Toxic Jobs - Rolf Schmiel - E-Book

Toxic Jobs E-Book

Rolf Schmiel

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Beschreibung

Wenn alles gut läuft, kann Arbeit Spaß und sogar glücklich machen. Aber leider läuft es oft schlecht. Dann macht Arbeit krank. Die Zahl der psychisch bedingten Krankschreibungen ist so hoch wie nie. Viele Menschen glauben, dass sie Ängste, Depressionen, Suchtkrankheiten oder totale Erschöpfung mit sich selbst ausmachen müssten. Der Gedanke, dass die Arbeit ein entscheidender Grund sein kann, liegt vielen fern. Mentale Gesundheit am Arbeitsplatz ist lange ignoriert worden, und wird weiterhin unterschätzt. Rolf Schmiel, einer der bekanntesten Psychologen Deutschlands, hat sich auf eine Reise durch die Arbeitswelt begeben, um das Thema besser zu verstehen. In vielen Begegnungen mit Betroffenen und Fachleuten hat er erfahren, welche Dimension das Problem hat und wie Lösungen aussehen können. Anschaulich, engagiert und zugleich unterhaltsam schildert er die Erlebnisse in seinem neuen Buch.

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Seitenzahl: 291

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FürCarmen & Leonard

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Teil 1: Was macht die Seele krank?

„Sie haben 133 neue Nachrichten“

„Ihre Befindlichkeiten interessieren mich nicht!“

Mobbing und Bossing: Wer, wen, warum?

Prinzip Zitrone

Nur ein kleines Rädchen

Schicht im Schacht

Teil 2: Sehenden Auges gegen die Wand: Der Skandal der Ignoranz

Alles viel zu teuer?

„Grüne Äpfel und ergonomische Stühle – haben wir doch alles!“

Der Rucksack, den wir alle mit zur Arbeit bringen

Gene, Erziehung und andere Katastrophen

Teil 3: Geschichten vom Gelingen

Betrieb ohne Mobbing

„Gute Gespräche sind kein Hexenwerk“

„Belastbarkeit kann man lernen“

Mit KI gegen den seelischen K. o.

„Unser Ziel: Mentale Fitness“

Schlussgedanken

Anhang: Quellen und Literatur

Vorwort

Als ich Anfang dreißig war, erlitt mein Vater seinen dritten Herzinfarkt – und starb daran. Den ersten hatte er mit 54; da war ich 15. Schon damals dämmerte mir, dass der Infarkt mit seinen wochenlangen Folgen – Intensivstation, Krankenhaus, Reha und maximale Belastung unserer Familie – mit seinem Beruf zu tun hatte.

Mein Vater kam am Ende des Krieges als Flüchtlingskind aus der Region Danzig ins Ruhrgebiet. Obwohl er kriegsbedingt nur vier Schuljahre absolviert hatte, arbeitete er sich vom Handwerker zum Versicherungskaufmann hoch. Er bewegte sich immer am oberen Rand seiner Möglichkeiten und seiner Leistungsfähigkeit. Seine Vorgesetzten erkannten das allerdings nicht – und erst recht erkannten sie es nicht an. Sie sahen nur sein Potenzial, nicht aber die Grenzen seiner Kräfte. Sie schätzten seine rhetorischen Fähigkeiten, sein Geschick im Umgang mit Menschen, sein Verkaufstalent und gaben ihm immer mehr Aufgaben. Damit übten sie immer mehr Druck auf ihn aus.

Mein Vater konnte sich nicht gut dagegen abgrenzen. Er war aus seinem Autoritätsverständnis heraus bestrebt zu tun, was von oben erwartet wurde. Und er wollte auch alles geben – im Beruf, in der Familie, im Freundeskreis, im Ehrenamt. Er war einer von den „Guten“. Und er war das, was die Psychologie heute einen people pleaser nennt: Er war immer für alle da. Außer für sich selbst. Und dafür haben er und unsere Familie einen hohen Preis bezahlt.

In meiner Arbeit als Psychologe und auf meiner Reise zum Studium der mentalen Gesundheit in der Arbeitswelt bin ich immer wieder auf dieses Muster gestoßen: Gerade die Guten, die Motivierten, die Engagierten reiben sich bis über die Grenzen ihrer psychischen und physischen Kräfte hinaus auf. Sie werden zerrieben zwischen den phlegmatischen „Alles egal“-Typen und den Egomanen, die auf Kosten anderer ihr Ding durchziehen und dabei über Leichen gehen. Und von diesen Leichen gibt es leider immer mehr. Ich glaube und fürchte, dass wir erst am Anfang einer Lawine psychischer Erkrankungen und Zusammenbrüche stehen, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Und dasselbe gilt für die psychosomatischen Erkrankungen. Wir gehen heute mit den Seelen der Arbeitskräfte genauso rücksichtslos um wie zu Beginn der Industrialisierung mit ihren Körpern. Es ist erschütternd, dass wir hier noch nicht weiter sind. Aber wenn wir uns in der Welt umschauen, sehen wir: Es geht auch anders. Warum zum Beispiel sind die Finnen die glücklichsten Menschen der Welt? Was machen sie als Gesellschaft besser als wir? Was können wir lernen von anderen?

Ängste, Depressionen, Suchtkrankheiten oder totale Erschöpfung: Millionen von Menschen leiden unter psychischen Belastungen. Wir sehen, dass immer mehr von ihnen unter den Lasten und den Ängsten des Lebens und der Arbeitswelt zusammenbrechen. Die meisten haben das Gefühl, sie müssten das mit sich selbst ausmachen, weil die Gründe bei ihnen lägen. Der Gedanke, dass die Arbeit ein entscheidender Krankmacher sein kann, liegt vielen fern – oder sie lassen ihn nicht zu.

Eigentlich kennen wir die Wege, die uns wieder aus der kollektiven seelischen Erschöpfung herausführen können. Wir müssen nur hinschauen. Meine Antwort auf die Krise heißt: Renaissance des Humanismus. Wir müssen uns wieder mehr am Menschen orientieren statt an Kennziffern und Wohlstandszielen. Was kann der Mensch, dieses wunderbare, unvollkommene Geschöpf, tatsächlich dauerhaft leisten? Wenn wir das nicht im Blick haben, stolpern wir immer weiter in die programmierte Katastrophe.

Ich möchte ein Verständnis schaffen für die Gefahr, in der die „Guten“ stets schweben: zerrieben zu werden. Und ich will zeigen, wie oft Vorgesetzte überfordert sind von dieser Gefahr. Weil sie nur das Managen von Abläufen gelernt haben und nicht das begleitende Führen von Menschen. Mein Buch soll dabei helfen, uns selbst besser zu verstehen. Zu begreifen, dass wir die Totengräber unseres Glückes, unserer Gesundheit und damit übrigens auch unserer Produktivität sind, weil wir das Seelische nicht ernst nehmen. Wir Deutschen verlassen uns seit jeher zu sehr auf Kopf und Körper und lassen die Seele und ihre Leiden außen vor. Dieses Buch ist ein Plädoyer für gelingende Leistung ohne Kollateralschäden.

Das Thema der nächsten Jahre wird nicht heißen: Performance. Und auch nicht: Optimierung. Sondern: Regeneration. Wir können hier vom Spitzensport lernen. Dort hat man längst erkannt, dass der Muskel in der Entspannungsphase wächst. Dass also Regeneration die Voraussetzung für Spitzenleistungen ist. In einem Olympiastützpunkt sah ich über dem Trainingsbecken der Schwimmer einmal einen Spruch an der Wand hängen: „Regeneration ist ein Teil des Trainings – und nicht sein Gegenteil.“

Manche Unternehmen haben das bereits verstanden. Es gibt sie, die Beispiele vom Gelingen, und ich werde im letzten Teil dieses Buches davon berichten. Wo immer ich bei meiner Reise auf Unternehmen gestoßen bin, in denen Menschen dauerhaft und nachhaltig kreativ sind und Spitzenergebnisse erzielen, waren die Arbeitsatmosphäre und die Arbeitsorganisation am Menschen orientiert – und nicht am Output. Der kommt dann nämlich ganz von selbst. Mentale Gesundheit ist also kein „Nice to have“ – sie ist die Voraussetzung nachhaltiger Produktivität. Nur dort, wo Menschen so arbeiten können, dass ihre Seele nicht krank wird, blüht auch das Unternehmen. Das sollte Deutschland sich zu Herzen nehmen.

Für dieses Buch habe ich mich auf eine Reise durch unsere Arbeitswelt begeben, um das Thema „Mental Health“ besser zu verstehen. In vielen persönlichen Begegnungen mit Betroffenen und Fachleuten habe ich erfahren, welche erschreckende Dimension das Problem hat, was es in Menschen und in unserer Wirtschaft anrichtet und wie Lösungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aussehen können. Das Anliegen dieses Buches und meiner Arbeit als Psychologe ganz generell lautet: Ich will die psychologische Intelligenz in Deutschland nach vorn bringen.

Dieses Buch ist weder ein Fachbuch noch eine Enzyklopädie mit Vollständigkeitsanspruch. Es ist ein Sachbuch, das sich dem Thema mentale Gesundheit am Arbeitsplatz in vielen Facetten widmet. Mir ist bewusst, dass ich das Thema nicht erschöpfend behandeln kann.

Mein Ziel ist es, die Gesellschaft für dieses Thema zu sensibilisieren. Denn die Frage, ob psychische Gesundheit am Arbeitsplatz in Unternehmen als relevantes Thema erkannt wird oder ob Menschen weiterhin bei der Arbeit zusammenbrechen oder sogar an der Arbeit zerbrechen, ist für unser aller Zukunft höchst relevant. Das lang praktizierte Ignorieren dieses Themas können wir uns heute, mit dem demografisch bedingten und sich künftig weiter verschärfenden Fachkräftemangel, schlicht nicht mehr leisten. Aber es geht mir nicht nur um die Gesellschaft, sondern um millionenfaches individuelles Leid. Darum zeige ich in Geschichten und Fallbeispielen, welchen Einfluss die Arbeitssituation, die persönliche Prägung durch Gene und Familie, die Gesellschaft und die Politik auf die mentale Gesundheit haben – damit wir die Zusammenhänge besser verstehen. Und ich zeige an Beispielen des Gelingens, wie Menschen und Unternehmen gelernt haben, besser und souveräner mit den vielfältigen Herausforderungen umzugehen.

Ein Hinweis zu den Quellen und der Literatur: Weil ich finde, dass Fußnotenziffern immer ein Element der Unruhe in die Lektüre bringen, habe ich die Nachweise im Anhang kapitelweise aufgeführt.

Rolf Schmiel,

Mai 2024

Einleitung

Eine Kollegin, die regelmäßig Unternehmen in schwierigen Phasen berät, erzählte mir neulich von einem interessanten Erlebnis. Der Vorstand einer größeren Regionalbank hatte sie damit beauftragt, die Stimmung und den „Stresspegel“ in der Belegschaft zu messen. Als sie damit fertig war, zweifelte sie zunächst an ihren Resultaten, die sich aber bei einer Nachprüfung bestätigten: Sage und schreibe siebzig Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren im gelben oder roten Bereich, was ihre Zufriedenheit und ihre seelische Stabilität anging. Sie hatten bestimmte Stressthemen, fühlten sich dauerhaft schlecht, hatten innerlich schon gekündigt oder standen bereits mit mindestens einem Fuß im Burn-out. Nur jeder Dritte fand seine Arbeitssituation mehr oder weniger in Ordnung. Normal ist das umgekehrte Zahlenverhältnis: Siebzig Prozent der Leute kommen mit den Belastungen und Konflikten, die Arbeit nun mal mit sich bringt, in der Regel gut klar, und dreißig Prozent haben mehr Stress, als dauerhaft vertretbar ist. Dreißig Prozent – das ist immer noch sehr viel, und dieses Buch wird zeigen, wie sehr das den Einzelnen, den Unternehmen und der Gesellschaft zu schaffen macht. Aber sieben von zehn Leuten?! Es war ein Wunder, dass in der Bank überhaupt noch irgendetwas funktionierte, und das Unternehmen steuerte zielstrebig auf ein Desaster zu. Die schlechte Stimmung hatte sich aufgetürmt, weil die Bank aus der Fusion dreier kleinerer Institute entstanden war, sodass alle Mitarbeitenden ihr altes „Wir“ verloren hatten und sich nun auf neue Abläufe, neue Kolleginnen und Kollegen und neue Arbeitsorte einstellen mussten. Diese anstrengende Transformation war offenbar nur unzureichend begleitet worden.

Alarmiert konfrontierte meine Kollegin den Vorstand mit ihren Ergebnissen und legte Ideen vor, wie man die eingetretene Situation verbessern könne. Und der Vorstand handelte schnell und konsequent: Er kündigte den Vertrag mit dem Beratungsunternehmen. Offenbar konnten die Führungskräfte nicht ertragen, so massiv den Spiegel für ihr Versagen vorgehalten zu bekommen. Lieber steuerten sie weiter in Richtung eines kollektiven Burn-outs.

Die Reaktion des Bankvorstands ist leider durchaus repräsentativ für die deutsche Arbeitswelt. Nicht-wahrhaben-Wollen, Leugnen und Verdrängen sind noch immer typische Reaktionsmuster in Unternehmen. Der Gedanke, dass die vielen psychisch bedingten Krankschreibungen mehr erzählen als nur tragische Privatgeschichten, ist vielen Führungskräften und Personalverantwortlichen weiterhin fremd. Natürlich tragen viele Angestellte auch privat ein Päckchen mit sich herum – darauf müssen Unternehmen sich einstellen. Was sie noch viel zu selten tun. Aber der Druck, unter dem so viele Arbeitnehmer stehen, hat auch etwas mit der Arbeit selbst zu tun. Das ist noch immer nicht überall angekommen. Das Thema „Mentale Gesundheit am Arbeitsplatz“ ist lange Zeit beinahe völlig ignoriert worden, und bis heute wird es massiv unterschätzt und bagatellisiert. Aber auch wo es erkannt wird, fehlen oft das Wissen und die Ressourcen, um sinnvoll gegenzusteuern. Unter dieser Ignoranz leiden sehr viele Menschen. Dabei wissen wir längst, dass selbst dann dringender Handlungsbedarf bestünde, wenn einem das persönliche Schicksal der Betroffenen gleichgültig wäre. Denn jeder Euro, der in mentale Gesundheit investiert wird, zahlt sich fünf- bis achtfach aus. Ganz nüchtern gesprochen: Die volks- und betriebswirtschaftlichen Kosten der vielen psychisch bedingten Krankschreibungen sind astronomisch. Sie sind in den letzten Jahren geradezu explodiert – und ein Ende dieses alarmierenden Trends ist nicht absehbar.

Wir leben in einer Zeit der mentalen Ausbeutung. Dazu ein paar Fakten zum Gruseln: Die Zahl der psychisch bedingten Krankheitstage hat sich von 2013 bis 2023 um mehr als fünfzig Prozent erhöht. Bei keiner anderen Ursache für Fehltage gab es eine auch nur annähernd vergleichbare Steigerung. Übrigens lautet die Krankheitsursache bei fast allen Krankschreibungen „Ängste und Anpassungsstörungen“ (51,4 Prozent) oder „Depressionen“ (40,6 Prozent).

Die repräsentative Onlineumfrage, die im September 2022 Daten für den AXA Mental Health Report 2023 erhob, zeichnete ein erschreckendes Bild. Insbesondere junge Erwachsene sind offensichtlich stark belastet. Alarmierende 41 Prozent der Frauen zwischen 18 und 34 gaben an, aktuell unter einer handfesten psychischen Erkrankung wie Depression, Essstörung, Angst- oder Zwangsneurosen zu leiden. In der Gesamtbevölkerung lag der Wert bei 32 Prozent. Aber auch Ältere, denen man gern pauschal eine höhere Resilienz zuschreibt, verschont der Trend nicht. Mehr als 40 Prozent derer, die 2022 wegen eingeschränkter Erwerbsfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand gingen, nannten psychische Belastungen als Grund.

Die Symptome, die auf gestresste und verletzte Seelen hindeuten, sind bedrückend weitverbreitet – und ihre Häufigkeit steigt dramatisch. So sagen 69 Prozent der Befragten, dass sie „nicht mehr richtig abschalten“ können – ein Jahr zuvor waren es noch 59 Prozent. Und der Anteil derer, die sich „unruhig und aufgewühlt“ fühlen, ist sogar von 56 auf 76 Prozent gestiegen. Auch weitere Erscheinungen wie Niedergeschlagenheit und Freudlosigkeit, Reizbarkeit und Angstzustände ohne unmittelbaren Anlass deuten auf massiven Stress hin. Die äußeren Gründe sind bekannt: Im Herbst 2022 waren die Auswirkungen der Coronapandemie und der Maßnahmen zu deren Eindämmung noch keineswegs verarbeitet – und der Ukrainekrieg hatte bereits begonnen. Die Preise für das tägliche Leben schossen in die Höhe. Und die Klimaveränderung, der Terrorismus und anderes sind zwar ein wenig aus den Schlagzeilen geraten, aber die Angst vor grundstürzenden Veränderungen unserer Lebensweise, vor dem Ende vieler Gewissheiten wirkt natürlich in vielen Menschen weiter. Ein ganzer Cocktail aus Bedrohungen bestimmt aktuell unsere Wahrnehmung der Welt – und viele davon erscheinen uns existenziell, weil der Kontrast zur Sicherheit und Stabilität der 1990er- bis 2010er-Jahre so groß ist. Vor allem jüngere Menschen sind außerdem massivem sozialen Stress ausgesetzt und ringen beispielsweise mit ihrem Körperbild. Und weil viele sich gar nicht mehr von ihrem Smartphone und den sozialen Netzwerken lösen können, wirken die dort erzeugten Erwartungen fast ununterbrochen auf sie ein.

Übrigens fällt es insbesondere Jüngeren leichter als früher, ihre psychischen Belastungen offen anzusprechen – sie nehmen eine abnehmende Stigmatisierung des Themas wahr. Kein Wunder – schließlich sind Depressionen in ihrem Umfeld beinahe schon zu einer „Volkskrankheit“ geworden. Ich denke, den meisten Leserinnen und Lesern geht es wie mir: Im Freundeskreis und in der eigenen Verwandtschaft kennt man mehrere Jugendliche und junge Erwachsene, die dem Druck, der auf ihnen lastet, kaum oder gar nicht gewachsen sind. Ältere hingegen haben oft Hemmungen, sich und anderen psychische Überlastung einzugestehen, und verlängern so ihr Leiden.

Und es gibt ja nicht nur die Weltlage und die sozialen Netzwerke. Jeder Mensch hat eine genetische Grundausstattung, die ihn mehr oder weniger anfällig macht für psychische Erkrankungen. Und jeder Mensch wird in seinen ersten Lebensjahren durch die Familie geprägt – und manchmal auch traumatisiert durch Gewalterfahrungen, Suchterkrankungen, die Trennung der Eltern, Krankheiten, Unglücksfälle oder Ähnliches.

Das ist der psychische Zustand, in dem Menschen heute an ihren Arbeitsplatz kommen.

Millionen leiden unter psychischen Belastungen: Ängste, Depressionen, Suchtkrankheiten oder totale Erschöpfung. Und sehr viele haben das Gefühl, sie müssten das ja wohl mit sich selbst ausmachen, weil die Gründe eben in ihrer Persönlichkeit, in der Weltlage oder in ihrem Privatleben lägen. Der Gedanke, dass die Arbeit ein entscheidender Krankmacher ist, liegt auch vielen Betroffenen fern – oder sie lassen ihn nicht zu. Schließlich sichert die Arbeit ihren Lebensunterhalt. Wenn es gut läuft, ist sie außerdem eine Art zweites Zuhause, das ihrem Leben Halt und Sinn gibt. Aber viel zu oft läuft es eben nicht gut. Und dann leiden Menschen massiv. Wer die Hälfte seiner wachen Stunden an einem Ort verbringen muss, der ihm nicht guttut, der wird fast zwangsläufig krank. Und auch bei vielen Krankschreibungen, die scheinbar nichts mit der Psyche zu tun haben, liegt die tiefere Ursache in Spannungen und Belastungen am Arbeitsplatz: Kopf-, Bauch- und Rückenschmerzen sind typische „Hilferufe“ einer leidenden, gestressten Seele, die sich ein körperliches Ventil sucht, um gehört zu werden.

Im ersten Teil des Buches schaue ich mir an, auf welche Arten der Arbeitsplatz die Seele krank machen und uns in den Wahnsinn treiben kann. Wie wirken sich ständiger Zeitdruck, dauernde „Change“-Prozesse und permanente Überforderung durch die Informationsflut aus? Was richten schlechte Vorgesetzte an mit ihrem fehlenden Einfühlungsvermögen und ihrer mangelhaften Anerkennungskultur? Wie erleben Menschen, die klare Vorgaben und vertraute Strukturen brauchen, die flexiblen Arbeitsmodelle der Gegenwart? In welchen Berufen sorgen Konflikte und bedrückende Erlebnisse besonders oft für seelischen Stress? Was richtet Mobbing in den Seelen von Menschen an? Diesen und vielen weiteren Fragen geht meine Reise durch das Arbeitsland Deutschland nach.

Häufig musste ich bei meinen Gesprächen erfahren, dass Arbeitnehmer sich wie lästige Bittsteller und Störenfriede fühlten, weil sie psychische Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz angesprochen hatten. Denn noch immer tun viele Unternehmer das Thema „mentale Gesundheit am Arbeitsplatz“ als „Hype“ ab und schütteln den Kopf über „Sensibelchen“, die sich wegen jeder kleinen Verstimmung krankmeldeten. Solche Vorgesetzten haben eindeutig den Schuss nicht gehört. Psychischer Arbeitsschutz ist weder ein Hype noch ein „Nice to have“, also ein Luxus, den man sich aus Prestigegründen leistet, weil es gerade gut läuft. Er ist vielmehr eine strategische unternehmerische Entscheidung, um Mitarbeiter gesund und leistungsfähig zu erhalten, um sie im Unternehmen zu halten beziehungsweise erst zu gewinnen und um Wachstum zu ermöglichen. Vom Skandal der Ignoranz gegenüber dem Thema, aber auch von den tragischen (Fehl-)Versuchen der einzelnen Menschen, mit dem Druck fertigzuwerden, handelt der zweite Teil des Buches. Was mich während meiner Recherchen erschreckt hat, ist der gewaltige Rückstand, den Deutschland beim Thema „psychische Gesundheit am Arbeitsplatz“ hat. International ist vieles schon Standard, was in Deutschland noch nicht ausreichend im Bewusstsein ist. In der deutschen Arbeitswelt werden Seelen oft noch mit Füßen getreten. Deutschland ist hier Entwicklungsland, weil wir keine gute Kultur im Umgang mit psychischen Krankheiten haben. Letztlich ist das ein Erbe des Nationalsozialismus und des kulturellen und wissenschaftlichen Kahlschlags, den er in seinem ideologischen, deutschtümelnden und antisemitischen Wahn angerichtet hat. Natürlich wurden mentale Erkrankungen bis vor etwa hundert Jahren überall stigmatisiert – aber in der angloamerikanischen Welt konnten das von Sigmund Freud entwickelte Instrument der Psychoanalyse sowie die Hilfe durch Gesprächstherapie sich viel früher und nachhaltiger durchsetzen als in Deutschland.

Vor hundert Jahren fehlte es vielfach noch am physischen Arbeitsschutz – Arbeiter starben durch vermeidbare Unfälle. Heute fehlt es oft immer noch am mentalen Arbeitsschutz. In ein paar Jahren wird man den Kopf schütteln über die Kälte, mit der man noch in den 2020er-Jahren in Kauf nahm, dass Menschen bei der Arbeit massenhaft seelisch kaputtgehen. Aber das Beispiel des physischen Arbeitsschutzes zeigt auch: Wenn das Problem erkannt ist, wenn es verstanden und ernst genommen wird, dann kann man etwas tun. Und international konkurrenzfähig im Kampf um gute Leute werden Unternehmen künftig nur dann sein, wenn sie mentale Gesundheit besser berücksichtigen.

Damit also nicht alles in Depression endet, erzähle ich im dritten Teil Geschichten vom Gelingen. Wo wird Arbeit so gestaltet, dass sie guttut oder zumindest nicht schadet, und wo und warum gelingt das nicht? Wie sieht Eigenverantwortung für gute Arbeit aus? Was sabotiert sie? Wie sehen eine gute, gesunde Arbeitsplatzgestaltung und Arbeitsorganisation aus? Was können Vorgesetzte und Unternehmen besser machen, damit über ihr Unternehmen nicht irgendwann gesagt wird, da gebe es „Toxic Jobs“?

Die nächsten fünf bis zehn Jahre werden eine Revolution im Bereich mentale Gesundheit bringen – aus drei Gründen:

1) Verändertes Bewusstsein: Depression, Ängste und andere psychische Erkrankungen sind enttabuisiert, und Achtsamkeit und Work-Life-Balance als Zielsetzungen sind akzeptiert.

2) Veränderte Bedingungen: Die Belastungen am Arbeitsplatz wie Produktivitäts- und Innovationsdruck nehmen weiter zu, und der demografische Wandel (Fachkräftemangel) erzwingt einen sorgsameren Umgang mit den psychischen Ressourcen der Belegschaften.

3) Veränderte Möglichkeiten: Die Digitalisierung wird Therapien und Unterstützung ermöglichen, wo es heute keine gibt: Videosprechstunden oder auch KI-gestützte Therapieangebote werden die Versorgung massiv verbessern.

Aber einfach abzuwarten, wäre fahrlässig. Jedes Unternehmen muss für die mentale Gesundheit seiner Belegschaft Verantwortung übernehmen – jetzt. Und auch jeder und jede Einzelne kann etwas tun. Wie wir als Gesellschaft das hinbekommen können – davon handelt dieses Buch.

Teil 1: Was macht die Seele krank?

„Seelische Krankheit“ – den Begriff muss ich erklären. Denn die Statistiken über Krankschreibungen zeigen nur einen Teil des Bildes. Wer zum Arzt geht, weil er die seelische Belastung nicht mehr erträgt und sich nicht mehr arbeitsfähig fühlt, hat schon einiges hinter sich. Deshalb haben wir für den Untertitel dieses Buches keine Formulierung mit dem Wort „krank“ gewählt, sondern eine umgangssprachliche: „Warum die Arbeit so viele in den Wahnsinn treibt und wie wir das ändern können“. Schließlich ist der Weg in den tatsächlichen Burn-out oft gepflastert mit Momenten, in denen wir denken oder schreien: „Mein Chef macht mich irre!“ oder „Die machen mich noch alle wahnsinnig hier!“ Diese Übertreibung hilft eine Zeit lang sogar, den akuten Druck loszuwerden. Oft teilt man diesen Moment des Frustabbaus mit Kollegen oder der Partnerin – und fühlt sich danach ein wenig entlastet. Meist lachen wir und die anderen danach sogar. Arbeitnehmer, die ich auf so einen Ausruf anspreche, beteuern in der Regel, dass es ihnen gut gehe und das mit dem Wahnsinn doch ein Scherz sei. Aber der Buchtitel Toxic Jobs deutet es an: Die Dosis macht das Gift. Wir kennen es von unserem Körper: Den einen alkoholgeschwängerten Abend, die eine Zigarette, die eine Extraladung Zucker steckt der Organismus gut weg – aber wenn man ihm diese schädlichen Substanzen dauernd zumutet, meldet er irgendwann: „Es reicht. Ich muss passen.“ Genauso ist es mit stressigen Situationen und Strukturen bei der Arbeit: Einmal, zweimal, dreimal halten die meisten eine hektische Schicht mit Überstunden, Zeitdruck und einem herumschreienden Vorgesetzten aus. Aber wenn so etwas zum Dauerzustand wird, sagt die Seele irgendwann: „Es reicht. Ich muss passen.“

Macht dieselbe Menge an Stress alle in demselben Ausmaß krank? Natürlich nicht. Wie schon erwähnt, tragen wir alle unseren persönlichen Rucksack aus Genetik und Prägung mit uns herum, weshalb es ganz unterschiedliche Stresstypen gibt. Was den einen an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt, lässt die andere erst so richtig aufleben. Manche reagieren aufgrund schlechter Erfahrungen schon auf einen unangebrachten Scherz höchst sensibel, andere überhören selbst derbe Anwürfe mit erstaunlicher Gelassenheit.

Generell können wir im Vergleich zu früheren Generationen von einer höheren Sensibilität für unangemessenes und übergriffiges Verhalten ausgehen. Bis vor etwa achtzig Jahren wurden Frust und Stress viel häufiger durch Gewalt abgebaut – sowohl in Familien als auch politisch, etwa in Form von Straßenschlachten und Kriegen. Entsprechend dick musste die Haut sein. Die Generation Z hat eher gelernt, auf subtile Aggressionen oder gar „Mikroaggressionen“ zu reagieren, und sie empfindet manches schon als übermäßigen Druck, was Ältere als „normal“ ansehen.

Wichtig ist mir, nicht den Eindruck zu erwecken, als seien es immer und ausschließlich die Arbeit und die Arbeitsatmosphäre selbst, die Menschen krank machen. Das ist mit „Toxic Jobs“ nicht zwingend gemeint. Natürlich gibt es das: Seelisch gesunde und stabile Menschen geraten in eine Arbeitssituation, die sie krank macht. Aber mindestens ebenso häufig dürfte der Fall sein, dass Menschen bereits vorbelastet sind durch Dinge außerhalb der Arbeit: ihre Prägung durch das Elternhaus, aber auch eine schwierige akute Familiensituation wie die Pflege eines Elternteils, eine schmerzhafte Trennung oder auch den ganz normalen Wahnsinn eines Lebens mit kleinen Kindern. Dann muss der Betrieb seine Verantwortung wahrnehmen. Er muss dafür Sorge tragen, dass die Arbeit solche Menschen nicht weiter krank macht. Das ist besonders herausfordernd, wenn man einen Mitarbeiter von einer anderen Seite kannte. Der dynamische und leistungsfähige Abteilungsleiter mit besten Karriereaussichten ist plötzlich fahrig und nervös, macht Fehler und schafft sein gewohntes Arbeitspensum nicht mehr in derselben Zeit? Kein Wunder, wenn er Vater von Zwillingen geworden ist, die die Eltern seit Wochen um den Nachtschlaf bringen. Oder wenn er – was viel mehr Väter wollen als früher – Anteil nehmen möchte am Aufwachsen seiner Kinder, was einen Teil seiner Zeit und Energie erfordert, die er früher in die Arbeit gesteckt hat.

Und woran erkennt man, dass die Psyche leidet und krank wird? Wie reagieren Menschen, wenn sie Stress nicht mehr auf gesunde Weise abwehren, abbauen oder ausgleichen können? In Teil 2 gehe ich auf die individuellen (Fehl-)Reaktionen wie zum Beispiel Suchtverhalten ein. Hier geht es erst einmal um unsere Grundbedürfnisse – und darum, was passiert, wenn diese Bedürfnisse dauerhaft verletzt werden.

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er braucht die Bindung zu anderen wie die Luft zum Atmen. Wenn es keine gute Verbindung zu Kollegen gibt, man sich also nicht wohlfühlt in der Gruppe, wird man zwangsläufig unglücklich. Mobbing ist die schwerste Form des Ausschlusses aus einer Gruppe.

Ein weiteres elementares Bedürfnis ist Orientierung. Wir wollen wissen, wo es langgeht und welchen Sinn und Zweck eine Tätigkeit hat. Und wir können unvorhersehbare, unerklärte und willkürliche Entscheidungen nicht ertragen.

Wir sind angewiesen auf die Überzeugung, dass wir einen Selbstwert besitzen. Wir brauchen Anerkennung dafür, wer wir sind und was wir leisten. Vorgesetzte, die das nicht berücksichtigen, machen ihren Job nicht gut.

Wir wollen möglichst viele Teile unseres Lebens selbst bestimmen, sie also unter Kontrolle haben. Wenn jeder Handgriff, jede Pause und die gesamte Organisation der Arbeit bis ins Kleinste fremdbestimmt sind, verstößt das gegen unser natürliches Bedürfnis nach Autonomie. (Nicht umsonst ist Gefängnis die härteste Strafe, die der Rechtsstaat verhängen kann – den Verlust der Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit.)

Wie wirkt es sich nun auf unsere Arbeitsfähigkeit aus, wenn die genannten Grundbedürfnisse regelmäßig missachtet werden?

Am einfachsten sichtbar für uns und andere ist die kognitive Reaktion: Ich denke bewusst darüber nach, warum die Kollegen mich schon wieder nicht gefragt haben, ob ich mit in die Mittagspause gehen will. Haben sie etwas gegen mich? Habe ich sie mit irgendetwas vor den Kopf gestoßen? Oder ich frage mich, ob die Chefin eigentlich zufrieden ist mit meiner Arbeit – sie hat schon lange nichts mehr dazu gesagt. Oder ich grüble, welchen Sinn es eigentlich hat, dass ich auf Anweisung von oben an einem Report arbeite, dessen Ergebnisse schon jetzt veraltet und irrelevant sind und den niemand jemals lesen wird. Solche Gedanken lenken ganz direkt von der Arbeit ab. Sie beschäftigen zumindest einen Teil des Gehirns, sodass uns Flüchtigkeitsfehler unterlaufen, wir falsche Schlüsse ziehen oder wichtige Schritte vergessen. Oft sind wir auch angespannt und werden hektisch und ungeduldig, auch im Umgang mit anderen. Aber wir können uns bei diesen Gedankenschleifen immerhin selbst beobachten – und etwas dagegen unternehmen. Dazu mehr in Teil 3.

Die emotionale Reaktion ist schwieriger zu kontrollieren. Gefühle wie Wut auf den Vorgesetzten oder auf „anonyme“ Gestalten („die da oben in der Zentrale“), Angst vor dem Gespräch mit dem Abteilungsleiter oder auch ein schlechtes Gewissen wegen eines vertuschten Fehlers lassen sich schwer beherrschen und steuern.

Wenn uns Probleme intensiv beschäftigen, bleibt das nicht ohne Auswirkungen auf unsere Seele – und auf unseren Körper. Wir alle kennen die schwitzigen Hände und das heftige Herzklopfen in einer unmittelbar angespannten Situation wie bei einem lautstarken Streit oder der Konfrontation mit einer unzureichenden Leistung. Und jeder kennt auch dieses mulmige Gefühl in der Magengegend, wenn wir einen Anruf erhalten und gebeten werden, umgehend beim Chef zu erscheinen. Solche Körperreaktionen dauern nur kurz. Gravierender sind die Auswirkungen, wenn wir über längere Zeit Stress, Grübeleien und Sorgen erleben. Wenn uns Wut, Nervosität und Angst längere Zeit beherrschen, ist unser Körper in ständiger Alarmbereitschaft – das bedeutet Stress für den Organismus, vor allem für das Herz-Kreislauf-System und den Magen-Darm-Trakt, aber auch für die Wirbelsäule. Irgendwann lassen uns die Gedanken auch nachts nicht mehr los, und wir leiden unter schlechtem Schlaf. Spätestens dann ist unsere Leistungsfähigkeit bei der Arbeit stark herabgesetzt. Müdigkeit, Rückenprobleme und Schmerzen im Kopf-Nacken-Schulter-Bereich wegen der dauernden Anspannung, eine größere Anfälligkeit für Infekte und ein erhöhter Blutdruck sind typische Folgen von dauerhaftem Stress. Leider bemerken wir sie oft erst verzögert oder bringen sie zu lange nicht in Verbindung mit unserer Arbeitssituation – zumal wir diese Möglichkeit oft auch verdrängen.

Wenn es ihr zu viel wird, sucht unsere Seele nach Auswegen. Eine typische Reaktion ist der Rückzug. Bei der Arbeit bedeutet das oft „Dienst nach Vorschrift“. Die Identifikation mit der Aufgabe und dem Betrieb lässt nach. Es ist uns eher mal egal, wenn eine Kundenanfrage unbeantwortet bleibt oder ein Projekt gegen die Wand fährt. Wir meiden gesellige Anlässe im Betrieb und gehen immer pünktlich nach Hause. Es fällt uns innerlich leichter, mal einen Tag blauzumachen. Auf dem Weg zur Arbeit denken wir nicht mehr an die anstehenden Aufgaben. „Mal schauen, was der Tag so bringt“, heißt das Motto. Das kann eine durchaus gesunde Reaktion auf Überlastung sein – aber nur, wenn sie bewusst gewählt ist.

Auch auf unser Sozialverhalten wirkt sich andauernder Stress aus. Wir fahren bei Meinungsunterschieden oder Nachfragen schneller aus der Haut, stürzen uns in Konflikte, sind weniger kompromissbereit und nehmen weniger Rücksicht auf die Gefühle anderer.

Und schließlich reagiert die Seele, indem sie krank wird. Ob wir es Burn-out nennen oder Depression: Wen es richtig erwischt, der findet sich in einem Verlies aus düsteren Gedanken, Niedergeschlagenheit, Ängsten, Zwängen, Selbstzweifeln und massiver Antriebslosigkeit wieder. Dieses Leiden wünscht man wirklich niemandem. Und dagegen hilft nur noch eine langwierige Therapie.

Doch genug vom Allgemeinen. Wir sind endlich am Ausgangspunkt meiner Reise durch die deutsche Arbeitswelt angekommen. Wir schauen uns gemeinsam ganz konkret an, was so viele in den Wahnsinn treibt. Ich fürchte, Sie werden so manches wiedererkennen …

„Sie haben 133 neue Nachrichten“

Ein ganz normaler Montagmorgen und der tägliche Informationsoverkill

Jan hat mich eingeladen, ihn einmal beim Einstieg in eine typische Arbeitswoche zu begleiten. Jan ist 47, fast einen Meter neunzig groß und topfit. Er ist verheiratet und hat eine zwölfjährige Tochter. Er arbeitet als Lektor in einem Verlag in Süddeutschland, ist den Umgang mit Informationen also gewohnt. Trotzdem sagt er: „Wenn ich montags um neun ins Büro komme, fühle ich mich wie ein Sportler, der hoch motiviert das Spielfeld betritt – und dann vom Schiri gesagt bekommt: ‚Ihr liegt null zu fünf hinten. Seht zu, wie ihr das aufholt.‘ Noch vor dem Anpfiff. Mein Dauergefühl ist das vergebliche Abwehren einer Flut.“

Jan bezeichnet sich selbst gern als „protestantischen Preußen“: gut organisiert, pflichtbewusst, pünktlich. Dass er leistungsfähig und -bereit ist, konnte ich selbst erleben, als wir bei einem früheren Projekt zusammengearbeitet haben. Umso schwerer kann ich mir vorstellen, dass ihn der ganz normale Alltag dauerhaft stresst. Aber er hat mir berichtet, dass er in der Nacht zu Montag seit Jahren schlecht schläft. „Meine Frau sagt, dass ich neuerdings mit den Zähnen knirsche – aber nur in diesen Nächten. Ich merke, dass ich sonntags schon angespannt ins Bett gehe und sich in mir eine Wut aufbaut, weil ich schon ahne, was mich am nächsten Morgen erwartet. Und weil ich den Preis dafür bezahle, dass ich mich an die Regeln halte.“

Welche Regeln? Nun, wie viele Unternehmen hat Jans Verlag eine Mail-Policy: Es gibt keine Verpflichtung, zwischen 20 Uhr und 8 Uhr sowie am Wochenende in die Mails zu schauen. Und die Geschäftsführung darf zwischen 19 und 7 Uhr und am Wochenende keine Mails verschicken. Ohnehin hat Jan vor ein paar Jahren beschlossen, nach Feierabend und am Wochenende nicht in seinen dienstlichen Mailaccount zu schauen – nach einer ernsten Auseinandersetzung mit seiner Frau. „Ich war da mehr und mehr reingerutscht. Am Ende saß ich vor dem Schlafengehen regelmäßig noch eine Stunde am Rechner und habe Vorgänge weggearbeitet, damit sie mich am nächsten Morgen nicht nerven. Und zwischendurch, beim Fernsehen, beim Essen und so weiter hatte ich immer ein Auge auf dem Smartphone, um sofort reagieren zu können, wenn wieder was reinkommt. Am Ende sogar, wenn ich Lina was vorlas. Da reichte es meiner Frau dann. Seitdem ist das Zuhause tabu für dienstlichen Kram. Aber den Preis dafür zahle ich am nächsten Morgen. Und speziell am Montag.“

In einem früheren Gespräch hat Jan seine Situation verglichen mit einem Ruderer, der während der anstrengenden Ruderei versucht, eindringendes Wasser sofort wieder aus dem Boot zu schöpfen. Das klappt nie vollständig, und das Leck, durch das Wasser eindringt, wird immer größer. Kein Wunder, dass er schlecht schläft.

Am heutigen Montag haben wir uns bereits für acht Uhr in seinem Büro verabredet. Er möchte mir unbedingt – „bevor der Wahnsinn losgeht“ – zeigen, wie er seinen Arbeitsplatz am Freitag verlassen hat. In den Büros des Lektorats ist es um diese Zeit noch leer. „Die meisten kommen erst gegen halb zehn, zehn. Aber mach dir keine Illusionen: Die sitzen alle seit sieben über ihren Mails. Sogar zwischen Rasieren und Duschen verschicken die Nachrichten. Sind alle gestresst davon – aber alle machen mit.“

Mit unverkennbarem Stolz zeigt Jan mir seinen penibel aufgeräumten Schreibtisch und erklärt mir dann sein Prinzip: „Freitagabends will ich maximal zehn Mails im Posteingang haben. Und einen To-do-Zettel mit den wichtigsten Dingen für die neue Woche. Wenn ich den schreibe, ist da immer eine Vorfreude. Trotz aller Erfahrungen denke ich immer noch: ja! Montagfrüh habe ich eine gemähte Wiese vor mir und kann mich endlich auf meine eigentliche Arbeit konzentrieren. Mal hintereinanderweg einen Text schreiben. Oder ein Kapitel lektorieren. Also das tun, was ich gut kann und was ich so mag an diesem Beruf. Aber dann …“

Jan zeigt mir seine Liste für diese Woche. Fein säuberlich und mit Spiegelstrichen stehen darauf etwa 15 Aufgaben. „Konzept Ampelbuch erstellen“, „Werbetexte 6–10 schreiben“, „Schmidt Kap. 3 redigieren“ und so weiter. Jan zuckt mit den Achseln. „Nichts davon dauert mehr als zwei Stunden. Netto. Aber jetzt schau dir mal meine To-do-Liste von Freitag vor einer Woche an.“ Er zieht unter der Schreibunterlage ein Blatt hervor, das auf den ersten Blick wie eine Kopie der neuen Liste wirkt. Es stehen exakt dieselben Dinge darauf. Lediglich ein Posten ist durchgestrichen: „Schmidt vertrösten.“ Und auf der neuen Liste sind zwei neue Aufgaben dazugekommen. Ich frage: „Aber wann machst du diese Sachen dann?“ Jan zuckt wieder die Achseln. „Zu Hause. Nach Feierabend. Wie alle. Nur bei abgeschaltetem Mailprogramm. Du kennst ja den englischen Spruch: You never get done any work at work. Hier im Büro bin ich fast nur damit beschäftigt, Anfragen zu beantworten und den Apparat zu bedienen. So ein Unternehmen mit mehreren Hundert Leuten ist ja wie eine Behörde. Statt das zu tun, was ich am besten kann und am liebsten tue, sitze ich in Meetings, schreibe Umsatzprognosen, pflege die Datenbank, dokumentiere Vorgänge … Aber das Frustrierendste ist, dass ich mehr abkriege als andere – weil ich so gewissenhaft bin.“

Ich schaue fragend. Jan öffnet daraufhin seinen Outlook-Account, und die neuen Mails rattern nur so rein. Schön fett gedruckt, damit sie bloß nicht übersehen werden. Nach einer Weile steht unten: „Elemente: 61. Ungelesen: 54.“ Jan beginnt, durch die Mails zu scrollen. „Diese sechs hier sind allesamt Antworten auf eine Mail, die ich am Freitag um 17:55 Uhrverschickt habe. Ganz bewusst so spät. Hier, schau: ‚Schönes Wochenende!‘, hab ich druntergeschrieben. Dass ich nicht lache. Die haben alle am Wochenende gearbeitet.“ Er scrollt weiter und kommentiert ironisch: „Oh, schick! Zwölf Nachfragen und weiterführende Anforderungen zu einer anderen Mail von Freitagnachmittag. Und hier: sechs Mails von ganz oben. Automatische Versendung mit Timer, heute früh um 7:01 Uhr. Formal hat der Chef sich also an die Regel gehalten … Na, jedenfalls bin ich jetzt bis mittags mit dem beschäftigt, was meine Arbeit von Freitag ausgelöst hat. Mindestens. Und hier: Die Mailbox war am Freitagabend leer. Jetzt habe ich sechs neue Anrufe. Alle vom Wochenende. Das ist doch krank!“

Vorsichtig frage ich: „Zeitmanagement-Fortbildungen habt ihr, oder?“ Ziemlich angefressen dreht er sich zu mir: „Danke! Ja, ich kann unterscheiden zwischen eilig und wichtig. Und ich weiß, welche Mails ich löschen kann, weil irgendjemand mich überflüssigerweise in cc gesetzt hat. Aber es ist einf…“ In diesem Moment klopft eine Kollegin an die offen stehende Tür. „Morgen, Jan. Du, ich hab hier diesen Fragebogen zum Arbeitsschutz.“ Jan seufzt: „Leg da drüben hin. Schau ich mir Mittwoch an.“ Die Kollegin zögert. „Mittwoch ist leider zu spät. Der Chef will es heute Vormittag haben.“ – „Echt heute?!“ – Sie nickt und grinst: „Weil ihm das Thema Stressabbau so wichtig ist. Ich hab da seit heute um sieben drangesessen. Die Seiten 14–17 sind besonders nervig. Hier, ich zeig dir mal mei…“ In diesem Moment klingelt das Telefon. Jan winkt die Kollegin mit einer Handbewegung raus und greift nach dem Hörer. „Ja, ich nehme teil am Freitag. Wie lange geht das denn? Was?!? Den ganzen Tag? Ich dachte, zwei Stunden. Ob ich was? Äh, nein, ruhig vegetarisch. Nicht vegan. Danke.“ Er legt auf und stöhnt. „Ein Workshop aller Abteilungsleitungen. Thema: Vereinfachung und Optimierung von Prozessen. Ist die vierte Runde dazu in drei Jahren. Endet meistens mit zusätzlicher Arbeitsverdichtung. Aber immerhin: Manche da oben merken schon, dass es einfach zu viel wird mit den Infos und den Aufgaben, und versuchen, an kleinen Rädchen zu dre… Moment! Da muss ich ran.“