Toskanische Vergeltung - Camilla Trinchieri - E-Book

Toskanische Vergeltung E-Book

Camilla Trinchieri

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Beschreibung

Vino, Amore und ein Toter der perfekte Urlaubskrimi für Italien-Fans

Ein Jahr ist vergangen, seitdem der Ex-Polizist Nico Doyle ins idyllische Gravigna in der Toskana gezogen ist. Er hat sich eingelebt, hilft im Restaurant seiner Verwandten, öffnet sich wieder der Liebe, streift mit seinem Hund durch die Weinberge und isst Cornetto in der Bar All’Angolo. Ein mitten auf der Piazza geparkter Jaguar sorgt für Gesprächsstoff: Michele Mantelli, ein bekannter Weinkritiker, ist in eine handfeste Auseinandersetzung mit Nicos Freund Aldo Ferri geraten. Ein harmloser Streit unter Konkurrenten? Oder geht es um Aldos Frau, die Michele noch von früher kennt?
Als Mantelli mit seinem Sportwagen tödlich verunglückt, gerät Aldo unter Verdacht – und Nico wieder mitten in einen Mordfall …

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Titel

Camilla Trinchieri

Toskanische

Vergeltung

Kriminalroman

Aus dem amerikanischen Englisch von Uta Botsching

Insel Verlag

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Bitter Taste of Murder bei Soho Press, New York.

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der xx. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4916.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2022© 2021 by Camilla TrinchieriAlle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: imageBroker, Grünwald: Toskana-Landschaft (Kim Petersen); FinePic®, München: Himmel

eISBN 978-3-458-77355-9

www.suhrkamp.de

Toskanische Vergeltung

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

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= ‌ZWEI ‌=

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DANKSAGUNG

Informationen zum Buch

= ‌EINS ‌=

Gravigna, eine kleine Stadt in den Hügeln des Chianti

Ein Dienstag im Juni, morgens um 7:50 Uhr

Ex-Detective Nico Doyle parkte seinen roten Fiat 500 unter einem wolkenlosen Himmel, der einen weiteren heißen Tag verhieß, und folgte seinem Hund über die verlassene zentrale Piazza. Für Touristen war es zu früh am Tag. Die Tische und Stühle vor der Trattoria da Gino würden erst in zwei Stunden herausgestellt werden. Die Bänke, auf den die vier Rentner tagtäglich saßen, um Neuigkeiten auszutauschen, waren noch leer. In der Bar All'Angolo am hinteren Ende der Piazza, die seit sechs Uhr morgens geöffnet hatte, erwartete ihn sein Frühstück.

OneWag wetzte durch die offene Tür ins Café, die Schnauze bereits gesenkt, um den Fußboden zu sondieren. Nico folgte ihm und ließ dabei den Blick über die Tische schweifen. Es waren nur wenige Gäste da. Letzte Woche zur selben Zeit hatten sich hier Schülerinnen und Schüler gedrängt, die mit vollen Mündern schwatzten, und deren bunte Rucksäcke überall im Weg lagen. Doch inzwischen hatten die Schulferien begonnen, und jetzt frühstückten sie zu Hause. Die paar Einheimischen, die es nicht weit zur Arbeit hatten, standen mit Espressotassen in der Hand an der Theke und unterhielten sich.

Sandro, einer der beiden Cafébesitzer, war wie immer hinter der Kasse. Er blickte hoch.

»Ciao, Nico.«

Ein paar Einheimische drehten den Kopf, um ihm zuzunicken.

»Salve«, grüßte Nico zurück. Er trat vor die Kasse. »Na, wie läuft's?«

»Bisher gibt es nichts zu klagen«, erwiderte Sandro mit einem Lächeln. Er war ein gutaussehender schlaksiger Mann irgendwo in den Vierzigern mit einem kleinen Goldstecker im Ohr. »Noch ist es ja kühl genug, aber holen Sie schon mal Ihren Fächer raus. Heute werden wir schmoren.«

»Ich wollte ihn ja dazu bringen, dass er eine Klimaanlage einbauen lässt«, sagte Jimmy, sein Ehemann. Er war zuständig für die Bedienung der riesigen heißen Espressomaschine aus Edelstahl am hinteren Ende der Bar sowie des Backofens, der die köstlichsten Cornetti diesseits von Florenz produzierte.

Sandro schüttelte den Kopf. »Zu teuer. Außerdem schadet es der Gesundheit. Friert einem die Eingeweide ein wie dieses Eiswasser, das die Amerikaner so toll finden.«

Jimmy zuckte die Achseln und machte sich daran, Nicos Caffè Americano zuzubereiten. Die Bestellung erübrigte sich, weil Nico immer dasselbe nahm. Während er bei Sandro bezahlte, klackerten OneWags Krallen über den gekachelten Boden, wobei er seine Schnauze wie eine Sonde von links nach rechts schwenkte. Normalerweise war der Fußboden des Cafés mit zuckrigen Bröseln bestreut. Nach zwei Runden durchs Lokal setzte sich der Hund hin und bellte empört.

»Tut mir leid, Rocco«, sagte Sandro. »Ich hab gefegt. Wollte nicht, dass deine Schlappohren schmutzig werden.« Die Italiener nannten Nicos Hund Rocco. Sie behaupteten, OneWag sei zu schwer auszusprechen, und ein italienischer Hund sollte auch einen italienischen Namen haben. Der Hund reagierte klugerweise auf beide Namen, und zwar mit seinem Markenzeichen, einem einzigen Schwanzschlenker, der ihm üblicherweise etwas Gutes einbrachte. In diesem Fall ein altbackenes Cornetto, von Sandro geworfen und im Flug aufgeschnappt.

»Bravo!« Sandro klatschte.

»Aber bitte nicht noch mehr«, sagte Nico. An dem Morgen, als ihn der kleine Streuner zu einem Ermordeten geführt hatte, war er ein mageres, schmutziges, mickriges Kerlchen gewesen. Neun Monate später war sein langes weiß-orangenes Fell sauber und flauschig, und sein Bauch sah aus, als würde ein ganzer Wurf Welpen darin stecken.

Nico ging zu seinem gewohnten Tisch an den offenen Terrassentüren hinüber und setzte sich, wie er es fast jeden Morgen tat, seit er vor einem Jahr nach Gravigna gezogen war, der Heimatstadt seiner verstorbenen Frau Rita. In dieser Zeit hatte er langsam neue Freundschaften geschlossen. Zuerst mit Gogol, einem Mann, der in seiner ganz eigenen Wirklichkeit lebte. Ein guter Mensch mit einem unglaublichen Gedächtnis. Dass Gogol jeden Vers aus Dantes Göttlicher Komödie zitieren konnte, hatte gleich Nicos Sympathie geweckt. Mit ihm zu frühstücken wurde ein weiterer Bestandteil seiner morgendlichen Routine.

Der alte Mann stand an der Tür, eingehüllt in seinen starken Kölnischwasser-Duft und den Mantel, den er winters wie sommers trug. Der hatte ihm den Spitznamen Gogol eingebracht, nach dem russischen Schriftsteller und dessen berühmtester Novelle Der Mantel. Sein Gesicht war ein Labyrinth aus Runzeln, sein langes Haar sauber und ordentlich gekämmt. Das Altersheim, in dem er lebte, kümmerte sich gut um ihn. Sein Mantel war erst kürzlich ausgebessert worden. »Ein weiterer Tag, der gelebt werden will, amico«, sagte er zu Nico.

»Lass ihn uns gut leben, Gogol.« Nico erhob sich und zog einen Stuhl heraus. »Schön, dich zu sehen.«

Gogol schlurfte zum Tisch und nahm den Stuhl direkt an der offenen Tür, was den Effekt seines Kölnischwassers erheblich milderte. Er hob die beiden Crostini hoch, die er vom Fleischer um die Ecke bekommen hatte. »Unser Freund hat sie speziell für mich gemacht. Ein Mann mit einem edlen Herzen.« Gogol platzierte die beiden Brotstücke sorgsam in der Tischmitte. »›Wie dir's gefällt, soll's mir behagen.‹«

»Paradiso.«

Gogol brach in ein bellendes Lachen aus. »Inferno, amico.«

Zu raten, aus welchem Abschnitt der Divina Commedia das jeweilige Zitat stammte, war ein neues Spiel, das Gogol ihm in der Hoffnung vorgeschlagen hatte, Nico werde ebenfalls Gefallen an Dantes Dichtung finden. Schon damals in der Bronx war Nico mit dessen Versen regelmäßig konfrontiert worden, da Rita den toskanischen Dichter ebenfalls liebend gern zitiert hatte. Doch er selbst empfand das mittelalterliche Italienisch als zu schwierig; es erinnerte ihn daran, wie er sich in der Highschool durch Chaucers Werke gequält hatte. Mit modernem Italienisch dagegen kam er ganz gut klar, dank Ritas Unterricht und Berlitz.

Nico nahm das Salami-Crostino, da er wusste, dass Gogol das mit Speck am liebsten mochte. Er schaffte es nur selten, die Zitate zu erraten. »Es klang zu nett für Inferno.«

Gogol biss in sein Speck-Crostino, schluckte schnell und sagte: »Ich bin schon ganz verzagt, dass du den Gipfel je erreichst. Auch aus Inferno. Meine Bearbeitung, den Umständen entsprechend.«

»Warum an einem so schönen Tag verzagen?«, fragte eine Stimme mit neapolitanischem Akzent.

Nico drehte sich um. Maresciallo Salvatore Perillo stand vor den offenen Terrassentüren bei einer Gruppe von Radfahrern, die gleich in die steilen Hügel des Chianti aufbrechen würden. Bis zum letzten Jahr hatte Perillo zu ihnen gehört und sogar einige Rennen gewonnen. Er war ein stämmiger, muskulöser Mann mit glänzenden schwarzen Haaren, die an den Schläfen langsam grau wurden, einem fein geschnittenen attraktiven Gesicht mit großen, glänzenden dunklen Augen, wulstigen Lippen und einer Adlernase. Wie üblich trug er keine Uniform, sondern Jeans, ein perfekt gebügeltes blaues Leinenhemd und trotz der Hitze seine geliebte Lederjacke, lässig über die Schulter geworfen.

Nico lächelte und freute sich, den Mann zu sehen, der ein guter Freund geworden war, seit er Nico im letzten September bei den Ermittlungen zu einem Mordfall hinzugezogen hatte. Sie hatten sich seit einer Woche weder gesehen noch gesprochen. Die Carabinieri-Station des Maresciallo befand sich im neunzehn Kilometer entfernten Greve.

Nico zog einen weiteren Stuhl vor. »Setzen Sie sich zu uns.«

Perillo trat ein, warf einen Blick auf Gogol, der sich weit über den Tisch beugte, und zögerte. »Gogol, bin ich willkommen?«

Gogols Grinsen entblößte seine braunen Zähne. »Sie waren letztes Jahr Nicos Vergil auf der Reise zur Hölle, oder vielleicht war er auch der Ihre. Wie dem auch sei, Freunde von Nico sind heute willkommen. Morgen vielleicht nicht.«

»Das werde ich mir merken.« Perillo setzte sich neben Nico. In Gogols Anwesenheit war ihm immer ein wenig unbehaglich zumute, und der heftige Geruch nach Kölnischwasser machte es nicht besser. Der Mann war verrückt oder geistig behindert, falls er das alles nicht nur spielte, um Beachtung zu finden. Perillo versuchte sich abzulenken, indem er Rocco streichelte, der seine Wildlederstiefeletten beschnüffelte.

Sandro brachte zwei Americani und zwei Vollkorn-Cornetti, frisch aus dem Ofen, eine Spezialität der Bar All'Angolo. »Für Sie einen Espresso, Salvatore?«

Perillo hob zwei Finger und dann den Daumen als Zeichen für einen doppelten Espresso Corretto, also mit einem Schuss Grappa. Der Grappa war ein Hinweis darauf, dass die Dinge beim Maresciallo gerade nicht gut liefen.

»So schlimm?«, fragte Nico, bevor er in sein Cornetto biss. Das Salami-Crostino schob er zu Gogol hinüber. Der Alte aß letztlich immer beide Teigstücke.

»Ich erzähl's Ihnen gern.« Perillo blickte in Jimmys Richtung, als warte er ungeduldig auf seinen Espresso. »Kein Mordfall, Gott sei Dank.«

Da eilte auch schon Sandro mit dem doppelten Espresso heran. Perillo bedankte sich und leerte die Tasse auf einen Schluck. »Gestern fuhr Signor Michele Mantelli nach Greve, stellte fest, dass alle Parkplätze auf der Piazza Matteotti belegt waren, parkte daraufhin seinen Jaguar mitten auf der Piazza, schloss ihn ab und schritt zum Mittagessen. Mitten im Stadtzentrum! Ist das zu fassen? Es gibt ausgezeichnete Parkplätze ganz in der Nähe. Natürlich hat einer meiner Leute den Abschleppdienst angerufen. Was zur Folge hatte, dass Mantelli in die Station gestürmt kam, mit einem Hagelschauer von Beleidigungen an meine Adresse. Es sei offensichtlich, dass ich nichts im Hirn habe, dass ich nicht wisse, wer er sei, die Zentrale in Florenz würde davon erfahren, ich würde degradiert werden und so weiter. Sie können sich nicht vorstellen, wie wütend er war.«

»Wer ist er denn?«, fragte Nico.

»Ein Ehrgeizling, ein Egomane. Er gilt als berühmter Kritiker italienischer Weine. Man sagt, Michele Mantelli habe die Macht, einen bestimmten Tropfen hochzuschreiben oder niederzumachen. Er gibt ein sehr erfolgreiches, zweimal jährlich erscheinendes Magazin heraus, das Vino Veritas – zweisprachig, auf Italienisch und Englisch, und weltweit erhältlich. Und dazu einen Blog, in dem er jeden Monat für Tausende Leser postet. Der Flötenspieler und seine Ratten, sozusagen. Wenn die nur wüssten, dass er die Oberratte ist.«

»Wirklich blöd, dass er sich so auf Sie eingeschossen hat. Woher kommt er?«

»Aus Mailand, aber er hat eine alte Villa in Montefioralle.«

»Worte sind nicht vonnöten«, erklärte Gogol. »Das Gesicht zeigt die Farbe des Herzens.«

»Gut gesagt, Gogol. Meine Frau findet ihn übrigens ausgesprochen attraktiv.« Perillo rümpfte die Nase. »Vermutlich kann er auch ganz gut schmeicheln, wenn er einen nicht gerade beleidigt.«

»Ich habe Ivana seit dem Barbecue im letzten Herbst nicht mehr gesehen. Wie geht es ihr?«, fragte Nico.

»Gut, gut. Sie war gerade auf der Piazza, Brot holen.«

Gogol gluckste in sich hinein. »›Als Ivana die Augen auf ihn wandte‹, eine sehr schlechte Bearbeitung aus Paradiso, erster Gesang. Trotzdem amüsant.«

Perillo wirkte kein bisschen amüsiert. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.

»Batterie aufgeladen?«, fragte Nico, nachdem eine sehr stille Minute verstrichen war.

»Es ist eine Droge«, sagte Perillo.

»Der Grappa oder der Kaffee?«

»Die Liebe ist eine Droge«, erklärte Gogol und erhob sich langsam, indem er mit den Händen den Tischrand umklammerte. »Die einzige Frau, die ich liebe, ist meine Mutter. ›Als ich die Augen auf sie wandte, ward ich in ihrem Anblick innerlich verändert.‹ Sie braucht gar nicht erst versuchen, es zu erraten. Bis morgen, so ich lebe.« Gogols Mutter war in seiner Kindheit gestorben.

Auch Nico erhob sich. »Morgen. Ich verlass mich drauf.«

Gogol trat durch die offene Terrassentür. Seine Duftwolke entschwand mit ihm.

»Das war aber plötzlich«, bemerkte Perillo.

»Ich glaube, Gogol weiß, dass er Sie mit diesem Zitat über Ihre Frau geärgert hat.«

»Dabei hat er das gar nicht.« Perillo hatte sich vor allem über den Kommentar seiner Frau zu Mantelli geärgert. »Der Mann ist ein wirklich erfreulicher Anblick, findest du nicht?«, hatte sie lächelnd gesagt. Seine Reaktion hatte aus einem langen Kuss bestanden. Ach ja, das erinnerte ihn daran, wieso er ins Café gekommen war.

»Wie geht es eigentlich Aldo und Cinzia?«, fragte er.

Aldo Ferri, der Besitzer des Weinguts Ferriello, vermietete das kleine heruntergekommene Bauernhaus aus Feldstein am Rand seines Olivenhains, in dem Nico wohnte. »Gut. Die beiden haben mich letzte Woche zum Abendessen eingeladen. Spaghetti all'arrabbiata. Genauso lecker wie Cinzias Carbonara.« Nico machte eine Faust, führte sie zum Mund und ließ die Finger mit einem Kuss los. »Ich habe sie überredet, mir das Rezept zu geben.«

»Das Rezept dafür finden Sie in jedem Kochbuch.«

»Schon möglich, aber ich nehme lieber ihres.«

»Hat es in letzter Zeit eigentlich irgendwelche Spannungen zwischen Cinzia und Aldo gegeben?« Gogols Kommentar – »Die Liebe ist eine Droge« – rief ihm die Szene in Erinnerung, die er am vergangenen Abend miterlebt hatte. Zum Glück war er nicht gesehen worden. Perillo verspürte plötzlich Gewissensbisse. Sollte er Nico erzählen, was passiert war? Aber vielleicht gab es ja eine gute Erklärung dafür. Er wollte keinesfalls boshaften Klatsch verbreiten.

»Nicht dass ich wüsste.« Nico beobachtete Perillos Miene genau. »Warum fragen Sie?«

Ein Pärchen kam hereinspaziert und bestellte bei Sandro auf Italienisch mit französischem Akzent. Perillo hörte Gelächter und drehte den Kopf, um die beiden anzusehen. Sie umarmten sich und wuschelten einander durch die Haare.

»Aus keinem besonderen Grund. Ich habe sie bloß seit einer Weile nicht mehr gesehen.« Er erhob sich. »Ich muss wieder zurück zur Station. Grüßen Sie Tilde und Enzo von mir, und sagen Sie ihnen, sie sollen Sie nicht zu schwer im Restaurant schuften lassen. Bleiben Sie gesund.«

Auch Nico stand auf. »Am Donnerstagabend habe ich frei. Wie wäre es, wenn wir bei mir gemeinsam etwas essen?« Er wusste genau, dass sein Freund ihm etwas verschwieg. Vielleicht hatte er selbst Probleme mit seiner Frau? Ein Abend außer Haus mochte da vielleicht guttun. Außerdem vermisste er Perillos Gesellschaft.

»Vielleicht. Wenn niemand irgendetwas Dummes oder Schreckliches anstellt. Ich gebe Ihnen Bescheid.« Perillo ging zur Theke und bezahlte bei Sandro seinen doppelten Espresso Corretto.

Nico winkte Sandro und Jimmy zum Abschied und machte sich auf den Weg zu seinem Auto. OneWag war schon vorausgelaufen. Dienstag war Waschtag, Teil der Routine, die er für sich festgelegt hatte, als er nach Gravigna gezogen war. Früher in der Bronx hatte er sich über Ritas Bedürfnis, einer Routine zu folgen, oft lustig gemacht, doch sie hatte erst davon abgelassen, als sie krank wurde. Zu Beginn seines neuen italienischen Lebens hatte Nico gemerkt, dass eine gewisse Routine ihm dabei half, Fuß zu fassen, und er hatte sie beibehalten, was mittlerweile allerdings wohl eher seiner Faulheit geschuldet war.

Um OneWag musste er sich jetzt nicht kümmern. Der Hund folgte auf dem Weg bergab seiner eigenen Routine. Nico würde ihn im Herzen des mittelalterlichen Stadtkerns wiederfinden, wo er seinen Boss vor dem Waschsalon mit dem passenden Namen Sta A Te, »Es liegt an dir«, erwartete.

Zwei Stunden später waren seine frisch gewaschenen Sachen ordentlich zusammengefaltet auf dem Autorücksitz verstaut, und Nico konnte mit der Arbeit für Tilde und Enzo beginnen. Seine erste Aufgabe bestand darin, die tägliche Brotbestellung beim Lebensmittelhändler Enrico abzuholen. Heute legte ihm Enrico noch einen Laib seines heißbegehrten Olivenbrotes und einen Schinkenknochen dazu. »Das Olivenbrot ist für Sie, der Knochen für den Kleinen. Es ist zu heiß, um damit Suppe zu kochen. Wo steckt er eigentlich?«

»Vielen Dank. Er ist Nelli in ihrem Atelier besuchen gegangen. Sie verhätschelt ihn.« Nico griff nach seinem Geldbeutel.

Enrico hob abwehrend die Hände. Er war ein kleiner Mann mit blassem Gesicht und schütterem Haar. »Freunde bezahlen für zwei Laibe – nicht für einen einzigen. Bringen Sie nächstes Mal Rocco mit. Er ist ein lieber Hund.«

»Er ist ganz vernarrt in Sie.«

Enrico gluckste. »Vernarrt in meinen Prosciutto. Der beste in der Gegend, wenn ich das so sagen darf.«

»Ganz meiner Meinung. Also bis dann.« Nico packte den großen Papiersack und wandte sich zum Gehen.

»Passen Sie an der Straße auf. Irgendein Verrückter ist hier vor ein paar Minuten in einem schicken Auto vorbeigerast. Hat fast einen meiner Kunden überfahren.«

»Ich werde mich vorsehen.« Nico blickte den Hang hinab. Nur ein paar Fußgänger und ein Radfahrer mühten sich den steilen Hügel hoch.

Den Sack mit Brot fest im Arm stieg Nico den Rest des Weges bergan. Oben, schräg gegenüber der Kirche Sant'Agnese, befand sich das Sotto Il Fico. Davor stand ein weißer Jaguar, der den Eingang blockierte.

Nico quetschte sich durch die schmale Lücke, die der Wagen ihm ließ, und rief: »Buongiorno!«

»An diesem Tag ist nichts gut«, grummelte die Restaurantbesitzerin. Elvira wedelte mit einem großen schwarzen Spitzenfächer, von dem sie behauptete, er sei das Geschenk eines spanischen Verehrers. In Wirklichkeit hatte sie ihn laut Tilde auf dem monatlichen Flohmarkt in Panzano gekauft.

»Tut mir leid, das zu hören.« Nico legte den Brotsack auf einen der fünf Tische vor der Theke im Innenraum. Mittlerweile war er Elviras Anfälle von schlechter Laune gewöhnt. »Macht dir deine Arthritis wieder zu schaffen?«

Sie antwortete mit einem Schnauben. Die dreiundsechzigjährige Witwe mit rabenschwarz gefärbten Haaren, einem runzligen Gesicht, einer kleinen, spitzen Nase und wasserblauen Habichtsaugen überwachte das Treiben in ihrem Restaurant von einem vergoldeten alten Sessel im Schankraum aus. Heute trug sie ein Hauskleid in Blau und Grün, also musste es Dienstag sein. Sie hatte sieben Kleider, eines für jeden Tag der Woche.

»Wo ist Enzo?« Ihr Sohn war für die Bar, die Kasse und das Brotschneiden zuständig. Tilde, Enzos Frau und Ritas Cousine, führte die Küche.

»Er ist auf der Terrasse mit diesem Betrüger, der behauptet, er wäre der beste Weinkritiker der Welt!«

»Michele Mantelli ist da?«

»Ja, kam vor nicht mal zehn Minuten hier reinmarschiert. Ich gebe ihm noch weitere zehn, um seinen Wagen wegzuschaffen, sonst rufe ich die Carabinieri.«

»Mit denen hatte er vorhin schon einen Zusammenstoß.«

»Gut. Dann kann er noch einen haben.«

Nico beugte sich zur offenen Tür vor, die auf die Terrasse hinausführte. Mantelli saß im Schatten des riesigen Feigenbaums, dem das Restaurant seinen Namen und Ruf verdankte. Mehr als einen zerknitterten weißen Leinenanzug, passend zu einer Mähne aus weißem Haar, konnte er von hier aus allerdings nicht erkennen. Das Gesicht des Mannes wurde von Enzo verdeckt, der um ihn herum scharwenzelte.

»Der Kerl hat darauf bestanden, unsere komplette Weinliste vorgelegt zu bekommen«, sagte Elvira. »Dabei wollte mir Enzo gerade noch einen Espresso machen.«

»Das kann ich doch übernehmen, wenn es dir recht ist«, bot Nico an. Enzo hatte ihm beigebracht, wie man die Espressomaschine hinter der Theke bediente.

»Nein, ich warte lieber. Die Amerikaner haben nicht das richtige Händchen dafür. Dieser Gauner behauptet, er kann uns beibringen, welche Weine wir verkaufen sollen. ›Ich biete Ihnen meine Expertise kostenlos an. Ich werde Sie in meinem Blog erwähnen.‹ Enzo hat gestrahlt wie ein Kind, dem man ein Jo-Jo vor die Nase hält, und sich bestimmt tausendmal bei ihm bedankt. Und dann hat er ihm noch dazu ein Mittagessen aufs Haus angeboten!«

Tilde steckte den Kopf durch die Küchentür herein. »Mit einem Jo-Jo kommst du heute bei Kindern nicht mehr weit. Da brauchst du schon ein iPhone.« Tilde korrigierte ihre Schwiegermutter gern bei jeder sich bietenden Gelegenheit, denn Elvira, die eifersüchtig über ihren Sohn wachte, war ihr gegenüber selten besonders freundlich. »Mantelli ist ein höchst anerkannter Weinkritiker und wird Enzo ein paar gute Tipps geben«, fuhr Tilde fort.

»Pah. Enzo weiß ganz genau, welche Weine er hier anbietet. Wir probieren jeden neuen Jahrgang gemeinsam und entscheiden uns dann mit Blick auf die Preise, die unsere Gäste sich leisten können.«

Das bedeutete, wie Nico wusste, dass Elvira entschied. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. »Es kann doch nicht schaden, ihn anzuhören, oder?« Ab und an war sie geradezu unausstehlich, aber er musste ihre Zähigkeit einfach bewundern. »Und in seinem Blog erwähnt zu werden, kann nur gut fürs Geschäft sein, meinst du nicht?«

Noch ein Schnauben als Antwort. Elvira griff nach der Zeitschrift auf ihrem Schoß und setzte die Brille auf, die ihr an einer Kette um den Hals hing. »Ich zitiere aus Vino Veritas: ›Im 2015er ColleVerde Riserva entfalten sich Aromen von Früchten, Gewürzen, versengter Erde, Espressobohnen und Kräutern.‹« Sie warf das Heft auf den Boden. »Versengte Erde, also wirklich! Wer mag schon Rosmarin oder irgendein anderes Kraut in seinem Wein schmecken? Blödsinn ist das, weiter nichts.«

Nico hob das Magazin auf.

»Nico«, rief Tilde. »Du wirst in der Küche gebraucht.«

»Wirf das Ding in den Müll«, befahl Elvira, als er sich auf den Weg zur Küche machte.

»Ich komme.« Nico nahm es mit und schob es sich, sobald er außer Sicht war, in die Tasche.

Tilde stand gebeugt über der Arbeitsplatte aus vernarbtem Marmor. Mit flinker Hand formte sie golfballgroße Klößchen aus Schweinehack, Ei, Parmigiano und Ricotta. Eine lange weiße Schürze bedeckte ihr geblümtes Kleid. Um ihr dickes kastanienbraunes Haar war der übliche rote Baumwollschal gewickelt.

Nico gab ihr ein Küsschen auf die Wange. Nur auf eine, obwohl in Italien eigentlich beide geküsst wurden, aber die andere war außer Reichweite. »Was soll ich machen?«

»Für Enzo übernehmen. Mantelli hat ihn sich gekrallt, und ich brauche Alba wieder hier.«

Nico drehte sich um. Am anderen Ende der Arbeitsplatte war Alba dabei, Champignons zu putzen. Der Apfel-Walnusssalat mit Champignonscheiben gehörte zu den Klassikern des Restaurants. »Ciao, ich habe Sie dort hinten gar nicht gesehen.«

Alba lachte. »Ich gebe Ihnen später ein Küsschen.« Sie war Albanerin, eine hübsche Frau Anfang vierzig mit rundem Gesicht. Ihren richtigen Namen hatte sie Tilde nie genannt. Alba, sagte sie, sei doch eine logische Wahl. Außerdem gefiel es ihr, dass das Wort auf Italienisch »Sonnenaufgang« bedeutete. Sie war vor der Gewalt im Kosovo geflohen und über verschlungene Wege in Gravigna gelandet, was für sie den Beginn eines neuen Lebens bedeutete. Ihre Geschichte hatte einen guten Ausgang genommen. Ein netter Italiener hatte sich in sie verliebt und sie sich in ihn. Sie hatten geheiratet, und mittlerweile arbeitete sie als Ersatz für Stella, Tildes und Enzos Tochter, Vollzeit im Restaurant und erzählte allen, denen sie begegnete, wie glücklich sie sich schätzte.

Alba spähte durch das kleine Fenster, das auf die Terrasse hinausging. »Er ist sehr attraktiv.«

»Und arrogant.« Tilde wälzte die Fleischklößchen sachte in einem Teller mit Mehl und gab sie dann vorsichtig in eine heiße, eingeölte Sauteuse. Sobald sich eine hübsche braune Kruste gebildet hatte, würden sie eine halbe Stunde in Tomatensoße köcheln. Allein oder zusammen mit buttrigem farro schmeckten sie himmlisch. »Bitte, Nico, geh raus und deck die Tische. Und versuch etwas davon mitzukriegen, was Mantelli sagt. Ich trau dem Mann nicht.«

»Kennst du ihn denn?«

»Hab ihn gerade erst kennengelernt. Aber sagen wir mal, er macht mir ein komisches Gefühl.«

»Wie gesträubte Nackenhaare?«

»So was in der Art.«

Nico ging zurück in den Schankraum und belud ein Tablett mit Tellern, Besteck und den frischen Stoffservietten, die Elvira jeden Morgen faltete. Mittlerweile war ihre Aufmerksamkeit von einem Kreuzworträtsel in der Settimana Enigmistica in Anspruch genommen. »Lass nicht zu, dass Enzo diesem Mann irgendwelche Versprechungen macht«, murmelte sie, als er wieder hinausging.

»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Nico.

Mantelli saß jetzt mit Enzo an einem Ecktisch. Hinter ihm, unter einem bewölkten Himmel, bot sich der herrliche Blick auf Reihen um Reihen von Rebstöcken, die sich zum Horizont hin ausbreiteten. Vor ihm standen ein halbleeres Glas Rotwein und eine offene Flasche. Enzos Glas war leer.

Nico begann den ersten Tisch zu decken, als er eine Frau am anderen Ende der Terrasse bemerkte, die sich mit einer Speisekarte Luft zufächelte. Ihre Schönheit stach ihm sofort ins Auge. Sie trug eine enge weiße Hose und ein weißes Top mit Spaghettiträgern, das sich an ihren Oberkörper schmiegte. Ihr langes blondes Haar hing in einem Pferdeschwanz über ihre gebräunte Schulter. Eine riesige Sonnenbrille krönte ihren Kopf. Sie sah sehr jung aus, höchstens wie zwanzig.

Mantelli bemerkte, dass Nico sie anstarrte, und winkte ihn zu sich. »Kümmern Sie sich nicht um Loredana.« Er hatte eine überraschend hohe, dünne Stimme. »Kommen Sie und probieren Sie diesen ausgezeichneten Wein. Luca Verdini ist erst seit zehn Jahren im Geschäft, also immer noch ein Neuling, aber seine 2015er und 2016er Riservas sind wahre Schätzchen, und seine normalen Tischweine sind ausgezeichnet. Verdini bekommt dieser Tage eine Menge Aufmerksamkeit, woran ich nicht ganz unschuldig bin. Ich habe ihn vor zwei Jahren entdeckt und sowohl in meinem Blog als auch in Vino Veritas hoch gelobt. Kennen Sie das Magazin?«

»Leider nicht«, erwiderte Nico.

»Ah, Sie sind Amerikaner. Also, die Leute von Robert Parker haben ihn mit 93 Punkten bewertet. Ich habe ihm 95 gegeben. Sie müssen mir helfen, Enzo zu überzeugen, dass er sich einen Vorrat davon zulegt.«

Mantelli goss zwei Finger breit von der Riserva in Enzos leeres Glas.

Enzo nahm einen Schluck, kaute den Wein durch, wie man im Winzerjargon sagte, und schluckte. »Ausgezeichnet«, erklärte er. »Aber seine Weine sind zu teuer. Wir sind kein Restaurant mit drei Michelin-Sternen. Wir bieten einfache Kost an.«

»Große Weine verwandeln einfache Kost in Manna«, erklärte Mantelli. »Große Weine zu trinken hilft, Land und Leute besser zu verstehen. Außerdem baut Verdini auf Mundpropaganda. Ich bin mir sicher, dass er bereit wäre, Ihnen einen Rabatt zu gewähren.« Der Weinkritiker goss ein wenig von dem Wein in ein anderes Glas und hielt es Nico hin. »Bitte probieren Sie.«

Nico nahm das Glas und ließ langsam einen Schluck über seine Zunge laufen, wie er sich das bei Enzo abgeguckt hatte. Er kam sich albern vor, aber vor diesem Mann wollte er sich keine Blöße geben. Der Wein brannte ihm in der Kehle. Ja, tatsächlich versengte Erde, selbst wenn er nicht wusste, wie die schmeckte. »Ausgezeichnet, vielen Dank.« Er stellte das Glas auf den Tisch zurück. »Ich muss wieder an die Arbeit.« Enzo warf ihm einen kurzen Blick zu. »Und ich brauche deine Hilfe«, sagte Nico, weil er vermutete, dass Enzo genug von Mantellis Belehrungen hatte.

Der Weinkritiker erhob sich, zupfte an seinen Hosenbeinen und zog sich das Jackett zurecht. Darunter trug er ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt, wie es bei den venezianischen Gondolieri so beliebt war. Gebräunte Finger strichen dickes, welliges weißes Haar hinter die Ohren zurück. Er war ein großgewachsener Mann mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Eine Figur wie ein Schwimmer. Dazu ein sonnengebräuntes Gesicht, eine breite Kinnpartie, eine gerade Nase, wie man sie von römischen Statuen kennt, volle Lippen, dicke schwarze Augenbrauen, die aussahen wie gefärbt, und dazu passenden schwarzen Augen. Nico schätzte ihn irgendwo in den Fünfzigern. Und ja, er war auffallend attraktiv.

»Ich muss auch wieder arbeiten«, erklärte Mantelli. »Ich glaube, ich habe Sie erst einmal umfassend genug beraten. Vielen Dank für Ihre Einladung zum Mittagessen. Irgendwann komme ich gern darauf zurück, aber ich lasse Ihnen die Flasche da, damit Sie sich den restlichen Wein schmecken lassen können. Sie werden hingerissen sein und ihn kaufen. Da bin ich mir sicher. Und ich sehe zu, was ich bezüglich eines Rabatts tun kann. Bei Verdini hab ich noch was gut.« Er gab Enzo die Hand. »Komm, Loredana«, befahl er der Frau, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und reichte auch Nico die Hand, der sie widerwillig nahm.

»Kein netter Mensch«, bemerkte Nico, als Mantelli und Loredana im Schankraum verschwanden.

»Nett oder nicht«, erwiderte Enzo, »ich werde zumindest zwei Kisten bestellen müssen.« Er füllte sein Glas mit dem teuren Wein und nahm einen langen Schluck.

»Wegen seines Blogs?«

»Er kann unserem Restaurant einen ordentlichen Auftrieb verschaffen.«

»Fühlt sich das nicht ein bisschen so an, als würde man sich auf eine Erpressung einlassen?«

Enzo zuckte die Achseln. »Geschäft ist Geschäft. Wahrscheinlich kriegt er eine Absatzbeteiligung von Verdini und einigen der anderen, die er in seiner Zeitschrift anpreist. Ich erzähle dir jetzt mal, wie …«

Elviras Stimme unterbrach ihn. Sie geigte Mantelli wegen seines Autos gründlich die Meinung.

»Sie haben ganz Recht, Signora«, erwiderte Mantelli mit seiner Fistelstimme. »Ich bin unverbesserlich, aber bitte betrachten Sie mich als Freund. Arrivederci.«

Falls Elvira ihm antwortete, bekamen Nico und Enzo jedenfalls nichts davon mit.

Nico ging zu einem anderen Tisch und verteilte die Packpapier-Bögen, die hier als Platzsets dienten. »Du wolltest mir gerade etwas erzählen.«

Enzo trank sein Glas leer und knallte den Korken in die Flasche zurück. »Dein Vermieter Aldo, der macht offenbar bei dem Spiel nicht mit. Mantelli hat ein paar unschöne Dinge über die Ferriello-Weine gesagt. ›Total überbewertet.‹ ›Sollten zum halben Preis verkauft werden, wenn überhaupt.‹ Er meinte, ich soll Aldos Weine von meiner Liste nehmen.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Dass ich seinem Urteil vertraue.«

Nico blickte überrascht hoch. »Aber die Ferriello-Weine sind sehr gut.«

»Ganz deiner Meinung. Keine Sorge, ich habe nicht die Absicht, auch nur einen einzigen von Aldos Weinen von meiner Liste zu streichen.«

»Das höre ich gern.«

»Gib mir das Tablett, Nico. Ich decke die restlichen Tische. Tilde freut sich bestimmt über deine Hilfe.«

Nico reichte ihm das Tablett und den Stapel Packpapier. »Danke. Ich habe eine Rezept-Idee, die ihr gefallen könnte.«

»Solange sie nicht zu viel kostet.«

»Brot mit Scamorza und Pancetta belegt, dann gegrillt. Klingt gut, oder?«

»Ja, aber Tilde trifft die Entscheidungen.«

»Davon werden die Leute Durst bekommen.«

= ‌ZWEI ‌=

OneWag war damit beschäftigt, jeden einzelnen der Blumentöpfe zu beschnüffeln, die Luciana vor ihrem Laden an der zentralen Piazza aufgestellt hatte. Nico ließ ihm den Spaß, weil er mittlerweile sicher war, dass sein Hund hier nirgendwo das Bein heben würde.

Eine verschwitzte Luciana stand hinter ihrem Arbeitstisch und wedelte mit dem Oberteil ihres Kleides, um sich ein bisschen Kühlung zu verschaffen. Ein kleiner Ventilator auf dem Tisch blies ihr heiße Luft ins Gesicht. »Heute sind wir schon bei siebenunddreißig Grad. Wie viel ist das in Fahrenheit?«

»Laut meiner Handy-App achtundneunzig.«

»Meine Blumen welken. Wenn das so weitergeht, schmilzt mir noch mein Fett.« Luciana, eine groß gewachsene Frau mit strahlenden haselnussbraunen Augen, lachte und schob ihre dicken, hennarot gefärbten Locken zurück, die Nico an Chrysanthemen erinnerten.

»Und welche von meinen Lieblingen wollen Sie mir heute wegnehmen? Der Lieferwagen hat vorhin ein paar Schätzchen gebracht. Die meisten sind im Kühlabteil.« Sie trat beiseite, damit er besser sehen konnte. »Sie suchen immer die aus, die mir am besten gefallen, aber Rita zuliebe lasse ich sie Ihnen.«

»Das ist nett.«

»Sie war eine wunderbare Frau.« Luciana hatte sich mit Rita bei deren früheren Besuchen in ihrer alten Heimat Gravigna angefreundet, die Rita mit Nico gemeinsam unternommen hatte, sooft sie es sich leisten konnten.

Nico sah sich das Angebot an. So viele Blumen: Rosen, Margariten, Mohn. Die meisten kannte er nicht einmal beim Namen. Es fiel ihm schwer, das Passende für Ritas Grab auszusuchen. Er schämte sich dafür, dass er ihr zu ihren Lebzeiten nur zum Geburtstag und zum Hochzeitstag Blumen geschenkt hatte. Dafür hatte sie sich fast jede Woche selbst welche gekauft, preiswerte vom nahegelegenen Lebensmittelladen. Damals hatte er kaum Notiz davon genommen. Jetzt wollte er ihr eine Freude machen.

»Was meinen Sie, Luciana? Rosen oder Margariten?«

Sie deutete auf einen Eimer voll leuchtend bunter Blumen mit runden Blütenblättern. »Anemonen für Rita. Sie hat sich doch immer so farbenfroh gekleidet.« Luciana bevorzugte Schwarz.

»Dann also einen großen Strauß Anemonen.« Gerade als Nico nach seinem Geldbeutel griff, hob OneWag den Kopf. Zwei Sekunden später wetzte er los. Ein Auto raste vorbei. Während Nico zur Tür hinausrannte, hörte er im Geist schon ein schmerzhaftes Jaulen. Sein Blick erfasste gerade noch das Heck des Wagens. OneWag war bereits wohlbehalten auf der anderen Straßenseite, mitten auf der Piazza, zu Aldos Füßen, wo er darauf zu warten schien, begrüßt zu werden. Nur dass Aldo keine Notiz von ihm nahm. Auf einer Bank hinter den beiden Männern saßen die üblichen vier Rentner – das »Rentnerquartett«, wie Perillo sie nannte – und schwatzten. Auf der linken Seite der Piazza begann Carlotta, die Kellnerin mit den lavendelfarbenen Haaren, in Jeans-Shorts und einem ärmellosen Top die Tische vor der Trattoria aufzustellen.

Nico beobachtete die Szene vom Ladeneingang aus. Aldo, angetan mit einem lila Feriello-T-Shirt, das seinen fülligen Leib umhüllte, stand vor Michele Mantelli, dessen Leinenanzug mittlerweile arg zerknittert war. Nicos Freund sah aus, als habe er jeden Muskel angespannt, als er sich zu dem Weinkritiker vorbeugte. Die Rückseite seines T-Shirts war dunkel vor Schweiß. Mantelli dagegen – Hände in den Hosentaschen, Kopf zur Seite geneigt – wirkte locker und cool. Aldo sprach mit gepresster, leiser Stimme. Nico konnte zwar kein Wort verstehen, aber die Wut dahinter spüren. Jetzt hatte sogar das Rentnerquartett seine Plauderei unterbrochen, um sich auf das Geschehen zu konzentrieren. Carlotta blieb stehen, einen Teller wie ein Schutzschild an die Brust gedrückt, eine Hand auf dem Mund.

Sollte er hinübergehen, Aldo begrüßen und so versuchen, die angespannte Situation aufzulösen? Aber vielleicht musste das, was Aldo sagte, ja einmal gesagt werden. In dem Fall würde ein Eingreifen womöglich alles noch schlimmer machen.

Nico blieb also, wo er war, und zahlte bei Luciana. Sie nahm zwei Bögen Seidenpapier, um die Blumen einzuwickeln.

»Nicht nötig. Ich gehe direkt zum Friedhof.«

Luciana schüttelte ihre hennaroten Locken und fuhr unbeirrt mit der Arbeit fort. »Meine Kundschaft verlässt diesen Laden mit ordentlich eingewickelten Blumen.« Sie band eine rote Schleife um den Strauß, reichte ihn Nico und machte Anstalten, ihn trotz der Hitze zu umarmen.

OneWags Bellen rettete ihn. Nico war es immer unangenehm, Lucianas riesigen Busen an seiner Brust zu spüren. Bei dieser Hitze wäre es fürchterlich gewesen. Er drehte sich wieder zur Piazza um. Der Hund zog an Aldos Hosenbein. Aldo hatte den Arm erhoben, seine Hand zur Faust geballt.

»Bin gleich wieder da.« Nico drückte Luciana die Blumen in den Arm und lief zu Aldo hinüber. »Hey, Aldo.«

Sein Freund brüllte gerade auf Mantelli ein. »Lass meine Frau in Ruhe, oder ich schlag deine arrogante Fresse zu Brei!«

»Cinzia ist eine alte Freundin«, erwiderte Mantelli ruhig, »und ich tue, was ich will, ob mit meinen Freunden oder mit Idioten wie Ihnen. Lesen Sie meinen nächsten Blogpost, dann werden Sie schon sehen. Niemand wird noch Ferriello-Weine kaufen.«

Aldos Faust landete auf Mantellis Kinn. Der Mann kippte nach hinten auf eine leere Bank. Aldo wollte sich auf ihn stürzen und reckte schon die Faust, um noch einmal zuzuschlagen, als Nico ihn am Arm packte und zurückzog. »Das reicht. Du hast dich deutlich genug geäußert.«

OneWag bellte und bellte.

Aldo widersetzte sich Nicos Griff, den Blick auf Mantelli gerichtet. »Du kannst mich nicht ruinieren, du Scharlatan. Du kannst nicht mal einen guten Wein von Pisse unterscheiden.«

»Erzählen Sie das meinen dreißigtausend Followern.«

»Ich warne dich! Halt dich von meiner Frau fern!«, spie Aldo, begleitet von zahlreichen Speicheltropfen.

Mantelli lehnte sich zurück, als habe er sich sowieso auf die Bank setzen wollen, und strich sich langsam übers Kinn. »Das ist Cinzias Sache, nicht Ihre.«

Wieder ballten sich Aldos Hände zu Fäusten. »Halt dich von ihr fern oder …«

»Oder was? Sie bringen mich um?«

»JA!«, brüllte Aldo.

Worauf Mantelli nur lachte.

Nico bekam Aldo gerade noch rechtzeitig an den Schultern zu fassen und schob ihn sanft von seinem Kontrahenten weg. »Wo steht dein Auto? Ich bring dich nach Hause.«

»Nein.« Aldo versuchte, sich aus Nicos Griff zu befreien. »Ich will dieses verfluchte Arschloch bluten sehen.«

Doch Nico hielt ihn nur noch fester. »Jetzt beruhige dich erst mal, Aldo. Es interessiert mich nicht, was zwischen euch beiden los ist. Aber du musst dich wieder in den Griff kriegen.« Er schob Aldo auf seinen eigenen Fiat zu. Im Notfall würde er ihn darin einschließen, bis er sehen konnte, dass sein Freund wieder zur Vernunft gekommen war. »Jetzt hol erst mal tief Luft. Nun mach schon.«

OneWag hüpfte mit hochgerecktem Schwanz hinter ihnen her. Sein Boss hatte die Lage gerettet.

»Verdammt, Nico, lass mich los. Ich kann allein gehen. Ich bin kein Kind.«

Doch Nico hielt ihn weiter fest. »Das ist mir neu.«

»Signor Ferri!«, rief Carlotta. »Kommen Sie rein! Trinken Sie ein Glas Wein aufs Haus!«

»Danke, Carlotta, ein andermal!«, brüllte Aldo zurück. Er hob die Arme in die Luft. »Frieden, Nico. Siehst du, ich hab mich schon wieder beruhigt.« Sein Gesicht war nicht mehr rot.

»Gut.« Nico ließ ihn los. »Trotzdem fahre ich dich nach Hause. Ich glaube, dir hat die Hitze zugesetzt.«

Aldo marschierte weiter. Nico, der sich dicht neben ihm hielt, hatte bereits registriert, dass eine kleine Gruppe von Leuten, darunter Sandro und Jimmy, vor dem Café standen, allesamt Zeugen dieser unerfreulichen Szene.

»Mein Wagen ist vor dem Zeitungskiosk geparkt. Ich kutschiere mich selber heim.« Aldo blieb stehen, um Nico auf die Schulter zu klopfen. »Danke. War echt nett von dir. Hättest du mich nicht daran gehindert, dann hätte ich diesen Mistkerl wohl tatsächlich ins Krankenhaus geschickt.«

»Gern geschehen.«

»Heute Abend wird die ganze Stadt Bescheid wissen.«

»Nicht von mir«, erklärte Luciana, die mit Nicos Anemonen im Arm am Türpfosten lehnte.

Aldo ignorierte sie und marschierte zu seinem Audi, der etwa dreißig Meter weiter stand. Nico folgte ihm.

»Solltest du je das Bedürfnis haben, darüber zu reden«, bot er an, als Aldo seine Wagentür aufschloss, »ich kann schweigen wie ein Grab, wie man hier so schön sagt.«

»Das ist eine alte Geschichte. Es bringt nichts, darin rumzustochern. Dieser Mann hätte vermutlich tatsächlich die Macht, mich zu ruinieren. Aber nochmals danke. Wir sehen uns.«

»Sei vorsichtig, Aldo.«

Nico sah dem davonfahrenden Auto nach. Sollte Mantelli tatsächlich über den Einfluss verfügen, den Enzo ihm zuschrieb, könnte Aldo durchaus bald ein harter Kampf um die Weiterexistenz seines Weinguts bevorstehen. Und worum auch immer es gehen mochte, Cinzia hing ebenfalls mit drin. Es war deprimierend, ja geradezu erschreckend, wenn Macht sich in den falschen Händen befand. Nico hob OneWag hoch und küsste ihn auf den Kopf. »Danke, Kumpel. Du bist ein guter Cop.«

Der Hund leckte ihm übers Kinn.

Nico drehte sich wieder zu Luciana um und sah sie mit den Blumen auf ihn zukommen. Er nahm ihr den Strauß ab. »Vielen Dank.«

»Ich hatte schon Sorge, Sie würden ihn vergessen. Nehmen Sie's Aldo nicht übel. Sie als Amerikaner können die Eifersucht italienischer Männer wahrscheinlich nicht nachvollziehen. Es zerfrisst ihnen das Hirn. Vor Kurzem habe ich Cinzia abends mit diesem Mann in Radda gesehen. Ich will damit nicht behaupten, dass sie mehr als Freunde wären, aber Aldo war nicht mit von der Partie.«

Nico runzelte die Stirn. Was er da hörte, gefiel ihm gar nicht. »Was wollen Sie damit andeuten, Luciana?«

»Schauen Sie mich nicht so an. Ich bin keine Klatschbase, und ich deute auch nichts an. Ich versuche Ihnen nur zu erklären, dass ein italienischer Mann, der seine Frau dabei erwischt, wie sie mit einem anderen Mann plaudert, nun mal den Verstand verlieren kann.«

»Verstehe«, sagte Nico, nicht ganz überzeugt. In New York hatte er mit genügend Fällen zu tun gehabt, um zu wissen, dass Eifersucht auch amerikanischen Männern und Frauen das Hirn zerfressen konnte. Mord war gang und gäbe. »Ich bring die jetzt mal lieber zu Rita.«

»Ja, es ist schon spät. Der Friedhof schließt um sechs.« Wieder machte Luciana Anstalten, ihn zu umarmen, und diesmal ließ er es sich gefallen. Schließlich hatte er sowohl OneWag als auch die Blumen vor der Brust.

Auf dem Heimweg vom Friedhof machte Nico beim Ferriello-Büro halt, um nach Aldo zu sehen. Er parkte den Wagen und ließ OneWag hinaus, der sofort Richtung Weinshop und Verköstigungsraum davonflitzte. Die Doppeltüren standen weit offen, alle Lichter waren an. Offenbar wurde also eine Ausflugsgruppe erwartet, auf deren Programm meist eine einfache toskanische Mahlzeit samt Verkostung von Ferriellos ausgezeichneten Weinen stand, der ein kleiner Vortrag von Aldo über die Weinherstellung folgte. Cinzia war nach einem Jahr schlechter Umsätze auf diese Idee gekommen, und sie hatte sich als höchst erfolgreich erwiesen. Heute, so hoffte Nico, würde es Aldo von dem Vorfall am Nachmittag ablenken, einem Raum voller faszinierter Touristen Einblicke in die Weinherstellung zu geben.

Nico betrat den Saal mit der Balkendecke. »Ciao, Nico«, sagte Cinzia ohne hochzublicken. Aldos Frau, eine zierliche, hübsche Brünette knapp über vierzig, deren kurzes Haar sich wie eine Haube um ihren Kopf legte, trug eine enge weiße Hose und das lila T-Shirt des Betriebs mit dem orangefarbenen Ferriello-Logo, was ihre Figur voll zur Geltung brachte. »Wenn dem Gaumen etwas gefällt, muss ja das Auge nicht zu kurz kommen«, hatte sie einmal gesagt, als ein Gast sie angaffte.

Mit einer flinken Bewegung zog sie den Korken aus einer Flasche ihres Spitzenweins Ferriello Riserva. Auf der Theke hinter ihr standen mehrere bereits offene Flaschen Chianti Classico aufgereiht. Arben, ein kleiner, muskulöser Mann albanischer Herkunft, ebenfalls in Jeans und Ferriello-T-Shirt, das an ihm nicht ganz so eindrucksvoll wirkte, hob eine Hand zum Gruß und fuhr fort, Stühle um zwei lange Eichentische herum aufzustellen. Er arbeitete seit mehr als zwanzig Jahren auf dem Weingut. Als Ausländer hatte er vor langer Zeit einmal seine Stelle riskiert, indem er die Ehrlichkeit eines Kollegen aus der Toskana offen anzweifelte. Als sein Verdacht sich bewahrheitete, avancierte er zu Aldos rechter Hand. Und mit seiner Neugierde hatte er im vergangenen Jahr sogar dazu beigetragen, einen Mordfall aufzuklären.

»Buonasera euch beiden«, grüßte Nico und gab Cinzia ein Küsschen auf jede Wange.

»Für den Kauf von einer Flasche Riserva bekommen Sie heute ein Abendessen im Kreis von achtzehn Amerikanern«, sagte Arben. Achtzehn war eine kleine Gruppe; normalerweise empfingen sie Busladungen von dreißig oder mehr Personen aus Florenz oder Siena. »Es könnte sogar eine hübsche Frau dabei sein. Wenn Sie die abschleppen, geht die Flasche auf meine Rechnung.«

Nico lachte. Er mochte Arben und dessen entspannte Art. »Danke, aber ich habe jede Menge Ferriello-Wein. Heute wurde ich vom Restaurantdienst befreit, also bleibe ich zuhause und probiere eine neue Rezeptidee aus. Wo steckt Aldo?«

»Trifft sich mit unserem chinesischen Großhändler, der gerade eingeflogen ist«, antwortete Cinzia. »Er will ihn zum Essen ausführen, ins Il Falco bei Castellina.«

»Das Lokal kenne ich nicht.«

»Ich weiß nur, dass der Name gut passt. Der reinste Raub ist das dort, bei den Preisen.«

»Und Aldo geht es gut?«

Cinzia sah erstaunt auf. »Ja, wieso denn auch nicht?«

Also hatte Aldo seiner Frau nichts erzählt. »Er kam mir ein bisschen erschöpft vor, als ich ihn heute sah.«

»Das sind wir alle.«

»Wie wahr. Ciao, ich hoffe, ihr verkauft eine Menge Kisten.«

»Nicos Wort in Gottes Ohr«, antworteten Cinzia und Arben einstimmig.

Spät am Abend saß Nico mit einem Glas Whisky on the Rocks und einer Zigarette auf seinem Balkon. Alles war in Ordnung, eigentlich. Er hatte eben erst zwei köstliche Toasts mit Pancetta und Scamorza gegessen. Sein Gemüsegarten war gegossen. OneWag lag nach einer letzten Runde im Freien satt und zusammengerollt zu seinen Füßen. Die drei Schwalben, denen das Gebälk seines Balkons als Nachtquartier diente, schliefen bereits. Insgesamt war es ein guter Tag gewesen, abgesehen von der Szene zwischen Aldo und Mantelli auf der Piazza. Hatte Mantelli tatsächlich die Macht, Aldo zu ruinieren? Und warum sollte er das tun wollen? In welcher Beziehung standen Cinzia und Mantelli zueinander? Waren sie Freunde? Ein ehemaliges Liebespaar? Ein aktuelles? Wenn Mantelli Aldos Geschäft zerstörte, wäre Cinzia genauso betroffen. Nichts davon ergab Sinn, und nichts davon ging ihn etwas an, aber Nico empfand Mitgefühl für Aldo.

Es dauerte einen Moment, bevor er den Wagen hörte. Die Amerikaner waren gekommen und wieder abgefahren. Also musste es Aldo sein. Nico beugte sich über die Brüstung, um besser sehen zu können und ihm zuzuwinken. Eine alberne Art, ihm zu vermitteln: »Kopf hoch, Aldo.« Aber das Auto war nicht auf dem Heimweg zum Weingut. Seine Scheinwerfer wiesen hügelaufwärts, dahin, wo der Feldweg auf die Hauptstraße traf. Eine Sekunde lang beleuchtete die Laterne einen blauen Mini Morris, auf dem Weg Richtung Stadt. Cinzias Auto.

Nico schaute auf die Uhr, eine alte berufliche Angewohnheit. 22:24 Uhr. Wohin wollte sie? Wahrscheinlich einen Ehemann abholen, der zu betrunken war, um noch selbst zu fahren.

Nico drückte die Zigarette aus, trank den letzten Rest seines Whiskys und stand auf. »Na komm, Zeit fürs Bett.«

OneWag sprang auf und lief voraus.

= ‌DREI ‌=

Als Maresciallo Perillo am Mittwoch die Treppe zu seiner Zwei-Zimmer-Dienstwohnung über der Carabinieri-Station hinaufging, freute er sich schon auf das Essen, das ihn erwartete. Seine Frau Ivana hatte bereits beim Frühstück verkündet, was mittags auf den Tisch kommen würde, so wie sie das jeden Morgen tat – ein Ritual, das sie von ihrer Mutter übernommen hatte, die es gezielt angewandt hatte, um Ivanas Vater jeden Abend nach Hause zu locken. Perillo hatte nicht das Bedürfnis, sein Zuhause zu meiden, aber es gefiel ihm, zu wissen, was Ivana ihm vorsetzen würde. Die Vorstellung half ihm, seinen Geist anzuregen, wenn es bei der Arbeit chaotisch zuging. Heute standen Arancini auf dem Plan – frittierte Reisbällchen, gefüllt mit Hackfleisch, Tomatensoße und Mozzarella –, dazu sautierte Endivien mit Kapern, Anchovis und Oliven, eine neapolitanische Spezialität. Und zum Nachtisch Zabaglione mit Erdbeeren.

Perillo trat in die Küche, einen großen, freundlichen Raum, dessen mit Spitzenvorhängen geschmücktes Fenster den Blick auf eine Magnolie im Innenhof der Baracke bot. An einer weiß gestrichenen Wand hingen kleine gerahmte Blumendrucke. Ein blaues Tuch bedeckte den viereckigen Tisch. Ivana nahm die Arancini mit einem Sieblöffel aus dem Öl und ließ sie auf einem Stück Küchenpapier abtropfen. Sie war eine kleine, mollige Einundvierzigjährige mit einem hübschen puppenartigen Gesicht, das Perillo sofort den Kopf verdreht hatte. Zum ersten Mal hatte er sie auf dem Fischmarkt in Neapel gesehen, wo sie das verkaufte, was ihr Vater morgens gefangen hatte. Damals war er Brigadiere gewesen und seine Station nicht weit vom Markt entfernt. Von da an hatte er jeden Tag brav Fisch gekauft, bis Ivana seine Einladung zu einem gemeinsamen Spaziergang annahm. Auf die Spaziergänge folgten bald Einladungen ins Kino, in die Eisdiele, dann Küsse. Treffen, die vor ihrem Vater geheim gehalten wurden, dem für seine Tochter etwas Besseres vorschwebte als ein Brigadiere der Carabinieri. Neun Jahre später wurde Perillo zum Maresciallo befördert, und Ivanas Vater beugte sich schließlich dem Unvermeidlichen. Mit der Ehe kamen die Freuden eines geteilten Bettes. Neunzehn Jahre später konnte Perillo nun konstatieren, dass seine Leidenschaft auf eine behagliche kleine Flamme heruntergebrannt war. Er fand es immer noch schade, dass sie keine Kinder bekommen hatten, aber bei dem Thema war Ivana, die mit vierzehn ihre Mutter verloren hatte, eisern geblieben. Sie hatte fünf jüngere Geschwister großziehen müssen, drei Brüder und zwei Schwestern, buchstäblich mit Müh und Not. Was sie von der Ehe erwartete, war Seelenfrieden.

»Da bin ich.« Perillo gab seiner Frau ein Küsschen auf den Mund.

Ivana machte ein überraschtes Gesicht. »Du hast gute Laune.«

»Unten ist alles ruhig.« Er setzte sich an den Küchentisch.

»Also keine weitere Begegnung mit dem Weinkritiker mehr.«

»Ganz recht.« Er breitete seine Serviette auf dem Schoß aus und goss sich ein halbes Glas Wein ein. »Findest du wirklich, dass er gut aussieht?«

»Sehr gut.« Sie servierte ihm zwei Arancini und stellte die Schüssel mit Endivien auf den Tisch.

»Und ich?«

Ivana bediente sich und nahm Platz. »Du bist mein Mann, und ich liebe dich. Du musst nicht gut aussehen.«

»Na, da fühle ich mich doch gleich ganz prächtig.« Manchmal wünschte er, seine Frau wäre nicht so ehrlich.

Ivana beugte sich zu ihm und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. »Jetzt werd nicht albern, sondern iss.«

Perillo probierte sein erstes Arancino, mit geschlossenen Augen, um sich besser auf die Aromen konzentrieren zu können. »Lieber Himmel, du hast wirklich ein glückliches Händchen in der Küche.«

»Deshalb hast du mich ja geheiratet.« Während ihrer langen Werbungszeit hatte Ivana immer wieder kleine, sorgsam eingewickelte Esspakete für ihn in der Carabinieri-Station abgegeben. Ihrem Vater hatte sie erzählt, sie koche für die Armen.

»Deine Kochkunst war nur einer der Gründe.« Die anderen Männer in der Kaserne hatte ihn wegen der Esspakete verspottet, bis er anfing, sie von Ivanas Köstlichkeiten probieren zu lassen.

Er warf ihr ein Küsschen zu. Während er sich den Rest des Reisbällchens in den Mund schob, dudelten die ersten Töne von »O Sole Mio«.

Ivana machte sich nicht einmal die Mühe zu seufzen. Sie hoffte nur, dass es eine kurze Unterbrechung sein würde. Reisbällchen schmeckten aufgewärmt einfach nicht mehr so gut wie frisch frittiert.

Perillo wischte mit dem Finger über sein Handy.

Die Terrasse des Sotto Il Fico war trotz der Hitze voll. Enzo und Alba hatten Nicos Kellnerdienst übernommen. Elvira begrüßte die Gäste mit einem Lächeln und reichte ihnen die Speisekarten, während sie auf dem Weg zur Terrasse an ihrem Sessel vorbeidefilierten. Nico werkelte fröhlich in der Küche, trotz der Hitze, die vom Ofen abstrahlte. Tilde hatte seine Idee mit den Toasts nur unter der Bedingung akzeptiert, dass er sie selbst zubereitete. Kleine Würfel Pancetta brutzelten in einer dünnen Schicht Öl, daneben stapelten sich Scamorza-Scheiben in einer Schüssel. Nico war gerade damit beschäftigt, das Brot zu schneiden, als Alba den Kopf hereinsteckte.

»Maresciallo Perillo möchte wissen, ob Sie mit ihm sprechen können.«

»Im Moment geht es nicht. Ich rufe ihn später zurück.«

Da nun immer mehr Bestellungen für den Toast kamen, musste Tilde einspringen. »Morgen lasse ich sie Alba gleich als Erstes vorbereiten«, sagte sie. »Dann brauchen wir sie nur noch zu rösten, je nach Bedarf.«

»In dem Fall komme ich früher.«

»Nein, Nico. Alba wird dafür bezahlt. Du nicht.«

Es war ein wunder Punkt zwischen ihnen. Dieses Jahr, sagte Tilde, machten sie genug Umsatz, um ihn zu bezahlen, und sie bestand darauf, dass er das Geld annahm. Doch Nico sagte nein. Er brauche es nicht und wolle es auch nicht. Nicht von ihnen. Sie waren Familie. Er erklärte Tilde, wenn sie ihn bezahle, würde seine Arbeit zu einer Verpflichtung werden. Er wollte aber, dass sie ein Vergnügen blieb, und er wollte die Freiheit haben, sich ab und an einen Tag freizunehmen. Tilde und Enzo akzeptierten widerwillig. Elvira nannte ihn einen »vernünftigen Mann«. Zum Glück brauchte Nico ihr Geld wirklich nicht. Er hatte seine Pension vom NYPD und das Geld aus der Lebensversicherung, von der ihm Rita bis kurz vor ihrem Tod nie etwas erzählt hatte.

»Irgendwelche Neuigkeiten von Stella?«, fragte er. Tildes und Enzos Tochter arbeitete als Museumswärterin in Florenz.

»Sie kommt endlich mal wieder nach Hause. Man hat ihr das Wochenende freigegeben. Und offenbar hat sie Neuigkeiten.«

»Was denn?«

»Das wollte sie mir nicht verraten. Wir werden uns wohl gedulden müssen.«

Um kurz nach drei Uhr ging der letzte Toast aus der Küche. Tilde holte ein sauberes Spültuch, hielt es unter den Wasserhahn und wischte Nico das Gesicht ab. »Vielen Dank, und lass deine Ideen weiter sprudeln. Ich werde nicht darauf bestehen, dass du alles selber kochst, versprochen!«

»Das höre ich gern.« Nico nahm seine Schürze und die Haube ab, die er laut Tildes Anweisung tragen musste. »Dann bin ich mal weg. Bis heute Abend also.«

»Du musst nicht kommen.«

»Ach was. Ohne mich würde der ganze Laden zusammenbrechen.«

Tilde lachte.

Nach einem schnellen Espresso mit Enzo an der Bar verließ Nico das Restaurant. Es war leer auf der Straße. Überall waren die Fensterläden geschlossen, zum Schutz vor der Hitze. Außerdem war Siesta. Er freute sich schon auf die Dusche zu Hause, für die er sich viel Zeit nehmen würde. OneWag kam die Kirchentreppe heruntergerannt, als er nach ihm pfiff. Der Hund setzte seine Vorderpfoten auf Nicos Knie, um sich zu voller Höhe aufzurichten.

»Schön zu sehen, dass du immer noch heil und ganz bist.« OneWag war im Grunde immer noch ein Straßenköter. Er hatte Nico umgehend klargemacht, was er davon hielt, allein zu Hause gelassen zu werden, indem er beide Kopfkissen im Schlafzimmer zerfetzt und ein großes Loch in einen von Nicos neuesten Laufschuhen genagt hatte. Nico gestand seine Niederlage ein, und wenn er jetzt zur Arbeit ging, ließ er den Hund durch die Straßen des Städtchens stromern. Die Leine hatte OneWag ebenfalls verweigert. Dennoch hatte er, in einem Anfall von Großmut gegenüber dem Mann, der ihn aufgenommen hatte, ein Halsband mit einem Namens- und Adress-Anhänger akzeptiert.

Nico hob den Hund hoch und griff nach seinem Handy, um Perillo zurückzurufen.

»Tut mir leid. Ich habe bis jetzt mitten in der Toast-Produktion gesteckt.«

»Haben Sie Zeit, sich etwas anzusehen?«

»Jetzt? Ich dachte daran, mir eine schöne lange Dusche zu genehmigen.«

»Ich glaube, es wird Sie interessieren.« Perillo klang geradezu süffisant.

Irgendetwas war passiert. Das Duschen würde warten müssen. »Sind Sie in der Station?«

»Nein. Fahren Sie zum nördlichen Ende von Greve und nehmen Sie die Straße nach Montefioralle. Das ist ein mittelalterlicher Weiler oberhalb von Greve auf der linken Seite.«

»Ich war schon mal dort. Ein sehr hübsches Dörfchen, angeblich der Geburtsort von Amerigo Vespucci.«

»Mit der Betonung auf ›angeblich‹. Sie finden mich etwa fünf Kilometer vor dem Dorf.«

Nicos Fiat mühte sich die schmale Serpentinenstraße hinauf. Fast alle Straßen im Chianti führten in Schlangenlinien entweder bergauf oder bergab. Als Nico um eine weitere Kehre bog, erblickte er durch eine kleine Bresche in dem Wall aus Bäumen, der die Straße säumte, etwas Metallenes, das wie ein schwebender Kranausleger aussah. Wurde er etwa zu einer Baustelle geführt?

Eine Kurve später öffnete sich der linke Straßenrand zu einer baumlosen Lücke. Fünfzig Meter dahinter versperrte eine Barriere diese Straßenseite. Ein Carabiniere stoppte ihn. »Auf den nächsten zwei Kilometern ist nur eine Spur befahrbar, Signore. Sie können weiterfahren, aber langsam. Und bitte nicht anhalten.«

Nico streckte den Kopf aus dem Fenster. »Nico Doyle.« Er kannte Vince, einen von Perillos besten Leuten. Der junge Mann war ständig am Essen, angeblich um seinen Blutdruck oben zu halten. »Maresciallo Perillo erwartet mich.«

Vince trat näher. »Ah, Entschuldigung, Signor Doyle. Ich habe Sie nicht erkannt. Ihre Windschutzscheibe könnte ein paar Tropfen Wasser vertragen.«

»Sie haben ja so Recht.« Obwohl ihn die schmutzige Windschutzscheibe nicht daran gehindert hatte, den Kranwagen mit dem herabgeneigten Ausleger, den Abschleppwagen gleich daneben und den Krankenwagen mit den weit geöffneten Hecktüren zu sehen. »Wo soll ich parken?«

»Gleich da vorn, neben dem Alfa. Aber möglichst dicht am Straßenrand. Sie finden den Maresciallo weiter hinten. Furchtbarer Unfall.«

Nico stellte seinen Wagen ab und spähte den nur wenige Handbreit vom Straßenrand entfernten Steilhang hinab. Er rutschte auf den Beifahrersitz, um auszusteigen, während sich in seinem Magen ein Knoten bildete. Dort unten hatte jemand ein schlimmes Ende gefunden. Jemand, den er kannte. Warum sonst hätte Perillo ihn hierher bestellt?

»Bleib in der Nähe«, sagte Nico zu OneWag und lief Richtung Kran, wo Perillo stand. Er trug wie üblich Jeans mit Wildlederstiefeletten und dazu ein graues Hemd.

»Ah, Nico, da sind Sie ja.« Hinter ihm grüßte Daniele Donato, Perillos Brigadiere, Nico mit einem Nicken. Er wirkte mitgenommen, vielleicht von der Hitze oder weil er nach erst zwei Jahren im Dienst noch nicht abgehärtet genug war, um mit dem Tod umzugehen.

Nico nickte zurück. »Wen hat es erwischt?«

»Das wissen wir noch nicht genau. Wir haben große Schwierigkeiten, den Passagier in einem Stück rauszuholen. Er ist unter dem Autodach eingequetscht.«

Nico blickte in die Tiefe. Der Wagen war mindestens zwanzig Meter einen Abhang hinuntergestürzt, der mit großen, scharfkantigen Felssteinen, dünnen Bäumchen und Gebüsch bedeckt war. Seinen Weg nach unten, auf dem er sich überschlagen hatte, markierten abgebrochene Zweige und umgekippte Steine. Er musste mit ungeheurer Geschwindigkeit unterwegs gewesen sein. Der Hang war so steil, dass man die vier Ersthelfer mit ihren zwei Tragen mithilfe eines Krans zu dem verunfallten Wagen hatte abseilen müssen.

»Wie viele sind da drin?«, fragte Nico.

»Nur einer, glauben wir.«

»Hoffen wir's.«

Zwei Männer hängten den hinteren Kotflügel des Autos an den Ausleger. Ein Mann brüllte etwas zum Kranführer hoch, und langsam hob sich das Heck des Wagens. Es war ein großer Wagen, größer als die, mit denen Nicos Freunde herumfuhren. Er spürte, wie sich der Knoten in seinem Magen löste, und sah sich nach seinem Hund um. OneWag war ganz in der Nähe; er schnüffelte an der Stelle herum, wo der Unfallwagen von der Straße abgekommen war.

»Warum wollten Sie mich hier haben?«

»Es besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass es sich um jemanden handelt, den Sie kennen«, sagte Perillo. »Ich dachte, es würde Sie interessieren.«

»Hören Sie schon auf mit den Spielchen, Perillo«, erwiderte Nico. Obwohl er sein Freund war, konnte der Mann manchmal nervtötend geheimniskrämerisch sein.

»Sie haben Recht, ich habe ein Spielchen mit Ihnen gespielt. Zu meiner Verteidigung muss ich jedoch sagen, dass jeder seine eigene Methode hat, mit grausigen Vorfällen umzugehen. Außerdem vergesse ich immer wieder, dass Sie an amerikanische Direktheit gewöhnt sind. Ich versuche also, mich zu bessern. Dino, der seit zwei Stunden zusammen mit den Rettungskräften da unten ist und klug genug war, sein Handy mitzunehmen, hat mich darüber informiert, dass er auf dem Weg abwärts das Fahrzeugemblem gefunden hat. Einen Jaguar aus glänzendem Metall. Jetzt, wo der Wagen angehoben worden ist, können Sie die Farbe erkennen.«

Nico sah einen Streifen Weiß. »Mantelli?«

»Er kam mir nicht vor, als wäre er so großzügig, sein Auto auch mal jemand anderem zu leihen, also ja, ich würde vermuten, dass die Person in dem Auto Mantelli ist. Es sei denn, ein anderer weißer Jaguar ist zufälligerweise hier vorbeigerast und von der Straße abgekommen. Ich würde auch vermuten, dass der Insasse tot ist. Aber bis wir ihn da rausgezogen haben, kann ich das nicht mit Sicherheit sagen.«

»Wer es auch ist, er muss betrunken gewesen sein.« Daniele wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab. Da, wo sie standen, gab es keinen Schatten.

Perillo warf seinem Brigadiere einen missbilligenden Blick zu. Daniele schob das Taschentuch schnell zurück in die Tasche und zog seine Jacke gerade. Perillos Hemd war völlig trocken. Ihm schien die Hitze nichts auszumachen.

»Warum glauben Sie das?«, fragte Nico, um Daniele zum Weiterreden zu ermutigen. Die wild kurvenden Reifenspuren waren ihm auch schon aufgefallen.

Daniele deutete bergauf zu der Stelle, wo der Wagen über den Rand geflogen war. »Die Spuren. Ich habe Fotos von ihnen.«

»Daniele ist unersetzlich. Ein Experte für Computer und Fotos«, sagte Perillo.

Der Brigadiere wurde rot, unsicher, ob das ein Kompliment sein sollte oder sein Chef sich über ihn lustig machte. »Danis Morgenröte«, wie Perillo das nannte, überkam ihn häufig.

»Ich meine es ernst, Dani«, sagte Perillo.

Die Morgenröte verstärkte sich.

Perillo zwinkerte Nico zu. »Nun denn, ob Alkohol, Aneurysma, Schlaganfall oder Herzinfarkt, die Autopsie wird es uns verraten.«

OneWag bellte. Von unten erklangen Rufe. Die drei Männer und der Hund beugten sich vor, um zu sehen, was los war. Dino hob einen Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger.

»Nur ein Opfer«, sagte Perillo. »Dem Himmel sei Dank.« Daniele bekreuzigte sich.

Die Leiche wurde vorsichtig aus dem Auto gehoben. Nico sah weiße Hosenbeine. Alles danach war blutüberströmt. Er drehte sich weg. »Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie mich hergerufen haben.«

»Weil Sie gestern, wie ich gehört habe, Aldo ein guter Freund gewesen sind. Somit können Sie der Erste sein, der ihm die gute Nachricht überbringt.«

»Also waren Sie sicher, dass es Mantelli war, als Sie mich anriefen?«

»Ja, aber als ein Mann, der das Gesetz hochhält, muss ich auf konkrete Beweise warten. Dabei halte ich seit jeher mehr von Intuition und einer schnellen Bewertung des Geschehens, was zum Glück noch nicht dazu geführt hat, dass meine Vorgesetzten auf meine umgehende Pensionierung dringen.«

Nico zwang sich, seine Überraschung zu verbergen. Perillo hatte soeben eine höchst unfeine Anspielung darauf gemacht, wie Nico seinen Job als Detective im Morddezernat des NYPD verloren hatte, aber jetzt war nicht der richtige Moment, um ihn zu fragen, woher er das wusste. »Ich habe Mantelli gestern im Sotto Il Fico gesehen. Er hatte eine junge Frau bei sich.« Ihr trauriges, schönes Gesicht kam Nico wieder in den Sinn. Würde Mantellis Tod sie noch trauriger machen oder ihr eher Erleichterung bringen?

»Wie heißt sie?«

»Loredana. Den Nachnamen kenne ich nicht. Sie ist deutlich jünger als Mantelli.«