten nun als Gottesrecht vom Sinai. Einzelne Zeugnisse späterer Jahrhunderte legen nahe, dass die Tora zunächst in einzelnen, für besonders wichtig gehaltene Bestimmungen in positives Recht umgesetzt wurde (für Dtn 15,1–11 s. Neh 10,31–40; 10,32b kombiniert Ex 23,11; Lev 25,2–7 und Dtn 15,2).22 Dennoch existierte neben diesem kodifizierten Recht auch das Gewohnheitsrecht und entwickelte sich lebendig weiter. Es scheint keineswegs in allem mit dem Recht der mosaischen Tora übereingestimmt zu haben. Und es war das real wirksame Recht. So muss letztlich offen bleiben, in welchem Ausmaß die Gesetzessammlungen des Pentateuchs juristisch verpflichteten oder rechtstheoretischer, ja utopischer Entwurf waren, der für das wirklich geltende Recht nur letzte Maßstäbe und Zielvorstellungen formulierte. Nach diesem Exkurs nun zurück zu unseren Fallstudien.

4Die Armengesetze in Dtn 24,10–15 – Eine Relecture von Bundesbuch und Heiligkeitsgesetz

Wir haben bisher die Bestimmungen zu Lohnverweigerung und Sippenhaftung nur innerhalb der deuteronomischen Sozial-Tora, also ihres unmittelbaren Zusammenhangs, und unter synchronem Gesichtspunkt gelesen. Ihr volles Profil erkennt man erst im diachronen Rechtsvergleich mit analogen Bestimmungen der beiden anderen Gesetzeskorpora des Pentateuchs, des Bundesbuchs und des Heiligkeitsgesetzes. Ich setze hier voraus, dass beide Kodifizierungen bereits einer späten Redaktion des Deuteronomiums in der frühpersischen Zeit vorlagen.23Methodisch gesehen bildet das deuteronomische Gesetz 25