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<p><strong>Training in der Neuroreha</strong></p> <p>Das Buch zeigt die wichtigsten Ger&auml;te und die daf&uuml;r m&ouml;glichen &Uuml;bungen f&uuml;r Patienten mit neurologischen Krankheitsbildern.</p> <p>Ideal f&uuml;r Physiotherapeuten, die ein optimal dosiertes und individuell zugeschnittenes Training an Ger&auml;ten durchf&uuml;hren wollen.</p> <p>Alle Trainingssequenzen werden mit zahlreichen Bildern anschaulich beschrieben.</p> <p>&nbsp;</p>
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Seitenzahl: 284
Training in der Neuroreha
Medizinische Trainingstherapie, Sport und Übungen
Sabine Lamprecht, Hans Lamprecht
313 Abbildungen
Neurorehabilitation ist ein spannendes Gebiet in der medizinischen Rehabilitation. Nachdem in der muskuloskeletalen Rehabilitation die medizinische Trainingstherapie schon seit einigen Jahrzehnten zum Standard gehört und auch in der kardiovaskulären Rehabilitation ein wichtiger Bestandteil ist, stellt sich die Frage, warum sich bisher die Trainingstherapie bei der Rehabilitation von neurologischen Patienten noch nicht etabliert hat.
Wir arbeiten seit Mitte der 1990-er Jahre mit neurologischen Patienten in der medizinischen Trainingstherapie. Schon damals setzten wir das Laufband (mit Gewichtsentlastung), Kraftgeräte, Ausdauergeräte und auch Gleichgewichtsgeräte wie Messplattformen, bewegliche Plattformen und das Space curl ein. Viele dieser Geräte waren damals schon mit Feedback Systemen ausgestattet und PC gesteuert.
Als wir 2009 angefangen haben, Kurse in „MTT in der Neurologie“ anzubieten, kam immer wieder die Frage nach einem Buch, das als Nachschlagwerk zu den Kursinhalten dienen kann.
Es gab kein Buch, in dem umfassend die Aspekte der medizinischen Trainingstherapie behandelt wurden und Hinweise zum Training bei unterschiedlichen neurologischen Erkrankungen zu finden waren. Zu einzelnen Aspekten und zu einzelnen Diagnosen finden sich in letzter Zeit immer mehr Bücher und Veröffentlichungen in Fachzeitschriften.
Der Gedanke, dass Personen mit neurologischen Erkrankungen oder Symptomen auch trainieren können und sollen wird in der Regel heute nicht mehr so kontrovers diskutiert, wie noch vor einigen Jahrzehnten. Da inzwischen immer mehr akzeptiert wird, dass das motorische, funktionelle Hauptproblem bei neurologischen Patienten meist die Schwächen sind, wird es immer selbstverständlicher, dass den Patienten angeraten wird zu trainieren.
Wir hoffen, dass wir mit diesem Buch dazu beitragen, Therapeuten zu ermuntern, mit ihren neurologischen Patienten auch in den Trainingsraum zu gehen und mit ihnen unter den Aspekten der medizinischen Trainingstherapie ein strukturiertes Training durchzuführen.
Wichtig ist uns, dass dies nicht nur bei fitten neurologischen Patienten geplant wird, sondern gerade auch bei schwer betroffenen (Phase-C-) Patienten. Nach unserer Erfahrung, werden sehr viele neurologische Patienten in der stationären und in der ambulanten Therapie nicht über- sondern unterfordert.
Ganz besonders möchten wir uns bei unseren neurologischen Patienten bedanken, die sich – zum Teil nach anfänglichen Bedenken – dann doch entschlossen haben, den anstrengenden Weg des Trainings an der Leistungsgrenze zu beschreiten und gemerkt haben, dass es sich lohnt. Diese Rückmeldungen der Patienten haben uns bestärkt, unsere Erkenntnisse in diesem Buch niederzulegen.
Wir hoffen, dass sowohl Physio- und Ergotherapeuten, als auch Sporttherapeuten von diesem Buch zum Wohle der neurologischen Patienten profitieren werden.
Sabine und Hans Lamprecht Kirchheim u. Teck im September 2015
Vorwort
1 Medizinische Trainingstherapie
1.1 Vom Altertum zur Moderne
1.2 Vom Bodybuilding zum medizinischen Fachgebiet
1.3 Von der Orthopädie zur Neurologie
2 Sport und Gesundheit
2.1 Bedeutung von Bewegung
3 Allgemeine Trainingseffekte
3.1 Motorische Grundfähigkeiten
3.2 Kraft
3.2.1 Krafttraining in der neurologischen Rehabilitation
3.3 Ausdauer
3.3.1 Ausdauertraining in der neurologischen Rehabilitation
3.4 Schnelligkeit
3.4.1 Schnelligkeitstraining in der neurologischen Rehabilitation
3.5 Beweglichkeit
3.5.1 Fördern von Dehnfähigkeit und Gelenkbeweglichkeit in der neurologischen Rehabilitation
3.6 Koordination
3.6.1 Koordinationstraining in der neurologischen Rehabilitation
3.7 Gleichgewicht
3.7.1 Gleichgewichtstraining in der neurologischen Rehabilitation
4 Neurologische Rehabilitation
4.1 Kortikale Reorganisation
4.1.1 Vorrangige Ziele bei der motorischen Neurorehabilitation
4.1.2 Moderne Ansätze und Konzepte in der neurologischen Rehabilitation
4.2 Feedback Training
5 MTT in der Neurologie – weshalb?
5.1 Einführung
5.2 Das motorische Lernen fördernde Faktoren
5.3 Behandelbare neurologische Symptome in der Medizinischen Trainingstherapie
5.3.1 Symptom Spastik
5.3.2 Symptom Parese
5.3.3 Symptom Ataxie
5.3.4 Symptom Gleichgewicht
6 Trainingsgeräte in der Neurologie
6.1 Trainingsgeräte
6.2 Ausdauertraining
6.2.1 Laufband
6.2.2 Fahrradergometer
6.2.3 Oberkörper-Ergometer
6.2.4 Cross-Trainer
6.2.5 Bewegungstrainer
6.2.6 Stepper
6.3 Krafttraining
6.3.1 Beinpresse
6.3.2 Kletterwand
6.3.3 Butterfly revers
6.3.4 Latzug senkrecht
6.3.5 Gewichtsstäbe
6.3.6 Langhantel
6.3.7 Kurzhanteln
6.3.8 Kniestrecker/Kniebeuger
6.4 Gleichgewichtstraining
6.4.1 Balance-Trainer
6.4.2 Spacecurl
6.4.3 Physiomat
6.4.4 Posturomed
6.4.5 Verschiedene Pads
6.4.6 Terrasensa
6.4.7 MTD
6.4.8 Sensamove
6.5 Vibrationstraining
6.5.1 SRT/Zeptor
6.5.2 Galileo/Wellengang
6.5.3 Power Plate
6.6 Klettern
6.6.1 Kletterwand (Boulderwand)
6.7 Kleingeräte für ein Training mit neurologischen Patienten
6.8 Slackline
6.9 SilverFit
7 Krankheitsbilder
7.1 Einleitung
7.2 Schlaganfall
7.2.1 Welches Training soll ein Schlaganfallpatient ausführen?
7.2.2 Weshalb Krafttraining in der Rehabilitation nach Schlaganfall?
7.2.3 Weshalb Ausdauertraining bei der Rehabilitation von Schlaganfallpatienten?
7.3 Multiple Sklerose
7.4 Morbus Parkinson
7.5 Querschnittlähmung
7.6 Schädel-Hirn-Trauma
7.7 Zerebralparese
7.8 Neuromuskuläre Erkrankungen
7.8.1 Allgemeine Hinweise
7.8.2 Empfehlungen zum Ausdauertraining
7.8.3 Empfehlungen für ein Krafttraining
7.8.4 Motoneuronerkrankungen (Vorderhornzellerkrankungen)
7.8.5 Neuropathien
7.8.6 Erkrankungen der neuromuskulären Übertragung
7.8.7 Myopathien
7.9 Spastische Spinalparalyse (SSP)
7.10 Schwer betroffene Patienten und Medizinische Trainingstherapie
8 Organisatorisches
8.1 Trainingsplanung
8.2 Personelle Voraussetzung
8.3 Räumliche Voraussetzungen
8.4 Gesetzliche Rahmenbedingungen
8.5 Gerätevoraussetzungen
9 Tests und Assessments
9.1 Tests für die Neurorehabilitation
10 Literatur
Anschriften
Sachverzeichnis
Impressum
„Wissen was gut ist und es nicht in die Praxis umsetzen, ist gleichbedeutend mit Mangel an Mut.“ (Konfuzius)
Schon in der Antike galt die Anleitung zum Selbstüben als ein sehr wichtiger Bestandteil der Therapie. Soranus von Ephesus (1.–2. Jahrhundert n. Chr.), dessen verlorene Schriften über akute und chronische Krankheiten durch den Arzt Caelius Aurelianus (um 400 n. Chr.) überliefert wurden, erklärte, dass bei Lähmungen der Patient die ersten Aufstehversuche aus einem Barbierstuhl (sella tonsoria) unternehmen soll und danach an einer Art Gehwägelchen das Gehen üben soll. Um die Gangsicherheit zu verbessern, soll der Patient auf einer Art Parcours üben, der aus unterschiedlichen Untergrundbeschaffenheiten und Hindernissen besteht (▶ [138]).
Von den Römern gelangten die Erkenntnisse vom Zusammenhang von Bewegung und Gesundheit über Byzanz zu arabischen und persischen Ärzten. Wir haben es der arabischen Kultur zu verdanken, dass das medizinische Wissen der griechischen und römischen Ärzte erhalten geblieben und von den arabischen Gelehrten weiterentwickelt worden ist. Abu Ali Sina (ca. 980–1037), der in Europa als Avicenna bekannt wurde, schrieb über 150 Werke. Er war eine der bekanntesten Persönlichkeiten seiner Zeit. Als persischer Universalgelehrter beschäftigte er sich neben der Medizin auch mit Physik, Philosophie, Astronomie, Alchemie und Musik. Sein bekanntestes Werk „Qanun“ (Canon Medicinae) war bis ins 17. Jahrhundert hinein eines der wichtigsten Lehrbücher der Medizin in Europa (▶ [138]). Die arabische Medizin wurde in erster Linie durch jüdische Ärzte aus Spanien und Portugal im mittelalterlichen Europa verbreitet. Danach beeinflusste die Kloster- oder Mönchsmedizin die Medizin im Mittelalter in Mitteleuropa. Diese Mönchsmedizin begriff die Hilfeleistung für Kranke als göttlichen Auftrag und in dieser Medizinphilosophie war ein gezielter Einsatz von Gymnastik oder Bewegung nicht vorgesehen. Erst die Renaissance brachte im 16./17. Jahrhundert wieder die Rückbesinnung auf die positiven Wirkungen von Bewegung auf die Gesundheit. Der italienische Arzt Hieronymus (Geronimo) Mercurialis (1530–1606) veröffentlichte 1569 sein Werk „De arte gymnastica“, in dem er die Bedeutung der antiken Gymnastik für die Erhaltung der Gesundheit in den Vordergrund stellte.
Pehr Henrik Ling (1776–1839), schwedischer Dichter und Autor, gilt als Erfinder der schwedischen Gymnastik und als einer der Väter der Massagetherapie. Ling zeigte nach seiner Reise durch Europa und seinem Dienst in der Armee Symptome von Rheuma und hatte Paralysen. Durch ein Training im Fechten erfuhr er eine körperliche Verbesserung der Symptome und schließlich wurde er vollständig rehabilitiert. Ling gründete danach 1814 das gymnastische Central-Institut in Stockholm. Das Institut wurde später dem Kultusministerium unterstellt. Ling leitete das Institut bis zu seinem Tod im Jahr 1839. Er entwickelte ein ganzes System von genau definierten Übungen, die in einer ganz bestimmten Abfolge durchgeführt werden mussten. Die „schwedische Gymnastik“ nach Ling beeinflusste über viele Jahre die Geschichte der Krankengymnastik (▶ [364]).
Der schwedische Arzt Gustav Zander (1835–1920) ließ in den Jahren nach 1850 ein System heilgymnastischer Geräte bauen und entwickelte die medico-mechanische Therapie. In den Jahren nach 1870 gründete Gustav Zander weltweit seine Zander-Institute, Deutschland wurde mit fast 80 Zander-Instituten führend. Der Gerätepark erreichte 1905 mehr als 70 Apparate. Ganz zu Recht kann Zander als der Protagonist und Erfinder der Fitnessstudios und des Franchise-Systems genannt werden. Ebenso war er ein Pionier und Wegbereiter der heutigen apparategestützten Trainingstherapie. Aus einem Zander-Institut, das vom Kieler Arzt Johann Hermann Lubinus als medico-mechanisches Institut geführt wurde, entstand im Frühjahr 1901 die erste in Deutschland staatlich anerkannte Lehranstalt für Heilgymnastik.
Die Frührehabilitation von Schlaganfallpatienten, wie sie zum Beispiel Tissot beschrieben hat, wurde nicht weitergeführt. Ganz im Gegenteil: in den Therapierichtlinien des allgemeinen Krankenhauses Wien wurden im Jahr 1888 Empfehlungen zur Behandlung von Schlaganfällen gegeben: „Apoplexia cerebrl. Gehirnblutung […] weiterhin strenge Bettruhe, flüssige Nahrung. Nach etwa 2 Monaten gegen die zurückbleibenden Lähmungen Faradisation der gelähmten Extremitäten. Gebrauch indifferenter Thermen. […] Zur Verhinderung weiterer Anfälle Sorge für regelmässige Stuhlentleerung.“ (▶ [225], S. 66).
Der Schweizer Arzt Heinrich S. Frenkel (1860–1931) war einer der Pioniere der neurologischen Rehabilitation. Er führte genaue Übungsanweisungen zur Behandlung der Ataxie bei Tabes dorsalis ein und erkannte, dass nur ein intensives in den Alltag integriertes Üben Erfolge bringt. Bei einer Untersuchung eines Tabes-dorsalis-Patienten ließ Frenkel den Finger-Nasen-Test durchführen. Der Patient schnitt beim Test schlecht ab. Einige Monate später kam derselbe Patient wieder zu Frenkel und schnitt beim Test erheblich besser ab. Frenkel konnte sich die Verbesserung nicht erklären. Auf die Nachfrage von Frenkel erklärte der Patient, er habe beim Test diesmal gut abschneiden wollen, deshalb habe er intensiv die Bewegung geübt. „Die wichtigste Eigenschaft der nervösen Substanz ist deren Übungsfähigkeit. Diese Eigenschaft beruht auf der Fähigkeit Eindrücke oder, ganz allgemein gesprochen, Zustände, welche wiederholt in gleicher Weise das Nervensystem ergriffen haben, in einer eigentümlichen Weise zu reproduzieren.“ (▶ [132], S. 105). Frenkel bemerkt auch, dass das Wie beim motorischen Lernen unbekannt ist, aber dass „der betreffende Vorgang sich häufig wiederholt hat“ und weiter: „Zur Erlernung irgendeiner neuen Tätigkeit müssen drei Factoren zusammenarbeiten: das Vorstellungsbild desselben, die Aufmerksamkeit, durch welche die Vorstellung eben in den Blickpunkt des Bewusstseins gerückt wird, und der wiederholte Ablauf der Tätigkeit.“ (▶ [132], S. 105). Hier beschreibt Frenkel die heute geltenden Vorstellungen über motorisches Lernen und die Möglichkeiten der Bewegungsvorstellung.
Ebenso sieht Frenkel die Notwendigkeit der Anpassung der Übungen an die Leistungsfähigkeit des Patienten (heute nennen wir dies „shaping“). Frenkel richtete ein Zimmer mit verschiedenen speziellen Trainingsgeräten ein, um mittels seiner speziellen Heilgymnastik die Fingerfertigkeit und die Mobilität seiner Patienten zu verbessern. Die Erfolge waren so gut, dass bald Patienten aus ganz Europa nach Heiden zu Frenkel kamen. Sein Ruf wuchs und immer mehr Ärzte besuchten ihn in seiner Einrichtung, um von seinen Erfahrungen zu lernen. F. Raymond, der Nachfolger von J. M. Charcot als Chefarzt vom Hôpital Salpêtrière, schickte seinen Assistenten R. Hirschberg nach Heiden. Hirschberg war von den Behandlungsmethoden von Frenkel so begeistert, dass er Raymond überzeugte und im Hôpital Salpêtrière den wohl ersten Gymnastiksaal in einer neurologischen Klinik einrichtete (▶ [454]). 1896 ging Frenkel nach Berlin und arbeitete an der Charité.
Otfrid Foerster (1873–1941), der zwei Jahre bei Frenkel in Heiden verbrachte, beschäftigte sich intensiv mit der Neurologie der Motorik. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es noch kaum effektive Therapien in der Neurologie. Foerster veröffentlichte 1916 und 1936 in Handbüchern seine Gedanken zur motorischen Rehabilitation, er nannte es „Übungstherapie“ (▶ [125] und ▶ [126]). Er erarbeitete einen „Leitfaden“ zur Behandlung von zentralen Paresen (Übersicht 3.1, ▶ [139], S. 43).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Einrichtungen für Patienten mit Unfallfolgen sowie „Krüppelheime“ für Kinder mit frühkindlichen Geburtsschädigungen bzw. Missbildungen eingerichtet. Bis dahin wurden Patienten im chronischen Stadium von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht unterstützt und waren auf die Armenhilfe der Kommunen angewiesen (▶ [288]). 1907 forderte dann der Orthopäde K. Biesalski den Aufbau einer öffentlichen „Krüppelfürsorge“ unter dem Motto „Almosenempfänger zu Steuerzahlern“.
1909 wurde dann die „Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge“ gegründet, die Vorgängerorganisation der heutigen „Deutschen Vereinigung für Rehabilitation“. Zwischen 1906 und 1914 wurde mit finanzieller Unterstützung des Fabrikantenehepaars Oskar und Helene Pintsch das Oskar-Helene-Heim gebaut zur Versorgung von orthopädisch und neurologisch behinderten Kindern und Jugendlichen. Dieses Heim gilt als erste deutsche Rehabilitationsklinik (▶ [138]). Im Oskar-Helene-Heim erhielten behinderte Kinder und Jugendliche eine medizinische Versorgung, besuchten die Schule, die dem Heim angeschlossen war und konnten an den eigens geschaffenen Werkstätten einen Beruf erlernen. Die Resultate dieser Rehabilitation waren so gut, dass der preußische Landtag 1920 das „Preußische Krüppelfürsorgegesetz“ einstimmig verabschiedete. Biesalski war maßgeblich an der Formulierung des Gesetzes beteiligt. Damit wurde zum ersten Mal ein Anspruch auf medizinische Behandlung und berufliche Eingliederung gesetzlich festgelegt (▶ [288]). Biesalski führte bis zu seinem Tod 1930 zusammen mit Hans Schütz (1875–1958), ein einflussreicher Protagonist der „Krüppelpädagogik“, das Oskar-Helene-Heim in Berlin. 1934 wurde das Heim der SS unterstellt und die führenden Ärzte des Oskar-Helene-Heims betrieben Maßnahmen zur Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (▶ [288]).
Einen neuen Schub für die Neurorehabilitation brachte der 1. Weltkrieg durch die Einrichtung von Speziallazaretten und Rehabilitationseinrichtungen für Kriegsverletzte. Im 1. Weltkrieg stieg die Zahl der hirnverletzten Soldaten zu Beginn sehr stark an. Dies führte zur Einführung des Stahlhelms. Die große Zahl der Hirnverletzten (250 000–300 000) machte die Gründung von speziellen Einrichtungen notwendig. Eine hervorragende Stellung, sowohl therapeutisch als auch wissenschaftlich, besaß das Frankfurter Hirnverletzten-Institut unter der Leitung von Kurt Goldstein (1878–1965). Leiter des psychologischen Instituts war Adrémar Gelb (1887–1936). Beide verfassten gemeinsam zahlreiche Arbeiten zum Verhalten von hirnverletzten Personen (▶ [138]). In diesen Hirnverletzten-Lazaretten wurde die rein medizinisch-chirurgisch orientierte Versorgung und Rehabilitation mit der psychologischen und beruflichen Rehabilitation verbunden.
Während der Nazizeit wurden viele dieser Forschungsansätze zur Rehabilitation neurologischer Patienten verlassen. Viele bedeutende Neurologen wurden in die Emigration gezwungen. Führende Nervenärzte erreichten 1942, dass in den Sonderlazaretten von hirnverletzten Soldaten die Tätigkeit von Psychologen verboten wurde (▶ [138]). Nach dem 2. Weltkrieg ist die Geschichte der Neurorehabilitation auch eine Geschichte der Zwangsemigration, da viele führende Spezialisten in die Emigration getrieben worden waren (Goldstein, Gelb, Isserlin, Fröschel) (▶ [138]).
Friedrich Schmieder (1911–1988) gilt als einer der Wegbereiter der modernen neurologischen Rehabilitation in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Im November 1950 gründete Schmieder in Gailingen am Hochrhein das „Sanatorium Schloss Rheinburg“ mit zunächst 20 Betten für Privatpatienten mit neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen. Nachdem 1957 ein gesetzlicher Anspruch auf Rehabilitation eingeführt wurde, wurde das Sanatorium in Gailingen ab 1960 zur neurologischen Fachklinik umgewandelt. Inzwischen gehören 6 neurologische Fach- und Rehabilitationskliniken in Baden-Württemberg zu den Schmieder-Kliniken. In den Kliniken werden alle Phasen der neurologischen Rehabilitation abgedeckt.
Von Beginn an propagierte Schmieder in seinen Kliniken das Konzept des Hirntrainings. Die ganzheitliche Behandlung neurophysiologischer (also „körperlicher“) und neurokognitiver („geistiger“) Symptome einschließlich intensiver psychotherapeutischer Betreuung erschien Schmieder als wichtige Voraussetzung dafür, Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe der Patienten optimal zu fördern. Schon 1956 hatte er seinen ganzheitlichen Behandlungsansatz in einer Denkschrift an den Bundesminister für Arbeit erläutert:
„Werden durch das Heilverfahren die körperlichen und geistigen Kräfte z.T. wiederhergestellt oder geübt, so ist ja damit aber noch nicht das ohne weiteres erreicht, was im Mittelpunkt der Rehabilitation stehen muss. Wir meinen das Wissen um die verbliebenen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten, die Wiedergewinnung von Lebensmut und Lebenshoffnung, die Klärung des künftigen sozialen und beruflichen Weges und besonders die Bereitschaft zum Einbau in die soziale Welt und zur Übernahme eines bestimmten Lebensrisikos.“ (▶ [359] 1991)
Die 5 Leitsätze von Schmieder passen ideal in die Grundprinzipien der heutigen Medizinischen Trainingstherapie in der Neurologie:
Ende des 19. Jahrhundert wurden in den Varietés Muskeln und Kraft zu Attraktionen hochstilisiert. Einer der Protagonisten des Kraftsports war Eugene Sandow, der 1867 in Königsberg als Friedrich Wilhelm Müller geboren wurde. Ab 1896 tourte er durch verschiedene Revueshows in den USA. Dabei führte er Kraftkunststücke vor und stemmte z. B. ein Pferd hoch. Er war ein geborener Showman, und so konnte er den Kraftsport in den USA schnell bekannt machen, der sich dann schließlich über das ganze Land verbreitete. Sandow nutzte sein Ansehen und veranstaltete 1901 den ersten Bodybuilding-Wettbewerb in London. Dieser Wettkampf gilt als Vorläufer des ab 1965 durch Joe Weider eingeführten internationalen Mr.-Olympia-Wettkampfs der International Federation of Bodybuilding and Fitness. Der Österreicher Arnold Schwarzenegger war in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts der international erfolgreichste Bodybuilder. Nachdem Schwarzenegger ab 1982 in Hollywood Erfolge feierte, erlebte das Bodybuilding auch in Europa zunehmend einen Boom.
Aus dem Krafttraining in Fitness-Studios entstand nach und nach die Idee, die Erkenntnisse der Sportwissenschaften auch in der Rehabilitation bei muskuloskeletalen Erkrankungen zu nutzen. Der norwegische Physiotherapeut Oddvar Holten veröffentlichte im Jahr 1962 den Artikel „Medisinisk Treningsterapie“ in der Fachzeitschrift „Fysioterapeuten“. Er erkannte bei der Behandlung von Sportlern, dass eine nachhaltige Verbesserung der Beschwerden nach der manuellen Behandlung größer war, wenn die Sportler nach der Therapie angepasste, sinnvolle aktive Übungen durchführten. Bereits 1967 wurde die Medizinische Trainingstherapie in Norwegen vom Gesundheitsministerium als Therapieform anerkannt. In Deutschland wurde 1983 die Medizinische Trainingstherapie von der Verwaltungsberufsgenossenschaft als „besonders indizierte Therapie“ eingeführt. Heute ist die Medizinische Trainingstherapie aus der Rehabilitation von muskuloskeletalen Erkrankungen nicht mehr weg zu denken (▶ Abb. 1.1).
Abb. 1.1 MTT-Raum.
Auch in der kardiovaskulären Rehabilitation, besonders nach Herzinfarkt, fand in den letzten 30 Jahren ein Paradigmenwechsel statt. Die Patienten sollen sich nach Herzinfarkt nicht schonen, sondern sollen durch gezieltes Training aktiviert werden. Die Medizinische Trainingstherapie ist inzwischen ein integraler Bestandteil der Rehabilitation bei kardiovaskulären Erkrankungen. Deswegen gehören Geräte wie Ergometer und andere Ausdauergeräte bei der Rehabilitation dieser Patienten unabdingbar dazu (▶ Abb. 1.2).
Abb. 1.2 Ergometertraining.
Die Erkenntnis, dass motorisches Lernen bei Patienten mit neurologischen Defiziten sich nicht von dem von Gesunden unterscheidet, bedeutet, dass die gleichen Prinzipien des Trainings in der orthopädisch-chirurgischen Rehabilitation und in der neurologischen Rehabilitation angewendet werden können. ▶ [173] haben zu Beginn der 90er Jahre die Wirkung von Laufbandtherapie mit Gewichtsentlastungssystemen bei Patienten nach Schlaganfall untersucht und die Wirksamkeit nachgewiesen (▶ Abb. 1.3).
Abb. 1.3 Laufband mit Gewichtentlastungssystem.
In den letzten Jahren wurden die Erfolge von Training bei vielen neurologische Erkrankungen nachgewiesen, die Umsetzung dieser Erkenntnisse hat jedoch noch nicht den Weg in den Alltag der neurologischen Rehabilitation gefunden. Viele neue Erkenntnisse in der neurologischen Rehabilitation basieren auf dem Wissen über motorisches Lernen. Diese Erkenntnisse kommen aus Trainings- und sportwissenschaftlichen Studien.
Beispiele für diese Erkenntnisse sind:
Repetitives Üben: viele Wiederholungen verbessern das motorische Outcome sowohl in der Qualität als auch in der Quantität.
Mentales Training: beim Sport und in der Arbeitswelt schon lange in Anwendung, in der neurologischen Rehabilitation erst zögerlich in Gebrauch.
Viele weitere Grundlagen des motorischen Lernens sind beim Training von Sportlern und bei neuen Ansätzen in der neurologischen Rehabilitation gleich oder ähnlich wieder zu finden.
Die Zukunft und der Berufsalltag der Therapeuten in der neurologischen Rehabilitation sind im Wandel begriffen. Der Einzug von Geräten in der Neurorehabilitation ist nicht aufzuhalten. Physio- und Ergotherapeuten müssen sich dieser neuen Herausforderung stellen, damit das Wissen und die Erfahrung dieser Berufsgruppen weiterhin in der Rehabilitation genutzt werden können. Wenn die beiden Berufsgruppen nicht bereit sind, sich dieser Herausforderung zu stellen, werden sie durch gut ausgebildete Sportwissenschaftler ersetzt werden. Leider ist die Zeit, die vergeht, bis wissenschaftliche Erkenntnisse der Therapiewissenschaften in die tägliche Praxis von stationären Einrichtungen eingehen, relativ lange. Meistens noch länger ist die Zeit bis zur allgemeinen Nutzung dieser Erkenntnisse im ambulanten Sektor. Viel länger ist aber die Dauer bis Kostenträger diese Erkenntnisse in Rahmenverträge oder ins Leistungsspektrum der Heilmittel aufnehmen.
Die Fähigkeit des Nervensystems, die eigenen Strukturen und Funktionen an neue Herausforderungen anzupassen, ist seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt. Durch immer bessere, mit immer höherer Auflösung arbeitende bildgebende Verfahren gewinnen wir immer mehr Erkenntnisse über die Plastizität des Nervensystems. Studien deuten darauf hin, dass die funktionelle Reorganisation des motorischen Kortex sowohl als Folge einer Läsion im zentralen oder peripheren Nervensystem (läsioninduzierte Plastizität) als auch als Folge motorischen Trainings stattfindet (trainingsinduzierte Plastizität; ▶ [111]; ▶ [384]). Mulder bezeichnet in diesem Zusammenhang den Menschen als „angeborener Anpasser“ (▶ [277]).
„Wer nicht jeden Tag etwas für seine Gesundheit tut, muss eines Tages sehr viel Zeit für seine Krankheit opfern.“ (Sebastian Kneipp)
„Es gibt kein Medikament, das so viele erwünschte Wirkungen hat und so wenige Nebenwirkungen wie Bewegung. Das Medikament „Bewegung“ hat einen großen Nachteil! Es muss vom Patienten selbst aktiv mit einiger Mühe hergestellt werden.“ (Paul Haber nach ▶ [257])
Der menschliche Körper ist seit über 10 000 Jahren darauf ausgerichtet bei Bedarf eine Hochleistung zu erbringen (▶ Abb. 2.1). In dieser Zeit haben sich jedoch weder Stoffwechsel noch Muskulatur geändert, lediglich die Lebens- und Arbeitssituation in den Industrieländern hat sich von Grund auf gewandelt. Für fast alle Menschen in den wirtschaftlich hochentwickelten Gesellschaften besteht heute kaum noch die Notwendigkeit, sich körperlich anzustrengen. Der Bewegungsmangel und die Fehlernährung sind mit die größten Probleme dieser Industriegesellschaften geworden. Die Folgen sind bekannt: Bluthochdruck, Diabetes, Arteriosklerose, Schlaganfall, Depressionen, Übergewicht, Krebs und Rückenleiden ().
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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