4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €
Du bist hilflos eingesperrt – allein mit einem Mörder … Der nervenaufreibende Thriller »Totental« von Cordula Hamann jetzt als eBook bei dotbooks. Eine abgelegene Bergregion in Bayern. Nur knapp entgeht die junge Studentin Katja einer Lawine, während der Gefangenentransport hinter ihr den Berg hinabgerissen wird. Eine Polizistin kann schwer verletzt geborgen werden – doch von dem Serienmörder in ihrem Gewahrsam findet sich keine Spur. Wurde er unter den Schneemassen begraben … oder konnte er entkommen? Das nahegelegene Dorf, in dem die beiden Frauen Zuflucht finden, wird von den Schneemassen von der Außenwelt abgeschnitten. Mit jedem Tag, der vergeht, wächst die Angst – dann wird die brutal zugerichtete Leiche einer Unbekannten gefunden. Versteckt sich der Killer also tatsächlich unter ihnen? Und wer wird sein nächstes Opfer? Beklemmend und atemberaubend spannend: Ein mörderischer Wettlauf gegen die Zeit und einen Gegner, der den Opfern immer einen Schritt voraus zu sein scheint. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Psycho-Thriller »Totental« von Cordula Hamann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 417
Über dieses Buch:
Eine abgelegene Bergregion in Bayern. Nur knapp entgeht die junge Studentin Katja einer Lawine, während der Gefangenentransport hinter ihr den Berg hinabgerissen wird. Eine Polizistin kann schwer verletzt geborgen werden – doch von dem Serienmörder in ihrem Gewahrsam findet sich keine Spur. Wurde er unter den Schneemassen begraben … oder konnte er entkommen? Das nahegelegene Dorf, in dem die beiden Frauen Zuflucht finden, wird von den Schneemassen von der Außenwelt abgeschnitten. Mit jedem Tag, der vergeht, wächst die Angst – dann wird die brutal zugerichtete Leiche einer Unbekannten gefunden. Versteckt sich der Killer also tatsächlich unter ihnen? Und wer wird sein nächstes Opfer?
Beklemmend und atemberaubend spannend: ein mörderischer Wettlauf gegen die Zeit und einen Gegner, der den Opfern immer einen Schritt voraus zu sein scheint.
Über die Autorin:
Cordula Hamann, geboren 1959 in Hannover, arbeitete nach einer juristischen Ausbildung lange als Unternehmerin im Immobilienbereich, bevor sie begann, Thriller zu schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Berlin und Spanien.
Cordula Hamann veröffentlichte bei dotbooks bereits die beiden Thriller »Der Untergrund – Im Visier des Sandkartells« und »Glasgesichter«.
Die Website der Autorin: www.cordulahamann.de
***
eBook-Neuausgabe November 2019, März 2023
Dieses Buch erschien bereits 2015 unter dem Titel »Spurlos im Schnee« bei MIRA Taschenbuch. Dieses Buch erschien bereits 2019 unter dem Titel »Wo die Angst lauert« bei dotbooks.
Copyright © der Originalausgabe 2015 MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Copyright © der Neuausgabe 2019, 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Andrei F, Quality Stock Arts
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)
ISBN 978-3-98690-492-0
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Totental«an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Cordula Hamann
Totental
Thriller
dotbooks.
Ann Thompson trat durch die Tür des Flughafengebäudes ins Freie. Sie zog ihr Halstuch enger und schlug den Kragen ihres Mantels hoch. Lächelnd sah sie nach oben und betrachtete den Schneehimmel, streckte ihre Hand aus und beobachtete, wie die Flocken schmolzen, kaum hatten sie ihre Haut berührt. »Ihr seid wirklich das Einzige, das ich manchmal vermisst habe«, flüsterte sie. Ann griff ihren Trolley und ging zum Taxistand.
»Nach Grahmried bitte, und bevor Sie fragen: Es liegt zwischen Kochel und Wallgau.«
»Kochel? Am Kochelsee?«
»Kennen Sie noch ein weiteres Kochel in Bayern?«
»Bittschön, gnädige Frau. Das sind über hundert Kilometer!« Der Taxifahrer stand an die Beifahrertür gelehnt und musterte sie von Kopf bis Fuß.
Sie nickte. »Ich weiß.«
»Sie sehen aus, als könnten Sie auf den normalen Fahrpreis noch was draufpacken.« Er lächelte sie an und nahm ihr das Gepäck ab, um es im Kofferraum zu verstauen.
»Warum sollte ich?«, fragte sie und stieg in den Fond des Wagens.
»Weil ich die Nacht im eigenen Bett schlafen mag. Von Grahmried, da krieg ich bei dem Wetter keine Tour mehr zurück.« Auch er stieg ein und drehte sich erwartungsvoll zu ihr um. »Also, Gnädigste, was machen wir nun?« Er rieb Daumen und Finger seiner erhobenen Hand aneinander.
»Die Hälfte vom Fahrpreis zahle ich extra. Das dürfte für das Benzin der Rückfahrt reichen.«
Er nickte und ließ den Motor an.
»Könnten Sie bitte die Heizung höherdrehen? Es ist kalt in Deutschland.«
»Freilich, der Schnee ist heut schon arg. Sie kommen nicht von hier, gell? Hätt' eher gedacht, ich soll Sie am Bayerischen Hof absetzen, aber ins Dorf ...«
Ann Thompson antwortete nicht, ihr war nicht nach Reden zumute, und endlich schwieg auch der Fahrer. Der Blick aus dem Fenster verursachte in ihrem Bauch ein warmes Gefühl, obwohl Bayern vom Schnee wie zugedeckt wirkte. Sie ärgerte sich, denn sie beabsichtigte nicht, sich hier wieder heimisch zu fühlen. Doch selbst die lange Flugzeit hatte nicht ausgereicht, sich auf diesen Moment ihres Wiedersehens mit Deutschland vorzubereiten. Wie würde es erst in Grahmried werden? Sie war nur gekommen, um etwas zu erledigen. Mehr nicht. Schon in wenigen Tagen würde sie wieder im Flieger sitzen und als reiche Frau nach Australien zurückkehren.
Claudia Jensen starrte auf den Namen in den Überführungspapieren, die ihr der Beamte der Vollzugsanstalt Straubing gerade überreicht hatte: Thomas Bach.
»Einzeltransport mit niedrigster Sicherheitsstufe – bei dieser Vorgeschichte?«, fragte sie entsetzt.
»Warum habt ihr nicht ein anderes Fahrzeug angefordert?«, wollte auch ihr Kollege Marco Stadler wissen.
»Bach hat gesundheitliche Probleme«, erklärte ihnen der Beamte der Vollzugsanstalt. »Eine Fahrt im Sammeltransport scheidet deshalb aus. Außerdem ist er völlig harmlos. Alle Gutachten der letzten Jahre fielen positiv aus. Er hat seine Strafe abgesessen. War hier bei uns in der sozialtherapeutischen Anstalt. Sicherungsverwahrung. Eigentlich sollte er in den offenen Vollzug. Aber er will nicht.«
»Er will nicht?«, fragten Jensen und Stadler wie aus einem Munde.
Der Beamte zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Fühlt sich noch nicht so weit. War ja auch eine verdammt lange Zeit.«
»Und was soll er dann in Konstanz?«, fragte Jensen. Es war ein merkwürdiges Gefühl zu hören, dass der Gefangene jetzt harmlos sein sollte. Dabei war er dafür verantwortlich, dass sie monatelang an ihrer Berufswahl gezweifelt und nächtelang die toten Frauen in ihren Träumen gesehen hatte. Alle vier im Alter von 15 bis 35 Jahren, vergewaltigt, ihre Köpfe kahl geschoren und von der Brust bis zum Schambein und am Hinterkopf durch Messerschnitte in Form eines großen Kreuzes als seine Werke gebrandmarkt. Gott habe ihn beauftragt, sie für ihre Unzucht zu strafen. Gejagt von einer Sonderkommission aus 76 Kriminalbeamten, hatte er die Bevölkerung ihrer Heimatstadt Hamburg über ein Jahr lang geängstigt. Dieser Mann sollte jetzt die Freiheit scheuen und seinen Aufenthalt in einer Haftanstalt quasi freiwillig verlängern wollen?
»Die haben dort eine gesonderte Abteilung für Männer über 62 Jahre. Ich denk, das soll so eine Art Übergang werden, bis er ganz ...«
Der Beamte verstummte, denn in diesem Moment betrat ein weiterer Vollzugsbeamter den Raum, in seiner Begleitung Thomas Bach. Trotz der Jahre erkannte ihn Jensen sofort. Der 65-jährige Häftling wirkte blass, aber er hielt seinen Körper straff aufrecht, und seine dunkelbraunen Augen sahen ihr klar ins Gesicht. Seine Statur hatte sich in den Jahren nicht wesentlich verändert. Nur die Fülle seiner damals schwarzen Haare hatte deutlich nachgelassen, und etliche graue Strähnen durchzogen die ordentlich geschnittene Frisur. Er trug Zivilkleidung.
Ein weinroter Wollschal war um seinen Hals gewickelt, eine schwarze Daunenjacke hing über dem Arm. Er trug bereits Hand- und Fußschellen. Mit keiner Regung verriet er, ob er sie wiedererkannt hatte.
Ja, der Mann sah harmlos aus. Aber das war auch die Aussage aller Befragten gewesen – der Arbeitskollegen, der Nachbarn, der Angehörigen und seines fünften Opfers, das als einziges überlebt hatte.
Der Vollzugsbeamte war Jensens Blicken zu den Fußfesseln gefolgt. »Könnt ihr im Bus ja dann selbst entscheiden.«
»Wir sollten aufbrechen. Kommen Sie«, forderte Jensen mit einer Handbewegung Bach und die Beamten auf, sich in Richtung Ausgang zu bewegen. Normalerweise störten sie die lautstarken Schließprozeduren innerhalb des Gebäudes nicht, aber heute war sie froh, als sie endlich wieder im Freien standen. Sie blickte an dem schönen, alten Gebäude hoch. Der seit Tagen anhaltende Schneefall hatte sich zentimeterdick auf die sonst leuchtend roten Dachziegel gelegt. Und noch immer schien der Niederschlag kein Ende zu nehmen. Es war deutlich wärmer geworden. Bald würde der Schnee in Schneeregen übergehen.
Stadler öffnete die hintere Tür des Mercedes-Sprinters und trat zur Seite. Die beiden Vollzugsbeamten führten Bach, der bisher kein Wort gesprochen hatte, in ihrer Mitte zum Einstieg. »Darf ich am Fenster sitzen?«, fragte er jetzt. Seine Stimme klang überraschend warm. Die Fensterausschnitte waren im hinteren Teil des Busses verschlossen, die vorderen Scheiben dagegen verglast und von innen mit Gittern versehen. So wie auch Gitter und Sicherheitsglas die Fahrerkabine vom Rest des Fahrzeuginnenraumes abtrennten. Stadler sah Jensen fragend an. Ab dem Moment der Zuführung des Gefangenen in das Transportfahrzeug lag die Verantwortung allein bei ihnen. Die absendende JVA gab nur das erforderliche Mindestmaß an Besicherung des Gefangenen und die Wahl des Transportfahrzeuges vor. Zusätzliche Sicherungsmaßnahmen konnten jederzeit von den begleitenden Beamten durchgeführt werden. Oder aber sie konnten darauf verzichten. Jensen nickte. »Er darf rausgucken. Im Bericht steht, er hat Ödeme am linken Bein. Verzichten wir also auf die Fußfesseln.«
Stadler nahm sie ihm ab und verstaute sie zusammen mit dem kleinen Pappkarton, in dem sich die persönliche Habe des Gefangenen befand, in der Fahrerkabine. Danach schloss er die Hecktür, die man nur von außen öffnen konnte, und verabschiedete sich von den Kollegen der JVA.
»Können solche Typen überhaupt jemals harmlos werden?«, flüsterte Stadler im Vorbeigehen Jensen zu.
Sie zuckte die Schultern. »Das Wetter soll miserabel werden. Fährst du die erste Strecke oder ich?«, fragte sie.
Er schwenkte lächelnd die Schlüssel vor ihrem Gesicht. »Ich will zuerst.«
Claudia grinste ihn an. »Weil du es bist.«
Stadler war zehn Jahre jünger als sie und wurde nur ab und zu für Gefangenentransporte eingesetzt. Er tat Claudia leid. Durch den ewigen Personalmangel hatten sie in letzter Zeit derart viele Amtshilfeersuchen der JVAs, dass er sich vorkommen musste, als wäre er nicht für den Polizeidienst, sondern für eine Transportfirma ausgebildet worden. Mit Bach sollten sie nicht direkt nach Konstanz fahren, sondern zuerst nach Garmisch-Partenkirchen, um dort einen weiteren Gefangenen einzuladen, der als Zeuge zu einem Gerichtstermin – ebenfalls in Konstanz – geladen war.
Bevor sie losfuhren, drehte sie sich um und sah durch das Gitter zu Bach. Er hatte sich den Schal abgenommen und neben sich gelegt. Es mochte albern sein, aber das große Kreuz, das um den Hals dieses sonst so schmucklosen Mannes hing, machte ihr plötzlich Angst.
Katja war müde. Schon halb drei, und sie war gerade einmal hinter München. Aber egal, wie spät es war, an der nächsten Raststätte würde sie halten. Sie brauchte unbedingt einen starken Kaffee. Ihre Freundin Miriam war ganz bequem mit dem Flugzeug nach Innsbruck geflogen und von dort mit einem Hotel-Shuttle abgeholt worden. Sie saß bestimmt bereits im gemütlichen Foyer, während Katja sich im vollgepackten Auto durch dieses Irrsinnswetter quälen musste.
Schon seit vierzehn Tagen hatten Miriam und sie regelmäßig die Berichte über die Schneeverhältnisse in Seefeld verfolgt und sich über die guten Aussichten gefreut. Aber mussten die weißen Flocken schon hier in Bayern in Massen vom Himmel fallen? Irgendwie beruhigend, dass ihr Jeep Vierradantrieb besaß, denn in spätestens zwei Stunden würde es stockdunkel und die Sicht noch schlechter sein.
Das Handy klingelte. Miriam, wer sonst? Markus, der mit dem gleichen Klingelton wie ihre beste Freundin eingespeichert war, rief ja leider nicht mehr an. Nie mehr. Allein der Gedanke an ihn reichte, dass sich ihre Wut einen Weg suchte und wieder einmal bei Miriam landete.
»Hätte ich mir denken können. Du bist natürlich schon da. Die Besserverdiener können sich ja einen Flug leisten, während sich das Fußvolk mit dem Gepäck – übrigens auch deinen Taschen und Skiern – abquälen muss. Mich kotzt das gerade ziemlich an.«
»Ja, und es ist traumhaft hier, sage ich dir. Für das Geld! Riesengroßes Zimmer. Ach, ich freu mich so auf unseren Urlaub. Weißt du, wie irre der Schnee aussieht? Und wir morgen früh mittendrin, auf der Piste. Weißt du schon, wann du ankommen wirst?«
Wie immer traf sie Miriams uneingeschränkte Geduld und gute Laune wie ein Bumerang, der im Flug seine Farbe gewechselt hatte. »Ich komm hier irgendwie gar nicht voran. Es schneit wie verrückt«, sagte sie in sanfterem Ton.
»Wo bist du jetzt?«
»Keine Ahnung. Irgendwo auf der Höhe vom Starnberger See.«
»Dann hast du ja nur noch hundert Kilometer.«
»Juchhu. Ein Katzensprung.«
Aus dem Radio tönte das Signal für die Verkehrsnachrichten.
»Warte. Ich will mal hören.«
»LKW-Unfall auf der A95, zwischen Sindelsdorf und Murnau/Kochel. Acht Kilometer Stau in beiden Richtungen. Und das scheint wohl erst der Anfang zu sein«, verkündete der Sprecher, als hätte er gerade über die Stimmung zu Beginn des Oktoberfestes gesprochen.
»Na super. Hast du mitgehört?«, fragte Katja und dachte an die beiden liegen gebliebenen Fahrzeuge auf dem Standstreifen, die sie im Laufe der letzten halben Stunde passiert hatte. »Wenn der blöde Streudienst mal etwas schneller wäre, müsste so ein Unfall gar nicht erst passieren. Ich komm mir vor, als wäre ich mit einem Schlitten unterwegs. Richtige Schneeverwehungen sind das hier.«
Sie sah vor sich das Hinweisschild für die Raststätte Höhenrain West.
»Du Ärmste. Aber vielleicht hat sich der Stau schon aufgelöst, bevor du da bist.«
»Möglich, ich fahre nämlich jetzt erst mal von der Autobahn runter. Ich melde mich dann nachher wieder. Wärm meinen Sitzplatz an der Bar schon mal an.«
Vorsichtig lenkte Katja den Jeep über die Ausfahrt auf das Raststättengelände.
Der Kaffee hatte gutgetan, das Wetter tat es weniger. Der Himmel schien immer weiter herunterzukommen. Der Schnee war in Schneeregen übergegangen, und der Sturm peitschte ihn in ihr Gesicht. Bereits nach wenigen Metern hätte sie ihre Mütze auswringen können. Wie die übrigen Reisenden auf dem großen Parkplatz lief Katja mit dem Oberkörper leicht nach vorn gebeugt. Zwei Mädchen verließen vor ihr das Restaurant. Sie drehten sich um und liefen rückwärts gegen den Sturm. Katja sah ihre lachenden Gesichter und musste ebenfalls lächeln. Ein Mädchen schien das Duplikat des jeweils anderen. Mit ihren geschätzten 15 bis 16 Jahren waren sie längst dem Alter gleicher Kleidung entwachsen, alles andere aber war identisch: braune Haare, die unter Wollmützen und mehrfach um den Hals gewickelten Schals bis über die Schultern reichten. Die Mädchen waren etwa so groß wie sie selbst und wirkten trotz dicker Jacken schlank und sportlich.
»Habt ihr den Schlüssel?«, fragte ein Mann, der in diesem Moment neben Katja auftauchte und während des Laufens alle Taschen seiner modischen Skijacke durchsuchte.
»In deiner Ärmeltasche, wie immer, Papa«, rief eines der Mädchen zurück.
Der Mann und seine Töchter waren an einem Range Rover angelangt, der direkt neben ihrem Jeep parkte. Katja stieg ein und warf einen letzten Blick auf den Zwillingsvater. Auf ihn wartete zu Hause sicher eine ebenso gut aussehende Traumfrau. Solche Typen konnten einfach keine Singles sein. Außerdem wirkte er mit seinen Töchtern für eine Jedes-zweite-Wochenende-und-ab-und-zu-mal-Ferien-Beziehung viel zu vertraut. Nein, der Mittvierziger sah aus wie einer, den ihre Großmutter eine »gute Partie« nannte. Egal wie oft Katja ihr klarzumachen versuchte, dass heutzutage eine Frau selbst ihren Lebensunterhalt verdiente und sich deshalb die Auswahlkriterien für einen Partner entscheidend geändert hatten. »Und was, wenn du mal Kinder bekommst? Dann ist es schon besser, er kann für Frau und Kind sorgen.« Über diesen Punkt kam die Diskussion regelmäßig nicht hinaus. Erst recht nicht, nachdem sich Katjas Gedanken an möglichen Nachwuchs in Luft aufgelöst hatten, als sie Markus in den Armen der blöden Tusse Christin überrascht und er sich nicht einmal sonderlich betroffen gezeigt hatte.
Kaum fuhr sie wieder auf der Autobahn, steckte sie die Kopfhörer ihres Handys in die Ohren und rief Miriam an. »Vielleicht hattest du recht. Es scheint doch auch nette Typen zu geben. Eben hatte ich das Vergnügen, einen von Weitem zu sehen, der – Überraschung – natürlich vergeben ist.«
»Sag ich doch. Unser Urlaub wird dich von Markus kurieren. Und das wirkt schon, obwohl du noch nicht einmal angekommen bist. Ich verspreche dir: Hier sind noch viel mehr nette Typen.«
Miriam lebte im Gegensatz zu ihr schon seit geraumer Zeit solo. Und sie bestand darauf, dass ein Urlaubsflirt durchaus auch der Start eines Weges zur goldenen Hochzeit sein könnte. Was natürlich Quatsch war. Urlaubsflirts gehörten in die Kategorie fünfte Jahreszeit. Nach der Erfahrung mit Markus sollte Katja ein solches Erlebnis allerdings nur recht sein.
»Was ist denn nun mit dem Stau?«, fragte Miriam.
»Wollen wir mal hoffen.« Katja warf einen Blick auf ihr Navi. Nur noch rund 15 Kilometer bis zur angekündigten Unfallstelle. Vorhin hatte der Stau bereits acht Kilometer betragen. Sie sah wieder nach vorn. In die dicken Schneeflocken, die unaufhaltsam ihre Windschutzscheibe trafen, mischten sich flackernde blaue Lichter aus der Ferne. »Zu früh gefreut. Mann, mir ist jetzt schon kalt. Jetzt muss ich auch noch stundenlang im eisigen Auto warten. Wie war das gerade mit dem guten Beginn der Ferien?«
»Nicht ärgern. Mach dir warme Gedanken. Lass dich bloß nicht von so einem Stau unterkriegen. Was ist das denn für ein Sympathieträger, den du entdeckt hast? Habt ihr miteinander gesprochen?«, wollte Miriam wissen.
Miriam, die Trösterin in der Not. So war sie schon immer. »Ich schau erst mal, was hier los ist, und ruf dich wieder an, okay?«
»Bald sitzt du hier neben mir am Kamin.«
Ein loderndes Kaminfeuer, das wär's jetzt. Doch vor ihr funkelten lediglich die Rücklichter diverser Fahrzeuge und die blauen Signale der zwei Polizeifahrzeuge, die querstehend die linke und mittlere Spur blockierten. Im Schritttempo fädelten sich die Fahrzeuge in die rechte Spur ein, bis auch diese durch einen Polizeibus gesperrt war. Ein Beamter winkte heftig Richtung Ausfahrt. Die Autos vor ihr kamen zum Stehen. Katja nutzte den Stillstand, um auf dem Navigationsgerät zu prüfen, wo sie sich befand. Ausfahrt Sindelsdorf. Hier kreuzte die Bundesstraße 472, entweder in Richtung Bichl/Bad Tölz oder in Richtung Peißenberg. Na, das war Glück im Unglück. Sie würde bis kurz vor Bichl fahren und dann auf die B11 abbiegen, die wunderbarerweise auf die B2 und dann direkt nach Mittenwald führte. Genau dorthin wollte sie, und die Strecke schien nicht einmal länger zu sein als die parallel verlaufende Route über Garmisch-Partenkirchen. Vor ihr setzten sich die Fahrzeuge wieder in Bewegung, die meisten bogen nach Peißenberg ab, einige wenige in Richtung Bad Tölz. Katja erkannte vor sich den britischen Geländewagen ihres Parkplatznachbarn. Wohin die drei wohl unterwegs waren? Könnte ja sein, dass sie ebenfalls nach Seefeld zum Wintersport wollten.
Langsam zog sich die Reihe der hintereinanderfahrenden Autos wieder auseinander. Der Range Rover bog ebenfalls rechts in die B11 ab. So weit, so gut. Wenn es endlich aufhören würde zu schneien oder zu regnen – was immer das war, das da vom Himmel fiel –, ließe es sich gar nicht schlecht auf dieser Strecke fahren. Noch bildete der alte Schnee einen festen Untergrund auf der Straße. Zufrieden nahm sie einen erneuten Anruf Miriams entgegen und berichtete ihr von der neuen Fahrtroute.
»Ist das nicht schon ziemlich in den Bergen?«
»Glaub ich nicht. Die Strecke führt an zwei großen Seen vorbei und sieht ziemlich eben aus.«
Katja versprach, sich zu melden, sobald sie abschätzen konnte, wann sie in Seefeld eintreffen würde.
Zwei Minuten später klingelte wieder ihr Handy. »Was denn noch?«, fragte sie Miriam, deren Stimme aufgeregt klang.
»Von wegen flach. Du hättest die B2 nehmen müssen, nicht die B11! «
»Da war es so voll. «
»Aus gutem Grund. Weißt du, was für eine verdammt steile und kurvenreiche Strecke auf dich zukommt? Wie soll das denn gehen bei dem Wetter? Willst du nicht lieber irgendwo übernachten und warten, bis das Wetter besser ist? Ich habe mal gegoogelt. Es gibt wirklich viele Hotels und ...«
»Hast du sie noch alle?«, unterbrach Katja sie. »Es ist erst halb vier am Nachmittag.« Sie sah in den Rückspiegel. »Außerdem bin ich bestens bewacht.«
»Wie?«
»Hinter mir fährt schon die ganze Zeit ein Polizeiauto. Also ganz ruhig, Mini.«
»Aber diese Kesselbergstraße. Versprich mir ...«
»Ich verspreche es hoch und heilig, und jetzt gib Ruhe.«
Katja beendete kurzerhand das Gespräch und konzentrierte sich auf die Fahrbahn und die Rücklichter ihres Vordermannes.
Xaver zog sich die Jacke aus und hängte sie auf die Stuhllehne. Er schüttelte sich die letzten noch nicht getauten Schneeflocken aus dem Haar und trat neugierig hinter seinen Kollegen Ferdinand. Der richtete seine Blicke konzentriert auf den Monitor vor sich.
»Wie schaut's aus?«, fragte Xaver.
»Hab ein ungutes Gefühl. So eine Konstellation gab's noch nie, seit ich bei der Kommission bin.«
»Was schon ein paar Jährchen sind.« Xaver lachte und schlug seinem Kollegen freundschaftlich auf die Schulter. »Der Sturm macht mir auch Sorgen«, fügte er wieder ernst hinzu. »Mit dem plötzlichen Temperaturanstieg eine gefährliche Kombination. Übrigens haben grad die Kollegen der Verkehrspolizei durchgegeben: Auf der A95 ist ein LKW durch die Mittelplanke gedonnert und umgekippt. Vollsperrung.«
»Wo?«, fragte Ferdinand, ohne vom Monitor aufzublicken.
»Bei Kilometer 54.«
»Leiten sie ab?«
»In Richtung Nord steht's im Moment. Richtung Süd leiten sie über die B472, Sindelsdorf.«
»Auch das noch. Die sollten die Leut lieber auf der Autobahn lassen, anstatt sie über die Landstraßen zu zwingen. Lang sollten wir nimmer warten, das Landratsamt zu informieren. Mindestens den Bereich Urfeld/Walchensee sollten die dichtmachen.«
»Wennst meinst. Aber die Kollegen aus Mittenwald haben noch nicht einmal Scharnitz zugemacht. Nur Leutasch – da ist dicht. Aber das ist nix Besonderes. Also müssen wir uns hier nicht gleich ins Hemd machen.« Xaver wandte sich ab und steuerte seinen eigenen Schreibtisch an.
»Freilich sollten wir das tun«, antwortete Ferdinand in einem ungewohnten Ton, der Xaver in seinen Bewegungen stoppen ließ. »Der Sturm dreht sich.«
Xaver trat wieder hinter ihn und sah auf den Monitor, wo Ferdinand mit dem Finger einen Bereich des Satellitenbildes umkreiste.
»Da schau: Das kommt genau auf uns zu. Und so nass, wie der Schnee heut geworden ist ... ich darf's mir gar nicht vorstellen, was da runterkommen könnt'.«
Es ging langsam aufwärts und Kurven und Kehren nahmen zu. Katja hatte Schneeketten dabei. Für alle Fälle, so hatte Miriam geraten. Sollte sie diese besser jetzt anlegen? Noch griffen die Reifen ihres Jeeps gut auf dem Schneebelag der immer steiler werdenden Straße. Und weder der Geländewagen vor ihr noch der Polizeibus hinter ihr benutzten Schneeketten. Der Zwillingsvater von der Raststätte führte die Kolonne an. Er bestimmte das Tempo, und sie würde sehen, falls er ins Schlingern geriet. Nur wenige Fahrzeuge kamen ihnen entgegen. Fast hinter jeder Kurve blies der Wind so viel Schnee von den steilen Felswänden auf die Windschutzscheibe, dass Katja mehrmals die höchste Stufe der Scheibenwischer anschalten musste, um überhaupt etwas sehen zu können. Sie spürte, wie der Sturm versuchte, ihr Auto in seine Richtung zu schieben, so wie ein Fußballer einen Ball vor sich hertrieb. Gleichzeitig hörte sie sein Pfeifen und Zischen. Ihre Finger verkrampften sich um das Lenkrad, um ja rechtzeitig gegenzulenken, falls wieder eine Böe das Auto traf. Sie sah kurz auf ihr Navigationsgerät. Bald war diese kurvenreiche Kesselbergstraße geschafft, vor der Miriam so eine Panik gemacht hatte. Dann würde es wieder ebener werden.
Sie hörte ein Grollen und stellte das Radio aus. Jetzt auch noch ein Gewitter? Das Wetter spielte total verrückt. Das Grollen schwoll zu einem Dröhnen an. Sie beugte sich vor, um durch die Windschutzscheibe einen Blick zum Himmel werfen zu können. Doch im gleichen Moment traf ein heftiger Schlag das Heck ihres Jeeps und drohte, ihn von der Straße zu drängen. Katja trat instinktiv auf die Bremse. Gleichzeitig knallte es laut, Glas klirrte und Schnee wirbelte vor ihrem Auto in einem rasenden Tempo durch die Luft. Wie eine Wolke umhüllte er Windschutzscheibe und Schnauze des Jeeps, wurde immer dichter, und dann war es Nacht um sie herum. Nur das Armaturenbrett mit seinen Anzeigen gab ein schwaches grünes Licht ab. Die Scheibenwischer bewegten sich ohne Erfolg in hektischer Geschwindigkeit. Sie gab wieder Gas, um dieser Kraft zu entkommen, die sie immer noch den Abhang hinunterdrängen wollte. Doch das Auto schien kaum mehr vorwärtszukommen, bis es vollständig auf der Stelle fuhr und die Reifen durchdrehen ließ. Katja presste ihren Fuß auf die Bremse und zog gleichzeitig die Handbremse an. Endlich ließ der Druck auf das hintere Fahrzeugteil nach. Die Scheibenwischer schafften es, ein kleines Loch in den Schnee auf der Windschutzscheibe zu schieben. Katja konnte die Fahrbahn sehen und erkannte in einiger Entfernung den Fahrer des Range Rovers und seine Töchter. Sie standen mitten auf der Straße und starrten mit angstverzerrten Gesichtern abwechselnd zu ihr und an einen Punkt irgendwo oberhalb ihres Autos. Nur das monotone Geräusch der Wischerblätter auf der Scheibe unterbrach die vollkommene Stille. Ruckartig lief eines der Mädchen los. Der Vater und die Schwester folgten. Alle drei rannten auf sie zu, immer wieder blickten sie ängstlich nach oben. Erst jetzt spürte Katja die Kälte im Wagen. Sie drehte sich zur Rückbank um. Ihr Gepäck, das sie dort deponiert hatte, war mit Schnee und kleinen Felsbrocken übersät. Katja drehte sich wieder nach vorn, löste die Handbremse und gab vorsichtig Gas. Doch die Räder drehten erneut auf der Stelle und das Fahrzeug bewegte sich keinen Zentimeter. Inzwischen waren Vater und Töchter an der Motorhaube des Jeeps angekommen und gestikulierten wie wild, bewegten ihre Lippen und zeigten in ihre Richtung und immer wieder nach oben. Katja hörte ihre Stimmen nicht. Der Schnee um ihr Auto herum schluckte alle Geräusche. Auf der Beifahrerseite kam Bewegung in die weiße Wand. Sie sah rote Handschuhe, die sich mit hektischen Wischbewegungen zur Scheibe durchkämpften. Den Handschuhen folgten Arme und Oberkörper. Jetzt wurden die Gesichter des Vaters und eines der Mädchen sichtbar. Sie befreiten die Beifahrertür von den Schneemassen. Plötzlich maßloses Erschrecken auf den Gesichtern ihrer Helfer. Ihre Bewegungen erstarrten, dann rannten Vater und Tochter zurück auf die Straße. Wie durch Watte vernahm Katja ein erneutes Grollen. Dann spürte sie das Vibrieren des Jeeps und mit ihm die Gefahr. Sie schaltete den Motor aus, löste den Sicherheitsgurt und griff zum Türhebel, um die Fahrertür zu öffnen. Doch die bewegte sich nicht. Sie stemmte sich mit der Schulter wie wild dagegen, hämmerte mit den Fäusten gegen die Fahrertür. Tränen rannen ihr die Wangen herunter. Sie nahm sich nicht die Zeit, sie abzuwischen, sondern schlug abwechselnd auf die Hupe und gegen die Tür. Endlich herrschte wieder absolute Stille. Katja atmete tief ein und aus. Mit einem Mal konnte sie wieder klar denken. Sie rutschte auf die Beifahrerseite und rüttelte dort an der Tür, die etwas nachgab. Schon war der Vater mit den Töchtern wieder zur Stelle. Es dauerte nur Sekunden, dann war die Tür so weit geöffnet, dass sich Katja hinauszwängen konnte.
»Nehmen Sie nur Ihre wichtigsten Sachen mit«, forderte der Mann sie auf. Katja reagierte nicht. Sie blickte staunend auf den mindestens zwei Meter hohen Schneeberg, der sich hinter ihrem Jeep über der Straße aufgetürmt hatte. Es war, als hätte die Lawine versucht, den Einschnitt der Straße zu schließen, damit der Berg seine ursprüngliche Form wiedererlangen konnte. Wenn sie nur einen Meter weiter hinten auf der Straße gewesen wäre ... ach was, ein halber Meter weniger, und die Lawine hätte sie vollständig unter sich begraben.
»Schnell! Wer weiß, ob nicht noch eine Lawine runterkommt.« Mit dieser Äußerung riss der Mann Katja endgültig aus ihrem Schockzustand. Hastig kletterte sie wieder ins Fahrzeuginnere, wollte ihren Mantel und das Gepäck vom Rücksitz greifen und schrie auf. Ihr linkes Handgelenk schmerzte. Sie konnte mit dieser Hand nichts greifen. Sie nutzte ihre unversehrte rechte Hand und streckte einem der Mädchen durch die halb geöffnete Tür ihre Tasche entgegen. Sie sah sich suchend um und entschied: Alles andere konnte im Auto bleiben. Nur ihr Navi zog sie vom Ladegerät und griff das Handy aus der Mittelablage. Beides warf sie in ihre Handtasche und stieg mit ihr rückwärts aus dem Jeep. Sie drückte die Beifahrertür zu und folgte ihren Rettern zu deren Auto.
»Hannah, ruf die 112 an«, rief der Mann noch im Laufen einem der Mädchen zu. Er öffnete die Heckklappe und verstaute Katjas Tasche. Katja versuchte, ihren Mantel anzuziehen, aber hatte Mühe, das Zittern zu kontrollieren und die Ärmellöcher zu finden. Er half ihr. Währenddessen unterrichtete Hannah die Notrufzentrale.
»Papa, wo sind wir hier? Welche Straße?«
»Auf der B11 kurz vorm Walchensee«, antwortete er und das Mädchen wiederholte diese Angabe. In diesem Moment traf Katja die Erinnerung an ihre Fahrt vor dem Unfall wie ein Schlag. Sie starrte zurück zu dem riesigen Schneeberg und riss dem erschrockenen Mädchen das Telefon aus der Hand. »Beeilen Sie sich. Hinter mir war noch ein Fahrzeug. Es ist mit Sicherheit verschüttet worden. Es fuhr dicht hinter mir, als die Lawine runterkam. Ein Polizeifahrzeug. Machen Sie schnell.« Die Angst, die sie im Auto erlebt hatte, als die Lawine unmittelbar hinter ihr auf die Straße gedonnert war, hatte es sie für den Moment vergessen lassen. Sie gab dem verdutzten Mädchen das Handy zurück. »Müssen wir nicht hin und versuchen zu helfen?« Sie wollte loslaufen, doch der Mann hielt sie am Arm fest. »Aber wir müssen sie ausgraben«, schrie sie ihn an.
Er schüttelte weiterhin den Kopf. »Wo denn? Sehen Sie sich Ihr Auto an. Es hat nur am Heck etwas abgekommen, und wir mussten trotzdem richtig buddeln. Bleiben Sie. Wir haben weder Schaufeln noch sonst irgendein Gerät. Es wird gleich Hilfe kommen. Professionelle Hilfe.«
Katja nickte. Ihr Retter hatte recht. Selbst zu viert hätten sie keine Chance. Wo sollten sie anfangen zu graben? Der Polizeibus war mit normalem Sicherheitsabstand hinter ihr gefahren, also mindestens zwanzig, dreißig Meter. Die Lawine musste ihn voll getroffen haben. Katja drehte sich wieder zu ihren Rettern um. »Entschuldigung. Wie unmöglich von mir. Ich hab mich überhaupt noch nicht bedankt, dass ihr mich da rausgeholt habt. Ich hatte wirklich Panik. Ich bin Katja. Katja Reichenberger. Ich wollte nach Seefeld. Also eigentlich ... aber ...«
Das erste Mal lächelte auch er. »Holger Koch. Und das sind meine Töchter Hannah und Leah. Wir wollen auch nach Seefeld.«
»Das war wirklich krass. Wir haben uns zuerst gar nicht getraut, wieder zurückzulaufen. Haben Sie nicht die zweite Lawine gehört?«, fragte das Mädchen, dem Katja einfach das Handy aus der Hand gerissen hatte.
»Du bist Hannah?«, fragte Katja. Das Mädchen nickte. »Entschuldige. Ich klaue üblicherweise keine Handys.«
Sie schlang ihren Mantel eng um sich und starrte zum Lawinenfeld. Wie auch die Mädchen und ihr Vater. Alle schwiegen. Sollten sie nicht doch versuchen, zu den Verschütteten vorzudringen? Sie war mit dem Leben davongekommen. Hoffentlich würden das auch die Insassen der übrigen Fahrzeuge.
Das Handy gab summend das Signal für eine eingegangene SMS von sich. Die Bergwacht Kochel schlug Alarm. Es wunderte Jens Geissler nicht, denn seit Tagen waren er und die Bergwachten Bayerns in Habachtstellung. Ständig hatten sie die Gegend rund um das Eschenleinetal, die Walchseeberge, den Jochberg und den Herzogstein kontrolliert, aber bislang waren alle Stellen als unbedenklich einzustufen.
Er rief die Zentrale an und erhielt die Informationen, die über den Notruf eines Autofahrers hereingekommen waren. Nun war also doch eine Lawine abgegangen, quasi direkt vor seiner Haustür, auf der B11, und hatte offenbar Fahrzeuge unter sich begraben. Da wurden nicht nur alle verfügbaren Bereitschaften mobilisiert, sondern es mussten alle Männer ran, die irgendwie greifbar waren. Jens zog sich an, griff seine Ausrüstung und binnen Minuten war er mit seinem Dienstfahrzeug, einem Geländewagen der Bergwacht, die Straße von Grahmried hoch zur B11 gefahren. Kaum war er in die Bundesstraße eingebogen, traf er auf einen am Straßenrand haltenden Range Rover. Er stoppte. Ein Mann und drei Frauen standen am Fahrzeug. Sie blickten ihm mit tiefernsten Gesichtern entgegen und froren offensichtlich.
Jens hielt an und stieg aus. »Haben Sie den Notruf abgesetzt?«
Eine der Frauen nickte und hielt sich das linke Handgelenk. Sie war zwar deutlich älter als die Zwillingsschwestern, aber deren Mutter konnte sie nicht sein. Ihr hübsches Gesicht unter einer stahlblauen Wollmütze wirkte blass und er meinte, Spuren von Tränen in ihrem schmalen Gesicht zu sehen.
»Sind Sie verletzt?«
»Ich weiß nicht. Meine Hand. Aber ist nicht schlimm. Nur hinter uns ...« Sie zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Jens war ihren Blicken gefolgt und erschrak. Jetzt war ihm klar, warum die junge Frau so mitgenommen wirkte. Sie war die Fahrerin des Jeeps, der da im Schneeberg auf der Fahrbahn steckte, als habe ihn jemand als Mund oder Nase eines Schneemannes hineingesteckt. »Das ist Ihr Fahrzeug?«
Sie nickte. »Ich habe den Schlüssel stecken gelassen.«
»Wir kümmern uns drum.« Jens sah prüfend die Felswand empor. Hier, wo der Range Rover stand, waren sie erst einmal sicher. »Bitte bleiben Sie noch beim Fahrzeug. Ich muss zunächst die Lage mit den Kollegen besprechen.«
»Welche Kollegen? Unser Notruf ist mindestens schon zehn Minuten her und bisher sind Sie der Einzige. Die Menschen, die da drunter stecken ... Da zählt doch jede Minute«, sagte der Mann, offenbar der Vater der Mädchen, mit einer Stimme, die erkennen ließ, dass er gewohnt zu sein schien, Anweisungen zu geben oder Rechenschaft zu verlangen. Auch sonst wirkte der Mann selbstbewusst, fast arrogant. Jens schrieb es der Aufregung zu und lächelte ihn an.
»Solange wir nicht wissen, ob weitere Lawinen abgehen könnten, dürfen die Rettungsfahrzeuge die Sperre nicht passieren. Niemandem ist damit gedient, hier bald noch mehr Verschüttete zu haben. Ich bin nur schon hier, weil ich aus dem Dorf dort unten komme.« Er wies in Richtung der Straßeneinmündung. »Bitte erinnern Sie sich genau. Es ist sehr wichtig. Haben Sie noch weitere Fahrzeuge hinter sich bemerkt? Sie haben von zwei Lawinen gesprochen? Sind beide an der gleichen Stelle niedergegangen?«
Der Mann nickte. »Ganz sicher. Meine Töchter und ich haben die zweite gesehen, als wir zu Frau Reichenberger zurückgerannt sind. Aber es war sehr viel weniger Schnee als bei der ersten«, gab er Auskunft, nun viel freundlicher.
»Ich habe nichts mitbekommen. Ich war in ziemlicher Panik, weil ich nicht aussteigen konnte. Und hinter mir habe ich nur den Polizeiwagen gesehen. Aber bei den vielen Kurven ...«, erklärte die Fahrerin des verunglückten Jeeps.
»Vielen Dank. Brauchen Sie ärztliche Hilfe? Decken? Was ist mit euch?« Jens zeigte auf die Mädchen.
Sie schüttelten den Kopf. »Gibt es in Ihrem Dorf einen Gasthof, wo wir uns von dem Schrecken erholen können?«, fragte der Mann.
»Wir haben sogar zwei Gasthöfe in Grahmried. Aber ich möchte Sie bitten, noch zu warten, bis wir gewährleisten können, dass Sie sicher dort runterfahren können. Ein Kollege der Polizei wird Sie dann begleiten. Ich muss jetzt zur Einsatzleitung.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg Jens in sein Auto, wendete und fuhr in Richtung Walchensee. Hinter der Kurve, kaum einen Kilometer von der Unglücksstelle entfernt, sah er bereits zwei Polizeifahrzeuge und eines vom Straßenbauamt stehen. Ein Rettungswagen des Deutschen Roten Kreuzes näherte sich in diesem Moment und fuhr bis dicht an die Absperrung heran. Hinter ihm trafen mehrere zivile Fahrzeuge und zwei von der Bergwacht ein.
Jens erkannte Peter und Xaver. Beide waren Mitglieder der Lawinenkommission. Peter zudem Bergführer bei der Polizei.
»So ein Mist verdammter. Die Sperrung ist grad vor einer halben Stund beschlossen worden.« Mit diesen Worten begrüßte ihn Xaver.
»Bist von Grahmried hochgekommen. Und?«, fragte Peter. Jens berichtete, was er bisher gesehen und erfahren hatte. »Was sagt die ILS?«, fragte er. »Können wir bis ran ans Lawinenfeld?« Die integrierte Leitstelle Oberland war das oberste Entscheidungsgremium. Aber letztlich musste doch hier vor Ort von der Einsatzleitung entschieden werden. Die Sicherheit der Rettungskräfte war schließlich oberstes Gebot.
»Die Hubschrauber können wegen dem Sturm nicht fliegen. Wir wissen nicht, wie's da oben ausschaut. Für den Verkehr bleibt die Sperrung auf jeden Fall. Wir haben auch schon Urfeld/Walchensee zugemacht, falls der Sturm sich noch mal dreht. Der Ferdinand und ich gehen gleich mal los und gucken uns die Wände an«, antwortete Xaver.
»Ich denke, es ist schon alles runtergekommen«, vermutete Jens.
Xaver nickte und sah erneut nach oben. »Lang dauert's nicht mehr, dann wird's Nacht. Fordert's schon mal die Feuerwehr an. Könnt ja was von einer Ölspur erzählen«, rief er zurück zu einem der Polizisten. Die Feuerwehr war für einen Lawinenabgang nicht zuständig, aber sie hatten auf ihren Fahrzeugen wesentlich stärkere Suchscheinwerfer als sie auf ihren Autos der Bergwacht. Es konnte nichts schaden, nachher ein wenig Licht zu haben. Und für die Beseitigung einer Ölspur, da mussten sie kommen.
Jens grinste Xaver an und trat zu den Kollegen von der Polizei. Einer von ihnen war Heinrich. Er wohnte ebenfalls in Grahmried, dem Dorf, das nun im Bereich der Sperrung lag. »Kannst gleich mal die vier Leute von der Straße mit ins Dorf nehmen? Ich glaub, die frieren sich langsam den Arsch ab, und ich glaub nicht, dass die heut noch weiterfahren wollen. Die Frau hat sich auch die Hand verletzt. Kannst sie beim Doktor vorbeischicken.«
»Klar, mach ich. Für uns ist hier nicht mehr viel zu tun«, antwortete Heinrich, den die Hoffnung, heute überraschend schnell wieder daheim sein zu können, über das ganze Gesicht lachen ließ. Verständlich, denn während Jens und seine Kollegen auf dem Berg schufteten und ihnen mit dem Schuhwerk und ihrer Kleidung selten dabei kalt wurde, mussten die armen Kollegen von der Polizei, die nicht zur Bergtruppe gehörten, meist stundenlang irgendwo in der Kälte stehen, genervte Autofahrer umleiten, Sanitäts- und Bergungsfahrzeuge dirigieren und ansonsten warten, bis die jeweiligen Retter ihre Arbeit getan hatten. Das war bei den Unfällen auf den Autobahnen oder auf breiten Straßen so und hier in den Bergen erst recht.
Xaver und Ferdinand kehrten zurück und besprachen sich mit den Kollegen von der Polizei. Gemeinsam entschieden sie, dass die Bergretter bis zur Lawine vorfahren und mit ihrer Arbeit beginnen durften. Sanitäter und die Polizeikräfte sollten zunächst hier an der Absperrung warten. »Dass die Nassschneelawine überhaupt einer überlebt hat, glaub ich kaum. Beginnt mit einer Grobsondierung im Bereich der Straße. Vielleicht sein's an der Leitplanke festgehalten worden«, wies Xaver seine Kollegen an.
Die Einsatzkräfte der Bergwacht passierten die beiseitegeschaffte Absperrung und auch Jens machte sich auf den Rückweg zur Unglücksstelle. Binnen weniger Momente herrschte betriebsame Hektik. Sondierungsstäbe, Rucksäcke und Schaufeln wurden herausgeholt und Männer und Frauen bestiegen den Lawinenhügel. Weitere Fahrzeuge waren angekommen und kurze Zeit später schritten mindestens 20 Frauen und Männer in geordneten Reihen über den Schnee und steckten in kurzen Abständen lange dünne Stäbe vor sich in den Schnee.
»Habt ihr schon was?«, fragte Jens, als er seine Kollegen erreichte. Obwohl die Ortungsstangen zwei Meter fünfzig maßen, reichten sie nicht bis auf die Fahrbahn, so hoch lag der Lawinenschnee. Aber sie müssten mit den Stangen doch mindestens die Karosserie eines Fahrzeuges treffen.
»Bisher nicht. Offenbar hat's sie über die Leitplanke mitgerissen«, antwortete einer von ihnen.
Kein Wunder, dachte Jens, als er oben auf dem Lawinenhügel ankommend das Ausmaß der Lawine abschätzen konnte. Auf einer Breite von mindestens 200 Metern war die Bundesstraße verschüttet worden. Die Lawine hatte auch Geröll mit heruntergerissen, was Jens an den frischen Abbruchspuren der Felswände feststellen konnte. Keine guten Aussichten für die Fahrzeuge, die vielleicht von ihnen getroffen worden waren. Die Lawine hatte auf der Talseite der Straße eine breite Schneise in den Wald geschlagen. Jens bezweifelte, dass unter ihr noch ein einziger Baum stehen geblieben war. An den Randbereichen links und rechts lagen abgebrochene Tannen quer zwischen den Baumnachbarn, die verschont geblieben waren. Eine Nassschneelawine zerstörte alles, was sich ihr in den Weg stellte. Man könnte auch einen Fluss aus Betonquadern den Berg herunterschicken. Er würde nicht mehr Schäden anrichten. Jens hatte Zweifel, dass ein Fahrzeug diese Krafteinwirkungen überstehen konnte. Und selbst wenn, und vorausgesetzt, die Insassen hätten überlebt: Es blieb Atemluft für nicht viel mehr als eine Stunde. Eine unmögliche Aufgabe für die Bergwacht, sie innerhalb dieser Zeit ohne weitere Hinweise zu finden. Die ersten der Kollegen waren bereits auf dem Lawinenkegel in Richtung Tal vorgegangen, um nach optischen Hinweisen zu suchen: herausragende oder abgerissene Autoteile. Wenn sie die nicht fanden, müsste die Suche abgebrochen werden.
»Jens, kommst' mal bitte«, rief Peter. »Kannst mal rüber auf die andere Seite gehen und den Polizeikollegen Dampf machen? Es scheint immer noch nicht klar zu sein, wie viele Fahrzeuge es getroffen hat«, forderte Peter ihn auf. Auf seinen Schneeschuhen überquerte Jens rasch die Lawinenzone und traf auf der anderen Seite der verschütteten Straße auf zwei uniformierte Polizisten, die gemeinsam mit den Sanitätern am Notarztwagen standen und sich unterhielten. Alle Autofahrer auf dieser Seite hatten also noch rechtzeitig anhalten können. So hoffte Jens wenigstens.
»Die einen schwören, der Letzte, der schon drinnen war, sei der Polizeibus gewesen. Aber die da«, der Polizist zeigte auf eine Familie in einem roten Opel, »behaupten, dass sie die ganze Zeit hinter dem Polizeiauto hergefahren seien, bis ein anderer Bus, grau oder schwarz, irgendein japanisches Fabrikat, sie vor ein paar Kilometern angeblich überholt hätte. Und der sei nun nirgends mehr zu sehen. Also müsste auch der verschüttet sein«, klärte einer der Beamten Jens auf.
»Aber weitere Fahrzeuge sind ausgeschlossen?«
Die Polizisten nickten.
»Gibt es noch mehr Zeugen des Abgangs?«
»Gab's. Aber die sind schon umgekehrt und nach Kochel zurück.«
»Und ihr habt sie gehen lassen?«
»Ja mei, sollten wir sie festbinden, oder was? Die haben nix gesehen. Kamen um die Kurve und da standen die anderen schon.«
Jens war wütend. Wenn auch nur der leiseste Verdacht bestand, dass es weitere Verschüttete gab, mussten sie weitersuchen. Notfalls bis zum Morgengrauen. Er kannte die Kollegen. Selbst wenn sie abbrechen durften oder sollten, wollte das keiner von ihnen, bis wirklich alle Chancen verstrichen waren, die Verschütteten lebend zu finden. Grad deshalb machten sie schließlich diesen ehrenamtlichen Job und übten Jahr für Jahr den Notfall. Zugegeben, einen Lawinenabgang auf Fahrzeuge hatte es seit ewigen Zeiten nicht mehr gegeben, jedenfalls nicht, seit er bei der Bergwacht war. Die bayerischen Lawinenkommissionen machten gute Arbeit und beim leisesten Verdacht wurden alle betroffenen Straßen schon im Vorfeld gesperrt. Doch für den Moment nutzten diese Überlegungen überhaupt nichts. Denn nun war er da, der Ernstfall wider alle Erwartung, und statt für Klarheit zu sorgen, hatten die Polizisten nichts Besseres zu tun, als zu quatschen. Vielleicht waren auch andere Zeugen von dem unbekannten dritten Fahrzeug überholt worden. Er wandte sich um, um selbst noch einmal die Insassen der beiden Fahrzeuge, die noch am Unfallort geblieben waren, zu befragen. Er wollte ihnen gerade erklären, welche Wichtigkeit auch der kleinsten ihrer Beobachtungen zukam, als er ein Signal und das Rufen der Kollegen auf dem Lawinenfeld nur wenige Meter von ihm entfernt hörte. Sie hatten etwas gefunden.
Schon im Laufen rief er den Polizisten zu: »Befragt die Leute noch mal. Wir müssen wissen, wie viele wir suchen. Strengt euch mal ein bisschen an.«
Wenigstens die Sanitäter zeigten jetzt Engagement und griffen nach ihren Unfallkoffern und traten dichter an das Schneefeld heran. Jens stürmte zu den Kollegen. Die waren bereits kräftig beim Graben. Auf jeder Seite des Fahrzeuges, dessen Dachfläche bereits zu sehen war, bildeten sie je eine Sechserlinie und jeder schippte den Schnee seines Vordermannes weiter zum nächsten Helfer. So dauerte es nur Minuten, bis sie die Seitenscheiben des Fahrzeuges freigelegt hatten.
»Wir brauchen Licht«, schrie einer der Helfer von der Fahrerseite des Fahrzeuges.
»Die Beifahrerseite ist blockiert. Es hat sie an die Randsteine gedrückt«, meldete ein Helfer von der anderen Seite.
Binnen kurzer Zeit waren die Kollegen zur Stelle und leuchteten mit großen Handlampen in das Innere des Fahrzeuges. Verängstigte Gesichter eines jungen Paares sahen den Rettern entgegen. Mit Fingerzeichen deuteten die Helfer dem jungen Fahrer an, die Scheibe zu öffnen, sofern die Zündung des Autos noch funktionierte. Er drehte den Zündschlüssel und deutliches Erleichtern war in den Gesichtern auf beiden Seiten zu sehen, als sich das Fenster nach unten bewegte. Glücklich ließen sich der junge Mann und seine Partnerin von den Helfern durch das Fenster herausziehen. Sie standen unter Schock, waren aber unverletzt geblieben und wurden über den Schnee zu den Sanitätern geführt.
Die können heut noch einmal Geburtstag feiern, dachte Jens. »Weiter geht's. Los marsch! Es fehlt noch das Fahrzeug der Polizeikollegen.«
Inzwischen hatten viele Helfer Lampen in ihren Händen, denn es war beinahe dunkel geworden. Obwohl der Schnee viel Helligkeit abgab, suchten sie mit den Taschenlampen nach Hinweisen auf der Oberfläche der Lawine außerhalb des Straßenverlaufs, Autoteile, die vielleicht das Licht reflektierten.
»Sie sind weiter unten«, mutmaßte Peter. »Es muss sie genau die Hauptlast der Lawine getroffen haben. Die Feuerwehr soll so weit ausleuchten, wie es geht! Wenn wir nicht bald etwas finden, können wir einpacken.«
Jens sah zum Himmel. Es hatte aufgehört zu schneien. Das erste Mal am heutigen Tag. Doch der Sturm hielt unverändert an. Auf Unterstützung aus der Luft durften sie also nach wie vor nicht hoffen. Er nickte. »Sieht verdammt schlecht aus, wenn wir sie nicht bald finden.«
Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, als er Xaver von weit unten rufen hörte. Alle Retter bewegten sich in die Richtung, aus der die Stimme kam, an den rechten Rand des Lawinenkegels. Jens sah nichts. Erst, als er näher kam, entdeckte er, was seine Kollegen gefunden hatten. Die Schnauze eines Fahrzeuges ragte zwischen den Bäumen gen Himmel wie ein senkrecht in den Schnee gestecktes Spielzeugauto. Ein Spielzeugauto, das schon viele Kinderhände durchlaufen hatte. Denn es war zerbeult und zerschrammt. Wie ein halb geöffneter Mund gab die zerdrückte Motorhaube ihren schwarzen Inhalt preis. Durch das Fenster der Fahrerseite stak, mit der Spitze voran, eine Tanne. Die helle Bruchstelle ihres Baumstammes zeichnete sich deutlich ab. Die meisten Äste hatte sie verloren und wirkte wie das Gerippe eines ausgedienten Weihnachtsbaumes.
Jens hatte in diesem Moment nicht die geringste Ahnung, wie sie an die Insassen des Fahrzeuges gelangen sollten, denn hier am Rand der Lawine mussten die Retter besonders vorsichtig sein. Unter Bäumen, ihren Ästen und unter Felsen konnten sich Hohlräume gebildet haben, die man von oben nicht sah. Peter, der neben ihm heruntergelaufen war, schien das Gleiche zu denken. So schnell er konnte, lief Jens zu den anderen. Aus dem Inneren des Fahrzeuges hörte er eine Frauenstimme um Hilfe schreien. Erst sah er nur Hände. Blutverschmiert hinterließen sie rote Spuren auf der Scheibe der Beifahrertür. Dann beugte sich ihr Kopf vor. Auch die Stirn der jungen Frau war blutverschmiert. Aber immerhin schien die Insassin soweit bei Bewusstsein zu sein, dass sie beobachtete, was um sie herum geschah. »Bleiben Sie ganz ruhig. Wir helfen Ihnen. Wir holen Sie da raus«, rief Jens zu ihr hoch. Auch Peter zeigte den Daumen nach oben und winkte ihr aufmunternd zu. Er winkte einige der Bergwachtmänner zu sich und stieg mit ihnen vom Lawinenfeld zur Seite hinunter. Der Motor des verunglückten Fahrzeuges war aus, deshalb konnte die Frau die Scheibe nicht öffnen. Außerdem schien die Tür stark demoliert, soweit man es nach dem aus den Schneemassen herausragenden Teil beurteilen konnte. Vielleicht ganz gut, dass die verletzte Frau die Tür nicht öffnen konnte. Die Lawine hatte den Wagen, wahrscheinlich gemeinsam mit den Bäumen, die das Fahrzeug zunächst im Sturz aufgehalten hatten, zum Rand ihres Kegels geschoben. Das Gewicht des nassen Schnees vom Lawinenkegel drückte wesentlich stärker auf die Fahrerseite als der eher spärliche Rest des Schnees, der das Auto von der Beifahrerseite her bedeckte. Sie könnten ihn wegschaufeln, aber jede Verstärkung des Ungleichgewichtes würde das Fahrzeug womöglich zum Absturz aus seinen lichten Höhen bringen. Und das bedeutete für das Vorderteil des Wagens immerhin mindestens zwei Meter. »Und wenn einer von uns ein Seil am Abschlepphaken befestigt und wir das Auto mit einer Winde nach oben sichern?«, fragte eine Kollegin.
»Und den Kollegen oder die Kollegin, die das Seil anbringen sollen, einstürzen lassen?«, fragte ein anderer Bergwachtmann zurück, doch die Frau wollte ihre Idee nicht aufgeben. »Dann sichern wir ihn ebenfalls und beim kleinsten Nachgeben ziehen wir ihn oder sie zurück.« Einige der Helfer nickten. Xaver, der die Gruppe inzwischen ebenfalls erreicht hatte, widersprach. »Wie soll das Fahrzeug der Feuerwehr so dicht rankommen, dass das Seil der Winde reicht? Die Bulldozer, die die Straße freiräumen, werden frühestens morgen eingesetzt und nicht jetzt über Nacht.«
Jens sah zur Straße hoch. »Die Straße macht eine Kurve zur Talseite. Wenn wir das Seil hier quer durchkriegen, könnt's reichen. Außerdem könnten die Radlader und Bulldozer schon angefordert werden. Wir wissen ja jetzt, dass im Bereich der Straße keiner mehr liegt.« Er zeigte schräg durch die Baumreihen zur Straße hoch. Xaver und Peter überlegten. »Einen Versuch wär's wert«, antwortete Xaver.
»Nein!«, widersprach Peter energisch. »Die Fallrichtung wäre trotz Seilsicherung genau auf die Kollegen, die bergauf vor dem Fahrzeug graben. So schnell können die oben gar nicht die Winde anschmeißen.«
»Und wenn wir es erst so weit rausziehen, bis der Wagen festen Untergrund hat?«, schlug ein anderer Kollege vor.
»Nein. Wir fangen's talwärts hinter dem Bus an und sichern die Kollegen jeweils mit Seilen. So weit vorn wie der Schwerpunkt des Fahrzeuges liegen tut, kann's zumindest nicht auf unsere Leute fallen. Selbst, wenn's einbricht, rückwärts fällt's nimmer.«
Helfer folgten Xavers gestikulierenden Händen. Einige nickten zustimmend, andere begannen bereits mit dem Aufstieg zurück auf das Lawinenfeld. Peter klopfte Xaver anerkennend auf die Schulter.
Jens folgte den beiden, und als er mit Seilen gesichert hinter dem Polizeibus angelangt war, setzte er seinen Spaten zusammen und reihte sich in die übrigen schaufelnden Kollegen ein. Jens war sich sicher, dass sie mit Xavers Vorschlag Erfolg haben würden. Nur, dass sie den Fahrer lebend bergen würden, das glaubte er nicht. Man musste sich nur ansehen, wie weit das Baumgerippe durch die Scheibe geschoben worden war, um die Wucht dahinter zu ahnen. Jens mochte sich nicht vorstellen, wie der Fahrer jetzt wohl aussah.
Die Wartezeit am Auto wurde quälend lang. In Katjas Kopf geisterten Bilder von Verschütteten umher, deren Luft knapp wurde oder die von Teilen ihres eigenen Autos zermalmt worden waren, das jetzt ihren Sarg bildete. Ein Sarg, statt in Erde im Schnee begraben. Sie war froh, dass die Retter endlich mit ihrer Arbeit begonnen hatten. Handeln, und war es noch so aussichtslos, ließ einen die Ohnmacht des Wartens nicht mehr so stark fühlen. Ihr Handgelenk schmerzte immer stärker und ihre Hosenbeine, die Schuhe und selbst die Haare unter der Mütze waren vom anhaltenden Schneeregen völlig durchnässt. Auch Holger stand mit vor dem Oberkörper gekreuzten Armen da und rieb mit den Händen seine Oberarme. Die Zwillinge hatten sich in das wärmere Fahrzeuginnere zurückgezogen und sahen durchs Fenster neugierig den Aktivitäten zu.