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Mord auf Bayrisch.
Ausgerechnet beim Holzhacken findet Kommissar Korbinian Eyrainer einen Toten: mit der Mistgabel an einen Baum genagelt. Bei dem Mordopfer handelt es sich um einen der zwielichtigen Eder-Brüder. Der Bruder des Toten macht sich verdächtig, indem er noch in derselben Nacht flieht. Als ein zweiter Mord geschieht, wird die Lage für Eyrainer langsam prekär. Denn an sich ist der Grenzgau ein ruhiges Fleckerl. Obendrein kommt ihm jemand in die Quere: Dorfbulle Schorsch Wammetsberger hat ein sehr persönliches Interesse an dem mysteriösen Fall. Seine Frau Elfriede ist die Nichte des Ermordeten ...
Weißblau und wild – ein Alpenkrimi mit skurrilem Personal.
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Seitenzahl: 540
Hans-Peter Dinesh Bauer, Jahrgang 1963, stammt aus der Nähe von Bad Tölz. Er hat über fünfundzwanzig Jahre als Journalist für Presse und Fernsehen gearbeitet. Er lebt in München und im Tölzer Land. Sein Bayern-Krimi »Toter Winkel« ist eine Liebeserklärung an das weiß-blaue Land vor den Bergen.
Mord auf Bayrisch
Ausgerechnet beim Holzhacken findet Kommissar Korbinian Eyrainer einen Toten: mit der Mistgabel an einen Baum genagelt. Bei dem Mordopfer handelt es sich um einen der zwielichtigen Eder-Brüder. Der Bruder des Toten macht sich verdächtig, indem er noch in derselben Nacht flieht. Als ein zweiter Mord geschieht, wird die Lage für Eyrainer langsam prekär. Denn an sich ist der Grenzgau ein ruhiges Fleckerl. Obendrein kommt ihm jemand in die Quere: Dorfbulle Schorsch Wammetsberger hat ein sehr persönliches Interesse an dem mysteriösen Fall. Seine Frau Elfriede ist die Nichte des Ermordeten.
Weißblau und wild – ein Alpenkrimi mit skurrilem Personal
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Dinesh Bauer
Toter Winkel
Ein Alpen-Krimi
Dieser Roman ist meinen Lesern gewidmet.
Mein besonderer Dank gilt meinem emsigen Script-Girl Anja.
Inhaltsübersicht
Über Hans-Peter Dinesh Bauer
Informationen zum Buch
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Die handelnden Personen
Ora pro nobis
Genius Loci
Finis Coronat Opus
Nox est perpetua
Rigor Mortis
Memento Mori
Longe fugit, qui suos fugit
Pecunia non olet
Lux in tenebris
Idem ius omnibus
Ignis aurum probat
Corpus Delicti
Veni, vidi, vici
In pluribus unum
Hic Rhodos, hic salta
Pereat Mundus
Mors Mortis
Bavaria omnia vincit
Mons Dei, mons pinguis
Sic semper tyrannis
Veritas temporis filia
Si vis pacem para bellum
Primus inter aves
In dubio pro reo
Epilog – Ante Mortem
Anmerkungen
Impressum
Korbinian Eyrainer, Hauptkommissar der Kripo Grenzberg
Albert »Bertl« Lehnleitner, Kommissar, sein erster Assistent
Leonhard »Hartl« Harthofer, Kriminalobermeister, sein zweiter Assistent
Georg »Schorsch« Wammetsberger, Polizeihauptmeister in Bad Brennbruck
Elfriede Wammetsberger, seine Gemahlin
Franz Xaver »Xarre« Gschwandtner, Polizeiobermeister in Bad Brennbruck
Ignaz Irgl, Polizeihauptmeister, Wammetsbergers Spezl
Leo »Che« Wildbichler, Wilderer-Sproß und Anführer einer Truppe Gamsbart-Guerilleros
Sixtus Eder, Höllhof-Bauer
Sebald Eder, sein jüngerer Bruder
Matthias »Hias« Griesböck, Loth-Bauer, deren Nachbar
Maria »Tante Marie« Konz, Tante der Gebrüder Eder
Maurus Konz junior, ihr Sohn
Bruno Brenner, Großneffe der Gebrüder Eder
Anian Gruber, Sensations-Reporter beim Lokalsender GAU-TV
Jakob »Jackl« Walderer, berühmt-berüchtigter Wilddieb des 19. Jahrhunderts, Begründer einer geheimen Bruderschaft
Sepp Finsterwalder, Großunternehmer, Lokalpolitiker und Bayern-Oligarch
Franz Leitgeb, dessen rechte Hand
»Wenn der Herrgott mag, ist morgen a no a Tag.«
»Hockt’s euch hehra, samma mehra.«
Es war April, und das Wetter war ganz danach. Den Tag und die Nacht zuvor hatte es wie aus Gießkannen geschüttet, doch nun spitzte die Morgensonne zwischen den Wolken hervor, die der Wind auf wattierten Flügeln davontrug. Ja, es war Frühjahr, und die Menschen im Grenzgau waren froh, dass der Winter für dieses Jahr Geschichte war. Der Drang raus in Forst und Flur lag den Bergbewohnern in den Genen. Seit Generationen folgten sie dem Ruf der Wildnis. Gamsbart am Hut, zwei Promille im Blut. So auch an diesem Sonntagmorgen. Bei jedem Restalkohol-Contest wären die beiden Insassen des metallicgrünen BMW 5er Gran Turismo in der Spitzengruppe gelandet. Werte jenseits der Zweipromillegrenze reichten jedenfalls, um ins Finale zu kommen. Gut, dass am Tag des Herrn um kurz nach sieben nirgendwo Verkehrskontrollen anstanden. Das hatte Korbinian Eyrainer vor Antritt der Fahrt noch rasch im internen Netzwerk der bayerischen Polizei POLIS gecheckt. Der Hauptkommissar bei der Kripo Grenzberg verspürte nämlich nicht das geringste Bedürfnis, durch einen dummen Zufall von einem übereifrigen Streifenpolizisten zum Bluttest geschleift zu werden. Selbst wenn er nicht hinterm Steuer saß, schien es ihm ratsam, dass seine außerdienstlichen Eskapaden nicht publik wurden. In Bayern galt Bier zwar als Grundnahrungsmittel, doch in seiner Stellung musste er ab einer bestimmten Promille-Obergrenze mit Sanktionen und Disziplinarmaßnahmen rechnen, ja um Ansehen und Karriere fürchten. Und wenn er die wie im Zeitraffer am Beifahrerfenster vorbeihuschende Voralpenlandschaft betrachtete, auch um sein Leben. So ihm seine sieben Sinne keinen Streich spielten, war ihre Edellimousine made in Bavaria eben auf quietschenden Breitreifen der ab Werk montierten Marke Goodyear Excellence durch Griebharting geschlittert, um nun auf Tempo hundertvierzig zu beschleunigen. Sein benebeltes Hirn stellte nüchtern fest: Das war zu schnell, es war in keiner Weise den Straßenverhältnissen angepasst! Wollte er nicht im Graben oder im Grab landen, musste er jetzt hart durchgreifen.
»Hast du vom Schuhmacher den Führerschein? Oder warum rast du wie ein Irrer?«
In dem schwarz gepolsterten Ledersitz neben ihm kauerte Alfons »Al« Aufhammer. Sein umnachteter Blutwurz-Blick war stier und stur nach vorne gerichtet. Eyrainer bezweifelte jedoch, dass sein »unter Droge« stehender Saufkumpan es mitkriegen würde, falls vor ihnen auf der Straße ein Hindernis in Form einer Gruppe Fahrradfahrer oder einer Rotte Wildschweine auftauchen sollte.
Al lallte nur: »Wer schneller fährt, ist früher da!«
»Und länger tot«, ergänzte Eyrainer mit trockenem Galgenhumor.
Aus den sündteuren Bang & Olufsen-Boxen und Sub-Woofern dudelten folkloristisch-alpenländische Klänge in schier unerträglicher Penetranz. »Ja, mir san halt die lustigen Holzhackerbuam, hollereieiho hollereieiho. Wir fällen das Holz und jodeln dazua hollereiei ritirieiho.«
Eyrainers Goût in Dur und Moll war nicht sonderlich sublim oder verfeinert, es musste beileibe kein Wagner oder ein Zwölftöner sein, doch dieser Holzhacker-Dancefloormix war absolut unterm Limit. »Wenn du jetzt nicht sofort eine andere Mucke einlegst und auf die Bremse trittst, ziehe ich die Reißleine, kapiert?«
Zu seinem Erstaunen gehorchte Aufhammer aufs Wort, reduzierte die Geschwindigkeit drastisch und erkundigte sich willfährig: »Was willst denn hören, Korbi? Die meisten CDs sind von der Kathi – und die mag es gern eingängig und einfühlsam, so was Gefühlvolles eben«, brabbelte ihr auf Abwege geratener Herzbube. Kathi – brünett und adrett – war Als neueste Flamme.
Dem Kommissar schwante Schlimmes. Ihm stand der Sinn nach Bon Scotts versoffenem Falsett, nach Highway to Hell. Doch Kathi war offensichtlich kein Fan von AC/DC. Übellaunig kramte er im Handschuhfach. Was ihm da an musikalischen Grausamkeiten in die Hände fiel, ließ ihn sowohl an Als vorgeblicher Passion für »schrägen Schrammel-Sound« als auch an seiner mit obergäriger Obsession zur Schau getragenen Macho-Pose zweifeln: Andrea Berg, Florian Silbereisen, Helene Fischer, Kuschel-Rock II und, um das Maß akustischer Abscheulichkeiten vollzumachen, Hansi Hinterseers Hüttenzauber! Einfach bärig. Kathi – raffiniert und vordergründig unkompliziert – hatte einen Musikgeschmack zum Fürchten.
»Sappralott«, stieß Eyrainer ungläubig hervor: »Das übertrifft alles!«
Al schien geschmeichelt. »Ja, sie mag die sanften Töne, weißt. Sie ist echt lieb und anschmiegsam, bringt mir das Frühstück ans Bett, küsst und streichelt mich und knabbert ihren ›Bärli‹ am Ohr. Da kannt’s nix sagen!«
Eyrainer hatte nicht die geringste Lust, sich am Sonntagmorgen im Halbdelirium über Al Aufhammers Liebesleben zu verbreiten. Er brummte lediglich etwas, das wie »Aha« und »Soso« und zudem ziemlich unwirsch klang.
Endlich entdeckte sein getrübter Habichtsblick unter der Ansammlung kompositorischer Petitessen eine Silberscheibe der Zillertaler Schürzenjäger. Na ja, in der Not fraß der Teufel die Wurst auch ohne Brot. »Hehejo, Hehejo … weit und breit Fröhlichkeit. Schürzenjägerzeit hamma heut!«, klang es in aufgekratzter und hüftmobiler Heiterkeit aus allen Lautsprechern der Innenverkleidung. »Heut is a Tag, so wia i’s mag, und die Stimmung macht uns froh, des is koa Frag, mach oanfach mit, wieso a nit willst du mit uns lustig sein – wir laden alle ein!«
Ja, seine Laune stieg sichtlich, erreichte fast schon Jagatee-Niveau, erinnerte ihn der Sound doch an Piste und Punsch, an die Schlagerschnulzen, die entlang der alpinen Amüsiermeilen wie Lawinendonner aus übersteuerten Bose-Boxen dröhnten. »Heut bin i bei euch, möcht nie mehr geh’n, und vielleicht is des für di genauso schön. Heut sein ma z’samm, wer woass wia lang, aber bald werd’n mir uns alle wiederseh’n!«
Vier Kurven und zwei Kilometer weiter grölten Aufhammer und Eyrainer im Duett der Terror-Tenöre: »Hehejo, Hehejo … weit und breit Fröhlichkeit. Schürzenjägerzeit hamma heut!«
Vor ihnen tauchte die Silhouette des Breitenbergs aus dem Morgennebel auf. Unter der inmitten von Dunstschleiern aufsteigenden Sonne lag ihr Ziel: der Kreuzsteiner Forst.
Ihre extrabreiten Pneus knirschten über Kies und Schotter. Lose Kieselsteine spritzten seitlich davon oder schlugen dumpf gegen das Bodenblech. Die Forststraße war in den Hang geschnitten und senkte sich durch abschüssiges Gelände zu den flachen Schotterterrassen hinab, die sich zu beiden Seiten der Ache in einförmiger Monotonie dehnten. Die Straße führte nun schnurgerade durch eine in regelmäßige Quadraten parzellierte, den Geboten der mechanisierten Forstwirtschaft unterworfenen Einöde. Eine endlose Reihe von Fichten und Föhren stand links und rechts des Wegs Spalier. Dieser Wald sollte nicht das Auge des Wanderers erfreuen, sondern maximalen Ertrag pro Hektar Holz bringen, basta! Die »Best of Schürzenjäger«-CD war gerade beim Timple Boarischen angelangt, als Al anhielt.
»Da muss jetzt gleich links ein Seitenweg abbiegen. Siehst du irgendwo ein hölzernes Hinweisschild mit der Aufschrift Ötz-geräumt?«
»Was sagt denn dein Navi?«, motzte Eyrainer.
»Nix sagt’s, weil es sich hier unten im Wald nicht auskennt!«, maulte Aufhammer muffig.
»So ein Klump! Wenn man das Graffel einmal braucht …« Eyrainer ließ den Satz unvollendet, hatte er doch das an einen Baumstamm genagelte Schild erspäht. »Da müssen wir rein!«, rief er im kategorischen Ton eines Oberpimpfs bei den Pfadfindern.
Der Mittelstreifen des schmalen Seitenwegs war von dichtem Gras überwuchert, zur Abwechslung knackten und splitterten trockene Zweige unter den Reifen. Der Weg machte eine leichte Biegung, und das »Holzfäller-Camp« kam in Sicht. Neben einem Bauwagen wartete ein über und über mit Schlamm bespritzter Lada mit Anhänger darauf, beladen zu werden. Vor einem riesigen, fein säuberlich aufgeschichteten Holzstapel stand ein breitschultriger Hüne in typischer Waldarbeiterkluft: klobige Arbeitsschuhe, dunkelgrüne Schutzhosen, darüber ein überdimensionales Holzfällerhemd im kleinkarierten Karomuster.
Aufhammer drückte zweimal energisch auf die Hupe. »Wenn der Bernie die Motorsäge anwirft, sieht und hört er nix mehr!«, fügte er mit gewichtiger Miene hinzu.
Durch die Hupgeräusche auf den anrollenden Wagen aufmerksam geworden, hielt der bullige Kerl in seiner Arbeit inne und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
Eyrainer pfiff anerkennend durch die Zähne. »Dein Cousin ist ja beinand wie der Schwarzenegger zu Conans Zeiten!«
Al nickte eifrig. »Der Bernie ist der Hammer! Wenn ich diese Sumo-Ringer mit ihren wabbeligen Wänsten im Ring herumtapsen sehe, muss ich bloß lachen. Oder diese Wrestler in ihrem Käfig, lachhaft! Einen wie den Hulk Hogan würde der Bernie so zusammenfallen lassen, dass er die Engel im Himmel in Endlosschleife rückwärts singen hört.«
Der bajuwarische Recke von der Statur eines Grizzlybären legte die Motorsäge auf den Hackstock, nahm den orangeroten Helm mit Schutzvisier ab und kam ein paar Schritte auf sie zu.
Al kurbelte das Fenster herunter. »Servus, Bernie, auch schon auf bei dem Sauwetter? Bist etwa schon fertig mit der Arbeit?«
Bernies Sinn für Humor war weit weniger ausgeprägt als seine Schulterpartien. Und es machte den Anschein, als ob dem wortkargen »Baum-Berserker« jeglicher Sinn für Smalltalk fehlte. »Abgemacht ist abgemacht. Gut zehn Ster müssen heut noch weg! Fichten und Ahorn. Leichte Übung.« Dann deutete er stumm auf den Bauwagen, in dem wohl die nötigen Utensilien und Gerätschaften für die Hobby-Holzfäller lagerten, um anschließend auf eine rund zwei Meter hohe und sechs Meter lange Holzwand zu zeigen. »Rundhölzer, jedes einen Meter lang. Kein Problem für zwei kräftige Mannsbilder wie euch!«
Dann trollte sich der Bär und warf erneut die Motorsäge an. Eyrainer schluckte, überschlug Pi mal Daumen, was da auf ihn zukam. Ein Ster entsprach dem Rauminhalt eines Kubikmeters eng geschichteter Scheite. Eine Menge Holz für einen Fichten- und Lärchen-Laien wie ihn. Er fluchte innerlich. Was für eine Schnapsidee! Und zwar im wortwörtlichen Sinne. Aufhammer hatte ihm am Abend zuvor Obstler um Obstler spendiert, bis er beim fünften Birnbrand per Handschlag eingewilligt hatte, ihm bei der Holzarbeit im Kreuzsteiner Forst zu assistieren. Ungeachtet der frühen Morgenstunde und der strapaziösen Schinderei. Aufhammer hatte ihn gekonnt um den Finger gewickelt. »Ein bisserl Feuerholz mit der Motorsäge kleinschneiden, mit der Axt ein paar Scheite und Späne spalten und in den Hänger schichten. Da is nix dabei, glaub mir! Komm, ich geb dir noch einen aus, Korbi.« Die Schlange hatte ihn wie Eva im Paradiesgarten verführt – und nun stand er unter der Fuchtel dieses Neo-Neandertalers.
Al Aufhammer lehnte die Axt an den Stamm und linste verstohlen auf die Uhr. Acht Uhr fünfundvierzig – für einen Schreibtischhengst wie ihn war es noch früh am Morgen. Morgen um diese Zeit würde ihm seine fesche Sekretärin im hauteng sitzenden Rock und Dirndl-Oberteil einen frisch aufgeschäumten Cappuccino kredenzen. Und dazu kokett lächeln. Und heute? Heute saß er in der bayerischen Variante eines sibirischen Gulags und hieb Buchenklötze klein. Von wegen Fichte, von wegen Ahorn. Das von Wurzelsträngen durchzogene Holz war hart wie karelischer Granit. Nur weil sein Cousin zu puritanisch veranlagt war, um einen Hydraulik-Holzspalter mit Elektromotor und robustem Spaltkeil zu organisieren, durften sie sich hier einen Ast abhacken.
Zwei Meter weiter kämpfte Kripokommissar Korbinian Eyrainer mit den Tücken des faserigen Objekts. Wie ein Kutschknecht schimpfend, klaubte er ein sperriges Trumm Holz von dem mit Sägespänen und Spreißeln besäten Boden und wuchtete es auf den Hackstock. Seit fast zwei Stunden waren sie ununterbrochen am Schuften und schwitzten so erbärmlich wie Schweine auf dem heißen Asphalt. Erschwerend kam hinzu, dass es die Nacht über wie aus Gießkannen geschüttet und sich die Humusschicht des Waldbodens in eine matschige Schlammkruste verwandelt hatte. Der Wald ringsum dampfte förmlich vor Feuchtigkeit. Seine Kleider troffen vor Nässe und Schweiß. Von den Blättern tropfte es beharrlich auf ihn herab. Alfons alias Al Aufhammer hatte die Nase gestrichen voll. Er war nicht zum Proletarier, er war zum Banker geboren. Mit zusammengepressten Zähnen verfluchte er seinen arbeitswütigen Cousin. Wie hatte er diesen Leuteschinder eben noch mit Lobeshymnen preisen können? Wo blieb die versprochene Brotzeit samt Bier und Schnaps? Von einer Rast war indes keine Rede. Bernie gönnte ihnen keine Pause, sondern trieb sie wie ein Aufseher in besagtem sibirischem Straflager unablässig an. »Macht’s hin! Schneller! So wird das nix, ze fix!« Seine knurrigen Kommentare vermengten sich mit dem kreischenden Geheul seiner Motorsäge. Bernie schien die elende Plackerei nicht das Geringste auszumachen. Er werkelte wie ein Besessener, so als ob es darum ginge, die Qualifikationsnorm für die offenen russischen Holzfällermeisterschaften zu erfüllen. Al verspürte keinerlei Ehrgeiz in dieser Richtung, fühlte sich vielmehr ins düsterste Mittelalter zurückversetzt, in eine barbarische Zeit, als seine Vorfahren von brutalen Grundherrn ins Joch gespannt und zu Fron- und Spanndiensten gepresst worden waren.
Bernie Forster, dieser muskelbepackte Grobian mit Oberarmen dick wie alte Eichenäste, kannte kein Erbarmen mit seinen Geäst-Gehilfen und bezichtigte sie obendrein einer laxen, ja levantinischen Arbeitsmoral. »Da ist ja ein Haufen arbeitsscheuer Zigeuner und Batschaken fixer als ihr! Euch Hamperer kann man ja im Gehen die Schuhbandel doppeln!«
Was bildete sich dieser grenzdebile Lodenlackel ein? Nach weiteren fünf schweißtreibenden Minuten schielte Al erneut auf seine Schwarzmarkt-Rolex. Bernie konnte ihn kreuzweise, sollte er sich doch am Stammtisch aufmandeln und ihn als »Schlappschwanz« und »Memme« hinstellen. »Alles muss raus, was keine Miete zahlt. Ich bieg kurz mal ums Eck«, verkündete er nebenher und verdrückte sich ins Unterholz.
Hinter einem Gebüsch verschaffte er seinen Gedärmen Luft, machte danach jedoch nicht die geringsten Anstalten, zu Axt und Hackebeil zurückzukehren. Mit einem hämischen Grinsen trappte er tiefer in den Wald hinein. Schritt um Schritt wurden das Kreischen der Säge und die dumpfen Schläge der Axt leiser. Dem Gulag war er fürs Erste glücklich entronnen. Sein breit ausladender Leib pflügte mit der Wucht eines Ebers im Liebesrausch der Hormone durchs üppig wuchernde Dickicht. Es störte ihn nicht, dass triefnasse Zweige in sein Gesicht klatschten. Ja, es erfrischte ihn.
Aufhammer lehnte sich an einen breiten Baumstamm und zog ein reichlich zerknittertes Zigarillo aus seiner Brusttasche. Ein Relikt des gestrigen Abends, aber wie er nach einer kurzen Inspektion feststellte, noch ganz brauchbar und rauchbar. Er tastete seine Taschen ab, fand in der Innentasche seiner Filzjoppe, was er suchte: eine Schachtel Streichhölzer. Das Streichholz flammte auf und erlosch erst wieder, als die Spitze des Glimmstängels in feurigem Rot erblühte. Den ersten Zug inhalierte er tief und stieß den Rauch in Form winziger Wölkchen aus.
Inmitten von frühlingsfrisch grünenden Zweigen sah er aus den Augenwinkeln etwas, das nicht hierherzugehören schien und in den schräg einfallenden Strahlen der Morgensonne metallisch aufblitzte. Was war das? Eine Reflexion, gewiss. Aber was hatte da das Sonnenlicht reflektiert, eine Glasscherbe, eine in die Äste gehängte CD-Scheibe? Al war Banker und von Haus aus ebenso gierig wie neugierig, und so pirschte er sich näher heran. Mit einer resoluten Handbewegung schob er die herabhängenden Zweige zur Seite, konnte aber auch auf den zweiten Blick nichts Genaueres erkennen. Was, wenn das metallische Ding der Lauf einer Waffe war, die ein Jäger in der Annahme, dass dort eine fette Bache durchs Geäst türmte, eben auf ihn richtete? Ihm wurde mulmig zumute. Er verhielt seine Schritte und lauschte angestrengt. Doch nichts regte, nichts bewegte sich. Nach einer sich schier endlos dehnenden Minute war er sicher, dass da draußen kein Jäger mit dem Schießgewehr kauerte.
Seine Neugier gewann wieder die Oberhand. Wie ein Sioux-Späher schlich er sich an. Langsam rückte ein halb von einer dicken Buche verborgener Gegenstand in sein Blickfeld. Form und Gestalt desselbigen ließen sich nicht sofort einem bestimmten, in seinem Gedächtnis gespeicherten Muster oder Schema zuordnen. Eine schreckliche Ahnung stieg wie brennende Lava in ihm auf, ließ sein Herz hämmern, seinen Puls rasen. Das Erste, was er von dem Toten sah, war ein schlaff herabhängender Arm. Ein einziger panischer Gedanke pulsierte durch sein Hirn und flutete seine Adern mit Adrenalin: Verdammt, der Typ ist tot. Ermordet. Und was, wenn der Mörder noch in der Nähe war?, schoss es ihm durch den Kopf.
Mit der Panik kam die Angst. Das Nächste, was er mehr oder weniger bewusst wahrnahm, war die Mistgabel, deren Zinken tief in der Brust des Toten steckten. Kein Zweifel: Der Mörder war ein Irrer, ein bayrischer Freddy Krueger, der im Kraxensteiner Forst sein Unwesen trieb.
Aufhammers Gedanken liefen Amok, seine Hirnzellen jagten widersprüchliche Befehle durch die Neurotransmitter. Um ihn herum verwirbelten Fluchtgedanken, aber da war auch eine atavistische Neugier, dem Tod ins Auge zu blicken. Wie paralysiert stand er da, unfähig, eine Entscheidung zu treffen.
Plötzlich aber wusste er, was zu tun war: Al schrie aus Leibeskräften, so schrill, laut und durchdringend, wie er seit der Sekunde seiner Geburt nicht mehr geschrien hatte. »Kurbi, Bernie! Kommt’s! Schnell! Da liegt einer, der lebt nimmer!«
Aufhammer taumelte rückwärts, stützte sich mit seiner Rechten an der rauen Borke der Buche ab. Ihm war plötzlich schwindlig. Von irgendwoher hörte er aufgeregte Stimmen, hörte das Knacken und Brechen von Zweigen, hörte ein vielfach verzerrtes Rufen. »Fonsä, Al, wo steckst du?«
Statt eines weiteren Schreckensschreis brachte er nur mehr ein heiseres Krächzen hervor. »Hier bin ich! Hierher!«
Wie aus einer Nebelwand tauchten vor ihm zwei Gesichter auf, die ihm entfernt bekannt vorkamen.
»Was ist passiert? Hast du jemand gesehen?«, drängte Eyrainer mit der schneidenden Schärfe eines Ermittlers, der einen Augenzeugen befragte. »Ist dir was aufgefallen, irgendwas?«
In einer mechanischen Bewegung schüttelte Aufhammer den Kopf. Er vermeinte das Klacken eines Schalters zu hören, der umgelegt wurde, um das Logikprogramm seines Verstands zu reaktivieren.
»Nein, da war niemand. Nur ich und die Leiche. Zuerst hab ich gemeint, da wär wer. Aber da war nix. Ich hab mich wohl getäuscht.«
Mit Kennerblick begutachtete der Kommissar den Leichnam, dann nickte er, wenn nicht zufrieden, so doch ein wenig stolz auf sein »Adlerauge«. »Schon gut, Al! Da ist nix mehr zu machen. Der ist schon seit Stunden hinüber. Und keines natürlichen Todes gestorben, wie man sieht«, bemerkte Eyrainer nicht ohne Süffisanz in der Stimme. Mit einem Seitenblick stellte Al derweil fest, dass nun auch sein Cousin das Corpus Delicti in Augenschein nahm. »Sapradi, der Sixt ist hi! Die Mistgabel mitten ins Herz nei, mit einem Stich. Da spinnst aber a!«, brummte der fürs Protokoll.
Die dichten Brauen des Kommissars formten zwei große Fragezeichen, er schien nicht recht glauben zu können, was er da sah und hörte. Ein Neandertaler im rot-schwarz gemusterten Holzfällerhemd, der sich in der Manier eines Rechtsmediziners über den Toten beugte. »Forster, ze fix, weg da! Und zwar schleunigst. Das ist ein Fall für die Spurensicherung und nicht für dich Deppen!«
In Eyrainers Bericht würde später lediglich stehen, dass ein Spaziergänger im Wald zufällig eine grausige Entdeckung gemacht hatte. Was hingegen nicht darin stand, war der halb lakonische, halb ungläubige Kommentar Forsters, der eine langwierige Identifizierung des Toten überflüssig machte. »Aber, das ist doch der Sixtus vom Höll-Hof in Göttersberg!«
Wie von der Vogelspinne gestochen war Eyrainer daraufhin herumgefahren und hatte den nun doch etwas verdattert dreinblickenden Waldschrat angeherrscht: »Du kennst den Toten? Warum sagst du das nicht gleich?«
Forster hatte ihn aus großen verwunderten Ochsenaugen angeglotzt und ebenso bedächtig wie bekräftigend genickt. »Ja, mei! Zum Höll-Hof gehören ja da herunter in Forst ein paar Hektar Holz – und so trifft man sich halt im Wald. Ehrlich gesagt, um den ruscherten Ruach ist es nicht schad.«
Einen Moment lang hatte es Eyrainer die Sprache verschlagen. Er hatte nur dagestanden und fassungslos den Kopf geschüttelt. Was sollte man dazu noch sagen?
Es lag eine gähnende, lähmende Stille über der Lichtung. Der Wald dampfte vor Feuchtigkeit. Alles war nass, und es roch nach modriger Erde, Schimmel und Verwesung. Eyrainer saß seit Stunden hier fest und sah den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Aufhammers Darmdrang und Stuhlgang hatten dazu geführt, dass er quasi selbst den Toten entdeckt hatte. Doch dies war nicht mehr als eine makabre Marginalie. Sonst war alles wie immer. Der Polizeifotograf knipste seinen Speicherchip voll, die Kriminaltechniker wuselten geschäftig umher, und eine vierköpfige Abordnung der zuständigen Polizeidienststelle stand mit gewichtigen Mienen vor dem rot-weiß gestreiften Flatterband mit der Aufschrift »Polizeiabsperrung: Tatort nicht betreten«. Die »Streifenhörnchen« nahmen ihre Aufgabe offensichtlich ernst. Ein korpulenter Kerl mit einem roten, gedunsenen Gesicht hatte seine Hand am Holster, allzeit bereit, unbefugte Personen notfalls mit Waffengewalt am Betreten der Sperrzone zu hindern. Bedauerlicherweise gab es in diesem abgelegenen Teil des Kreuzsteiner Forsts jedoch keine Passanten und Schaulustigen, die es aufzuhalten galt. So langweilten sich die vier sichtlich. Die beiden Jungspunde stierten auf die Displays ihrer Smartphones, ihr wohlbeleibter »Anführer« zupfte und zerrte an seinem zu engen Hemdkragen herum.
Angewidert wandte der Hauptkommissar seinen Blick. »Dorfbullen, dämliche!« Dann kippte er den letzten Rest des bitter schmeckenden Instant-Kaffees in einen Busch und schraubte den Verschluss der Thermoskanne zu. In diesem Moment hätte er sonst was für einen doppelten Espresso aus seiner Lieblingsbar, dem »Quai d’Orsay« am Grenzberger Salinenplatz, gegeben. Ein paar Schritte entfernt zwängte sich der Leiter der Kriminaltechnik »Oberspusi« Ortfried Orterer durchs Geäst zweier halbhoher Sträucher. Wie alle Spurensicherer vor Ort steckte seine rundliche Gestalt in einem hellblauen Schutzanzug. Aus irgendeinem Grund erinnerte Eyrainer die Szene an ein Bild, das ihm beim Durchblättern eines Reisemagazins aufgefallen war. Die Belegschaft einer taiwanesischen Chipfabrik in ihren uniformen Arbeitsklamotten beim Picknick im Grünen.
Orterer stapfte heran. »Ausnahmsweise hat unsere Schutzkleidung auch mal Gutes. Wenn wir hier schon durch den Dschungel kriechen müssen, werden wir wenigstens nicht nass bis auf die Haut.«
Eyrainer machte eine unbestimmte Handbewegung, die alles und nichts bedeuten konnte. »Und wie kommt ihr voran?«
Der Oberspusi schnaubte verärgert. »Fußabdrücke kannst du vergessen. Nach den Sturzbächen, die hier letzte Nacht runtergekommen sind, ist der Waldboden völlig durchweicht. Schau dich um! Was siehst du? Jede Senke, jede Delle hat sich in ein Schlammloch verwandelt. Keine optimalen Bedingungen für uns!«
Eyrainer nickte verständnisinnig. »Ja, die Wetterstation hat vorhin per Funk durchgegeben, dass gestern an die sechzig Liter Regen pro Quadratmeter gefallen sind. Sintflut 2.0 – wenn du so willst. Hast du schon eine ungefähre Vorstellung vom Tathergang?«
Orterer blieb ihm die Antwort fürs Erste schuldig und ging stattdessen vor einer tiefen Furche in die Hocke. Er hielt einen Schlammklumpen in der behandschuhten Rechten. »Spuren von einem Harvester oder wie diese Monsterschlepper heißen, mit denen sie heute ganze Wälder zu Kleinholz zerhäckseln. In den vergangenen Tagen ist hier jemand mit schwerem Gerät durchs Unterholz gepflügt. Siehst du die Schneise, die da hinten weiter in den Wald hineinführt?«
»Und hat das was mit unserem Mord zu tun?«, erkundigte sich Eyrainer argwöhnisch.
»Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Aber die wenigen Spuren und Footprints in der Umgebung des Fundorts sind in Kombination mit dem Starkregen gestern Nacht allesamt bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet.« Orterer hob die Schultern in einer Geste des Bedauerns. »Sorry, mehr kann ich dir derzeit nicht bieten, Korbinian!«
Eyrainer schwieg, seine Miene war undurchdringlich. Er blickte von dem schlammigen Pfuhl zu seinen Füßen hoch und sah, wie sein Assistent Albert Lehnleitner unter dem Absperrband durchschlüpfte und sich ihnen mit staksigen Schritten näherte.
»Servus, Chef. Hallo, Ortl, da habt ihr euch ja einen schönen Letten für eure Kneippkur ausgesucht! Habt’s noch eine Fangopackung für mich übrig?« Lehnleitner kam Eyrainer gerade recht, um an ihm Frust abzulassen.
»Hast du schon mal auf die Uhr geschaut? Gleich hören die Weißwürste das Zwölfuhrläuten! Um kurz nach neun haben wir die Leiche gefunden und die Zentrale verständigt. Ich wühle jetzt seit über drei Stunden in der Dreckbrühe herum – und wo bleibt der feine Herr? Eine Leberkässemmel beim Metzger, eine Zwetschgenbavesen beim Bäcker, ha?«
»Sorry, Chef, als ich von dem Leichenfund gehört hab, bin ich gleich ins Netz, um …«
Ehe Albert »Bertl« Lehnleitner zu einer wortreichen Entschuldigung ansetzen konnte, unterbrach ihn Orterers erregte Stimme: »Stopp mal, seht ihr das, da drüben, bei den beiden weißen Birken?« Wie ein Waldläufer Marke Lederstrumpf spähte der Oberspusi in die angegebene Richtung. Und tatsächlich, dort verlor sich ein halb zugewachsener Forstweg im Dickicht von Laub und Nadeln.
»Von da sind sie gekommen«, verkündete Orterer apodiktisch.
Polizeihauptkommissar Korbinian Eyrainer hatte schon bei früheren Fällen, die er als Leiter des Dezernats für Tötungsdelikte zu bearbeiten hatte, die irritierende Erfahrung gemacht, dass »Ortl« einen siebten Sinn für das Geschehen am Tatort hatte. Seine Intuition ließ ihn in der richtigen Ecke suchen, und er besaß eine erstaunliche Kombinationsgabe, die den meisten Kollegen der Kriminaltechnik abging, die nur stur die Gegend nach Beweisstücken absuchten. Ja, er hatte einen untrüglichen Riecher für die richtige Fährte, so auch diesmal. Seine Stimme klang eindringlich und beschwörend zugleich. »Sie haben diesen Weg genommen. Von dort drüben, hier herunter. Sie waren zu zweit oder zu dritt. Einer ging ein Stück weit voraus. Ja, das Bild ist jetzt ganz deutlich.«
Die Vorstellung, dass er eben Zeuge einer Demonstration übersinnlicher Fähigkeiten wurde, war Lehnleitner sichtlich nicht geheuer. Ehe aus seinem Räuspern ein abschätziger Kommentar werden konnte, legte Eyrainer seinen Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete seinem Assistenten in Gebärdensprache: »Halt jetzt bloß den Mund, sonst setzt es was!«
Orterers Stimme hatte den hohlen, metallischen Klang eines Mediums in der Geisterwelt angenommen: »Die Druckstellen an den Handgelenken lassen darauf schließen, dass der Ermordete gefesselt war. Wie ein Opfertier, das von seinen Peinigern zur Schlachtbank getrieben wird. Ja, der Mann hat große Angst, Todesangst, er stolpert, wird von groben Händen am Arm gepackt und mit Gewalt vorwärts gestoßen, den kleinen Abhang herab. Genau dort müssen wir suchen.«
Eyrainer war durch und durch Realist, der im Diesseits verhaftet war und nur das glaubte, was er sah und begreifen konnte. Für parapsychologische Experimente zur Geist-Materie-Interaktion fehlte ihm jegliches Verständnis. Und doch versetzten ihn Orterers »Geistreisen« jedes Mal aufs Neue in ehrfürchtiges Staunen. Gelang es diesem unscheinbaren, zur Korpulenz neigenden Kerl doch allein kraft seiner Vorstellung, sich ein bestimmtes Szenario zu vergegenwärtigen und die Gedankengänge des Täters nachzuvollziehen. Dabei suchte er, wie er Eyrainer einmal enthüllt hatte, den »Genius Loci«, den »Geist des Tatorts«, zu erspüren. Wie ein Wünschelrutengänger oder ein Feng-Shui-Meister suchte er die Gegend nach »disharmonischen Schwingungsfeldern« ab, die einen »starken Impuls negativer Energien aussenden« und »deren Vektoren zeitlich mit Amplitude und Frequenz oszillieren«. Eyrainer hatte verständig genickt und nichts begriffen. Gerade eben schien der »Geisterseher« indes wieder eine solche »energetische Signatur« entdeckt zu haben. Und es schien alles darauf hinzudeuten, dass man das Mordopfer wie einen Delinquenten zur Richtstätte geschleift hatte. Womöglich war die Mistgabel Bestandteil eines Verbrecherritus. War hier also ein Akt ritueller Bestrafung vollzogen worden? Oder andersherum gefragt: War das Opfer hierhergebracht worden, um ihn für seine Verfehlungen zu richten? Aber wofür? Weil es Verrat begangen, seine Spießgesellen betrogen hatte, oder war das Opfer ein Pentito, welcher das Schweigegelübde gebrochen hatte? Wer den Ehrenkodex verletzte, war in Unterweltskreisen so gut wie tot. So weit, so gut. Aber es sprach nichts dafür, dass das Opfer einer kriminellen Organisation angehört hatte oder ihr zu Diensten gewesen war. Der Ermordete war ein Kuhtreiber, ein sturer Bauernbüffel gewesen. Dass es sich um vorsätzlichen Mord handelte, stand allerdings außer Frage. Eine Handlung im Affekt war definitiv auszuschließen. Wie sonst ließe sich das Faktum erklären, dass man das Opfer an einen abgelegenen Ort verschleppt hatte, um es dort zu exekutieren? Nein, die Tat war von langer Hand geplant und durchgeführt worden.
Eyrainer kniff die Augen angestrengt zusammen. Oder gab es noch einen anderen Grund? Mit einem Schlag klang Orterers Stimme wieder wie immer – nüchtern, mit leicht ironischem Unterton: »Nun meine Herren, wollen wir einen Versuch wagen und uns die Stelle genauer ansehen?«
Eyrainer löste sich aus seiner Erstarrung. »Also los, Bertl, auf was warten wir?«
Lehnleitner sah noch immer perplex, ja, schockiert aus der Wäsche. »Also, so was … so was wie Telepathie war auf meinem Lehrgang Methodik der Kriminaltechnik kein Thema.« Orterer wandte sich zu seinen beiden »Adepten« um. »Ich weiß, da geht’s immer um Spurensuche mit Hi-Tech-Methoden. Typen, die im weißen Kittel Fingerabdrücke unterm Rastermikroskop vergleichen und DNA-Proben aus dem Speichel extrahieren. Aber die Kardinalfrage ist doch die: Wo komme ich dem Täter näher, im Labor oder am Tatort?« Unbeirrt steuerte der Oberspusi auf die beiden Birken mit ihrer auffällig weißen, fast fleckenfreien Rinde zu. »Hier draußen ist der Fährtenleser, Fallensteller, der Jäger aus archaischer Zeit gefragt.«
Orterer unterstrich seine Ausführungen mit einer expressiven Gestik, achtete dabei jedoch auf jeden seiner Schritte und behielt exakt die eingeschlagene Richtung bei. Die drei erreichten die kniehohe Böschung eines aus Erde und Ziegelschutt aufgeworfenen Damms, der den Verlauf des fast gänzlich von dornigen Sträuchern und Schlinggewächsen überwucherten Wegs im Gelände absteckte. Die Böschung war nicht allzu steil, aber das Erdreich war an den abschüssigen Stellen deutlich weniger durchfeuchtet als anderswo.
Wie ein Steinzeitjäger, der eine Mastodonspur entdeckt hatte, rief ihr Scout aufgeregt: »Die Ranken der jungen Brombeersträucher und die gelbbraunen Grasbüschel vom vorigen Jahr wurden eindeutig platt gedrückt – und die Form der Trittspuren sieht mir ganz nach Schuhwerk der Art Homo sapiens aus.«
Lehnleitner stand da wie angewurzelt und lauschte andächtig. »Schaut her, die Zweige der beiden Jungfichten hier sind abgeknickt. Exakt an der Stelle sind sie vom Damm runter.« Orterer hatte nun endgültig das Jagdfieber gepackt. Leise ächzend bückte er sich, las die Zweige mit der Pinzette auf und verstaute sie in Klarsichtbeuteln. »Wer weiß, vielleicht finden wir ja was, Hautpartikel, Baumwollfasern, Pollenstaub, irgendwas, was nicht hierhergehört!« Seinen Argusausgen entging nichts. Mit akribischer Sorgfalt drehte er jedes Blättchen und Ziegelplättchen um, ehe er fand, was er suchte. »Ha, da ist es«, rief er voller Enthusiasmus. »Dem heiligen Antonius sei Dank!«
Für einen vorbeikommenden Spaziergänger hätte die Szene befremdlich gewirkt. Ein kleiner, dicklicher Kerl im blauen Plastikanzug rutschte auf den Knien im Dreck herum, zwei hochgewachsene, hagere Männer – einer im beigen Trenchcoat, der andere im graublauen Ledermantel – standen da wie zwei Ministranten, die ihrem Meister bei einer rituellen Handlung Kelch & Co. reichten. Da erhob sich der »Meister« und reckte einen winzigen Stoffstreifen, der sich an einem Dorn verfangen hatte, triumphierend in die Höhe. »Faserreste – von einer Art Uniformhose, Farbe oliv!«
Eyrainer wechselte einen raschen Blick mit Lehnleitner. Von der Kleidung des Toten stammte der Stofffetzen jedenfalls nicht. Würden diese Fasern sie auf die Fährte der Mörder führen? Handelte es sich hier um Mörder in Uniform?
Üblicher Ort, übliche Zeit. Die Pressekonferenz im Polizeipräsidium Grenzberg war für sechzehn Uhr anberaumt. Im kleinen Sitzungssaal im Parterre, wie irgendein sadistisch veranlagter Bürohengst angeordnet hatte. Anian Gruber und sein Kameramann Alex waren mit die Ersten in dem unterdimensionierten Konferenzraum, verfolgt vom Rest der Medienmeute, die mit ausgefahrenen Ellenbogen in den Saal drängte, um sich die günstigste Schussposition zu sichern. Wie bei der Großwildjagd auf das heimische Getier in Wald und Flur. Hier wie dort mussten Brennweite, Blende und Entfernung passen. Ob Kamera oder Karabiner – mit beiden wurde scharf geschossen. Gruber war der Mann fürs Grobe bei GAU-TV, er war zuständig für die aktuelle Berichterstattung, für Krasses und Kriminelles aus dem Grenzgau. Ein Mistgabel-Mord, das war zweifellos ein gefundenes Fressen für das Rudel der Reporter, eine ebenso mysteriöse wie schattenschichtige Geschichte. Guter Stoff für ein paar spektakuläre Berichte mit bluttriefenden Schlagzeilen. Hier und heute war Gruber jedoch nicht recht bei der Sache. Eigentlich müsste er jetzt an seinem Schreibtisch im Sender sitzen, um das noch grobkörnige Konzept zu schärfen und den Fokus zu justieren. Die Powerpoint-Präsentation zum neuen Sendeformat »Alpine Impossible« musste in ein brauchbares Skript umgearbeitet werden. Wer sollte die Dreh- und Sendepläne für die erste Staffel der von ihm konzipierten Art- und Adventure-Reihe auf Form und Fasson schneidern? Es war seine Idee, sein »Baby« und sein Kopf, der rollte, wenn er mit dem Piloten eine Bruchlandung hinlegte.
Im dem viel zu kleinen Raum wurde es zunehmend unerträglich. Die Luft war stickig, die Atmosphäre voll latenter Aggression. Jeder wollte der Erste sein – und so war das Chaos programmiert. Die Fotografen machten Front gegen ihre Kamerakollegen vom Fernsehen, dazwischen wuselten Redakteure und Radioreporter herum. Gruber rechnete jede Sekunde damit, dass die Lage eskalierte und die Fäuste flogen. Sie standen in der ersten Reihe, doch hinter ihnen war ein einziges Gedränge und Geschiebe. Kamerastative, dickleibige Ledertaschen und Alu-Koffer hatten sich heillos ineinander verkeilt – nichts ging mehr.
Anian rümpfte die Nase. Etliche der Anwesenden schienen Deodorants und Körpersprays als unnützen Zivilisationsmüll zu betrachten. Ihre Drüsen sonderten ungehindert Schweiß und andere übelriechende Sekrete ab. Ein strenger, säuerlicher Geruch lag in der Luft, der Anian an das gallige Bouquet eines billigen Weißweins aus dem Tetrapak erinnerte.
»Hat sich der CvD bei dir gemeldet, Alex?«, grummelte er unwirsch. »Wäre doch nett zu erfahren, wie lang der Bericht werden soll und ob wir ein paar O-Töne zusätzlich brauchen.«
»Nada, ich fürchte, unsere Chefin vom Dienst ist ins Koma gefallen, als Zalando ihren Zugangscode gesperrt hat«, erwiderte der Kameramann mit einem boshaften Grinsen.
Plötzlich kam Bewegung in die Szene – und die Matadore betraten die Arena. Der Pressesprecher eskortierte seine beiden Kollegen in Zivil zu ihren Plätzen auf dem Podium. Zur Rechten des Pressemanns saß sein alter Schulhof-Amigo Korbinian Eyrainer mit reglos versteinerter Miene. Kaum hatte das Trio hinter dem schmalen, langgestreckten Bürotisch Platz genommen, meldete sich die ebenso rothaarige wie resolute Redakteurin vom »Tagblatt«, der renommiertesten Grenzgauer Gazette, zu Wort: »Herr Preußler, gibt es nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen Hinweise, die auf einen Ritualmord hindeuten? Ist die Tat religiös motiviert? War das Opfer möglicherweise Mitglied einer Sekte?«
Pressesprecher Preußler, ein alter Fuchs, der stets sein Pokerface behielt, reichte die Frage umgehend an den ermittelnden Hauptkommissar Eyrainer weiter. Der tippte lässig ans Mikro, dass es in Anians Kopfhörer nur so knackte. »Ein eindeutiges Mordmotiv ist derzeit nicht erkennbar. Wir ermitteln in alle Richtungen! Es wäre verfrüht, Prioritäten zu setzen und eine bestimmte Hypothese zu bevorzugen.«
Die Kollegin von der schreibenden Zunft ließ sich jedoch nicht so leicht abwimmeln. »Entspricht es den Tatsachen, dass es sich um einen sorgfältig geplanten Mord handelt – und sich die Vorgehensweise der Täter als ungewöhnlich grausam bezeichnen lässt? Wenn ich richtig informiert bin, wurde das Opfer gefoltert und verstümmelt.«
»Nun, uns liegen gewisse Indizien vor, die dahingehend interpretiert werden könnten. Diesen Hinweisen werden wir selbstverständlich nachgehen und auf deren Plausibilität hin überprüfen.« Eyrainer suchte sich mit vagen Formulierungen herauszuwinden und warf Preußler hilfesuchende Blicke zu.
Ein wohl im Dienste einer Boulevardzeitung stehender Reporter ging zum Frontalangriff über. »Welches Interesse sollte die Polizei daran haben, die Tatsachen zu verschleiern? Unsere Redaktion ist im Besitz von Bildern der Leiche, die nur den einen Schluss zulassen: Wir haben es hier mit der ideologisch motivierten Tat eines Perversen zu tun!«
Eyrainer schwieg eisern und überließ es Preußler, scheinbar verwirrt von seinen Papieren aufzublicken. »Von welchen Tatsachen sprechen wir hier? Könnten Sie Ihre Ausführungen bitte konkretisieren.«
Die spröden, blutlosen Lippen des Mannes zogen sich zu einem schmalen Strich zusammen. »Aber gewiss doch! Das uns vorliegende Bildmaterial zeigt, dass die Stirn des Opfers mit einem scharfen Gegenstand, einem Rasiermesser oder einem Teppich-Cutter aufgeschlitzt wurde. Die Verlaufslinien der Schnitte ergeben der Form nach ein bestimmtes Schriftzeichen, eine Sig-Rune, um genau zu sein.«
Schlagartig wurde es still im Saal, so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören.
»Was, die Sieg-Rune der Nazis?«, rief die fesche, resche Rothaarige außer sich, vor mit Erregung und Empörung bebender Stimme. Die Sensationsgier war geweckt.
Ausgerechnet Wiesmaier, Chefreporter beim konkurrierenden Lokalsender INN-TV, nahm den Ball auf und kombinierte messerscharf: »Haben wir es hier etwa mit einem Mord mit neonazistischem Hintergrund zu tun? Werden Sie dieser Spur nachgehen und im Umfeld der rechten Szene ermitteln?«
Gruber war perplex. Konnte da etwas dran sein? War da etwas im Busch? Er hatte bereits mehrmals im »Milieu« der »rechten Szene« recherchiert – und kannte die einschlägig bekannten Figuren. Darunter war niemand, dem er die Planung eines solchen Mords zutraute. Die schmierten Hakenkreuze an Bushäuschen und schlugen sich die Nasen platt – aber ein überlegtes, kaltblütiges Gewaltverbrechen traute er diesen ebenso grob wie simpel gestrickten Suffschädeln nicht zu.
Im Saal wurde es unruhig. Gruber strich sich nachdenklich über die Lippen. Das mit dem Kainsmal auf der Stirn des Toten musste er erwähnen. Egal, ob er an die betreffenden Nahaufnahmen des Toten kam oder nicht. Und egal ob an der Sache was Wahres dran war – eine Querverbindung zu rechtsextremen Kreisen oder satanischen Sektierern würde prima ins Konzept passen. Bei solchen Gruselgeschichten stimmte die Quote. Er spähte zu dem Typen von der Boulevardzeitung hinüber, der aussah, als ob er sich ausschließlich von Selbstgedrehten, Aufputschtabletten und Energy-Drinks ernährte. Offensichtlich verstand der sein Handwerk und wusste, wie man an vertrauliche Informationen herankam. Allerdings hatten diese Kerle auch ein erkleckliches Spesenbudget – im Gegensatz zu ihm. Gruber verwarf den Gedanken, diese Quelle anzuzapfen. Der Typ würde ihm besagtes Bild nur gegen eine Summe verkaufen, für die man ein Indio-Dorf im bolivianischen Altiplano einen Monat lang durchfüttern konnte. Vielleicht könnte er stattdessen Eyrainer um einen Freundschaftsdienst bitten. Ein paar Sequenzen aus dem Tatort-Video des EDs würden vollauf reichen. Einen Versuch war es wert.
Auf dem Podium redete sich das Trio die Köpfe heiß. Eyrainer und dessen kleiner, untersetzter Kollege warfen sich zornige Blicke zu. Selbst im stets unbewegten Gesicht von »Pokerface« Preußler zuckte es. Alex stupste ihn an und raunte, auf sein Headset deutend: »Die grünen Jungs stehen mächtig unter Strom. Dieses Detail sollte vorläufig nicht an die Öffentlichkeit durchsickern. Ermittlungspanne nennt man das wohl!« Alex grinste wie der Leibhaftige, der eben einen Satansbraten mit Haut und Haar verspeiste. »Der Maulwurf, der das Bild verhökert hat, endet im Fleischwolf, wetten, dass?«
Gruber wollte ihm da nicht widersprechen. Man musste kein promovierter Psychiater sein, um zu erkennen, dass der Kommissar vor Wut kº325
ochte und mit aller Macht gegen einen Ausbruch seines vulkanischen Temperaments ankämpfte. Eyrainers Hände waren zur Faust geballt. Der Pressesprecher schien derweil krampfhaft zu überlegen, ob er ein Dementi riskieren konnte.
Entschlossen, den gordischen Knoten zu durchtrennen, schnappte Eyrainer nach dem Mikrofon. »Ja, Ihre Darstellung kann ich bestätigen. Der Tote wies Schnittverletzungen in der von Ihnen beschriebenen Weise auf. Ob es sich bei den Wundmalen allerdings um eine Rune handelt, ist reine Spekulation. Es könnte sich auch um eine Art Ablenkungsmanöver handeln, um die Ermittlungen zu behindern.«
Nun warf auch noch die Edel-Emanze von den Trostbacher Nachrichten ihre dauergewellte Lockenpracht aus der Stirn und den Hut in den Ring. Die »Grand Dame« des Lokaljournalismus war dank des selbstlosen Einsatzes ihres Schönheitschirurgen und zahlloser Botox-Spritzen auch noch Ende fünfzig faltenfrei. Ihr glattgebügeltes Strumpfmaskengesicht wurde von einer wilden, mit bunten Strähnchen durchwirkten Löwenmähne umrahmt. Wie stets war sie auch heute nach der neuesten Landhausmode gekleidet und sah so aus, als ob sie im Anschluss an die Pressekonferenz noch ein Date mit Berlusconi im Parkcafé von Bad Brennbruck hätte. Theatralisch stieß sie zwei Kaugummi kauende Radio-Girlies zur Seite und stöckelte gravitätisch nach vorn. »Ich gehe also recht in der Annahme, dass sämtliche Indizien darauf hinweisen, dass sich hier eine Bande von Psychopathen herumtreibt, die obendrein Nazis sind. Müssen wir also davon ausgehen, dass diese Irren jederzeit wieder zuschlagen können?«
Preußler fuhr der alten Schabracke in die Parade. »Solche Mutmaßungen entbehren jeder faktischen Grundlage! Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir ermitteln in alle Richtungen. Doch es deutet nichts, absolut nichts auf einen Serientäter hin. Nächste Frage?«, blockte der Pressesprecher alle weiteren inquisitorischen Nachfragen mit wiedergewonnener Souveränität ab.
»Diese Runen-Sache schön und gut. Aber könnten Sie uns etwas zum aktuellen Stand der Ermittlungen sagen?«, krähte ein pickliger Bursche mit Bürstenhaarschnitt und Glupschaugen, der ein zitronengelbes Mikro mit dem Logo des Lokalsenders »Grenz-Frequenz« direkt vor Alexs Kameraobjektiv hielt.
Ehe man sich auf dem Podium darüber einigen konnte, wer die unangenehme Frage des »Grenz-Frequenzgängers« beantworten sollte, zischte Alex durch seine braunfleckigen Zahnstumpen: »Wenn dein Drecksmikro nicht sofort aus meiner Linse verschwindet, reiße ich dir deinen Hämorrhoidenarsch auf!«
Das Gebaren des breitschultrigen, bulligen Kameramanns ließ keine Zweifel zu, dass den Worten umgehend Taten folgen würden, falls das schmalbrüstige Bürschchen nicht parierte. Wohl ahnend, dass er bei einer handgreiflichen Auseinandersetzung den Kürzeren ziehen würde, leistete er der Aufforderung umgehend Folge und beließ es bei einer formalen, verbalen Replik. »Wir sehen uns draußen, Sackgesicht!« Wobei klar war, dass es nach der PK keinen Showdown geben – und Pickelface das Weite suchen würde.
Inzwischen hatte das Kripo-Trio die passende Antwort parat. Gruber hatte erwartet, dass Preußler wie sonst jede weitere Nachfrage mit dem Hinweis auf die laufenden Ermittlungen und ein paar dürren Worten im Behördendeutsch abschmettern würde. Der Pressesprecher zeigte sich jedoch unerwartet auskunftsfreudig. »Meine Damen und Herren, Sie werden verstehen, dass wir Sie nicht in die Einzelheiten des Tathergangs einweihen können, schon um kein Täterwissen preiszugeben. Aber es spricht vieles dafür, dass das Opfer nicht zufällig ausgewählt, sondern gezielt ausgesucht wurde. Unsere Ermittlungen konzentrieren sich daher auf das soziale und familiäre Umfeld des Ermordeten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.« Mit diesen Worten erhob sich Preußler zu seiner vollen Größe von einem Meter neunzig.
Eyrainer saß mit eingezogenen Schultern da und machte im zerknitterten Anzug neben dem Hünen in maßgeschneiderter Loden-Garderobe eine klägliche Figur. Ein Lehrjunge, dem eben eine Lektion in Sachen professionelle Medienarbeit erteilt worden war. Gruber fühlte fast so etwas wie Mitleid für den Kommissar – da war keine Spur mehr seiner zur Schau getragenen Selbstsicherheit und zupackenden Entschlusskraft. Jeder hatte eben seine schwache Stunde des Zweifels, von Gott und allen verlassen.
Als die Kameras und Mikros bereits abgeschaltet waren, setzte der Pressesprecher jovial lächelnd den Schlussakkord. »Sie können davon ausgehen, dass es sich bei der Tatwaffe um eine ganz gewöhnliche Mistgabel und keinen Dreizack handelt. Die Jünger Neptuns können Sie daher getrost von der Liste der Verdächtigen streichen.«
Hinter ihm hörte Anian Gruber die Rothaarige und die Trachten-Tante kichern, ein albernes Kichern, das klang wie das von verliebten Schulmädchen. Er bedeutete Alex, sich mit dem Einpacken ihres Equipments Zeit zu lassen. »Piano, compañero. Warten wir noch etwas!«
Vielleicht ließ sich der Kommissar nach dieser blamablen Vorstellung zu einem Statement bewegen, wenn er ihn vor der Kamera eine gute Figur machen ließ.
Minuten später hatten die Scharen der Pixel-Pilger den Ort ihrer kultischen Zusammenkunft verlassen – genauso hastig, wie sie ihn vor der »Eucharistiefeier« betreten hatten. Und Gruber bekam beides: einen dynamischen Kommissar in Bild und O-Ton – und einen Mitschnitt des Tatort-Videos.
In Kabul, Bagdad oder Johannesburg gehörte die Gewalt zum Alltag. Im Irak oder in Syrien juckte es niemanden, wenn ein Toter im Rinnstein lag – erschossen, erschlagen oder erstochen. Im Grenzgau waren solche Bluttaten hingegen eher selten. Folglich schien es nur logisch, dass sich die Nachricht vom Fund einer männlichen Leiche im Kreuzsteiner Forst wie ein Lauffeuer verbreiten würde. Doch noch zwölf Stunden nach dem Leichenfund hatte Polizeihauptmeister Georg Quirin Wammetsberger nicht den blassesten Schimmer, dass sein Schwager das »irdische« mit dem »himmlischen Leben« vertauscht hatte. Während sich Wammetsberger auf seinem unlängst beim Radl-Discounter »Velo-Bauer« erstandenen ultraleichten Berg-Bike mit 24 Gängen abstrampelte, lag dessen Leichnam auf einem Stahltisch im Rechtsmedizinischen Institut und wartete darauf, fachgerecht seziert zu werden. Derweil der Onkel seiner Frau Elfriede den diesseitigen Dingen entrückt war, quälte sich Schorsch im Schweiße seines Angesichts den nicht enden wollenden Anstieg in den Brennbrucker Ortsteil Bad hinauf. Schweißüberströmt und mit puterrotem Gesicht erklomm Wammetsberger die Anhöhe und war gottfroh, dass es von nun an nur noch bergab ging.
Nach einer rasanten Abfahrt schoss der Pedalkünstler, der gut und gern seine zweihundertfünfzig Pfund auf die Goldwaage brachte, wie eine gesengte Sau ums Eck der Polizeiinspektion. Mit schrill quietschenden Reifen kam das feuerrote Veloziped vor dem Holzschuppen im Hinterhof zum Stehen. Schorsch stieg ächzend aus dem Sattel, nahm einen kräftigen Schluck Isostar-Plus aus der Pulle und wischte sich den dicken Schweißfilm von der Stirn. Er schob sein Radl in den Schuppen, kettete es an einen dicken Balken und tappte in den Aufenthaltsraum, wo etliche hohe Metallspinde Staub ansetzten. Er entledigte sich seines buntscheckigen Trikots, das ihn als Mitglied des russischen Radrennsport-Teams »Katjuscha« auswies, hängte es an einen Kleiderhaken und schlüpfte in seine zerknitterte grün-beige Uniform mit den vier grünen Sternchen auf der Schulterklappe.
Schorsch war notorischer Frühaufsteher und als solcher kein Freund der Nachtschicht. Nächtens auf Streife zu gehen war für ihn wider die Natur. Primaten und somit auch der Mensch waren, in evolutionärer Hinsicht, tagaktive Karnivoren. Als solche standen sie bei Sonnenaufgang auf der Matte, um zu jagen und zu sammeln. Nachts schliefen sie in ihrer Höhle oder oben im Geäst eines Urwaldriesen. Schon um nicht zur Beute eines Bären oder einer gefräßigen Raubkatze zu werden. So war das menschliche Wesen beschaffen, mochten auch Ausnahmen die Regel bestätigen. Von daher war es eine Zumutung, dass die Nachtschichten im Polizeidienst nicht etwa um ein oder zwei Uhr in der Früh endeten, sondern erst am nächsten Morgen um Punkt sieben. Das Problem an dieser der menschlichen Natur zuwiderlaufenden Regelung war, dass sich im morgendlichen Berufsverkehr regelmäßig schwere bis schwerste Unfälle mit Personenschäden ereigneten, die ein sofortiges Eingreifen seitens der diensthabenden Ordnungskräfte erforderten: ein blöd gekiffter Lieferwagenfahrer mit zwei Promille Restalkohol im Blut, der am Lenkrad wegdämmerte und sich um den nächstbesten Alleebaum wickelte, ein gestresster Manager auf dem Weg zum Team-Meeting, der mit Tempo hundertachtzig in die Rostlaube einer Studienreferendarin am örtlichen Gymnasium schlitterte, die sich mit der Sturheit einer Öko-Jüngerin an die geltende Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 km/h hielt. Die Beispiele menschlicher Unvernunft und Unvermögens waren mannigfach. Und wer durfte in aller Früh ausrücken, die verkohlten Fahrzeuge inspizieren und das Unfallprotokoll tippen? Er, Schorsch Wammetsberger! Kurzum, der zu Korpulenz, bayerischer Behäbigkeit und Wortkargheit neigende Hauptmeister scheute die Nachtschichten wie ein Vampir die Sonnenstrahlen.
Schlurfenden Schritts betrat er die Diensträume der Inspektion. Er brummelte ein missmutiges »Servus, Xarre« und erkundigte sich bei seinem Kollegen, ob es tagsüber irgendwelche Vorkommnisse gegeben hatte: »Wie schaut’s aus? War was?«
Sein ihm unterstellter Polizeiobermeister Franz Xaver Gschwandtner gähnte gelangweilt und hebelte sich aus dem Drehstuhl. »Nix! Ois as usual – wie die Amis sagen. Grad eben hat uns die Zentrale ein Eil-Rund-Fax geschickt – den Empfang hab ich schon quittiert. Die Kriminalpolizei fahndet nach einem dringend Tatverdächtigen. Höchste Prioritätsstufe – Top Priority quasi, wie es bei CSI heißt.«
Wammetsberger reagierte verstimmt – und mokierte sich sogleich. »Weshalb schicken uns die Bratwürste ein Fax? Warum rufen die nicht bei uns an oder lassen uns die Nachricht auf den Pager zukommen? Halten uns die Grattler da droben für Dorftrottel?«
»Die bei der Kripo sind prinzipiell alle superwichtig, verstehst?«, erwiderte sein »Vize« unverblümt. »Es geht um ein Kapitalverbrechen, genauer gesagt um Mord. In der Fahndungsmeldung heißt es, dass Spaziergänger heute Vormittag eine Leiche im Kreuzsteiner Forst aufgefunden hätten. Ein schon älterer Mann, sechzig plus, mittelgroß, von schlanker, hagerer Statur.« Gschwandtner drückte seinem Boss den Faxausdruck in die Hand, den dieser unschlüssig betrachtete. Das sah nach Ärger, viel mehr noch es sah nach Arbeit aus. »Schau dir die Fotos der Leiche an, Schorsch. Aufgespießt wie ein Brathendl oder ein Ochsen auf der Wies’n – mal was anderes!« Als Gschwandtner den verständnislosen Blick seines Vorgesetzten gewahr wurde, legte er noch eine Schippe drauf. »Mit der Mistgabel. Das ist doch mal innovativ, oder? Ein Gewalttäter, der in puncto Mordwaffe auf die guten alten bäuerlichen Traditionen hält. Für mich ist jetzt aber Schicht im Schacht. Ich hab mir meine Halbe verdient!«
Wammetsberger grunzte ungehalten. »Nix da, da bleibst! Diese Mordsgeschichte schauen wir uns genauer an. In jedem Fall stellen sich zwei grundsätzliche Fragen: Wer ist Opfer, wer ist Täter?«, dozierte der gewichtige Dorfbulle wie ein Kriminologe in einem Seminar für angehende Provinz-Profiler.
»So schaut’s aus die Maus!«, erwiderte Gschwandtner ohne rechte Begeisterung für die Mord-Materie.
»In fünfundneunzig Prozent der Fälle kannst du davon ausgehen, dass das Opfer seinen Mörder gekannt hat. Daraus resultiert, dass der Mörder so gut wie immer ein Bekannter und mitnichten der Gärtner ist.« Falls er von seinem Adlatus einen konstruktiven Beitrag erwartet hatte, sah Wammetsberger sich bitterlich enttäuscht.
»Aber bloß weil jemand einen kennt, bringt er ihn doch nicht gleich um«, wandte Gschwandtner mit bestechender Analytik und zwingender Logik ein. Das Präludium, um mehr oder weniger elegant auf ein neues Thema zu wechseln: »Im Prinzip kann es jeder gewesen sein – kann ja auch jeder in den Forst hinein! Sollen sich doch die Kasperlköpfe von der Kripo das Hirn zermartern, welche Spinner nachts mit der Mistgabel im Wald herumhupfen. Ich bin mit dem Ignaz im Roten Adler verabredet.« Er sah seinen Chef auffordernd an. »Schaust nachher auf a Hoibe vorbei, Schorsch? Eine geht schon!«
Wammetsberger blickte ihn missbilligend an. Aus unerfindlichen Gründen mochte er diesen odrahten Bazi, förderte und protegierte ihn nach Kräften. Ja, seit Jahren mühte er sich, ihn zu seinem Nachfolger aufzubauen. Die legere Dienstauffassung seines jeglichen Ehrgeizes abholden Schützlings konterkarierte indes bislang seine Bemühungen – und trieb ihn ein ums andere mal zur Weißglut. Gschwandtner mangelte es an innerer Stärke und Charakterfestigkeit, an der mentalen Einstellung und am Durchhaltevermögen. Eigentlich haperte es an allem, aber Schorsch war keiner, der die Flinte von vornherein ins Korn warf. Wammetsberger war nie ein Ehrgeizling gewesen, der Karriere machen und auf der Leiter nach oben wollte. Im Regelfall schob er mit Vorliebe eine ruhige Kugel – und achtete strikt darauf, jeden unnötigen Ärger zu vermeiden und möglichen Komplikationen aus dem Weg zu gehen. Seine Vorgesetzten mochten ihn für einen behäbigen, phlegmatischen, etwas minderbemittelten Fettwanst halten. Sie täuschten sich jedoch gewaltig. Wenn es darauf ankam, war er einer, der sich durchbiss, der dranblieb und nie aufgab. Wenn er Blut geleckt und eine Fährte entdeckt hatte, dann ließ er wie ein Bullterrier nicht mehr locker, dann erwachte der Jäger, der Spürhund in ihm. Und dieser Mistgabel-Mord weckte seine Neugier. Jemand musste einen gehörigen Grant gegen das Opfer gehegt haben.
Er hielt Gschwandtner das Fahndungs-Fax unter die Nase. »Weißt, was ich jetzt mach? Ich nehme mir den Wisch hier vor. Es ist meine Sache, was ich zu meiner Sache mach! Geht das rein in dein Spatzenhirn?«
Gschwandtner stand verlegen lächelnd an der Tür und überlegte, ob er zu seiner Ehrenrettung etwas vorbringen sollte, machte aber dann, dass er verschwand. Er tippte sich kurz an die Schirmmütze. »Pfiati Schorsch! Wir sehen uns beim Wirt!«
Verächtlich schnaubend sank Wammetsberger auf den Lehnstuhl. »Eine Arbeitsmoral – zum Grausen!« Dreiunddreißig Dienstjahre hatten ihn gelehrt, dass in der Ruhe die Kraft lag. So es in seinem Revier zu keinen gröberen Unfällen oder Vorfällen kam, ließ er es gemütlich angehen. Er dekorierte seinen Schreibtisch mit turmhohen Aktenstößen, als ob er vollends damit beschäftigt sei, den Berg von Anzeigen, Einvernahmen und Dienstanweisungen abzuarbeiten. Im Schubfach darunter hatte er allerdings ein paar halbe Dunkle und eine Flasche Obstler gebunkert. Statt sich also mit Lappalien und Routinekram abzuplagen, ließ er sich lieber seine Brotzeit und sein Bier schmecken. Wenn immer es ging, überließ er es den strebsamen Jungbullen, sich mit randalierenden Pickelgesichtern, Rocker-Rowdys und rumänischen Romas herumzuschlagen. Da er dreiundfünfzig, verheiratet und mit einem fein verästelten Netzwerk von Freunden und Spezln gesegnet war, war er als Beamter auf Lebenszeit so gut wie unantastbar und genoss Narrenfreiheit. Diese privilegierte Stellung gestattete es ihm, die PDV, die Polizeidienstvorschrift, nach eigenem Ermessen auszulegen und sich einige Freiheiten herauszunehmen. Sprich: Wammetsberger sorgte dafür, dass er in den Genuss gewisser Vergünstigungen und Annehmlichkeiten kam und sich keinen Haxen ausriss. So ignorierte er auch jetzt das penetrante Gepiepe und Gegurre des PCs. Er hatte neue Mails im Eingangsfach – na und? Der Lockruf der Silikon-Sirenen ließ ihn kalt. Was nutzte ein Tablet, Smartphone oder ein anderes IT-Utensil, wenn der Akku leer war oder jemand den Stecker zog? Nix! Nein, die digitale Welt war die seine nicht. Diese gestörten Gestalten, die unentwegt auf ihre Displays starrten, litten seiner Ansicht nach an einer autistischen Degeneration beider Hirnhälften. In ihren Eierköpfen lief eine Asperger-App. Hinter ihrer Google-Brille nahmen sie die wahre Welt nur noch durch einen Grauschleier wahr – und auch nur die Mosaiksteinchen, die in ihr verqueres Weltbild passten. Schorsch war kein Anhänger von Verschwörungstheorien, doch er war überzeugt, dass die Zombies dereinst nicht aus Kellerverschlägen, sondern aus den Kabelschächten hervorkrochen. Im Web wimmelte es nur so von hochgradig ansteckenden Erregern, von Würmern und Trojanern, die das Hirn befielen und irreparabel schädigten. Eine Seuche, die sich in rasender Geschwindigkeit ausgebreitet und die Ausmaße einer globalen Pandemie angenommen hatte. Doch gegen den Virus 2.0 war er immun. Schorsch musste sich allerdings eingestehen, dass die diversen Datenbanken der Polizeibehörden, aber auch Google & Co. eine wahre Fundgrube waren, um Fakten zu sammeln, die Hintergründe zu recherchieren und Fallprofile zu erstellen. Zu irgendwas mussten diese Scheißdinger ja auch taugen, dachte er gehässig.
Buchstabe für Buchstabe hämmerte er sein Passwort »Elfriede0709« – Name und Geburtstag seiner »Holden« – in die Tastatur und suchte gleichzeitig mit der anderen Hand die ellenlangen Fahnen des dünnen Faxpapiers zu bändigen. Mit halbem Auge sah er, wie sich die Schwarzweiß-Fotografie des Toten unter der Berührung seiner Finger wirr wellte und nur bruchstückhafte Teilpartien des Gesichts – Wangen, Mund, Stirn – zum Vorschein kamen. Nach heldenhaftem, aber vergeblichem Kampf hatte sich Schorsch heillos in den Papierbahnen verheddert. Fluchend suchte er in dem Wust nach Angaben zur Person des Opfers. »So ein Scheißdreck, so ein geschissener! Irgendwo muss doch stehen wie …«
Da schrillte das Telefon – wie immer im unpassendsten Moment. Der Klingelton variierte mit elektronischer Raffinesse das tückische Summen angriffslustiger Hornissen. Nur Sekunden später drangen aus den Untiefen seiner Uniformjacke Tschinellen, Tuben und Trompeten an sein Ohr. Der krachlederne Retro-Sound des Auer Gebirgsschützen-Defilees verwob sich mit den um ihn herumschwirrenden Synthi-Insekten zum kammermusikalischen Intermezzo eines avantgardistischen Tonsetzers. Mit der Wut der Verzweiflung befreite sich Schorsch aus den ihn wie Lianen umschlingenden Faxfahnen und klopfte die Jackentaschen nach dem klobigen, vorsintflutlichen Teil ab. Das Handy schleppte er nur als Alibi mit sich herum. Dass ihn jemand auf dem Mobiltelefon anrief, war so wahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Es musste sich also um eine dringende Angelegenheit handeln. Elfriede zumindest konnte es nicht sein. Auch nicht ihre umtriebige Tochter Roswitha, die mittlerweile siebenundzwanzig und gottlob schon seit Jahren unter der Haube und aus dem Haus war. Mutter und Tochter waren erst vor einigen Monaten zu militanten Mobilfunkgegnerinnen konvertiert. Der radikale Gesinnungswechsel lag darin begründet, dass Elfriede und Roswitha die Praxis des sportlich-feschen HNO-Arztes in Bad Brennbruck aufgesucht hatten, um sich nach alternativen, homöopathischen Behandlungsmethoden ihres chronischen Stirnhöhlenkatarrhs zu erkundigen. In dessen Wartezimmer hatten Mutter und Tochter einschlägige Magazine wie »Land-Vital«, »Frau aktiv« oder »BIO Brigitte« durchstöbert. Nach der Lektüre der bunten Blättchen rund um Hämorrhoiden und Herzinsuffizienz hatten sie sich einträchtig vom Saulus zum Paulus bekehrt. Noch vorigen Herbst hatten sich dank Tratsch und Klatsch die monatlichen Abbuchungen des lokalen Mobilfunkanbieters Grenz-Net in schwindelerregenden Höhen bewegt – nur um kurz vor Weihnachten gegen null abzustürzen. Der Sinneswandel war total. Elfriede verdammte mit sendungsbewusster Leidenschaft die »gesundheitlichen Gefahren« des modernen Teufelszeugs. Im Normalfall scherte sich Schorsch wenig um die »Suchten und Marotten« seiner sich in den Wechseljahren befindlichen Gattin. Termini wie »elektromagnetische Strahlung«, »Hochfrequenzfelder« oder »Mikrowellen« hatten ihn gleichwohl hellhörig, ja stutzig werden lassen. Mit einer Mikrowelle assoziierte er grässliche Tiefkühltruhenkost à la Pfannengyros und Nasi Goreng, welche er als Gamsbraten-Gourmet zutiefst verabscheute. Und was erfuhr er da? Während er mit irgendeiner Bratwurst telefonierte, wurde er wie selbige gegrillt! Merci, Mausi! Als Streifenbulle lebte man gefährlich genug.
Es dauerte eine geraume Weile, bis er sich mit amtlicher Akkuratesse meldete. »Polizeiinspektion Bad Brennbruck. Polizeihauptmeister Wammetsberger am Apparat!«
Eine nasale, nörgelige Stimme dübelte sich in seinen Gehörgang. »Fix, Schorsch, wo steckst du denn, bist auf den Malediven oder in der Watzmann-Ostwand? Ich versuch seit Stunden, dich zu erreichen.«
Der vorwurfsvolle Unterton vermittelte ihm das Gefühl, dass er sich einer Nachlässigkeit in der Erfüllung seiner polizeilichen Pflichten zuschulden hatte kommen lassen, so dass er nun selbst ins Stottern kam. »Ah Servus, Ignaz, griaß di! Was hast es denn so notwendig?«
Feingefühl, Empathie oder die Gabe, sich in einen anderen einzufühlen, gehörten nicht zu den hervorstechenden Charakterzügen von Ignaz Irgl. So fiel er auch diesmal mit der Stahltür ins Haus. »Was es gibt, fragst?«, mandelte er sich wie ein Gockel am Misthaufen auf. »Einen Mord hat es gegeben.«
Wammetsberger starrte auf die vielfach gefältelte Papierbahn, die sich wie eine Girlande um seinen voluminösen Leib schlang. Verdammt, hatte er nicht eben noch die Personenbeschreibung des Mordopfers in der Hand gehabt? Ihn beschlich eine ungute Ahnung. »Da erzählst mir nix Neues! Im Kreuzsteiner Forst wurde eine männliche Person tot aufgefunden. Ziemlich übel zugerichtet. Steht alles im Rund-Fax. Wär ja nicht die erste Leiche, die man da entsorgt – liegt schließlich praktisch gleich neben der Autobahn!«
Irgl gab Kontra. »Ach geh, wen denn! Den baschkirischen Drogenschieber und die alte Schnalle aus dem Kosovo. Auf die ist doch geschissen! Aber in dem Fall ist es einer von hier, aus unserem Gäu!«
Wammetsberger sog die Luft scharf ein und stieß hervor: »Wer denn? Jetzt red schon.«
Ignaz schnaufte wie ein Asthmatiker, ließ sich mit der Antwort aber Zeit.
Schorsch sah Irgl förmlich vor sich: seinen gewaltigen Kalbsschädel, aus dem eine dicke, fleischige Nase ragte. Die rot geäderten Wangen von einem struppigen Bart überwuchert, so dicht und verfilzt wie die ungewaschenen Dreadlocks eines Rastamanns. Der Figur und der Statur nach ähnelten sie sich wie zwei Eier derselben übergewichtigen Henne. Wie Wammetsberger hatte Irgl einige Kilo zu viel auf den Rippen. Wie er stemmte er die eine oder andere Maß zu viel und konnte bei Schweinshaxen und Schlachtschüsseln nie nein sagen. Bei den Aufmärschen der Gebirgsschützenkompanie Audorf marschierten sie Seite an Seite und schossen am Ehrenmal der gefallenen Kameraden gemeinsam Salut. Beide waren Bullen. Beide besaßen ein dionysisches, cholerisches Naturell. Ihrer Eskapaden wegen waren sie rasch in die Diaspora befördert worden. Schorsch zum Dienststellenleiter in Bad Brennbruck, Ignaz nach Grenzberg-Grund. Sie teilten denselben Dienstgrad und das Schicksal von Männern, die übereilt und vorschnell den Bund fürs Leben geschlossen hatten. Nach knapp dreißig Ehejahren hing der Haussegen schief in den Angeln. Seit ihre beiden Töchter ausgeflogen waren, um ihr eigenes Nest zu bauen, war die Schonzeit vorüber. Ihre Gemahlinnen Elfriede und Gerda ließen keine Gelegenheit aus, um ihren auf Abwege geratenen Mannsbildern die Hölle heißzumachen. Kurzum: Schorsch und Ignaz waren Leidensgenossen. Zu Hause sahen sie sich mit dem steten Vorwurf konfrontiert, nur auf der faulen Haut zu liegen und sowohl ihr Äußeres als auch ihre getreuen Gattinnen sträflich zu vernachlässigen. Was so natürlich nicht stimmte, befand Wammetsberger für seinen Teil. Rein äußerlich glichen sie sich wie siamesische Zwillinge, dem Charakter und dem Wesen nach waren sie hingegen grundverschieden.
Irgl druckste wie immer herum, ehe er mit rauer und gepresster Stimme zur Sache kam. »Ja weißt, Schorsch. Wenn ein Fremder ermordet aufgefunden wird, ja mei. Aber wenn man denjenigen kennt, dann ist das was anderes, dann ist das, wie soll ich sagen, tragisch.«
Wammetsbergers Geduldsfaden drohte zu reißen. Irgls Herumgerede ließ seine Stirnadern schwellen. »Soll ich dir deine Rammeln einzeln aus der Nase ziehen?« Ihm lag ein boshafter Nachsatz auf der Zunge, aber er beherrschte sich. »Ist es ein Kollege? Einer vom Schützenverein?«