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Torge ist verschwunden, und das gleich zweimal. Denn in ihrem dritten Schreibprojekt nach "Seite 22, Zeile 22" (2022) und "Fantastisches Tagebuch" (2023) haben Ute-Marion Wilkesmann und Janina Schmiedel wieder nach gemeinsam festgelegten Eckpunkten zwei ganz unterschiedliche Erzählungen geschrieben. Während ein Torge auf mysteriöse Weise von einer Bushaltestelle verschwindet und seine Zwillingsschwester Mira voller Fragen zurücklässt, ist der andere eigentlich nur für eine Weile bei seinem Freund Jonas untergetaucht, um seinem gewalttätigen Vater zu entfliehen und sich von seinem Leben zu erholen. Das jedenfalls denkt Ratte. Zwei Geschichten über einen verlorenen Bruder, Urban Exploring, Lost Places und die Suche nach dem eigenen Weg.
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Seitenzahl: 144
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Vorwort
Torge ist verschwunden (Ute-Marion Wilkesmann)
Torge ist verschwunden (Janina Schmiedel)
Gemeinsame Publikationen
Auch in diesem Jahr gibt es wieder ein gemeinsames Schreibprojekt. Es trägt den Titel Torge ist verschwunden, und natürlich gibt es auch diesmal wieder einige Eckpunkte, die in der Geschichte vorkommen müssen.
Neben der Vorgabe, dass jemand namens Torge verschwunden ist, haben wir mithilfe des Zufallsprinzips einen Ort (Bushaltestelle), eine Stadt (Aachen) und ein Interessengebiet (Urban Exploration) ausgelost. Außerdem muss eine Person, die man nur von hinten sieht, dreimal vorkommen.
Wie bei unseren letzten Projekten Seite 22, Zeile 22 (2022) und Fantastisches Tagebuch (2023) haben wir die Texte unabhängig voneinander geschrieben und sie uns erst gegenseitig vorgestellt, als sie abgeschlossen waren.
Lassen Sie sich überraschen, wohin die Vorgaben diesmal führen und wohin es den doppelt verschwundenen Torge in diesem Buch verschlägt.
Herbst 2024 Ute-Marion Wilkesmann & Janina Schmiedel
Torge wachte auf und sah sich um. In dem großen Raum standen zwei Betten, daneben jeweils Monitorsysteme. Die Stecker der Monitore hingen schlaff zu Boden, die Betten waren mit durchsichtigen Plastiküberzügen geschützt. Die Wände waren weiß gestrichen, der Boden mit praktischem grau gemusterten Linoleum ausgelegt. Es war hell. „Hatte ich einen Unfall und liege im Krankenhaus?“ Er überlegte, aber er hatte keine Erinnerung. Das Letzte, an das er sich erinnerte, war das Gespräch mit einem Mann, als er an der Bushaltestelle stand. Kannte er ihn? War das ein Kollege? Oder ein Freund? Seine Gedanken verfingen sich immer wieder nur in einer grauen Suppe. Und was war dann passiert? Ja, er sah den Bus, wie er gerade aus der Kurve kam. War er daruntergefallen? Hatte ihn jemand geschubst? Er hatte viele Fragen. Aber er war schon wieder so müde. Deshalb fielen ihm die Augen zu, bevor er hätte sehen können, dass eine Krankenschwester zur Türe hereintrat.
Mira war verzweifelt. Niemand glaubte ihr. Sie saß jetzt schon wieder auf der Polizeidienststelle. „Glauben Sie mir, Frau Braun ...“ Sie unterbrach den Beamten genervt: „Ich heiße Praun, nicht Braun.“ Der Polizist hob irritiert seinen Blick von den Unterlagen vor ihm. „Ja, ja, sorry. Aber das ändert nichts an den Tatsachen. Ja, an der Bushaltestelle Vogtstraße haben wir einen toten Mann gefunden. Offensichtlich erschlagen. Aber er hatte seine Papiere bei sich, daher weiß ich, dass es nicht Ihr Bruder, Torge Praun, ist.“
„Das bezweifle ich ja nicht. Aber wo ist mein Bruder? Ich habe ihn noch verabschiedet und gesehen, wie er zu der Bushaltestelle gegangen ist. Und jetzt hat er sich seit sechzehn Stunden nicht mehr blicken lassen. Kein Anruf, keine Nachricht, nichts.“
Der Beamte blickte müde hoch. Warum mussten junge Frauen so anstrengend sein? Kein Wunder – fast hätte ihn ein alberner Lachanfall überkommen –, dass der junge Mann sich für ein paar Tage davongemacht hat. Mit so einer naseweisen und hysterischen Schwester hält das doch niemand aus.
„Schauen Sie, mit neunzehn Jahren hat man schon mal Lust, aus der Routine auszubrechen. Ich kann Ihnen abertausend Berichte vorlegen, in denen junge Männer aus den Fesseln des Zuhauses ausgebrochen sind. Der wird schon wiederkommen.“ Er legte eine kurze Pause ein.
„Andererseits, wenn er nicht wieder auftaucht, fürchte ich, dass wir ihn für verdächtig halten müssen, den anderen Mann vor den Bus geschubst zu haben.“
Mira schrie ihm ins Gesicht: „Was für ein absoluter Quatsch! Sowas macht mein Bruder nicht.“
Ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Wissen Sie, Verwandte können selten ihre Familienmitglieder objektiv beurteilen und reagieren dann ...“ Mira ließ den Mann nicht ausreden, sie sprang auf und rannte raus. Es fiel ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten. Sie war sich sicher, dass ihrem Bruder etwas passiert war. Zwillinge spüren das.
Schwester Gabi steckte den Kopf durch die Tür. „Na, wie geht es uns heute?“ Er lächelte matt. Sie war die Einzige, die schon mal mit ihm sprach. Also zumindest ein paar Worte mehr. „Danke, danke, ich könnte wieder Bäumchen ausreißen.“ Sie lachte. „Du lässt dir wirklich jedes Mal eine andere Antwort einfallen, das gefällt mir. Hat eigentlich jemand daran gedacht, dass heute dein Geburtstag ist?“ Torge schüttelte den Kopf. Gabi griff in ihre Kitteltasche und zog einen Hafer-Erdnuss-Riegel hervor. „Ein kleines Geburtstagsgeschenk!“ Er lächelte dankbar. Er war es so leid, alles lief nach einem festen Plan. Sein Essen war exakt von einem Ernährungsberater geplant worden, hatte man ihm erklärt. Ob er Hunger hatte oder nicht, das war denen doch egal. Hauptsache seine Blutwerte blieben top. Deshalb auch das winzige Fitnessstudio, die Spaziergänge im Garten. Und mittlerweile waren die beiden anderen Betten entfernt worden. Gelegen hatte dort nie jemand.
Nun, der Garten war eher ein Park. Es war entspannend, mal in der Sonne zu sitzen (aber bitte nicht zu lange!) und die Beine auszustrecken.
Ihm war immer noch nicht klar, warum er hier war. Etwa alle vier Monate bekam er eine Spritze, dann wachte er Stunden später mit Rückenschmerzen auf, angeschlossen an zwei Monitore. Keiner sagte ihm, wozu das dienen solle. Auch Gabi bekam ganz schmale Lippen, wenn er etwas in die Richtung fragte. „Der Boss meint, du musst das nicht wissen.“
Wer dieser Boss war, sagte sie ihm nicht. War es der Mann, den er vor ein paar Tagen auf dem Flur mit den Ärzten hatte sprechen hören? Seine Stimme hatte so einen gewissen Befehlston, und die sonst überheblichen wortkargen Ärzte waren recht kleinlaut. Er hatte versucht, diesen Mann zu sehen, aber er stand mit dem Rücken zur Tür. Torge sah nur die ordentlich gekämmten braunen Haare, einen Anzug, und dann setzte sich die Gruppe schon in Bewegung. Mehr konnte er nicht ausmachen.
Keiner glaubte ihr, wenn sie sagte, sie sei sicher, ihr Bruder sei am Leben. Sie waren doch Zwillinge, da weiß man so etwas. Die Polizei hatte die Sache schon lange zu den Akten gelegt. „Frau Praun, wir können Ihnen keine Hoffnungen machen. Wahrscheinlich ist er untergetaucht. Oder tot. Sorry, wir müssen Ihnen das so offen sagen.“
Das war jetzt schon mehr als zehn Jahre her. Vor fünf Jahren war sie nach Aachen gezogen, weil sie den Eindruck hatte, sie wäre Torge dann näher. Ohne dass sie dies mit irgendetwas beweisen konnte. Sie schaute den Dom hoch. Schon wieder mit Netzen verhangen und in Reparatur. Ob Torge vielleicht in einem geheimnisvollen Gang unter dem Dom steckte? Aber das würde keinen Sinn machen.
Jetzt, mit Anfang dreißig, musste sie endlich leben. So ein richtiges Leben haben. Zu lange hatte sie sich nur um den verschwundenen Bruder gesorgt, den Tod der Eltern durchlitten, sie beerdigt und nach Torge geforscht. Da war das eigene Leben völlig auf der Strecke geblieben.
Einmal hatte sie geglaubt, sie sei nah dran. Anonyme Tipps hatten sie zu einer riesigen Villa geführt. Sie gehöre irgend so einem reichen Macker, „Mafia“ wurde hinter vorgehaltener Hand gemurmelt. Sie hatte fast zwei Wochen damit verbracht, den Garten, das Haus und die Ausgänge zu beobachten. Ein schier unmögliches Unterfangen bei einem Anwesen dieser Größe. Sie hatte sogar einmal eine Gruppe von Leuten gesehen, drei Männer und zwei Frauen. Derjenige, der mit dem Rücken zu ihr stand, schien zumindest in dieser Gruppe der Chef zu sein, denn die anderen verhielten sich unterwürfig bis schleimig. Dann hatte einer der Hunde angeschlagen. Alle drehten sich in ihre Richtung. Außer dem „Chef“, der gab nur dem Mann zu seiner Rechten eine knappe Anweisung und kehrte ins Haus zurück, ohne sich umzudrehen.
Sie war davongestürmt, unentdeckt. Diese Szene hatte sich ihr eingeprägt. Aber von Torge war nichts zu entdecken gewesen. Kurz darauf erhielt sie neue Hinweise, die sie in eine andere Richtung lenkten.
Aber jetzt, so hatte sie beschlossen, würde sie die endlose und sinnlose Suche beenden. Auch wenn das unfair gegenüber Torge war, denn er wartete sicher an irgendeinem Ort auf sie. Aber was, wenn sie sich irrte? Dann würde sie auch den Rest ihres Lebens auf der Suche verbringen, und was für ein Leben sollte das sein? Zwei abgebrochene Berufsausbildungen, jetzt hatte sie sich als Verwaltungsangestellte beworben. Wenn man sie trotz ihres Alters in die Ausbildung lassen würde – diesmal würde sie durchhalten! Sie wäre bereit gewesen, als Politesse durch die Straßen zu ziehen. Ob alle sie hassten, was machte das für einen Unterschied?
Nein, sie würde Torge niemals aufgeben. Aber sie war entschlossen, jetzt endlich zu leben. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät, eine Familie zu gründen?
Torge schaltete den Fernseher ab. Zuerst hatte er sich gewundert, dass er niemals Nachrichten zu sehen bekam. Nur Serien, eine nach der anderen. James-Bond-Filme, Knight Rider, Tatort, Lindenstraße – er kannte sie alle. Irgendwann hatte er es kapiert, das war kein echter Fernseher, sondern ein breites Streamingangebot. Er konnte zwar auf der Fernbedienung Zahlen tippen, dann erschienen Embleme wie ARD oder RTL auf dem Bildschirm. Aber das waren keine echten Programme, das wurde ihm dann klar.
Zum Glück wussten sie nichts von der Existenz einer lebenden Zwillingsschwester. Zufällig hatte er einmal ein Flurgespräch von zwei Ärzten mitgehört: „Das ist schon schwierig, wenn ihm doch mal etwas passiert. Was dann?“ – „Hat sich mal einer erkundigt, ob er Geschwister hat?“ – „Die Eltern sind tot, eine Zwillingsschwester ist wohl vor zwei Jahren an plötzlichem Hirnschlag gestorben.“ Das sich anschließende Gespräch war langweilig, bis es wie üblich bei den optischen Vorzügen der Krankenschwestern hängen blieb. Ekelhaft. Seine Eltern und seine Schwester tot, das war ein herber Schlag. Er durfte sich nichts anmerken lassen, sonst würden sie bemerken, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, Flurgespräche mitzuhören – auch wenn sie meist langweilig waren.
Das mit den Eltern war traurig genug, aber Mira? Das war entsetzlich. Denn er hatte seine letzten Hoffnungen auf sie gesetzt. Als Zwilling musste sie gemerkt haben, dass er lebte. Er war niedergeschmettert. Bis er schließlich zu dem Schluss kam, dass es sich um falsche Informationen handeln musste. Immerhin war er der andere Zwilling, und er hätte es bemerken müssen, wenn ihr etwas zugestoßen wäre. Davon war er überzeugt. Oder war das ganze Flurgespräch vorgetäuscht, um etwas über ihn zu erfahren, das sie noch nicht wussten? Vielleicht war Mira in den Untergrund gegangen.
Langsam fühlte er sich wieder besser. Das heißt, bald würde er wieder angezapft. Und dann würde er sich aufs Neue ewig lange furchtbar und schwach fühlen.
Es war Miras sechstes Date. Fünfmal hatte sie sich mit Männern über so Dating-Apps verabredet. Das war völlig danebengegangen. Auch wenn fünf Beispiele keine ausreichende statistische Grundlage für die Annahme bieten, dass wirklich nur die letzten Typen auf diese Weise eine Frau suchten. Oder war das aus Sicht der Männer vielleicht genauso? Dann wäre sie eine durchgedrehte Mittdreißigerin mit Torschlusspanik oder auf der Suche nach dem kurzen Abenteuer, egal wie abstoßend das Gegenüber war.
Sicher, sie war im Vergleich zum Modetrend keine Schönheit. Das änderte aber nichts daran, dass sie ungepflegte Zähne, schüttere, mühsam über den Kopf verteilte Haare oder kleine Männer verabscheute. Beim ersten Date war der ältere Herr offensichtlich auf der Suche nach einer Krankenpflegerin für die Zukunft. Er habe beim Alter etwas geschummelt, sagte er ihr, als sie ihn kritisch musterte. Aber nicht viel. Nun, wenn man zwanzig bis dreißig Jahre nicht viel findet, kommt das hin. Anstatt sich gleich auf dem Absatz umzudrehen, war sie noch mit ins Restaurant gegangen, vor dem sie verabredet waren. Herbert hatte das Luna ausgesucht. Beim Bezahlen war er übrigens sehr emanzipiert, da ließ er sie gern ihren eigenen Anteil tragen. Ansonsten waren seine Vorstellungen eher, nun ja, etwas zurückgeblieben.
Nummer 2 entpuppte sich als sexbesessen. Nummer 3 war schmuddelig und nur an deutschen Schlagern interessiert. Nummer 4 keuchte bei jedem Schritt und hielt seinen Bauch wohl für ein besonderes Attraktivitätsmerkmal. Nicht nur war Nummer 5 der Inbegriff des Beamten, sondern er zeigte auch eine beunruhigende Hartnäckigkeit bis hin zum Stalking, nachdem sie ihm gesagt hatte, dass sie wohl nicht zusammenpassten. Erst als sie ihm mit der Polizei drohte, hörte er auf, ihr CDs, Blumen und Schmuck vor die Wohnungstür zu legen und sie mit SMS zu bombardieren.
Sie schloss daraus, dass das Schicksal sich nicht zwingen ließ. Entweder würde sie auf Mr. Right treffen oder eben nicht. Wäre das so schlimm? Okay, es entsprach nicht ihrem Lebensplan, der in vielen Teilen ganz herkömmlich war (netter Mann, Kinder, gutes Auskommen, schöne Wohnung, vielleicht sogar ein Haustier), aber sie konnte sich arrangieren.
War es sinnvoll, sich einen Hund, eine Katze oder ein paar Hamster zuzulegen? Ihre Freundin hatte Kaninchen, die waren echt putzig. Und so flauschig! Am Ende kam sie davon ab. So ein Haustier bindet zeitlich, bedeutet Aufwand und lebt normalerweise kürzer als der Mensch. Der Abschied von Torge hatte ihr bereits genug Schmerz verursacht; sich jetzt auch noch einem quasi geplanten Abschied zu stellen – nein, das war einfach zu viel.
Lesen war nicht ihres, sie versuchte es einen Monat. Computerspiele? Auch nicht, da war sie suchtgefährdet. Sollte sie sich doch einmal in einem Kleingartenverein umsehen?
Es gab sogar eine eigene Webseite für Aachener Kleingärtner. Aber was sie dort las, stieß sie ab. Wie so oft in ihrem Leben lenkte der Zufall kurz darauf ihre Entscheidung.
Sie saß in der Cafeteria des großen Verwaltungsgebäudes der Firma, für die sie mittlerweile arbeitete. Ihre Kollegin Monika konnte heute nicht mitkommen. Daher rührte sie allein in ihrem Latte macchiato und löffelte ihre Erdbeersahnetorte genussvoll so langsam wie möglich. Mittwochs war nun mal ihr Kuchentag, sonst war sie brav und nahm sich eine Portion Salat.
Gedankenverloren reiste sie wieder einmal durch ihre Vergangenheit. Sie erinnerte sich, das war gar nicht so lange nach dem Tod ihrer Eltern gewesen, an einen Anruf. Die meisten Anrufer waren damals werbemäßig unterwegs. Sie hatte sich einen Spaß daraus gemacht, irgendwelchen Blödsinn zu sagen und dann zu gucken, wie die Callcenter-Mitarbeiter reagierten. Gern erzählte sie auf Nachfragen, dass ihre Eltern nach Australien ausgewandert waren oder ihr Bruder unter einem neuen Namen als bekannter Rennfahrer in Ecuador unterwegs war. Einmal war ein Anrufer der Meinung, sie sei eine Hausangestellte, weil sie sich mit „Minna von Barnhelm“ gemeldet hatte. Tja, ein bisschen Bildung hätte dem Callcenter-Mitarbeiter da geholfen. Aber er schloss aus dem Namen Minna, dass sie in dem Haushalt nur arbeitete. Und er wollte unbedingt Mira sprechen. „Mira? Ach, das tut mir leid, die ist vor kurzem an einem Schlaganfall gestorben.“ Der Anrufer war so betroffen, dass sie fast schon so weit war, ihm zu verraten, dass dies nur ein blöder Scherz von ihr war. Aber irgendetwas hielt sie zurück.
Dann der komische Kauz, der ihr preiswerte Weinkisten andrehen wollte. Sie war kurz davor, ihm erfolgreich fünf Kilogramm Käse zu verkaufen. Aber irgendwann hatte er dann wohl doch gemerkt, dass sie ihn verulkte, und sie wüst beschimpft. Zumindest, solange sie noch nicht den Hörer aufgelegt hatte.
Torge merkte, wie er seinen Humor verlor. Was hatten Mira und er immer herumgealbert, stundenlang gekichert oder sich ein paar Jahre später vor dem Bildschirm über irgendwelchen Blödsinn fast krankgelacht. Anfangs hatte er sich bemüht, mit dem ganzen Personal zu scherzen. Aber die waren so bierernst! Nicht einmal Gabi reagierte auf seine Witze. Sie tat einfach so, als habe er nichts gesagt.
Dann ließ er es. Jetzt fand er fast nichts mehr lustig, nicht einmal die Zeichentrickfilme, die er sich früher so gern angesehen hatte.
Das Gespräch am Nachbartisch zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Unter Lost Places konnte sie sich etwas vorstellen, aber Urbex? Sie schaute schnell im Smartphone nach. Demnach gab es eine richtige „Szene“, in der so genannte Urbexer, das heißt, „Urban-Explorer“, verlassene Häuser, Fabriken, Bunkeranlagen – auch bekannt als Lost Places – „besichtigen“ und ihre Erfahrungen per Fotos oder Videos teilen. Verrückt. Wäre das was für sie? Es war ihr peinlich, sich ins Gespräch einzumischen, daher aß sie weiter, während ihre Gedanken zu den möglichen Lost Places wanderten. Schon der Ausdruck Lost Places brachte etwas in ihr zum Klingen.
Abends befasste sie sich intensiv mit dem Thema. Ja, Urban Exploration lockte sie plötzlich. Sie hatte eine passende Webseite mit einem Forum gefunden, dort erst nur passiv teilgenommen und nur sehr selten selbst etwas geschrieben. Spannend! Eines Abends erhielt sie eine persönliche Nachricht. Der Typ (oder war es eine Frau?) nannte sich „UrbanAvatar“. Er habe sie seit einer Weile im Forum beobachtet. Dann fragte er, ob er ihr helfen könne?
So kamen sie ins Gespräch, und jetzt, heute Abend, würde sie sich mit UrbanAvatar (Klarname Caspar) treffen, vielleicht sogar ihren ersten Lost Place besuchen. Das erste Kennenlernen war in einer kleinen Pizzeria in der Innenstadt in Domnähe geplant. So ein bisschen vorsichtig war sie schon.
Das war vor etwa drei Jahren passiert. Sie hatten sich sofort verstanden, sehr viel erzählt, und er hatte sie dann zum Bahnbetriebswerk Aachen-West mitgenommen. Sie hätte vielleicht ängstlicher, vorsichtiger sein können. Aber Caspar verströmte Zuverlässigkeit und Harmlosigkeit. Das hätte zwar ein Alarmzeichen sein können, aber sie vertraute ihrer Intuition. Ganz kurz kam ihr in den Sinn, dass diesen Fehler vermutlich viele Mordopfer begehen, aber sie behielt recht.
Mühelos fanden sie einen Parkplatz. Es roch nach altem Öl und modrigem Gemäuer. Sehr schnell lernte sie, dass jeder Urbexer diesen unverwechselbaren Geruch gut kannte.
Caspar nahm eifrig Fotos im verlassenen Lokschuppen auf. Voll von Müll und mit bunten Wänden faszinierte der Ort sie sofort. Von den Decken hingen Kabel. Das musste auch bei Tag ein erstaunlicher Anblick sein. Jetzt behalfen sie sich mit zwei lichtstarken Taschenlampen.
Dieser Bahnhof wurde ihr Lieblingsort. Sie erforschten in den nächsten Wochen noch andere