Total Cheops - Jean-Claude Izzo - E-Book

Total Cheops E-Book

Jean-Claude Izzo

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Beschreibung

Fabio Montale ist ein kleiner Polizist mit Hang zum guten Essen und einem großen Herz für all die verschiedenen Bewohner der Hafenstadt: für die Italiener, die Spanier, die Algerier und auch die Franzosen. Ob einer Polizist wird oder Gangster, das ist reiner biografischer Zufall. Freund bleibt Freund. Deswegen muss Fabio auch handeln, als zwei seiner Gangster-Freunde ermordet werden. Als die beiden gerächt sind, muss er feststellen, dass das Spiel nach Regeln gespielt wird, die mit Ehre nichts zu tun haben. Von Leuten, denen genauso egal ist, ob einer Polizist ist oder Verbrecher.

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Seitenzahl: 376

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Über dieses Buch

Fabio Montale ist ein kleiner Polizist mit Hang zum guten Essen und einem großen Herz für all die verschiedenen Bewohner der Hafenstadt. Ob einer Polizist wird oder Gangster, das ist reiner biografischer Zufall. Freund bleibt Freund. Deswegen muss Fabio auch handeln, als zwei seiner Gangster-Freunde ermordet werden.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Jean-Claude Izzo (1945–2000) war lange Journalist. Sein erster Roman Total Cheops, 1995 veröffentlicht, wurde sofort zum Bestseller, seine Marseille-Trilogie zählt inzwischen zu den großen Werken der internationalen Kriminalliteratur.

Zur Webseite von Jean-Claude Izzo.

Katarina Grän (*1960) studierte Romanistik und Slawistik. Sie unternahm längere Reisen durch die USA und die Sowjetunion und absolvierte eine Ausbildung zur Rundfunkjournalistin. Sie ist als Krimiautorin und Übersetzerin tätig.

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Ronald Voullié (*1952) ist seit vielen Jahren Übersetzer »postmoderner« Philosophen wie Baudrillard, Deleuze, Guattari, Lyotard oder Klossowski. In den letzten Jahren kamen auch Übersetzungen von Kriminalromanen hinzu.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Jean-Claude Izzo

Total Cheops

Marseille-Trilogie I

Kriminalroman

Aus dem Französischen von Katarina Grän und Ronald Voullié

Die Marseille-Trilogie I

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel Total Khéops bei Editions Gallimard, Paris.

Die Übersetzung aus dem Französischen wurde unterstützt durch das Centre national du livre des Französischen Kulturministeriums.

Originaltitel: Total Khéops

© by Editions Gallimard 1995

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30407-9

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 18.05.2024, 02:40h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

TOTAL CHEOPS

Anmerkung des AutorsProlog — Rue des Pistoles, zwanzig Jahre danachErstes Kapitel — In dem man sogar ums Verlieren kämpfen mussZweites Kapitel — In dem auch die aussichtsloseste Wette noch Hoffnung machtDrittes Kapitel — In dem die Ehre der Überlebenden im Überleben liegtViertes Kapitel — In dem ein Cognac auch nicht mehr schaden kannFünftes Kapitel — In dem man im Unglück bemerkt, dass man im Exil lebtSechstes Kapitel — In dem die Morgendämmerung die Schönheit der Welt nur vortäuschtSiebtes Kapitel — In dem man besser sagt, was man empfindetAchtes Kapitel — In dem Schlaflosigkeit keine Fragen löstNeuntes Kapitel — In dem Angst den Frauen jede Sinnlichkeit raubtZehntes Kapitel — In dem ein Blick töten kannElftes Kapitel — In dem die Dinge laufen, wie sie sollenZwölftes Kapitel — In dem wir darauf stoßen, wie unendlich mies und mickrig doch die Welt istDreizehntes Kapitel — In dem Dinge passieren, die man nicht durchgehen lassen kannVierzehntes Kapitel — In dem es besser ist, in der Hölle zu leben, als im Paradies zu sterbenFünfzehntes Kapitel — In dem der Hass das Drehbuch schreibtEpilog — In dem sich nichts ändert und ein neuer Tag anbrichtWorterklärungen

Mehr über dieses Buch

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Über Jean-Claude Izzo

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Für Sébastien

»Es gibt keine Wahrheit,

es gibt nur Geschichten.«

Jim Harrison

Anmerkung des Autors

Die folgende Geschichte ist frei erfunden. Die Floskel ist bekannt. Aber es schadet nie, daran zu erinnern. Mit Ausnahme der in der Presse veröffentlichten Ereignisse haben weder Handlung noch Personen existiert. Nicht einmal der Erzähler. Nur die Stadt ist wirklich. Marseille. Und alle, die dort leben. Mit all ihren Leidenschaften. Diese Geschichte ist ihre Geschichte. Widerhall und Erinnerung.

Jean-Claude Izzo

Prolog

Rue des Pistoles, zwanzig Jahre danach

Er hatte nur ihre Adresse. Rue des Pistoles, in der Altstadt. Er war seit Jahren nicht mehr in Marseille gewesen. Jetzt hatte er keine Wahl mehr.

Man schrieb den 2. Juni, es regnete. Obwohl es in Strömen goss, weigerte sich der Taxifahrer, in die kleinen Gassen vorzudringen. Er setzte ihn an der Montée-des-Accoules ab. Über hundert steile Stufen und ein Gewirr von Straßen lagen bis zur Rue des Pistoles noch vor ihm. Der Boden war mit aufgerissenen Müllsäcken übersät, und ein säuerlicher Geruch stieg von der Straße auf, eine Mischung aus Pisse, Feuchtigkeit und Schimmel. Einzige große Veränderung: Die Renovierungswelle hatte das Viertel erreicht. Einige Häuser waren abgerissen worden. Die Fassaden der anderen waren neu gestrichen, ocker oder rosa mit grünen oder blauen Fensterklappen, ganz wie in Italien.

Von der Rue des Pistoles, vielleicht eine der engsten Gassen, war nur die Hälfte übrig geblieben, die Seite mit den geraden Hausnummern. Die andere war platt gemacht worden, ebenso wie die Rue Rodillat. Stattdessen: ein Parkplatz. Das fiel ihm als Erstes auf, als er um die Ecke der Rue du Refuge bog. Hier schienen die Baulöwen eine Pause eingelegt zu haben. Die Häuser waren schwärzlich, wie von Lepra befallen, zerfressen von einer aus Abwässern gespeisten Vegetation.

Er war zu früh dran, das wusste er. Aber er hatte keine Lust, in irgendeinem Bistro einen Kaffee nach dem anderen zu trinken und dabei dauernd auf die Uhr zu sehen, bis er es wagen konnte, Lole zu wecken. Er träumte von einem Kaffee in einem bequemen Sessel in einem richtigen Appartement. Das hatte er seit Monaten nicht mehr gehabt. Sobald sie die Tür öffnete, steuerte er den einzigen Sessel in der Wohnung an, als wäre er nie weg gewesen. Er liebkoste die Armlehne, setzte sich langsam und schloss die Augen. Erst danach sah er sie an. Zwanzig Jahre danach.

Sie blieb stehen. Aufrecht, wie immer. Die Hände in den Taschen eines strohgelben Bademantels vergraben, der ihre Haut brauner als sonst erscheinen ließ und ihre schwarzen Haare hervorhob, die sie jetzt kurz trug. An den Hüften hatte sie vielleicht zugenommen, er war sich nicht sicher. Sie war zur Frau geworden, aber sie hatte sich nicht verändert. Lole, die Zigeunerin. Schön, wie eh und je.

»Ich würde gern einen Kaffee trinken.«

Sie nickte. Ohne ein Wort. Ohne ein Lächeln. Er hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Aus einem Traum, in dem sie mit Manu nach Sevilla raste, sorglos, die Taschen voller Kohle. Einem Traum, der sie jede Nacht heimsuchte. Aber Manu war seit drei Monaten tot.

Er ließ sich in den Sessel sinken, streckte die Beine von sich und zündete sich eine Zigarette an. Zweifellos die Beste seit langem.

»Ich habe dich erwartet.« Lole reichte ihm eine Tasse. »Aber später.«

»Ich habe einen Nachtzug genommen. Einen Sonderzug für Fremdenlegionäre. Weniger Kontrollen. Mehr Sicherheit.«

Ihr Blick war woanders. Dort, wo Manu war.

»Setzt du dich nicht?«

»Ich trinke meinen Kaffee lieber im Stehen.«

»Du hast immer noch kein Telefon.«

»Nein.« Sie lächelte. Für einen Moment schien die Schläfrigkeit aus ihrem Gesicht zu weichen. Sie hatte den Traum verjagt. Melancholisch sah sie ihn an. Er war müde und unruhig, von altbekannten Ängsten geplagt. Es gefiel ihm, dass Lole mit Worten geizte, keine Erklärungen abgab. Die Stille brachte für sie beide das Leben wieder in Ordnung. Ein für alle Mal.

Ein Pfefferminzduft hing in der Luft. Er sah sich im Zimmer um. Es war ziemlich groß, weiße, nackte Wände ohne Regale, Bücher oder Krimskrams. Das Mobiliar war aufs Wesentliche reduziert und willkürlich zusammengewürfelt: ein Tisch, Stühle, eine Anrichte und ein Bett am Fenster. Eine Tür führte ins Schlafzimmer. Von seinem Platz konnte er einen Teil des Bettes sehen. Blaues Bettzeug, nicht gemacht. Er konnte sich nicht mehr an die Ausdünstungen der Nacht erinnern. Ihre Körper. An Loles Geruch. Ihre Achselhöhlen rochen bei der Liebe nach Basilikum. Die Augen fielen ihm zu. Als er sie wieder aufschlug, schweifte sein Blick zum Bett am Fenster.

»Da kannst du schlafen.«

»Ich würde jetzt gern schlafen.«

Später sah er sie durch das Zimmer gehen. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Um auf die Uhr zu schauen, hätte er sich bewegen müssen. Und er hatte keine Lust, sich zu bewegen. Lieber wollte er mit halb geschlossenen Augen Lole zusehen, wie sie im Zimmer hin und her ging. Sie war, in ein dickes Handtuch gewickelt, aus dem Bad gekommen. Obgleich nicht sehr groß, war sie wohlproportioniert und hatte sehr schöne Beine. Dann war er wieder eingeschlafen. Ohne jede Angst.

Der Abend war hereingebrochen. Lole trug ein schwarzes, ärmelloses Leinenkleid, schlicht, aber sehr kleidsam. Es schmeichelte ihren Formen. Er betrachtete erneut ihre Beine. Dieses Mal spürte sie seinen Blick.

»Ich lasse dir die Schlüssel hier. Es ist noch heißer Kaffee da. Ich habe welchen nachgemacht.«

Sie sagte nur, was offensichtlich war. Alles andere kam nicht über ihre Lippen. Er richtete sich auf und fischte eine Zigarette aus der Packung, ohne sie aus den Augen zu lassen.

»Ich komme spät zurück. Warte nicht auf mich.«

»Bist du immer noch Animierdame?«

»Hostess. Im Vamping. Ich will nicht, dass du dort auftauchst und rumhängst.«

Er erinnerte sich ans Vamping, auf der Höhe des katalanischen Strandes. Eine unglaubliche Einrichtung à la Scorcese. Die Sängerin und das Orchester hinter mit Pailletten besetzten Notenständern. Tango, Bolero, Cha-Cha-Cha, Mambo …

»Das hatte ich auch nicht vor.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe nie gewusst, was du vorhast.« Ihr Lächeln verbot jeden Kommentar. »Willst du Fabio treffen?«

Mit dieser Frage hatte er gerechnet. Er hatte sie sich schon selbst gestellt. Aber er hatte die Idee wieder verworfen. Fabio war Polizist. Es war, als sei damit ein Strich unter ihre Jugend und Freundschaft gezogen worden. Trotzdem hätte er Fabio gern wieder gesehen.

»Später. Vielleicht. Wie geht es ihm?«

»Unverändert. Wie uns. Wie dir. Wie Manu. Verloren. Wir wussten nichts mit unserem Leben anzufangen. Ob Räuber oder Gendarm …«

»Du mochtest ihn gern, das stimmt.«

»Ich mag ihn gern, ja.«

Er fühlte einen Stich im Herzen. »Hast du ihn wieder gesehen?«

»Seit drei Monaten nicht mehr.« Sie schnappte sich ihre Handtasche und eine weiße Leinenjacke. Er ließ sie immer noch nicht aus den Augen.

»Unter deinem Kopfkissen«, sagte sie schließlich. Er konnte ihrer Miene ansehen, dass seine Überraschung sie amüsierte. »Alles andere findest du in der Schublade in der Anrichte.«

Und ohne ein weiteres Wort ging sie. Er hob das Kopfkissen hoch. Die 9mm war da. Bevor er Paris verließ, hatte er sie Lole per Eilpost geschickt, denn in den Metros und Bahnhöfen wimmelte es von Bullen. Das republikanische Frankreich hatte beschlossen, das Land noch weißer zu waschen. Keine Einwanderer mehr. Der neue französische Traum. Falls er kontrolliert würde, wollte er keine Probleme. Nicht dieses Problem. Falsche Papiere hatte er ohnehin.

Die Pistole. Manu hatte sie ihm zum zwanzigsten Geburtstag geschenkt. Zu der Zeit war Manu schon auf die schiefe Bahn geraten. Er hatte sich nie von ihr getrennt, sie aber auch nie benutzt. Man bringt nicht einfach so jemanden um, nicht einmal in einer bedrohlichen Lage, was hin und wieder vorgekommen war. Es gab immer eine andere Lösung. So sah er es. Und er lebte noch. Aber heute brauchte er sie. Um zu töten.

Es war kurz nach acht. Der Regen hatte nachgelassen, und als er aus dem Gebäude trat, schlug ihm die Hitze voll ins Gesicht. Nach einer ausgiebigen Dusche war er in eine schwarze Leinenhose, ein schwarzes Polohemd und eine Jeansjacke geschlüpft. Seine Mokassins hatte er wieder angezogen, aber ohne Socken. Er ging durch die Rue du Panier.

Dies war sein Viertel. Hier war er geboren. In der Rue des Petits-Puits, zwei Häuserblocks vom Geburtsort des Barockbildhauers Pierre Puget entfernt. Als sein Vater nach Frankreich kam, hatte er zunächst in der Rue de la Charité gewohnt. Sie waren vor dem Elend und vor Mussolini geflohen. Sein Vater war damals zwanzig Jahre alt und hatte zwei Brüder im Schlepptau – nabos, Neapolitaner. Drei weitere hatten sich nach Argentinien eingeschifft. Sie machten die Arbeit, für die die Franzosen sich zu schade waren. Sein Vater ließ sich für einen Hungerlohn als Hafenarbeiter anwerben. Sie wurden als »Hafenköter« beschimpft. Seine Mutter schuftete vierzehn Stunden am Tag in der Dattelfabrik. Abends trafen sich die nabos und babis, die aus dem Norden, auf der Straße. Stühle wurden vor die Tür gestellt. Man unterhielt sich von Fenster zu Fenster. Wie in Italien. Gar nicht so übel, das Leben.

Sein Haus erkannte er nicht wieder. Es war wie die anderen renoviert worden. Er ging weiter. Manu stammte aus der Rue Baussenque. Aus einem dunklen, feuchten Haus, in dem seine Mutter sich, als sie mit ihm schwanger ging, mit zwei seiner älteren Brüder niedergelassen hatte. Seinen Vater, José Manuel, hatten die Franco-Anhänger erschossen. Immigranten, Exilanten – sie landeten alle eines Tages in einer dieser Gassen, die Taschen leer und das Herz voller Hoffnung. Als Lole mit ihrer Familie ankam, gehörten Manu und er selbst, mit sechzehn Jahren, schon zu den Großen. Das ließen sie die Mädchen jedenfalls glauben.

Schon seit dem letzten Jahrhundert galt es als Schande, im Viertel um die Rue du Panier zu leben. Das Viertel der Seeleute und Huren. Das Krebsgeschwür der Stadt. Das große Bordell. Für die Nazis, die es nur zu gern zerstört hätten, ein Herd der Entartung des Abendlandes. Sein Vater und seine Mutter hatten die Demütigung erlebt. Der Ausweisungsbefehl kam mitten in der Nacht. Am 24. Januar 1943. Für zwanzigtausend Personen. Hastig wurden ein paar Habseligkeiten auf einen Karren geworfen. Gewalttätige französische Gendarmen und spöttische deutsche Soldaten. Im Morgengrauen mussten sie den Karren unter den Augen der Leute, die auf dem Weg zur Arbeit waren, über die Canebière ziehen. In der Schule zeigte man mit dem Finger auf sie, sogar die Arbeitersöhne aus dem Viertel Belle-de-Mai. Aber nicht mehr lange. Sie würden ihnen die Finger brechen! Ihre Körper und Klamotten trugen den muffigen Geruch des Viertels, das wussten sie, Manu und er. Dem ersten Mädchen, das er geküsst hatte, saß dieser Geruch tief im Hals. Aber sie machten sich nichts daraus. Sie liebten das Leben. Sie waren schön. Und sie hatten starke Fäuste.

Er stieg die Rue du Refuge wieder hinab. Etwas weiter unten diskutierte eine Gruppe von sechs vierzehn- bis siebzehnjährigen beurs. Neben ihnen ein funkelnagelneues Mofa. Wachsam sahen sie ihn näher kommen. Ein neues Gesicht im Viertel bedeutet Gefahr. Bulle. Spitzel. Oder der neue Eigentümer eines renovierten Hauses, der sich bei der Stadtverwaltung über die Unsicherheit beschweren würde. Dann kämen Bullen, Kontrollen, Vernehmungen auf der Wache, vielleicht Schläge. Schikanen. Auf ihrer Höhe angekommen, warf er demjenigen, der der Anführer zu sein schien, einen Blick zu. Einen direkten, offenen Blick. Ganz kurz. Dann ging er weiter. Niemand rührte sich. Sie hatten sich verstanden.

Er überquerte die Place de Lenche, die verlassen dalag, und stieg zum Hafen hinunter. Bei der ersten Telefonzelle machte er Halt. Batisti nahm ab.

»Ich bin ein Freund von Manu.«

»Hallo, mein Lieber. Komm doch auf einen Aperitif vorbei, morgen gegen eins im Péano. Ich freue mich drauf, dich zu sehen. Ciao, mein Sohn.«

Er legte auf. Batisti war nicht gesprächig. Keine Zeit, ihm zu sagen, dass er ihn lieber woanders getroffen hätte. Überall, nur nicht dort. Im Péano. Der Bar der Maler. Ambrogiani hatte seine ersten Leinwände dort aufgehängt. Andere hatten es ihm gleichgetan. Alles blasse Imitatoren. Es war auch die Bar der Journalisten. Alle Tendenzen waren dort vertreten von Le Provençal über La Marseillaise und A.F.P. bis zur Libération. Der Pastis schlug eine Brücke zwischen den Männern. Nachts warteten sie dort den Redaktionsschluss ab und gingen dann im hinteren Saal Jazz hören. Petrucciani, Vater und Sohn, waren dorthin gekommen, zusammen mit Aldo Romano. Nächte waren das gewesen, in denen er sein Leben zu ergründen versuchte. In jener Nacht hatte Harry am Klavier gesessen.

»Man versteht nur, was man will«, hatte Lole gesagt.

»Genau. Und ich für meinen Teil verspüre das dringende Bedürfnis durchzublicken.«

Manu war mit der x-ten Runde zurückgekommen. Nach Mitternacht wurde nicht mehr gezählt. Drei doppelte Scotchs. Er hatte sich hingesetzt und sein Glas gehoben, lächelnd unter seinem Schnurrbart.

»Auf das Liebespaar.«

»Halt bloß die Klappe«, hatte Lole gesagt.

Er hatte euch angesehen wie seltene Tiere und sich dann in der Musik verloren. Lole sah dich an. Du hattest dein Glas geleert, langsam und bestimmt. Deine Entscheidung war gefallen. Du würdest weggehen. Du bist aufgestanden und schwankend hinausgegangen. Du bist gegangen. Auf und davon. Ohne ein Wort des Abschieds zu Manu, dem einzigen Freund, der dir geblieben war. Ohne ein Wort zu Lole, die gerade zwanzig geworden war und die du liebtest, die ihr liebtet. Kairo, Dschibuti, Aden, Harar. Die Reiseroute eines überalterten Jugendlichen. Dann die verlorene Unschuld. Von Argentinien nach Mexiko. Und schließlich Asien, um endgültig mit allen Illusionen aufzuräumen. Und einen internationalen Haftbefehl wegen illegalen Kunsthandels am Hals.

Du bist für Manu nach Marseille zurückgekommen. Um mit dem Schweinehund abzurechnen, der ihn umgebracht hat. Er trat aus dem Bistro Chez Félix in der Rue Caisserie, wo er zu Mittag gegessen hatte. Lole erwartete ihn bei ihrer Mutter in Madrid. Er wollte einen großen Batzen einstreichen. Für einen sauberen Bruch bei einem bedeutenden Marseiller Anwalt, Éric Brunel am Boulevard Longchamp. Sie hatten beschlossen, nach Sevilla zu gehen. Und Marseille und die Schinderei zu vergessen. Es ging dir nicht um den, der die Schweinerei ausgeführt hatte. Ein bezahlter Killer zweifellos. Anonym, kalt, aus Lyon oder Mailand angereist und unauffindbar. Es ging um den Dreckskerl, der ihn dafür bezahlt hatte, Manu zu töten. Egal, warum. Du brauchtest keine Gründe, nicht einen einzigen. Manu, das war, als wärst du es selbst gewesen.

Die Sonne weckte ihn. Neun Uhr. Er blieb auf dem Rücken liegen und rauchte seine erste Zigarette. So fest hatte er seit Monaten nicht mehr geschlafen. Er träumte immer, er schliefe woanders. In einem Bordell in Harar. Im Gefängnis in Tijuana. Im Rom–Paris-Express. Überall, nur nicht da, wo er war. Diese Nacht hatte er geträumt, er schliefe bei Lole. Und er war tatsächlich bei ihr. Fast wie zu Hause. Er lächelte. Fast hätte er nicht gehört, wie sie heimkam und die Schlafzimmertür schloss. Sie lag in ihren blauen Laken und versuchte, den zerbrochenen Traum wieder zusammenzubekommen. Ein Stück fehlte immer. Manu. Oder war es er selbst? Aber diesen Gedanken hatte er seit langem aufgegeben. Er musste sich in diese Rolle fügen. Zwanzig Jahre waren schließlich mehr als ein Trauerjahr.

Er stand auf, machte Kaffee und ging unter die Dusche, eine heiße Dusche. Es ging ihm wesentlich besser. Mit geschlossenen Augen stand er unter dem Strahl und stellte sich vor, dass Lole zu ihm kommen würde. Wie früher. Sie würde sich an seinen Körper drücken, ihr Geschlecht an seines pressen. Seine Hände würden über ihren Rücken und Hintern gleiten. Sein Schwanz wurde steif. Er öffnete den kalten Wasserhahn. Das kalte Wasser ließ ihn aufschreien.

Lole legte eine der ersten Platten von Azuquita auf. Pura Salsa. Ihr Geschmack hatte sich nicht geändert. Er deutete einige Tanzschritte an und brachte sie damit zum Lachen. Sie kam näher, um ihn zu küssen. Bei ihrer Bewegung sah er ihre Brüste. Wie Birnen, die darauf warteten, gepflückt zu werden. Er wandte den Blick nicht schnell genug ab. Ihre Augen trafen sich. Sie erstarrte, zog den Gürtel des Bademantels fester und verschwand Richtung Küche. Er fühlte sich schäbig. Eine Ewigkeit verging. Sie kam mit zwei Tassen Kaffee wieder. »Gestern Abend hat ein Typ nach dir gefragt. Wollte wissen, ob du in der Gegend bist. Ein Kumpel von dir. Malabe. Franckie Malabe.«

Er kannte keinen Malabe. Ein Bulle? Eher ein Spitzel. Es gefiel ihm nicht, dass sie sich an Lole heranmachten. Aber gleichzeitig beruhigte es ihn. Die Bullen vom Zoll wussten, dass er wieder in Frankreich war, aber nicht, wo. Noch nicht. Sie versuchten, seine Spur aufzunehmen. Er brauchte noch ein bisschen Zeit. Zwei Tage vielleicht. Alles hing davon ab, was Batisti zu verkaufen hatte.

»Warum bist du hier?«

Er nahm seine Jacke. Bloß nicht antworten, sich nicht auf ein Frage-und-Antwort-Spiel einlassen. Er wäre nicht fähig, sie zu belügen, ihr zu erklären, warum er das alles tun würde. Nicht jetzt. Er musste es tun, so wie er eines Tages hatte verschwinden müssen. Auf ihre Fragen hatte er noch nie eine Antwort gefunden. Es gab nichts als Fragen. Keine Antworten. Das hatte er begriffen, so war es. Es war wenig genug, aber sicherer, als an Gott zu glauben.

»Vergiss die Frage.«

Hinter ihm öffnete sie die Tür und rief: »Das hat mich nicht weitergebracht, keine Fragen zu stellen!«

Das zweistöckige Parkhaus am Cours Estienne d’Orves war schließlich abgerissen worden. Der ehemalige Galeerenkanal war nun ein schöner Platz. Die Häuser waren renoviert, die Fassaden frisch gestrichen, der Boden gepflastert. Ein Platz wie in Italien. Die Bars und Restaurants hatten alle Terrassen mit weißen Tischen und Sonnenschirmen. Wie in Italien ließ man sich sehen. Zumindest die Schickeria. Auch das Péano hatte seine Terrasse, die schon gut besucht war, größtenteils von jungen Leuten, die etwas auf sich hielten. Die Innenräume waren neu gemacht, sie wirkten kalt. Statt der Bilder hingen Reproduktionen an den Wänden. Zum Kotzen. Vielleicht war es besser so. So konnte er seine Erinnerungen auf Distanz halten.

Er ging zum Tresen und bestellte einen Pastis. Im Saal saß ein Paar, eine Prostituierte und ihr Zuhälter. Aber er konnte sich auch täuschen. Sie diskutierten lebhaft, mit leiser Stimme. Er stützte einen Ellenbogen auf die nagelneue Theke und beobachtete den Eingang.

Die Minuten vergingen. Niemand kam. Er bestellte noch einen Pastis. Man hörte: »Hurensohn.« Ein hartes Geräusch. Die Blicke wanderten zu dem Paar. Stille. Die Frau rannte hinaus. Der Mann stand auf, legte einen Fünfzig-Francs-Schein auf den Tisch und folgte ihr.

Auf der Terrasse faltete ein Mann seine Zeitung zusammen. Er war in den Sechzigern, hatte eine Seemannsmütze auf dem Kopf, trug eine blaue Leinenhose, darüber ein weißes, kurzärmliges Hemd und blaue Espadrilles. Er stand auf und ging auf ihn zu. Batisti.

Er verbrachte den Nachmittag damit, die Gegend auszukundschaften. Monsieur Charles, wie er in der Szene genannt wurde, wohnte in einer der stattlichen Villen über der Corniche. Erstaunliche Villen mit Glockentürmchen oder Säulen und Gärten mit Palmen, Oleander und Feigenbäumen. Nach dem Verlassen der Roucas Blanc, der Straße, die sich um den kleinen Hügel schlängelt, gelangt man in ein Geflecht von zum Teil kaum geteerten Gassen. Bis zur Place des Pilotes am oberen Ende der letzten Steigung hatte er den Bus genommen, den 55er. Dann war er zu Fuß weitergegangen.

Er hatte die Reede unter sich. Von L’Estaque bis zur Pointe-Rouge. Die Frioul-Inseln, das Château d’If. Marseille auf Breitleinwand. Eine Schönheit. Er näherte sich dem Abstieg zum Meer. Er war nur noch zwei Villen von Zuccas Domizil entfernt. Er sah auf die Uhr. 16.58 Uhr. Die Gittertore der Villa öffneten sich. Ein schwarzer Mercedes tauchte auf, hielt an. Er ging an der Villa und dem Mercedes vorbei und weiter bis zur Kreuzung der Rue des Espérettes und der Roucas Blanc. Er überquerte die Straße. Noch zehn Schritte bis zur Bushaltestelle. Laut Fahrplan kam der 55er um 17.05 Uhr. Er sah auf die Uhr. Dann lehnte er sich an den Pfosten und wartete.

Der Mercedes fuhr rückwärts an den Bürgersteig heran und blieb stehen. Der Chauffeur und noch ein Mann saßen drin. Zucca erschien. Er musste um die siebzig sein, herausgeputzt wie ein alter Ganove, Strohhut inbegriffen. An der Leine hatte er einen weißen Pudel. Dem Hund hinterher stieg er bis zur Fußgängerzone der Rue des Espérettes hinab. Er hielt an. Der Bus kam. Zucca überquerte die Straße. Jetzt war er auf der schattigen Seite. Dann ging er die Roucas Blanc hinunter, an der Bushaltestelle vorbei. Der Mercedes fuhr los, im Schritttempo.

Batistis Auskünfte waren ihre fünfzigtausend Francs wert. Er hatte ihn bis ins Detail eingewiesen. Nicht eine Kleinigkeit fehlte. Zucca machte diesen Spaziergang jeden Tag außer sonntags, wenn er seine Familie empfing. Um achtzehn Uhr brachte der Mercedes ihn wieder zur Villa. Aber Batisti wusste nicht, warum Zucca Manu zur Verantwortung gezogen hatte. In dieser Frage war er nicht weitergekommen. Es musste einen Zusammenhang mit dem Einbruch bei dem Anwalt geben. Das war ihm klar. Aber um ehrlich zu sein, es war ihm scheißegal. Einzig und allein Zucca interessierte ihn. Monsieur Charles.

Er fürchtete sich vor diesen ehemaligen Ganoven. Mit Bullen und Justizbeamten auf Du und Du, entgingen sie jeder Strafe. Sie waren stolz und herablassend. Zucca hatte eine Visage wie Brando in Der Pate. So eine Visage hatten sie alle. Hier, in Palermo, in Chicago. Auf der ganzen Welt. Und er hatte jetzt einen im Visier. Er würde einen umlegen. Aus Freundschaft. Und um sich von seinem Hass zu befreien.

Er wühlte in Loles Sachen. In der Kommode, im Schrank. Er war leicht betrunken zurückgekommen. Er suchte nichts Bestimmtes. Er wühlte, als könne er ein Geheimnis entdecken. Über Lole, über Manu. Aber es gab nichts zu entdecken. Das Leben war ihnen durch die Finger geronnen, schneller als die Kohle.

In einer Schublade fand er einen Haufen Fotos. Mehr war ihnen nicht geblieben. Es war zum Verzweifeln. Fast hätte er alles in den Müll geschmissen. Aber da waren diese drei Fotos. Dreimal das gleiche. Zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Manu und er. Lole und Manu. Lole und er. Es war am Anfang der großen Mole, hinter dem Handelshafen. Um dorthin zu gelangen, mussten sie die Aufmerksamkeit der Wachen ablenken. Darin waren wir gut, dachte er. Hinter ihnen lag die Stadt. Am Horizont die Inseln. Ihr kamt aus dem Wasser. Außer Atem, glücklich. Ihr konntet euch nicht an den Schiffen sattsehen, die bei Sonnenuntergang hinausfuhren. Lole las laut Exil von Saint-John Perse. Die Milizen des Windes im Treibsand des Exils. Auf dem Rückweg hast du Loles Hand genommen. Du hast es gewagt. Vor Manu.

An jenem Abend habt ihr Manu in der Bar de Lenche zurückgelassen. Die Stimmung war umgekippt. Kein Lachen mehr, nicht ein Wort. Ihr trankt euren Pastis in verlegenem Schweigen. Die Lust hatte euch von Manu entfernt. Am nächsten Morgen musstet ihr ihn im Polizeirevier abholen. Dort hatte er die Nacht verbracht, weil er einen Streit mit zwei Legionären vom Zaun gebrochen hatte. Sein rechtes Auge war zugeschwollen, die Lippen dick und an einer Seite aufgeplatzt. Blaue Flecken am ganzen Körper.

»Ich hatte keine Chance. Aber gut, was solls!«

Lole küsste ihn auf die Stirn. Er drückte sich an sie und fing an zu heulen.

»Verflucht, ist das hart«, sagte er.

Und schlief ein, einfach so, auf Loles Knien.

Lole weckte ihn um zehn. Er hatte fest geschlafen, erwachte aber mit einem schlechten Geschmack im Mund. Kaffeeduft erfüllte die Wohnung. Lole hatte sich auf die Bettkante gesetzt und ihn sanft an der Schulter berührt. Sie hauchte einen Kuss auf seine Stirn, dann seinen Mund. Einen flüchtigen, zärtlichen Kuss. Wenn es das Glück gab, hatte es ihn soeben gestreift.

»Ich hatte ganz vergessen …«

»Wenn das stimmt, hau sofort ab!«

Sie reichte ihm eine Tasse Kaffee und stand auf, um ihre zu holen. Sie lächelte, glücklich. Als sei der Kummer nicht mit erwacht.

»Willst du dich nicht setzen. Wie eben.«

»Ich trinke meinen Kaffee …«

»… im Stehen, ich weiß.«

Sie lächelte noch immer. Er konnte sich nicht von diesem Lächeln, diesem Mund losreißen. Er klammerte sich an ihre Augen. Sie leuchteten, wie in jener Nacht. Du hattest dein T-Shirt ausgezogen, dann dein Hemd. Eure Bäuche klebten aneinander, und ihr bliebt so, ohne zu sprechen. Nur euer Atem. Und ihre Augen, die dich nicht losließen.

»Du wirst mich nie verlassen.«

Du hast geschworen.

Aber du bist gegangen. Manu ist geblieben. Und Lole hat gewartet. Aber vielleicht war Manu nur geblieben, um auf Lole Acht zu geben. Und Lole ist dir nicht gefolgt, weil es ihr ungerecht schien, Manu zu verlassen. Seit Manus Tod legte er sich solche Gedanken zurecht. Denn er musste zurückkehren. Da war er. Marseille – das kam immer wieder hoch. Und Lole, als Nachgeschmack.

Loles Augen leuchteten noch stärker, von einer zurückgehaltenen Träne. Sie ahnte, dass er etwas ausheckte und dass dieses Etwas ihr Leben verändern würde. Sie hatte die Vorahnung nach der Beerdigung Manus gehabt. In den Stunden, die sie mit Fabio verbracht hatte. Sie hatte ein Gespür für so etwas. Sie spürte auch Dramen im Voraus. Aber sie würde nichts sagen. Es war seine Sache zu reden.

Er fischte nach dem Packpapierumschlag neben seinem Bett.

»Das ist eine Fahrkarte nach Paris. Für heute, den T.G.V. um 13.54 Uhr. Das ist ein Ticket von der Gepäckaufbewahrung, am Bahnhof von Lyon. Dieses ist für den Bahnhof von Montparnasse. Zwei Koffer sind abzuholen. In jedem liegen unter alten Klamotten hunderttausend Francs. Das ist die Postkarte eines sehr guten Restaurants in Port-Mer, bei Cancale, in der Bretagne. Auf der Rückseite steht Marines Telefonnummer, ein Kontakt. Du kannst sie alles fragen. Aber handle nie einen Preis für ihre Dienste aus. Ich habe dir ein Zimmer im Hôtel des Marronniers in der Rue Jacob reserviert. Auf deinen Namen, für fünf Nächte. An der Rezeption liegt ein Brief für dich.«

Sie hatte sich nicht gerührt. Wie erstarrt. Langsam war jeder Ausdruck aus ihren Augen gewichen. Ihr Blick war leer. »Kann ich ein Wort zu alledem sagen?«

»Nein.«

»Ist das alles, was du mir zu sagen hast?«

Für das, was er zu sagen hatte, hätte er Jahrhunderte gebraucht. Er konnte es in zwei Sätzen zusammenfassen. Es tut mir Leid. Ich liebe dich. Aber ihre Zeit war abgelaufen. Oder besser gesagt, die Zeit war an ihnen vorbeigegangen. Die Zukunft lag hinter ihnen. Vor ihnen lagen nur noch Erinnerungen. Bedauern. Er sah zu ihr auf, so distanziert wie möglich.

»Mach dein Bankkonto leer. Vernichte deine Kreditkarte und dein Scheckheft. Ändere deine Identität so schnell wie möglich. Marine wird sich darum kümmern.«

»Und du?«, brachte sie mühsam hervor.

»Ich ruf dich morgen früh an.«

Er sah auf die Uhr und stand auf. Als er auf dem Weg ins Badezimmer an ihr vorbeiging, vermied er es, sie anzusehen. Hinter sich schloss er ab. Er wollte Lole unter der Dusche nicht bei sich haben. Im Spiegel betrachtete er sein Gesicht. Er mochte es nicht. Er fühlte sich alt. Er hatte das Lächeln verlernt. Um die Mundwinkel hatte sich eine bittere Falte eingegraben, die nicht mehr verschwinden würde. Er wurde fünfundvierzig, und dieser Tag würde der mieseste seines Lebens sein.

Er hörte den ersten Akkord auf der Gitarre von Entre dos aguas. Paco de Lucia. Lole hatte die Lautstärke aufgedreht. Sie stand mit gekreuzten Armen vor der Stereoanlage und rauchte.

»Du versinkst in Erinnerungen.«

»Rutsch mir den Buckel runter.«

Er nahm die Pistole, lud sie, sicherte sie und klemmte sie am Rücken zwischen Hemd und Hose. Sie hatte sich umgedreht und verfolgte jede seiner Bewegungen.

»Beeil dich. Ich will nicht, dass du den Zug verpasst.«

»Was wirst du tun?«

»Für Durcheinander sorgen. Hoffe ich.«

Das Mofa schnurrte im Leerlauf, keine einzige Fehlzündung. 16.51 Uhr, Rue des Espérettes, unterhalb der Villa von Charles Zucca. Es war heiß. Der Schweiß rann ihm den Rücken runter. Er wollte es schnell hinter sich bringen.

Den ganzen Morgen hatte er die beurs gesucht. Sie wechselten dauernd die Straßen. Das war ihre Regel. Wahrscheinlich war es sinnlos, aber sie hatten sicher ihre Gründe. In der Rue Fontaine-de-Caylus hatte er sie schließlich gefunden. Aus der Straße war ein Platz mit Bäumen und Bänken geworden. Sie waren die Einzigen auf dem Platz. Niemand aus dem Viertel kam hierher, um sich hinzusetzen. Die Leute blieben lieber vor ihrer Tür. Die Größeren saßen auf den Stufen eines Hauses, die Jüngeren standen. Als sie ihn kommen sahen, stand der Chef auf, die anderen hielten sich zurück.

»Ich brauch deine Mühle. Für heut Nachmittag. Bis sechs. Zweitausend in bar.«

Vorsichtig beobachtete er die Umgebung. Er hatte darauf gesetzt, dass niemand in den Bus einsteigen wollte. Wenn jemand auftauchte, würde er verzichten. Falls ein Fahrgast aus dem Bus aussteigen wollte, würde er das allerdings zu spät mitkriegen. Das war ein Risiko. Er hatte beschlossen, es darauf ankommen zu lassen. Dann sagte er sich, wenn er dieses Risiko schon einginge, könnte er sich auf das andere ebenfalls einlassen. Er begann zu rechnen. Der Bus hält. Die Tür öffnet sich. Die Person steigt ein. Der Bus fährt wieder ab. Vier Minuten. Nein, gestern hatte es nur drei Minuten gedauert. Sagen wir trotzdem vier. Zucca hätte die Straße schon überquert. Nein, er hätte das Mofa gesehen und es vorbeigelassen. Er schob alle Gedanken beiseite und zählte wieder und wieder die Minuten. Ja, es war möglich. Aber was dann kam, war wie im Western. 16.59 Uhr.

Er zog das Helmvisier herunter. Die Pistole lag gut in seiner Hand. Und die Hände waren trocken. Er gab kaum merklich Gas und fuhr am Bürgersteig entlang, die linke Hand an den Lenker geklammert. Der Pudel tauchte auf, hinter ihm Zucca. Eine innere Kälte stieg in ihm auf. Zucca sah ihn kommen. Er blieb am Kantstein stehen und hielt den Hund zurück. Er begriff, aber zu spät. Sein Mund öffnete sich, ohne dass er einen Laut von sich gegeben hätte. Die Augen weiteten sich. Die Angst. Das hätte schon gereicht, dass er sich in die Hose geschissen hätte. Er drückte auf den Abzug. Angewidert. Von sich. Von ihm. Von den Menschen. Und von der Menschheit. Er leerte das Magazin in seine Brust.

Vor der Villa machte der Mercedes einen Satz. Von rechts kam der Bus. Er fuhr an der Haltestelle vorbei, ohne abzubremsen. Da riss er die Maschine herum, überrundete den Bus und schnitt ihm den Weg ab. Um ein Haar hätte er den Kantstein gestreift, aber er kam glatt vorbei. Der Bus bremste scharf und blockierte die Straße für den Mercedes. Er floh mit Vollgas, bog links ab und noch mal links, in den Chemin du Souvenir, dann in die Rue des Roses. In der Rue des Bois-Sacrés warf er die Pistole in einen Gulli. Wenige Minuten später fuhr er ruhig die Rue d’Endoume entlang.

Dann erst dachte er an Lole. Eins nach dem anderen. Es gab nichts mehr zu sagen. Du hast dich danach gesehnt, ihren Bauch an deinem zu spüren, den Geschmack ihrer Haut und ihren Geruch nach Pfefferminz und Basilikum begehrt. Aber es lagen zu viele Jahre zwischen euch, zu viel Schweigen. Und Manu. Tot, und noch so lebendig. Fünfzig Zentimeter trennten euch. Wenn du deine Hand ausgestreckt hättest, hättest du sie um die Hüfte fassen und zu dir heranziehen können. Sie hätte ihren Bademantelgürtel öffnen und dich mit der Schönheit ihres Körpers blenden können. Ihr hättet euch leidenschaftlich geliebt, mit unersättlicher Begierde. Danach wäre danach gewesen. Worte finden. Worte, die es nicht gab. Danach hättest du sie verloren. Für immer. Du bist gegangen. Ohne Abschied. Ohne Kuss. Wieder mal.

Er zitterte. Er bremste vor dem erstbesten Bistro am Boulevard de la Corderie. Wie in Trance schloss er das Mofa ab und zog den Helm aus. Er stürzte einen Cognac hinunter. Der Alkohol brannte in seinem Innern. Die Kälte entwich. Er begann zu schwitzen. Er floh auf die Toilette, um sich endlich zu übergeben. Seine Taten und Gedanken zu erbrechen. Sich selber auszukotzen. Den, der Manu im Stich gelassen hatte. Der nicht den Mut aufgebracht hatte, Lole zu lieben. Eine entgleiste Existenz. So lange schon. Zu lange. Das Schlimmste, so viel wusste er, lag noch vor ihm. Beim zweiten Cognac zitterte er nicht mehr. Er war von sich selbst zurückgekehrt.

Er parkte in der Rue Fontaine-de-Caylus. Keine Spur von den beurs. Es war 18.20 Uhr. Seltsam. Er nahm den Helm ab und hängte ihn an den Lenker, ließ aber den Motor laufen. Der Jüngste erschien. Er kickte einen Ball vor sich her, den er in seine Richtung schoss.

»Verpiss dich, es sind Bullen im Anmarsch. Die lungern vorm Haus deiner Tussi rum.«

Er fuhr los, wieder die kleine Gasse hinauf. Sicher überwachten sie die Durchgänge. Montée-des-Accoules, Montée-Saint-Esprit, quer über die Repenties. Place de Lenche, natürlich. Er hatte vergessen, Lole zu fragen, ob Franckie Malabe sich noch mal gemeldet hatte. Vielleicht hatte er eine Chance, wenn er die Rue des Cartiers ganz oben nahm. Er ließ das Mofa liegen und rannte die Treppen hinunter. Sie waren zu zweit. Zwei junge Bullen in Zivil. Unten an der Treppe.

»Polizei.«

Er hörte die Sirene weiter oben in der Straße. Eingekeilt. Türen schlugen. Sie kamen. Von hinten.

»Keine Bewegung!«

Er tat, was er tun musste. Er tauchte die Hand in seine Jacke. Er musste der Sache ein Ende machen. Nicht mehr auf der Flucht sein. Er war da. Zu Hause. In seinem Viertel. Warum nicht hier. In Marseille sterben. Er zielte auf die beiden jungen Polizisten. Von hinten konnten sie nicht sehen, dass er keine Waffe trug. Die erste Kugel zerfetzte ihm den Rücken. Seine Lunge explodierte. Die beiden anderen Kugeln spürte er nicht mehr.

Erstes Kapitel

In dem man sogar ums Verlieren kämpfen muss

Ich hockte mich vor die Leiche von Pierre Ugolini. Ugo. Ich war gerade am Tatort angekommen. Zu spät. Meine Kollegen hatten Cowboy gespielt. Wenn sie schossen, töteten sie. So einfach war das. Anhänger von General Custer. Ein guter Indianer ist ein toter Indianer. Und in Marseille gab es fast nur Indianer.

Ugolinis Akte war auf dem falschen Schreibtisch gelandet. Bei Kommissar Argue. Seine Mannschaft hatte sich in einigen Jahren einen schmutzigen Ruf erworben, aber sie hatte sich bewährt. Man schloss gelegentlich die Augen vor ihren Ausrutschern. Die Bekämpfung des großen Bandenkrieges hat in Marseille Vorrang. An zweiter Stelle kommt die Aufrechterhaltung der Ordnung in den nördlichen Vierteln. Den Einwanderer-Vororten. Verbotenen Städten. Das war mein Job. Aber ich durfte mir keine Fehltritte leisten.

Ugo war ein alter Kumpel aus meiner Kindheit. Wie Manu. Ein Freund. Auch wenn wir uns seit über zwanzig Jahren nicht gesehen hatten. Manu und Ugo lasteten schwer auf meiner Vergangenheit. Das hatte ich vermeiden wollen. Aber ich hatte Fehler gemacht.

Als ich hörte, dass Argue mit den Ermittlungen über Ugos Anwesenheit in Marseille beauftragt war, setzte ich einen meiner Spitzel auf die Sache an. Franckie Malabe. Ich vertraute ihm. Wenn Ugo nach Marseille kam, würde er zu Lole gehen. Das war todsicher. Allen Umständen zum Trotz. Und ich war sicher, dass Ugo kommen würde. Wegen Manu. Wegen Lole. Freundschaft hat Regeln, gegen die man nicht verstößt. Ich erwartete Ugo. Seit drei Monaten. Weil auch ich fand, wir konnten Manus Tod nicht so auf sich beruhen lassen. Wir brauchten eine Erklärung. Wir brauchten einen Schuldigen. Und Gerechtigkeit. Ich wollte Ugo treffen, um darüber zu sprechen. Über Gerechtigkeit. Ich, der Polizist, und er, der Gesetzlose. Um Dummheiten zu vermeiden. Um ihn vor Argue zu schützen. Aber um Ugo zu finden, musste ich Lole wieder finden. Seit Manus Tod hatte ich ihre Spur verloren.

Franckie Malabe war effizient. Aber er lieferte seine Informationen zuerst an Argue. Ich bekam sie nur unter der Hand am nächsten Tag. Nachdem er im Vamping um Lole herumscharwenzelt war. Argue hatte Macht. Er war hart. Die Spitzel fürchteten ihn. Und die Spitzel, diese miesen Schleimer, hatten nur ihre eigenen kleinen Interessen im Auge. Das hätte ich wissen müssen.

Der andere Fehler war, dass ich an jenem Abend nicht selbst zu Lole gegangen war. Manchmal fehlt es mir an Mut. Ich konnte mich nicht entschließen, einfach so ins Vamping zu gehen, drei Monate danach. Drei Monate nach jener Nacht, die auf den Tod von Manu folgte. Lole hätte nicht einmal mit mir gesprochen. Vielleicht. Vielleicht hätte sie die Botschaft auch verstanden, wenn sie mich gesehen hätte. Vielleicht hätte Ugo verstanden.

Ugo. Er fixierte mich mit seinen leblosen Augen, ein Lächeln auf den Lippen. Ich schloss seine Augen. Das Lächeln überlebte. Wird immer überleben.

Ich richtete mich auf. Um mich herum belebte sich die Straße. Orlandi kam wegen der Fotos. Ich betrachtete Ugos Leiche. Seine offene Hand und in der Verlängerung die Smith & Wesson, die auf die Stufe gerutscht war. Foto. Was war wirklich passiert? War er bereit gewesen zu feuern? War er aufgefordert worden, sich zu ergeben? Ich würde es nie erfahren. Vielleicht, wenn ich ihn eines Tages in der Hölle wieder träfe. Denn die Zeugen waren alle von Argue ausgewählt. Die Zeugen aus dem Viertel hatten keine Bedeutung. Ihre Aussagen wurden unterschlagen. Ich sah weg. Argue hatte gerade seinen Auftritt. Er kam auf mich zu.

»Tut mir schrecklich Leid, Fabio. Wegen deinem Kumpel.«

»Verpiss dich.«

Ich ging die Rue des Cartiers wieder hinauf. Ich begegnete Morvan, dem Scharfschützen der Mannschaft. Eine Visage wie Lee Marvin. Die Visage eines Mörders, nicht die eines Polizisten. Ich legte all meinen Hass in meinen Blick. Er schlug die Augen nicht nieder. Für ihn existierte ich nicht. Ich war nichts. Nur ein Vorstadtbulle.

Oben an der Straße beobachteten die beurs das Geschehen.

»Los, seht zu, dass ihr verschwindet.«

Sie sahen sich an. Schauten zum Bandenältesten hinüber. Dann zum Mofa auf der Erde hinter ihnen. Das Mofa, das Ugo fallen lassen hatte. Als die Jagd begann, hatte ich auf der Terrasse der Bar du Refuge gesessen und Loles Haus beobachtet. Ich hatte mich endlich entschlossen, etwas zu tun. Zu viel Zeit verging. Die Sache wurde gefährlich. In der Wohnung war niemand. Aber ich war bereit, so lange auf Lole oder Ugo zu warten wie nötig. Ugo kam nur zwei Meter entfernt an mir vorbei.

»Wie heißt du?«

»Djamel.«

»Ist das dein Mofa?« Er antwortete nicht. »Heb es auf und verzieh dich. Solange sie noch beschäftigt sind.«

Niemand rührte sich. Djamel sah mich völlig perplex an.

»Du putzt es. Und stell es für ein paar Tage weg. Kapiert?«

Ich kehrte ihnen den Rücken zu und ging zu meinem Wagen. Ohne mich nochmals umzusehen. Ich zündete eine Zigarette an, eine Winston, und warf sie wieder weg. Ein ekelhafter Geschmack. Seit einem Monat versuchte ich, von Gauloises auf Leichte umzusteigen, um weniger zu husten. Im Rückspiegel vergewisserte ich mich, dass Mofa und beurs verschwunden waren. Ich schloss die Augen. Mir war zum Heulen.

Als ich ins Büro zurückkam, informierte man mich über Zucca. Und den Mörder auf dem Mofa. Zucca war zwar kein »Patron« der Unterwelt, aber ein wichtiger Stützpfeiler, seit die Chefs tot, im Gefängnis oder auf der Flucht waren. Zuccas Tod war für uns Polizisten ein Glücksfall. Letztlich natürlich für Argue. Ich stellte sofort eine Verbindung zu Ugo her. Aber ich sagte niemandem etwas davon. Was änderte es? Manu war tot. Ugo war tot. Und Zucca weinte niemand eine Träne nach.

Die Fähre nach Ajaccio fuhr von Hafenbecken 2 ab. Die Monte d’Oro. Der einzige Vorteil meines schäbigen Büros im Polizeihauptquartier ist ein Fenster zum Hafen Joliette hin. Vom Hafenverkehr sind fast nur die Fähren übrig geblieben. Fähren nach Ajaccio, Bastia, Algier. Einige Überseedampfer noch, für die Kreuzfahrten der älteren Generation. Und nicht wenig Frachtgut. Marseille war immer noch der drittgrößte Hafen Europas. Weit vor Genua, seinem Rivalen. Am Ende der Mole Léon Gousset schienen mir die Paletten mit Bananen und Ananas von der Elfenbeinküste Hoffnungsträger für Marseille zu sein. Die letzten.

Der Hafen war von ernsthaftem Interesse für die Immobilienhaie. Zweihundert Hektar Baufläche waren eine echte Goldgrube. Sie träumten von der Verlegung des Hafens nach Fos und von einem neuen Marseille am Meer. Die Architekten waren schon am Werk, und das Projekt ging gut voran. Ich konnte mir Marseille ohne seine Hafenbecken, alten Lagerhallen und Schiffe nicht vorstellen. Ich liebte die Schiffe. Die richtigen, großen. Ich sah ihnen gern zu. Jedes Mal versetzte es mir einen Stich ins Herz. Die Ville de Naples