Toskanisches Verhängnis - Camilla Trinchieri - E-Book

Toskanisches Verhängnis E-Book

Camilla Trinchieri

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  • Herausgeber: Insel Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Eine Villa in den Weinbergen und das Rätsel um die reiche Witwe | Der perfekte Urlaubskrimi für Italien-Fans

Nico Doyle ist im malerischen Gravigna angekommen: Er hat Freundschaften geschlossen, hilft im Restaurant seiner Verwandten, experimentiert mit köstlichen Rezepten und mit der Künstlerin Nelli scheint es ernst zu werden. An seinen früheren Job als Cop beim NYPD würde er am liebsten keinen Gedanken mehr verschwenden – doch sein guter Freund, der Maresciallo dei Carabinieri Salvatore Perillo, ist einmal mehr auf seine Hilfe angewiesen. Die wohlhabende Signora Nora, eine reiche Witwe, so berühmt wie berüchtigt, wurde tot auf ihrem Klavier aufgefunden. Die einzige Zeugin am Tatort spricht nur Englisch. Also ermitteln Nico und Perillo, um den Mord aufzuklären.

Toskanisches Verhängnis ist ein Bella-Italia-Krimi inmitten der zypressengesäumten Alleen der Toskana mit einem rätselhaften Mordfall und voller italienischer Lebensart. Inklusive Nicos beliebtem Taglierini-Rezept.

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Cover

Titel

Camilla Trinchieri

Toskanisches Verhängnis

Kriminalroman

Aus dem amerikanischen Englisch von Sonja Hauser

Insel Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem TitelThe Road to Murder bei Soho Press, New York.

eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5046.

© der deutschsprachigen AusgabeInsel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024© 2024 by Camilla TrinchieriAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: gehring/Et/Getty Images, München;FinePic®, München

eISBN 978-3-458-77977-3

www.suhrkamp.de

Widmung

Zum Andenken an Wendy Pesky, die die Welt mit Anmut und Schönheit erfreute.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Handelnde Personen in der Reihenfolge ihres Auftritts

TAGLIERINI ALLA NICO

. Vier Portionen

Dank

Informationen zum Buch

Toskanisches Verhängnis

Eins

Gravigna, ein kleiner Ort in den toskanischen Chiantihügeln

Ein Montag im Mai, 5:05 Uhr

Nicos kalte Füße suchten unter der Bettdecke nach den warmen von Nelli und fanden sie. Sofort schlief er wieder ein. Im Nachbarzimmer begann ein Handy zu klingeln, was jedoch nur OneWag hörte, der zusammengerollt auf dem Sofa lag. Der Hund hob den Kopf, um den Ursprung des aufdringlichen Geräuschs auszumachen. Es kam von dem Ding auf dem Tisch. Er knurrte empört, denn gerade war er im Traum Kaninchen hinterhergejagt. Das Klingeln hörte nicht auf. OneWag sprang von der Couch, trottete zur Schlafzimmertür und stieß sie mit der Schnauze auf.

Nach einer Weile weckte der Lärm Nelli. Auf einen Ellbogen gestützt, stupste sie Nico in den Rücken. »Wach auf, dein Handy klingelt.«

Nico schlang die Arme um sein Kissen. »Nein. Ist deins.«

»Irrtum. Meins liegt hier auf dem Nachtkästchen.« Nach einem Blick auf den Radiowecker begann sie, Nico an der Schulter zu rütteln. »Steh auf, Nico. Es ist fünf Uhr morgens. Der Anruf muss wichtig sein.«

»Da erlaubt sich bestimmt bloß jemand einen Scherz«, murmelte Nico.

»Du bist unmöglich.« Nelli wollte über ihn klettern, um an das Handy zu gelangen.

Nico schob sie zurück. »Ich geh ja schon.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Nase und schälte sich brummend aus dem Bett. Das üppige Essen vom Vortag lag ihm noch schwer im Magen, und so dauerte es eine ganze Weile, bis er das Telefon erreichte.

Als OneWag Nico sah, wedelte er zur Begrüßung mit dem Schwanz, wurde jedoch nicht beachtet. Verstimmt sprang er aufs Sofa zurück und drehte Nico den Rücken zu. Das Klingeln hörte in dem Moment auf, in dem Nico das Handy vom Tisch nahm. Er rieb sich die Augen und las auf dem Display: Verpasster Anruf. Super. Also zurück ins Bett. Da fing das Klingeln wieder an. Als Nico Perillos Namen sah, bekam er einen Schreck. Er ging ran. »Was ist passiert?«

»Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Alles in Ordnung?«

»Danke der Nachfrage. Seit zwanzig Minuten stehe ich neben einer Toten, die auf dem Boden liegt, und einer quicklebendigen Engländerin, die kein Italienisch kann.«

»Soll ich mit ihr reden?«

»Ja bitte.«

Perillo teilte der Dame in fehlerhaftem und stark akzentbehaftetem Englisch mit: »Signora Barron, mein Freund sprechen Englisch.« Nico hörte, wie eine kräftige Frauenstimme erklärte: »Dem Herrn sei Dank für kleine Gaben.« Dann das Geräusch leiser Schritte und wie Perillo ihr sein Handy gab.

»Sir, was man meiner Freundin angetan hat, ist abscheulich. Weiter äußere ich mich dazu erst, wenn Sie hier sind.«

Nachdem sie Perillo das Telefon zurückgegeben hatte, erkundigte sich dieser: »Was hat sie gesagt?«

»Sie will, dass ich komme. Wo sind Sie?«

»Ein paar Kilometer südlich von Vignamaggio in der Villa Salviati. Gleich hinter einer ziemlich scharfen Kurve führt eine von Zypressen flankierte Straße den Hügel hinauf zu der Villa.«

»Geben Sie mir kurz Zeit zum Anziehen, dann mache ich mich auf den Weg.« Nico beendete das Gespräch.

»Wer war das?«, rief Nelli, die mittlerweile aufgestanden war und den Gürtel ihres Bademantels um die Taille schlang, vom Schlafzimmer aus.

»Perillo.« Nico ging zu ihr und begann sich anzukleiden.

»Was ist los?«

Nico schilderte es ihr, während er sein kariertes Hemd zuknöpfte.

Nelli reichte ihm eine graue Cordhose. »Wer ist die Tote?«

»Das hab ich nicht gefragt.«

»Wie traurig.« Nelli runzelte die Stirn. »Herzinfarkt?«

Obwohl Nico sich nicht vorstellen konnte, dass man bei Verdacht auf Herzinfarkt die Carabinieri rufen würde, sagte er nichts. Warum Nelli beunruhigen? Er griff nach dem dunkelblauen Pullover, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. »Keine Ahnung.«

Auf dem Weg zum Herd bekreuzigte sich Nelli. OneWag sprang vom Sofa und lief zu ihr, um sie zu begrüßen. Sie nahm den Hund hoch und küsste ihn auf den Kopf. »Ich setz schon mal den Kaffee auf.«

Nico ließ den elektrischen Rasierapparat über Wangen und Kinn gleiten. Unerfindlicherweise hatte er das Gefühl, einen guten Eindruck machen zu müssen. Die englische Dame hatte ziemlich kultiviert geklungen. Er kämmte seine nach wie vor dichten, allmählich ergrauenden Haare und putzte sich die Zähne.

Der Espresso blubberte vor sich hin, als Nico die Wohnzimmer-Küchenkombination betrat. »Dafür habe ich keine Zeit.«

»Dauert nur zwei Minuten«, erwiderte Nelli, die ihn ungern ziehen ließ.

»Nelli, ich kann nicht. Perillo braucht Hilfe. Trink einen für mich mit. Ciao, bella.« Er wollte sie auf die Lippen küssen, aber da sie den Kopf wegdrehte, erwischte er OneWag. Nico betrachtete Nellis Gesicht. Es wirkte sanft, noch ein wenig verschlafen. »Machst du dir Sorgen, weil ich gehe?«

Nelli lächelte. »Der Grund bereitet mir Kopfzerbrechen. Aber mach dir keine Gedanken. Rocco leistet mir Gesellschaft.«

Nun gelang es Nico, sie leicht auf die Lippen zu küssen. Nelli erwiderte den Kuss. »Halt mich auf dem Laufenden.«

»Klar.«

Als Nico weg war, goss Nelli sich einen doppelten Espresso ein, gab etwas Milch dazu und kehrte mit der Tasse ins Bett zurück. OneWag streckte sich auf Höhe ihres Beins neben ihr aus, während sie ein kurzes Gebet gen Himmel schickte. Bitte lass es nichts Schlimmeres sein als einen Herzinfarkt. Die vergangenen fünf Monate, in denen Nico nicht für Perillo in Mordfällen ermittelt hatte, waren herrlich gewesen. Er war gut gelaunt und liebevoll, und die Traurigkeit, die ihn immer irgendwie begleitete, schien fast verschwunden.

Nelli lehnte sich ins Kissen zurück. Trotzdem bemerkte sie seine Rastlosigkeit. Er habe keine Freude an der Polizeiarbeit in New York gehabt, so seine Worte, doch dass ihm Teamwork mit Perillo und Daniele Spaß machte, war nicht zu übersehen. Hier wurde er auf eine Art und Weise gebraucht wie in New York höchstwahrscheinlich nicht. Er hatte mehr Erfahrung in Sachen Mordermittlungen als Perillo und stand ihm gern bei. So hatte er in Italien Wurzeln schlagen können. Nico half im Sotto Il Fico aus und ersann neue Rezepte für Tilde, auch wenn das Lokal während der Wintermonate, in denen keine Touristen nach Gravigna kamen, lediglich an den Wochenendabenden geöffnet hatte. Weswegen Nelli seine Gesellschaft, Liebe und Aufmerksamkeit in den letzten Monaten häufiger hatte genießen können.

Nelli leerte achselzuckend die Espressotasse. Wenn es sich tatsächlich um Mord handelte, würde er weniger Zeit für sie haben. Vielleicht wäre das gut für sie beide. Schließlich hatte sie einen Job im Weingut Querciabella, den sie liebte, und außerdem bliebe ihr mehr Zeit fürs Malen.

Im heller werdenden Licht des Morgens fand Nico problemlos die lange, ansteigende Reihe der Zypressen. Ganz oben auf dem Hügel stand ein großes zweigeschossiges hellgelbes Steingebäude, von dem aus sich ein Blick auf weit auseinanderstehende Bäume bot. Mondänes Haus, dachte Nico, als er von der gepflasterten Straße herunterfuhr und das Bronzeschild mit den Namen SALVIATI-LAMBERTI auf der einen Seite des hohen gusseisernen Tors bemerkte. Vermutlich in der Renaissance erbaut. Ein geschichtsträchtiger Ort. An dem es nach Geld roch. Nico schaltete und betete insgeheim, dass sein alter Fiat 500 den steilen Anstieg schaffen würde.

Perillos rechte Hand Daniele Donato begrüßte Nico an der Doppeltür. »Buongiorno, Nico.«

»Ciao, Daniele. Sind Vince und Dino auch da?«

»Ja, sie sehen sich in sämtlichen Räumen um. Ich zeige Ihnen den Weg. Ist ein ziemlich großes Haus.« Daniele reichte ihm Plastiküberzüge für die Schuhe und Latexhandschuhe.

Nico bedankte sich und schlüpfte hinein.

»Tut mir leid, dass der Maresciallo Sie wecken musste«, sagte Daniele.

»Den Schlaf können wir alle heute Nacht nachholen.«

Sie durchquerten einen prächtigen Raum nach dem anderen, vorbei an hohen Fenstern mit Brokatvorhängen und Wänden mit Gemälden und Zeichnungen in Goldrahmen. Danieles Stiefel und Nicos Turnschuhe, beide plastikverhüllt, verursachten unterschiedliche Geräusche auf glänzendem Marmor und weichen Teppichen.

Gerade als Nico und Daniele ein Zimmer mit Bücherregalen vom Boden bis zur Decke betraten, tauchte Perillo aus einer Seitentür auf. »Da seid ihr ja.« Er schritt über den großen Perserteppich auf sie zu und schüttelte Nico die Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind.« Perillo schaute Daniele an. »Was sagt die Spurensicherung?«

»Da geht niemand ran. Ich habe eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen.«

Perillo breitete seufzend die Arme aus.

»Dann ist es also Mord?«, erkundigte sich Nico.

»Ja. Die Frau wurde mit einem Stück Vorhangschnur erdrosselt.«

»Wer ist sie?«

»Die Eigentümerin dieses Hauses, vermute ich, aber die Engländerin wollte mir nicht mal ihren Namen verraten.«

»Ist wahrscheinlich zu durcheinander. Sonst noch jemand da?«

Perillo schüttelte den Kopf. »Wir haben den Anruf um vier Uhr fünfzehn erhalten. Die Frau hat lediglich gesagt: ›Villa Salviati, morto, morto.‹ Und aufgelegt, bevor Dino sie irgendetwas fragen konnte.«

»Wissen wir, wem die Villa gehört?«, erkundigte sich Nico.

»Das habe ich auf dem Weg hierher recherchiert«, antwortete Daniele, Perillos Mann für Computerfragen. Im Netz zu surfen war seine Lieblingsbeschäftigung. »Im Grundbuch ist Eleonora Salviati-Lamberti eingetragen, eine Witwe. Das Haus scheint nicht durchwühlt worden zu sein, aber wir müssen erst noch feststellen, ob etwas gestohlen wurde.«

»Allmählich tun mir die Knie weh«, bemerkte Perillo. »Dani, bitte spür mal die Küche in diesem Mausoleum auf und versuch, uns einen Kaffee zu organisieren.«

Daniele wandte sich zackig ab und eilte den Weg zurück, den er gekommen war.

»Endlich hat die Frau sich ein Glas Brandy geben lassen«, erklärte Perillo. »Nur so konnte ich sie überreden, sich von der Toten zu entfernen und in einem anderen Raum zu warten.«

»Lassen Sie mich einen Blick auf die Leiche werfen, bevor ich mit ihr rede.«

»Hier lang.«

Nico folgte Perillo durch eine Doppeltür am anderen Ende der Bibliothek.

Der Nachbarraum war kalt und lag im Halbdunkel. Das frühmorgendliche Licht, das durch zwei Fenster auf der einen Seite fiel, besaß kaum genug Kraft, weiter als bis zu den Vorhängen zu dringen.

»Sie hat die Lampe ausgeschaltet, als wir rausgegangen sind«, teilte Perillo Nico mit.

Als Nico den Lichtschalter mit seinem Taschentuch betätigte, erwachte ein Kronleuchter funkelnd zum Leben. In der Mitte der Wand am anderen Ende befand sich ein reichverzierter Marmorkamin mit gestapelten Holzscheiten. Von dort aus wanderte Nicos Blick über zwei verschlissene Samtsofas und einige Sessel zu dem Flügel daneben. Etwas Dunkles bedeckte einen Teil der Tasten. Nico ging näher heran. Das Mordopfer lag zusammengesunken über dem Klavier, den Kopf auf einem Unterarm, das Gesicht der Wand zugewandt. Die Hand des anderen Arms ruhte auf den Tasten. Die Frau wirkte, als wäre sie beim Spielen eingeschlafen. Ihre Füße waren nackt; die Hausschuhe lagen hinter dem Klavierhocker.

Da entdeckte Nico die zwei abgeschnittenen Enden einer Goldkordel, die unter den dichten schwarzen Haaren der Frau hervorlugten und sich über den Rücken eines gelben Bademantels schlängelten.

»Niemand bleibt ruhig liegen, wenn er erdrosselt wird«, stellte Perillo fest. »Man hat sie so hingelegt.«

»Der Mörder wollte eine Botschaft hinterlassen.«

»Die ich nicht verstehe.«

»Wir müssen sie entschlüsseln. Vielleicht kann die Engländerin uns dabei helfen. Wo steckt sie eigentlich?«

»In einem Raum, den sie sich selbst ausgesucht hat.« Perillo kehrte in die Bibliothek zurück und öffnete eine Tür zwischen zwei Bücherstapeln. »Signora, mein amerikanischer Freund«, verkündete er und machte einen Schritt zur Seite, um Nico eintreten zu lassen.

Das einzige Licht in dem Raum stammte von einer kleinen Porzellanlampe auf einem Beistelltisch. In ihrem sanften Schein war ein hellblauer Wollschoß zu erkennen, in dem zwei schmale Hände ruhten.

»Guten Morgen«, begrüßte Nico die Frau und stellte sich vor.

»Es ist wohl kaum ein guter Morgen, Mr Doyle. Unter anderen Umständen hätte ich gesagt, ich freue mich, Sie kennenzulernen, aber heute passt das nicht. Mein Name ist Laetitia Barron.«

Nico kam näher. »Tut mir leid, Sie in einer so traurigen Situation zu belästigen, aber wir benötigen Ihre Hilfe, um zu begreifen, was hier passiert ist.«

»Was hier passiert ist, liegt auf der Hand. Gestern Abend haben Nora und ich uns kurz vor oder nach zehn Uhr eine gute Nacht gewünscht, und während ich schlief, hat jemand sie erdrosselt.«

Nico meinte, ihre Stimme vor Zorn beben zu hören. »Sie zu finden muss ein furchtbarer Schock für Sie gewesen sein, doch Maresciallo Perillo braucht dringend Ihre Unterstützung.«

»Zuallererst muss er Noras Töchter informieren, dass ihre Mutter ermordet wurde. Ich habe weder die Telefonnummer von Adriana noch die von Clara. Aber sie stehen sicher in Noras Adressbuch.«

Nico übersetzte für Perillo, der an der Tür geblieben war.

»Grazie.« Perillo entfernte sich.

»Mrs Barron, könnten Sie mir sagen …«

»Miss Barron. Ich war nie verheiratet. Zu viele Leute bestehen darauf, mich mit ›Mrs Barron‹ anzureden, als wäre es ihnen peinlich, dass ich ledig geblieben bin. Bitte machen Sie diesen Fehler nicht. Er verärgert mich zutiefst.« Ihre Hände bewegten sich im Schein der Lampe. »Nehmen Sie doch Platz. Hinter Ihnen befindet sich eine Sitzgelegenheit.«

Nico streckte den Fuß ein wenig nach hinten aus und setzte sich, als er etwas Hartes spürte. »Ist es Ihnen recht, wenn ich eine weitere Lampe einschalte, damit wir uns besser sehen können, Miss Barron?«

»Bitte gönnen Sie mir noch ein paar Minuten in der Dunkelheit, Mr Doyle. Sie spendet mir Trost.« Sie legte die Hände zurück in den Schoß.

»Wie Sie wünschen. Was können Sie mir über Mrs Lamberti sagen?«

»Lamberti war der Name ihres Mannes. Nora hat wieder ihren Mädchennamen angenommen: Salviati. Sie war eine sehr stolze, eher unfreundliche Frau. Mir gegenüber merkwürdigerweise nicht. Ich habe sie als keine besonders enge Freundin erachtet. Sie suchte meine Nähe und behauptete, sich in meiner Gesellschaft wohlzufühlen. Wahrscheinlich hat es ihr Freude gemacht, sich mit ihrem guten Englisch brüsten zu können.«

Nico beugte sich ein wenig vor. »Sie haben die Carabinieri ger ‌…«

Miss Barron hob die Hand, um ihn zum Verstummen zu bringen. »Ja, doch bitte unterbrechen Sie mich nicht. Geschichten müssen ihrem eigenen Rhythmus folgen, um Sinn zu ergeben.«

»Wir möchten lediglich die Wahrheit herausfinden.« Nico fragte sich, ob sie unangenehmen Fragen ausweichen oder Zeit haben wollte, sich eine Story auszudenken.

»Wir haben uns vor vier Jahren während einer Zugfahrt von Bath, wo ich lebe, nach London kennengelernt.« Sie sprach mit klarer Stimme. »Nora hat bemerkt, dass wir das gleiche Buch lasen, und angefangen, Fragen zu stellen. Sie war nach einem Monat in London nach Bath gereist, um die römischen Ruinen zu besichtigen, und danach wollte sie nach Italien zurück. Sie hat sich sehr für mich interessiert, was mich überraschte. Ich fand sie ein bisschen neugierig, aber am Ende hat sie mich überredet, diese reizende Region zu besuchen, und dafür werde ich ihr ewig dankbar sein. Seit damals verbringe ich jeden Sommer zwei Monate in einem Hotel nicht weit von hier.«

Während er ihren Ausführungen lauschte, stieg Nico der Geruch von Kaffee in die Nase. Perillo war auf Zehenspitzen zur Tür zurückgekehrt.

»Dieses Jahr«, fuhr Miss Barron fort, »hat Nora mich zu meiner Überraschung eingeladen, eine Woche bei ihr zu verbringen. Zuvor haben wir uns immer nur gesehen, wenn ich zu meinem Sommeraufenthalt herkam. Eigentlich wollte ich nach London, mir einige Theaterstücke ansehen, doch sie hat mir keine Ruhe gelassen. Nora war es gewohnt, ihren Kopf durchzusetzen, und zu Hause hatte es tagelang geregnet, also habe ich mich überreden lassen.« Miss Barron machte eine kurze Pause.

»Sie hat Klavier gespielt, als sie ermordet wurde. Beethovens Mondscheinsonate. Die Musik hat mich aufgeweckt. Mein Zimmer liegt genau über dem Raum.«

»Um wie viel Uhr war das?«

Miss Barron beugte sich ins Licht der Lampe vor. Ihr Gesicht war schmal und ungeschminkt, auf ihren Wangen prangten rote Flecken. Perfekt arrangierte graublonde Locken umrahmten ihren kleinen Kopf. Nico schätzte sie auf Ende fünfzig. Sie sah ihn mit ihren tiefblauen Augen an, bevor ihr Blick zu dem Schatten wanderte, den Perillos Körper auf den Boden warf.

Nun musterte Miss Barron den kleingewachsenen, stämmigen Mann an der Tür, dessen Gesicht im Dunkeln lag. Sie war erstaunt gewesen über seine ausdrucksstarken, attraktiven Züge und die auffälligen braunen Augen, die sie unter seinen dichten schwarzen Haaren hervor anblickten. Sein Aussehen hatte ihr geholfen, sich zu beruhigen. Sie hatte das Gefühl gehabt, sich in guten Händen zu befinden, bis sie merkte, dass er kein Wort von dem verstand, was sie sagte. »Warum steht der Maresciallo an der Tür?«, erkundigte sie sich. »Meiner Ansicht nach wäre es sinnvoller, wenn er nach Hinweisen suchen würde.«

Nico übersetzte für Perillo, fasste zusammen, was Miss Barron ihm bis dahin berichtet hatte, und fügte hinzu: »Ich hoffe, Sie haben Ihren Kaffee genossen.«

»Und den Ihren auch. Ihnen einen zu bringen wäre unhöflich gewesen, weil ich keinen Tee für die Dame hatte.«

»Ciao.«

»Stellen Sie ihr Fragen, Nico. Worauf warten Sie?«

»Darauf, dass Sie ihr Tee bringen.«

»Gut, aber ich verlasse mich auf Sie, Nico. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie fertig sind.« Perillo verabschiedete sich mit einem Nicken von Miss Barron und entfernte sich.

Miss Barron wartete, bis Perillos Schritte nicht mehr zu hören waren. »Sie sprechen fließend Italienisch.«

»Ich hatte eine italienisch-amerikanische Mutter und eine italienische Frau, seit zwei Jahren lebe ich hier«, erklärte er in der Hoffnung, eine Vertrauensbasis mit ihr aufzubauen. »Leider mache ich noch immer ziemlich viele Fehler und werde meinen Akzent einfach nicht los.«

»Ich beneide Sie, Mr Doyle. Ich versuche, die schöne Sprache dieses Landes zu sprechen, doch mein fremdenfeindliches Ohr weigert sich zuzuhören und zu lernen.« Sie schaltete die Lampe neben sich aus, stand auf und trat an das Fenster mit den schweren Vorhängen. Nico staunte, wie groß sie war.

»Die Sonne wird bald aufgehen«, stellte sie fest. »Von dieser Seite des Hauses aus ist das sehr gut zu sehen.« Sie öffnete die Vorhänge, hinter denen sich eine hohe Terrassentür befand. Fahles Licht strömte in den Raum.

Nico gesellte sich zu Miss Barron und blickte mit ihr hinaus. Draußen verschmolz die dunkle, mit Wildblumen gesprenkelte abfallende Grasfläche mit dem Horizont. Mittlerweile hatte der Himmel, an dessen unterem Ende eine schmale rosafarbene Linie verlief, einen blaugrauen Ton angenommen. Die ersten Vögel stimmten bereits ihr Morgenkonzert an.

»Es muss Nora das Herz gebrochen haben, sich von diesem herrlichen Ort zu trennen«, bemerkte Miss Barron.

»Sie wollte verkaufen?«

»Ja. Das hat sie mir gestern Abend beim Essen verkündet. Die Neuigkeit hat mir die Sprache verschlagen. Schließlich befindet sich dieses Anwesen seit über einem Jahrhundert im Besitz ihrer Familie.«

»Hat sie erklärt, warum sie es verkaufen wollte?«

»Es erschien mir unpassend, sie zu fragen, da ich den Eindruck hatte, dass sie in finanziellen Schwierigkeiten steckte.« Miss Barron setzte sich wieder. »Warum sonst sollte sie es veräußern?«

Vielleicht um ein neues Leben zu beginnen, dachte Nico und nahm ebenfalls Platz. Aus diesem Grund hatte er seine bescheidene Wohnung in der Bronx verkauft. »Darf ich noch einmal auf die Musik zurückkommen, die Sie heute Nacht gehört haben? Können Sie mir sagen, wann genau sie Sie geweckt hat?«

»Ich habe ihr einige Minuten lang vom Bett aus gelauscht. Als ich dann aufgestanden bin und auf meine Uhr gesehen habe, war es achtzehn nach drei morgens. Nora hat das Klavier geliebt. In jungen Jahren hatte sie gehofft, Konzertpianistin zu werden, doch ihr Vater erklärte ihr, sie besitze zu wenig Talent, und weigerte sich, ihr weitere Unterrichtsstunden zu bezahlen. Eltern können unglaublich grausam sein. Am Abend meiner Ankunft hat sie das Adagio aus dem ersten Klavierkonzert von Brahms ganz ausgezeichnet gespielt.«

»Wann war das?«

»Am Mittwoch, vor fünf Tagen. Was hatte ich gerade gesagt?«

»Dass Sie auf die Uhr geschaut haben. Was ist danach passiert?«

»Ich habe mein Zimmer verlassen und bin zum oberen Ende der Treppe gegangen.« Sie schaute hinüber zur Tür, als Vince sich mit einem großen Tablett, darauf zwei Tassen, eine silberne Teekanne und ein Stück Kuchen auf einem Teller, seitlich hindurchwand.

»Den Pinoli-Kuchen hat meine Frau gemacht«, erklärte Vince. »Die Signora hat ihn nötiger als ich. Und der Kaffee ist für Sie. Tut mir leid, ich habe nur ein Stück.«

»Der Wille zählt fürs Werk, danke«, erwiderte Nico, dessen Verärgerung über die Störung durch den Duft des heißersehnten Kaffees gemindert wurde.

Miss Barron verschränkte die Hände, als Vince das Tablett auf einer langen Bank abstellte, die als Kaffeetischchen fungierte. »Grazie molto, Signore. Grazie.«

Vince nickte erfreut. »Danke sehr, Lady.« Während er sich rückwärts entfernte, fügte er hinzu: »Gianconi und die Spurensicherung sind am Tor.« Was bedeutete, dass sie sich die Villa in ein paar Minuten vornehmen würden.

»Sehr freundlich«, bedankte sich Miss Barron und gab zuerst Milch, dann Tee in ihre Tasse. »Wer ist Gianconi?«

»Der Rechtsmediziner.«

»Wird er Nora mitnehmen?«

»Ja, zur Obduktion in Florenz.«

»Gott hab sie selig. Ich habe mich bereits von ihr verabschiedet. Sie war eine bedauernswerte Frau, manchmal aggressiv und schwierig, jedoch auch faszinierend und immer für eine interessante Geschichte gut. Ich habe eine Schwäche für Geschichten.« Miss Barron brach ein wenig von dem Kuchen ab und aß einen Bissen. Beim Kauen schloss sie kurz die Augen. »Köstlich.« Sie streckte Nico den Teller hin.

»Für mich?«, fragte Nico.

»Ja, teilen wir ihn uns.«

Nico sah die Andeutung eines Lächelns um ihre Mundwinkel spielen, nahm ein kleines Stück und steckte es in den Mund. »Danke.« Vielleicht war er dabei, ihr Vertrauen zu gewinnen.

Miss Barron lehnte sich im Sessel zurück und trank einen großen Schluck Tee. »Was hatte ich eben erzählt?«

»Sie gingen zum oberen Ende der Treppe.«

»Als ich es erreichte, war sie gerade mit dem Adagio fertig, und ich wartete auf den nächsten Satz. Doch der kam nicht. Ich verharrte einige Minuten an Ort und Stelle und überlegte, ob ich sie stören oder mich wieder ins Bett legen sollte. Unglücklicherweise behielt die Neugierde die Oberhand.«

»Vom oberen Ende der Treppe aus konnten Sie die Tür zum Musikzimmer sehen?«

Miss Barron bedachte Nico mit einem leicht verärgerten Blick. »Offenbar meinen Sie, nicht auf Unterbrechungen verzichten zu können. Da ich dazu neige, vom Thema abzuweichen, was dem Zuhörer auf die Nerven gehen kann, sind wir wohl quitt. Um Ihre Frage zu beantworten: Von der Stelle aus, wo ich stand, konnte ich lediglich die beiden unteren Hälften der Tür erkennen. Sie waren verschlossen. Nora kam weder heraus, noch spielte sie weiter, und so überlegte ich, ob sie sich über Gesellschaft oder eine Tasse Tee freuen würde. Bestimmt werden Sie sich nun gleich erkundigen, wie lange ich wartete, bis ich hinunterging. Vielleicht drei oder vier Minuten. Möglicherweise länger. Sobald ich die geschlossene Tür erreichte, rief ich: ›Das war wunderschön, Nora.‹ Natürlich antwortete sie nicht. Als ich eintrat, war es dunkel in dem Raum, und als ich das Licht anmachte, fand ich sie über dem Klavier zusammengesunken vor. Ich eilte zu ihr und entdeckte die Kordel an ihrem Hals.« Miss Barron schwieg kurz, bevor sie hinzufügte: »Ich wollte ihren Puls fühlen, doch sie hatte unsere Welt schon verlassen.«

»Haben Sie irgendetwas angefasst?«

»Möglicherweise ihre Hand auf den Tasten, als ich nach ihrem Puls suchte. Dabei ist mir aufgefallen, dass der Opalring, den sie sonst am kleinen Finger trug, fehlte. Den hatte sie von ihrer Bridgefreundin bei einer Wette gewonnen. Meinen Sie, der Mörder hat ihn genommen? Opale können sehr wertvoll sein. Auch wenn der fragliche eher klein war.«

»Möglich. Haben Sie sonst noch etwas berührt?«

»Den Lichtschalter, bevor ich mich im Dunkeln aufs Sofa setzte und für Nora betete.«

»Sie hatten keine Angst?«

»Ich glaube, ich war zu bestürzt, um Angst zu haben. Und ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich nach oben ging, um mich mit der nächstgelegenen Carabinieristation in Verbindung zu setzen. Egal, wohin ich reise: Ich notiere mir immer die Telefonnummer der örtlichen Polizei, hier in der Chiantiregion also die der Carabinieri. Vorsicht ist besser als Nachsicht.«

Nico hörte, wie sich schwere Schritte näherten.

Miss Barron erhob sich aus dem Sessel. »Bitte keine Fragen mehr. Ich muss jetzt nach oben, packen.«

»Der Maresciallo braucht noch Ihre Fingerabdrücke sowie eine Speichelprobe zum Abgleich.«

»Ich weiß. Nora und ich, wir mochten Krimis. Agatha Christies Mord im Spiegel hat uns damals im Zug zusammengeführt. Sagen Sie ihm, ich komme morgen früh in die Carabinieristation.«

»Sie werden außerdem einige Tage lang in der Gegend bleiben müssen.«

»Damit Sie mir weitere Fragen stellen können, nehme ich an. Bestimmt ist Ihnen das lästig.«

»Das bin ich gewohnt. Ich war in New York bei der Mordkommission.«

Miss Barron musterte ihn einige Sekunden lang. »Dann habe ich Sie falsch eingeschätzt. Oft täusche ich mich nicht. Ich dachte, Sie seien Lehrer.«

»Ich fasse das mal als Kompliment auf.«

»Gut.« Sie verließ den Raum, Nico im Schlepptau. »Ich habe bereits ein Zimmer im Hotel Bella Vista gebucht, wo ich sonst immer im Sommer unterkomme.«

Nico entschlüpfte ein überraschtes »Oh«.

Miss Barron drehte sich zu ihm um. »Sie kennen das Hotel?«

»Ja.« Im vergangenen Jahr hatte es eine wesentliche Rolle bei Ermittlungen in einem Mordfall gespielt.

»Dann wissen Sie, wo Sie mich finden können.« An der Treppe streckte sie ihm die Hand hin. »Auf Wiedersehen, Mr Doyle. Sagen Sie dem Maresciallo, er soll sich nach Noras Ring umsehen. Falls er ihn nicht findet, ist klar, dass der Mörder ihn gestohlen hat. Das könnte hilfreich sein.«

Im Nebenzimmer hörten sie einen Mann fluchen, und andere Stimmen unterhielten sich gedämpft. Offenbar waren die Leute von der Spurensicherung eingetroffen. Was bedeutete, dass Perillo nun beschäftigt war.

Nico schüttelte Miss Barrons Hand. »Soll ich Sie ins Hotel bringen, Miss Barron?«

»Das wäre sehr nett. In Italien fahre ich nicht Auto. Die Straßen im Chianti sind abenteuerlich. Ich brauche nicht lange.«

Nico folgte Miss Barron die Treppe hinauf, um die Sicht vom Treppenabsatz im ersten Stock zu überprüfen. Die Türen zum Musikzimmer standen jetzt offen, aber wie Miss Barron gesagt hatte, war von oben nur die untere Hälfte zu erkennen. Der Mörder musste durch eines der beiden Fenster geflohen sein.

Nico eilte nach unten und streckte den Kopf ins Musikzimmer. Dort begutachteten vier Leute in weißen Schutzanzügen Bücher, Musiknoten und Kunstgegenstände, und ein Fotograf dokumentierte alles mit der Kamera. Ein kleingewachsener korpulenter Mann, der neben dem Flügel stand, tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Gianconi, vermutete Nico. Von Perillo keine Spur.

Nico wandte sich, plötzlich sehr müde, ab und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Im Wohnzimmer ließ ein riesiges Gemälde einer atemberaubend schönen, mit Schmuck behängten Dame im Abendkleid ihn innehalten. Auf dem Sims unter dem Bild befand sich ein ca. 20 ‌× ‌30 Zentimeter großes Foto im Silberrahmen von einer jungen Frau im Hochzeitskleid. Die gelbliche Patina verriet Nico, dass es sich um eine alte Aufnahme handelte. Vermutlich war die Braut Nora. Sie sah genauso schön aus wie die Dame auf dem Porträt, hatte die gleichen dunklen Haare und Augen und das gleiche blasse, ovale Gesicht. Besonders fiel Nico ihre Miene auf. Sie blickte trotzig in die Kamera, mit zusammengepressten Lippen und vorgerecktem Kinn. Eine wütende Braut, konstatierte Nico beim Weitergehen.

An der Haustür trat er einen Schritt beiseite, um zwei Männer mit einer Tragbahre vorbeizulassen. In der Auffahrt stand ein Krankenwagen vor mehreren Autos. Nico verließ die Villa und überquerte die Auffahrt zu der großen, kreisförmigen, von blühenden Rhododendronbüschen umgebenen Rasenfläche. Dort sog er die laue, von Gras- und Blumenduft schwere Luft ein. Wie traurig, die Woche so zu beginnen, dachte er. Plötzlich wurde der süßliche Duft von einem anderen Geruch überlagert.

Perillo lehnte mit einer Zigarette im Mund am Alfa der Carabinieri.

Nico schüttelte den Kopf.

Perillo hob abwehrend die Hand. »Ich habe aufgehört, Nico, das wissen Sie, aber Herrgott noch mal, ein Mord erlaubt schon die eine oder andere Ausnahme.«

»Wie viele bis jetzt?«

»Bloß drei. Das ist die letzte.«

Nico war überrascht gewesen, wie leicht Perillo seine Gewohnheit, zwei Päckchen Zigaretten pro Tag zu rauchen, aufgegeben hatte. Stattdessen aß er nun Schokolade, was sich allmählich an seinem Körperumfang bemerkbar machte. »Ich hatte Sie mit Dottore Gianconi und den Leuten von der Spurensicherung im Musikzimmer vermutet.«

»Sie verstehen ihr Handwerk und brauchen mich nicht. Ich wäre bloß im Weg.« Perillo schnippte den Zigarettenstummel neben die beiden anderen auf den weißen Kies und trat ihn aus.

»Wie ist der Mörder ins Haus gekommen?«, fragte Nico. »In einer solchen Villa gibt es bestimmt eine gute Alarmanlage.«

»Ja, aber die war außer Betrieb.«

»Sie hat ihn also hereingelassen?«

»Oder jemand hat die Anlage von innen ausgeschaltet.«

»Sie meinen, die Engländerin.«

»Wer sonst?«

»Wer einen Schlüssel hatte, muss gewusst haben, wie man das macht«, stellte Nico fest. »Signorina Barron geht jetzt. Ich bringe sie zum Hotel Bella Vista und morgen früh zum Polizeirevier. Sie sagt, Sie sollen nach einem Opalring Ausschau halten, den die Tote am kleinen Finger trug. Er ist verschwunden, und Signorina Barron glaubt, dass der Mörder ihn an sich genommen hat.«

»Gut, wir suchen danach. Jeder Hinweis hilft, auch wenn der Ring wahrscheinlich auf Noras Nachtkästchen oder im Bad liegt.«

»Haben Sie die Töchter schon erreicht?«

»Sie sind nicht ans Telefon gegangen.«

»Wo wohnen sie?«

»Die eine in Lucca, die andere in Florenz. Ich brauche Verstärkung, bevor ich sie wieder zu erreichen versuche.«

Als Daniele sich ihnen näherte, fiel sein Blick auf die drei ausgetretenen Zigarettenstummel auf dem weißen Kies.

Perillo merkte, wie er die Stirn runzelte. »Keine Sorge, Dani. Ich hebe sie gleich auf. Gibt's irgendwelche Neuigkeiten aus dem Musikzimmer?«

Daniele wurde rot. Dabei handelte es sich um einen peinlichen Makel, den er in den Griff zu bekommen versuchte. Die Stummel hatte er gesehen, war jedoch mit den Gedanken anderswo gewesen. »Gianconi hat keine neuen Erkenntnisse. Die arme Frau wurde erdrosselt. Falls die Obduktion irgendetwas Interessantes ergeben sollte, lässt er es Sie wissen. Seiner Ansicht nach ist der Tod zwischen elf Uhr abends und vier Uhr morgens eingetreten.«

»Wir können den Zeitraum einengen«, meldete sich Nico zu Wort. »Nora Salviati hat um drei Uhr achtzehn Klavier gespielt und ein paar Minuten später damit aufgehört.« Dann erwähnte er die Sicht auf die Tür des Musikzimmers von der Treppe aus. »Der Mörder muss durch ein Fenster geflohen sein.«

»Aber die beiden Fenster in dem Raum waren von innen verschlossen.« Perillo seufzte und blickte an Nico und Daniele vorbei zum Eingang der Villa. »Signora Barron scheint abfahrtbereit zu sein, Nico.«

»Sie möchte lieber mit ›Signorina Barron‹ angesprochen werden. Miss Barron ist nicht verheiratet.« Nico ging mit Perillo die Auffahrt entlang. Daniele blieb beim Alfa.

»Interessant, wie ruhig sie bei unserer Ankunft war«, bemerkte Perillo. »Völlig gefasst und keine Tränen. Wahrscheinlich ist das bei den Engländern so.«

»Darüber waren Sie bestimmt froh«, meinte Nico. In seinem alten Job in New York hatte er die unterschiedlichsten Reaktionen auf den gewaltsamen Tod eines geliebten Menschen erlebt. Man hatte ihm eine Ohrfeige gegeben, ihn sogar angespuckt. Am schwierigsten gestaltete sich ausgedehntes Schweigen, während die Erkenntnis, was passiert ist, allmählich ins Gehirn sickert wie ein langsam wirkendes tödliches Gift.

»Ja, doch dadurch hat sich die eine oder andere Frage ergeben.«

»Da sind Sie ja, Mr Doyle.« Miss Barron wirkte sehr elegant in ihrem burgunderroten, an der Taille mit einem Gürtel versehenen Mantel und dem einen Ton helleren Glockenhut im Stil der Zwanzigerjahre. »Haben Sie gesehen?« Nico folgte ihrem Blick. Der rosafarbene Lichtstreifen, den sie von dem hinteren Teil der Villa aus betrachtet hatten, war in Richtung Westen breiter geworden, und in den Bäumen schmetterten die Vögel ihre morgendlichen Lieder.

Miss Barron schüttelte den Kopf. »Der Natur ist es völlig einerlei, ob ein Mensch stirbt. Natürlich hat das seine Ordnung, aber ich finde es trotzdem verstörend.«

»Ja, das stimmt«, pflichtete Nico ihr bei. Nach Ritas Tod waren ihre geliebten Pflanzen, die sie auf den Fensterbrettern gehegt und gepflegt hatte, einfach weitergewachsen. Am Ende hatte er sie alle entsorgt. Und es hinterher sofort bereut. Nico nahm Miss Barrons kleinen Lederkoffer in die Hand. »Mein Wagen steht da drüben.«

»Arrivederci, Signorina Barron.« Perillo verabschiedete sich mit einer kurzen Verbeugung.

»Ja, wir müssen uns wiedersehen«, erwiderte Miss Barron kopfnickend. »Das hat Mr Doyle mir schon gesagt. Morgen um halb elf. Normalerweise bin ich pünktlich. Es sei denn, ich vergesse die Zeit über einer guten Geschichte. Geschichten sind mir die liebste Gesellschaft.«

Nico übersetzte lediglich die Uhrzeit. Perillo antwortete mit einem Lächeln und fragte Nico: »Könnten Sie, nachdem Sie sie zum Hotel gefahren haben, ins Revier kommen? Ich möchte wissen, was sie Ihnen gesagt hat, und unser weiteres Vorgehen besprechen.«

»Gut, aber nicht lange. Ich muss heute arbeiten.«

»Ach, ich wusste gar nicht, dass das Sotto Il Fico wieder jeden Tag geöffnet hat.«

»Allmählich trudeln die Touristen ein.« Tilde hatte ihn zum Souschef befördert und darauf bestanden, ihm ein Gehalt zu zahlen. Das freute ihn, war ihm jedoch nicht wichtig. Er half seiner Adoptivfamilie gern. Ritas Cousine Tilde und ihr Mann Enzo hatten ihn mit offenen Armen empfangen, als er seine Frau herbrachte, damit sie in ihrem Heimatort begraben werden konnte. Und ihre Freundschaft hatte den Entschluss in ihm reifen lassen, New York zu verlassen und in Gravigna einen Neuanfang zu wagen. Sogar Elvira, die chronisch schlecht gelaunte Inhaberin des Sotto Il Fico und Enzos Mutter, hatte ihn schließlich in die Familie aufgenommen.

»Es wird nicht lange dauern«, sagte Perillo. »Ich gehe jetzt rein, Dani. Leg dich irgendwo ins Gras und ruh dich ein bisschen aus. Dein Gesicht hat die Farbe von meiner Zigarettenasche.«

Daniele wartete einige Minuten für den Fall, dass der Maresciallo zurückkehrte. Er musste sich nicht ausruhen. Nein, er schämte sich. Als er die über dem Flügel zusammengesunkene Tote gesehen hatte, war zuerst Wut in ihm aufgestiegen, dann Scham. Keinerlei Mitleid mit der Frau, kein Entsetzen über die Grässlichkeit des Mordes. Er war egoistisch geworden.

Daniele lehnte sich gegen die Mauer, schloss die Augen und sprach ein Gebet für Nora Salviati.

Handyklingeln riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ciao, Dani.« Stella klang verschlafen. »Ich weiß, es ist früh am Tag, aber ich wollte deine Stimme hören.«

Daniele spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, antwortete sie lachend. »Es ist einfach nur schön, den Tag mit dir zu beginnen. Ich hab dich doch nicht geweckt, oder?«

Er entspannte sich. »Nein, nein. Ich bin schon seit halb fünf auf den Beinen. Wieder ein Mord.«

»Oh, mein Gott. Wer?«

»Eine Frau, Nora Salviati. Sie wurde erdrosselt.«

»Ach, die Frau, der die schöne Villa gehört.«

»Du kennst sie?«

»Nicht persönlich. Wie schrecklich. Bist du okay?«

»Ich bin nicht sonderlich stolz auf mich. Als ich es hörte, war mein erster Gedanke, dass ich dich dieses Wochenende nicht sehen würde.« Endlich hatte er den Mut besessen, Stella seine Gefühle zu gestehen. Bereits während der Weihnachtsfeiertage hatten sie herrlichen Sex miteinander gehabt, ohne über ihre Emotionen zu sprechen. Er fragte sie nicht danach. Es konnte gut sein, dass sie in Florenz mit jemand anders zusammen war. Doch nun musste er wissen, wie sie die Sache sah. Eine rein sexuelle Beziehung genügte ihm nicht mehr.

»Dani, tut mir leid«, sagte Stella. »Ich komme am Wochenende zu dir und muntere dich auf.«

»Wie soll das gehen? Das Museum hat geöffnet.«

»Ich finde schon eine Möglichkeit«, erwiderte Stella. »Außerdem muss ich mit Mamma reden.«

Oh, dachte Daniele.

»Ich lasse dich wissen, welchen Bus ich nehme. Umarme Zio Nico für mich und grüß Salvatore. Ihr drei werdet den Mörder aufspüren, das weiß ich. Ciao, amore.«

Meinte sie echte Liebe, nach der er sich sehnte, oder war das nur eine nette Abschiedsfloskel am Telefon? Daniele hoffte, dass das bevorstehende Wochenende ihm diese Frage beantworten würde.

Zwei

Nachdem Nico Miss Barron wohlbehalten ins Hotel Bella Vista gebracht hatte, ging er zum Parkplatz zurück, stieg in den Wagen und holte sein Handy hervor. Es dauerte ziemlich lange, bis Nelli sich meldete. »Sorry, ich konnte das Telefon nicht finden. Alles in Ordnung bei dir? Fast hätte ich mir schon Sorgen gemacht.«

»Ich fürchte, es ist ein Mord passiert.«

»Wer ist das Opfer?«

»Nora Salviati.«

»Oh, das tut mir leid. Wie ist sie gestorben?«

»Sie wurde erdrosselt. Kanntest du sie?«

»Ja, von früher. Sie hat mich beauftragt, ihre Töchter zu malen, als die noch jung waren. Adriana dürfte damals dreizehn gewesen sein und Clara elf. Die beiden waren richtige Nervensägen. Wahrscheinlich sind sie völlig durch den Wind.«

»Sie sind nicht ans Telefon gegangen.«

»Lass mich es ihnen sagen. Mich kennen sie. Sie kaufen ihren Wein im Querciabella von mir, und vergangenen Sommer habe ich ein Porträt von Adrianas Sohn Luca gemalt. Bestimmt ist die Nachricht leichter zu verdauen, wenn ein vertrauter Mensch sie überbringt.«

»Nein, Nelli, bitte nicht. Es reicht, dass ich in dem Fall ermittle. Perillo muss ihnen die schlimme Botschaft verkünden. Das ist sein Job.«

»Wie traurig. Meinst du, es ging um einen Diebstahl? Die Bilder in der Villa sind der Traum eines jeden Kunsthändlers.«

»Laut Aussage von Perillos Leuten war nichts angetastet. Er wird mehr wissen, wenn die Töchter sich ein Bild über den Zustand der Villa verschafft haben.«

»Bestimmt war es ein Einbrecher«, meinte Nelli. »Warum sollte jemand anders sie umbringen wollen?«

»Genau das müssen wir herausfinden. Ich fahre jetzt nach Greve und treffe mich mit Perillo. Wird nicht lange dauern.«

»Und ich muss in die Arbeit.«

»Bitte erwähn nichts von der Angelegenheit.«

»Natürlich nicht. OneWag kann ich leider nicht mitnehmen.«

»Ich schaue kurz vorbei und hole ihn ab.« OneWag drückte seinen Unmut darüber, allein zu Hause gelassen zu werden, gern aus, indem er an den Möbeln herumnagte. »Warte, bis ich da bin.«

»Das geht nicht. Ich muss die Weinhandlung aufmachen. Wenn du mich brauchst, findest du mich am Nachmittag im Atelier.«

»Ich brauche dich immer.«

»Gott sei Dank tust du das nicht. Sag Perillo, dass er mir eine ungestörte Nacht schuldig ist. Ciao.« Nelli beendete das Gespräch.

Nico betrachtete sein Handy. Nelli kennt das Mordopfer, die Familie der Frau. Vielleicht hat sie nützliche Informationen. Nico hätte sich gewünscht, dass Nelli den Lambertis, Salviatis oder wie sie auch immer heißen mochten, nie begegnet wäre. Das sage ich Perillo noch nicht gleich. Ich will nicht, dass Nelli in den Mordfall hineingezogen wird.

Als Nico, um OneWag zu holen, zu dem kleinen Steinhaus fuhr, das nun sein Heim war, fiel ihm ein, dass Gogol zu ihrem allwöchentlichen Frühstückstreffen auf ihn warten würde. Ein Ritual, das er nicht einmal jetzt, da Nelli die meisten Nächte bei ihm verbrachte, aufgegeben hatte. Er rief Sandro in der Bar All'Angolo an. »Ciao, ich bin's, Nico. Bitte sag Gogol, wenn er kommt, dass ich es heute nicht schaffe. Ich treffe mich morgen mit ihm.«

»Wird gemacht. Ich gebe ihm sein Frühstück.«

»Danke.«

»Alles okay?«

»Fürs Erste ja. Ciao.«

»Nico!«, brüllte Perillo, als Nico die Carabinieristation in Greve betreten wollte. »Hier rüber.«

Nico und OneWag schauten zu der kleinen Grünfläche auf der anderen Seite der Straße hinüber. Perillo und Daniele saßen auf einer sonnigen Bank zwischen zwei mächtigen Eichen; sie trugen Zivilkleidung. Zwischen ihnen entdeckte Nico etwas sehr Erfreuliches: eine große Thermoskanne und drei Becher.

Perillo winkte. »Kommen Sie, wir haben reichlich.«

Nico folgte OneWag. »Danke. Ich kann gut was von dem schwarzen Gift gebrauchen. Mir fallen fast die Augen zu.« OneWag steuerte geradewegs auf den Korb auf Perillos Schoß zu.

»Ehi, Rocco, Vorsicht!« Perillo hob den Korb hoch. »Nico, für Sie. Mein Dankeschön dafür, dass Sie mir bei Signorina Barron geholfen haben. Hier ist es schöner als im Revier. Es scheint ein warmer Tag zu werden. Perfekt für ein Frühstück im Freien.«

Nico warf einen Blick in den Korb. »Ein Cornetto. Sehr großzügig, danke.«

»Leider gibt es in meiner Bar keine Vollkornhörnchen.«

»Ich hätte durchaus zwei genommen.«

»Ivana hat mich auf Diät gesetzt.«

»Verstehe. Dann hätten Sie am Ende auch noch meins gegessen.«

»Das Risiko bestand durchaus, ja«, gab Perillo zu.

Nico füllte den ziemlich kleinen Becher mit pechschwarzem Espresso aus der Thermoskanne, nahm das Cornetto und setzte sich auf die gegenüberliegende Bank. »Komm her, Kumpel. Immerhin haben wir eins. Das teilen wir uns.«

OneWag legte sich, den Kopf hoch erhoben, mit ein wenig Abstand vor Nico auf den Boden. Nico riss das Hörnchen in zwei Hälften und warf die eine dem Hund hin. OneWag beobachtete, wie sie vor ihm im Gras landete, wartete kurz und streckte dann den Hals, um vorsichtig daran zu schnuppern. Als er merkte, dass alle drei Männer ihn beobachteten, legte er den Kopf auf eine Pfote.

Perillo wandte schmunzelnd den Blick ab. Stolzer Hund. »Nico, berichten Sie mir ausführlich, was Signorina Barron Ihnen gesagt hat.«

»Ich hab's alles auf Englisch und in meinem Italienisch aufgeschrieben. Daniele, ich hoffe, Sie korrigieren es für mich.«

»Das wird bestimmt nicht nötig sein«, meinte Daniele.

»Seien Sie sich da mal nicht so sicher.« Nico aß den letzten Bissen von dem Cornetto, trank seinen Espresso und wiederholte, was er gehört hatte. Während Nico redete, verspeiste OneWag seelenruhig seinen Teil des Frühstücks.

»Angenommen, Signorina Barron hat Ihnen die Wahrheit gesagt …«

»Wenn nicht, hat sie ziemlich gut gelogen.«

»Nico, Sie vergessen, dass die Briten die besten Schauspieler der Welt sind.«

Nico hob seine leere Tasse hoch. »Ist noch Kaffee da?«

Daniele schüttelte die Thermoskanne. »Ja.« Er goss Nico ein und flüsterte ihm zu: »Er ist nicht auf Diät. In der Bar gab's nur noch ein Cornetto.«

»Danke, Dani. Das hatte ich mir schon gedacht.« Nico leerte den Becher mit zwei Schlucken. Daniele schüttelte die Kanne noch einmal, um ihm zu zeigen, dass sie nun leer war.

Perillo beugte sich auf der Bank vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Bei dem, was Sie mir gerade erzählt haben, fallen mir zwei Dinge auf.« Er hob seinen rechten Daumen. »Erstens: Wenn das Stück, das Signorina Barron hörte, von Nora Lamberti gespielt wurde …«

»Nora Salviati«, korrigierte ihn Nico. »Sie hat den Namen ihres Ehemannes abgelegt.«

Perillo schenkte Nico ein nachsichtiges Lächeln, obwohl er es hasste, unterbrochen zu werden. »Dem Mörder von Signora Salviati blieb nicht viel Zeit, sie umzubringen und zu fliehen, bevor Signorina Barron das Musikzimmer betrat. Und Erdrosseln ist nicht gerade die schnellste Tötungsart.«

»Möglicherweise täuscht sie sich in der Uhrzeit«, bemerkte Daniele. »Sie war ja gerade erst aufgewacht.«

Perillo schüttelte den Kopf. »Oder der Mörder spielte Klavier, nicht das Opfer.«

»Wieso sollte der Mörder Aufmerksamkeit erregen wollen?«, fragte Nico.

»Er oder sie wusste vielleicht nicht, dass sich ein Gast in der Villa aufhielt. Oder der Mörder ist mit dem Gast identisch.«

»Entschuldigung«, mischte sich Daniele ein. »Sind Ihnen Signorina Barrons Hände aufgefallen? Ihnen fehlt die Kraft zu so etwas.«

»Ach, unser Streiter für die Frauen«, spottete Perillo. »Du könntest recht haben, Dani, aber vergiss nicht: Wir dürfen uns nicht von vorgefassten Meinungen aufs Glatteis führen lassen. Ich weiß, dass Signorina Barron Nico angelogen hat. Der Mörder hat die Villa entweder durch die vordere oder durch die hintere Tür verlassen. Die beiden Fenster im Musikzimmer, der einzige Ausgang abgesehen von der Doppeltür des Raums, waren fest von innen verschlossen, was bedeutet, dass Signorina Barron nicht zu dem von ihr behaupteten Zeitpunkt auf der Treppe gewesen sein kann.«

Nico lehnte sich zurück. Das Holz der Bank knarrte. »Ich habe vergessen, ihre Uhr zu überprüfen. Die könnte fünf oder zehn Minuten vor- oder nachgehen. Oder noch mehr. Ich muss die meine auch alle drei bis vier Tage neu stellen.«

»Möglich.« Perillo zählte mit dem Zeigefinger weiter. »Zweitens: Warum hat sie bis Viertel nach vier gewartet mit ihrem Anruf bei den Carabinieri?«

»Mir hat sie gesagt, sie sei eine Weile in dem Raum geblieben, um für ihre Freundin zu beten. Wurden Einbruchsspuren entdeckt?«

Perillo rieb sein schmerzendes Knie. »Uns sind keine aufgefallen. Vielleicht finden die Leute aus Florenz mehr heraus. Wenn nicht, besaß der Mörder entweder einen Schlüssel, oder Nora hat ihn hereingelassen, oder er war bereits im Haus.«

»Hat man den Opalring gefunden?«

»Noch nicht.«

»Der Verkauf des Anwesens könnte ein mögliches Motiv für den Mord sein«, ergriff Daniele das Wort in der Hoffnung, seinen Chef daran zu hindern, dass er der englischen Lady die Schuld gab.

»Ihre Töchter werden uns mehr sagen können. Adriana Meloni ist nicht rangegangen. Da habe ich die Nummer von Clara gewählt und mit einem Marco Zanelli gesprochen, der behauptete, Claras Verlobter zu sein. Sie ist die jüngere Tochter. Das wissen wir aufgrund des Geburtsdatums in einem ledergebundenen Adressbuch, das auf Noras Nachttisch lag. Nachdem ich mich vorgestellt und gebeten hatte, mit ihr zu reden, meinte er, sie sei nicht zu Hause, was ich ihm nicht abkaufe, weil er ja an ihr Handy gegangen ist. Ich habe ihm aufgetragen, ihr auszurichten, dass sie mich zurückrufen soll. Er wollte unbedingt wissen, warum ich anrufe. Ich habe bloß meine Bitte wiederholt und das Gespräch beendet.«

»Konnten Sie herausfinden, wer in der Villa arbeitet?«, erkundigte sich Nico. »Um so ein Anwesen am Laufen zu halten, ist sicher viel Personal nötig.«

»Nur drei Leute«, antwortete Daniele, dessen Gesicht wieder seine übliche venezianische Blässe angenommen hatte. »Ihre Namen standen in dem Adressbuch, alphabetisch nach der Berufsbezeichnung aufgelistet: Gärtner, Haushälterin, Wäscherin. Ich versuche, sie zu erreichen, sobald die Töchter informiert sind.«

»Sollen sie weiter ihre Unwissenheit genießen.« Perillo strich sich mit den Händen übers Gesicht. »Für mich ist das der schlimmste Teil der Mordermittlungen: dass ich die Familie informieren muss. Adriana lebt in Florenz, Clara in Lucca. Gütiger Himmel, wie soll man so etwas übers Telefon sagen? Buongiorno Signora, ich rufe an, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Mutter letzte Nacht erdrosselt wurde!« Perillo seufzte tief.

»Das ist nicht leicht«, pflichtete Nico ihm bei. Auch er hatte diesen Aspekt der Ermittlungen immer gehasst, obwohl die Reaktionen mitunter nützliche Informationen lieferten. »Florenz ist nur eine Stunde entfernt. Bekanntermaßen werden häusliche Morde meist von Menschen verübt, die dem Opfer nahestehen. Am Ende entpuppt Adriana sich vielleicht als Verdächtige. Es ist wichtig, ihre Reaktionen sowie die der Menschen, die bei ihr sind, zu beobachten. Reaktionen können viel verraten.«

»Zuerst muss ich aber anrufen, oder?«, brummte Perillo. »Um zu sehen, ob sie sich überhaupt aufspüren lassen. Dann muss ich den Grund meines Anrufs nennen. Was soll es da noch bringen, sie persönlich aufzusuchen?«

»Geben Sie's zu, Perillo: Sie wollen sich bloß nicht den damit verbundenen Emotionen aussetzen.«

Perillo legte die Hand aufs Herz. »Das stimmt, Nico.« Sein Blick wanderte zu Daniele, der nicht weit von ihm entfernt stand. »Über die Angelegenheit mit den Emotionen unterhalten wir uns später, am besten bei einem Glas von Ihrem guten Whiskey.«

Nico konnte Perillos Widerwillen, im Beisein seines Brigadiere über Gefühle zu sprechen, verstehen.

»Ich würde liebend gern für Sie gehen«, sagte Daniele, sichtlich bekümmert.

»Danke, Dani, aber diese Aufgabe kann ich nur delegieren, wenn der Empfänger meiner Nachricht nicht Italienisch spricht.« Perillo wandte sich Nico zu. »In Nora Salviatis Schlafzimmer habe ich etwas gesehen, das Sie vermutlich überrascht hätte. Daniele hat mich darauf aufmerksam gemacht. Dank Stella entwickelt er ein gutes Auge für Kunst.«

Nico ersparte dem errötenden Daniele Verlegenheit, indem er ihn nicht anblickte. »Ein berühmtes Gemälde?«

»Jedenfalls ein hübsches. Zwei händchenhaltende Mädchen im Gras. Unsigniert, aber Daniele ist der festen Überzeugung, dass es sich um ein Werk von Nelli Corsi handelt.«

»Ich weiß es«, beharrte Daniele. »Es sind ihre leuchtenden Farben und ihre breiten Pinselstriche. Stella hat mir ihre Werke letzten Sommer bei der Kunstausstellung in Gravigna gezeigt. Nico, können Sie sie fragen?«

Nico zuckte innerlich mit den Achseln. Nun konnte er nicht mehr hinterm Berg halten. »Das muss ich nicht. Nelli hat mir vorhin am Telefon erzählt, dass sie ein Bild von den beiden Töchtern gemalt hat.«

Daniele straffte stolz die Schultern, ohne zu erröten.

»Das sind gute Nachrichten.« Perillo senkte den Ellbogen wieder aufs Knie. »Ich fahre jetzt nach Florenz.«

Daniele widersprach. »Maresciallo, das Fahren ist mein Job.«

»Es ist nur dein Job, wenn ich das sage. Wenn du fährst, bestehst du auf einem legalen Parkplatz, der in Florenz praktisch nicht zu finden ist, und suchst womöglich nach einem Grund, Stella zu treffen. Ich brauche dich hier. Was ich gleich sagen werde, ist so offensichtlich wie die Tatsache, dass die Sonne jeden Tag aufgeht, aber ich sage es trotzdem. Wir müssen so viel wie möglich über die Ermordete erfahren. Über ihren Anwalt, ihre Bank, ihren Arzt, ihre Freunde. Schau, was du ergründen kannst, ohne persönlich mit irgendjemandem Kontakt aufzunehmen, bevor ich mit den Töchtern geredet habe. Und Ihnen, Nico, überlasse ich es, Nelli zu fragen, was sie über die Familie weiß.«

»Gut.« Nico schob seinen Unwillen, sie in den Fall hineinzuziehen, beiseite. Nelli war eine starke, fähige Frau. Sie würde nur Ressentiments entwickeln, wenn er sie zu schützen versuchte. Nico wandte sich Daniele zu. »Hatte Nora Salviati einen Computer?«

»Keinen Desktop, nur ein Handy und ein iPad Pro«, antwortete Daniele. »Mit Codes und Passwörtern wird es keine Probleme geben. Signora Salviati hat beide unter dem Buchstaben P in ihrem Adressbuch notiert. Sie hat nicht dazugeschrieben, wofür sie stehen, aber das war leicht rauszufinden.«

»Offenbar hatte sie nichts zu verbergen. Wie bedauerlich«, meinte Perillo. »Morgen wird ein anstrengender Tag. Signorina Barron kommt um halb elf. Dabei brauche ich Sie, Nico.«

»Ich hole sie ab.«

»Prima. Sagen Sie der guten Tilde, sie möchte sich nicht beklagen, wenn ich Sie während der Arbeitszeit benötige. Sie schuldet mir noch etwas.«

»Was?«

»Das soll Tilde Ihnen selber erklären.«

Nico sah auf die Uhr. »Ich muss los.« Er stand auf. »Apropos schulden: Wenn Sie mich das nächste Mal mitten in der Nacht aus dem Bett holen, erwarte ich als Gegenleistung eine Tüte Vollkorncornetti und eine Thermoskanne voll Kaffee.«

»Wollen wir hoffen, dass es kein nächstes Mal gibt.«

»Ja«, pflichtete Nico ihm bei. »Rufen Sie mich heute Abend an. Mich interessiert die Reaktion der Töchter auf die Nachricht.«

»Beherrsch dich, Kumpel«, ermahnte Nico OneWag, als sie das Lokal erreichten. Daraufhin trottete der Hund zur Sant'-Agnese-Kirche und legte sich auf eine der Stufen davor, von wo aus er beobachten konnte, was sich im Viertel tat. Da OneWag mindestens zwei Jahre lang auf den Straßen von Gravigna herumgestreunt war, bevor er ein Zuhause gefunden hatte, vertraute Nico darauf, dass er sich benehmen würde.

»Hallo«, rief Nico, als er das Sotto Il Fico mit der großen Tasche voller Brot betrat, das er in Enricos Salumeria am anderen Ende der Straße gekauft hatte. »Ciao, Enzo.«

Enzo trat mit ausgebreiteten Armen hinter der kleinen Theke gleich hinter dem Eingang hervor. »Mamma hat sich schon Sorgen gemacht.«

Nico reichte ihm die Tasche. »So spät bin ich nun auch wieder nicht dran.«