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Skurril-verrückt, liebevoll-chaotisch, herzergreifend-traurig
»Spiel!«, rufen die Zuhörer, als Michaela Dietl bei einem Auftritt mit ihrem Repertoire am Ende ist. Sie zögert, doch dann traut sie sich, beginnt zu improvisieren und lässt sich tragen von der Begeisterung des Publikums. Seither weiß sie, dass in der Musik wie im Leben Improvisation pure Lebendigkeit ist. Wer dies einmal erlebt hat, wird so wie die Autorin immer wieder lustvoll improvisieren und es genießen.
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das Buch
»Ein Rezept für Improvisation gibt es nicht – sonst wäre es ja keine. Fest steht: Jeder Mensch kann und muss improvisieren, sonst würde er nicht überleben. Schließlich ist das Leben kein Supermarkt, in dem alles im Regal steht.
Mit den Geschichten aus meinem Musikerleben möchte ich helfen, sich daran zu erinnern, wann und wodurch Improvisationen in einer unvorhergesehenen Situation vollkommen passend und originell waren. Und sie sollen Mut machen, sich dieser belebenden und befreienden Kraft anzuvertrauen.«
Die Autorin
Michaela Dietl ist in Landshut/Niederbayern geboren. Als Straßenmusikerin hat sie in ganz Europa gespielt und sich zeitweise das Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte damit verdient. Seit 1997 ist sie Profimusikerin und mit ihrem Programm im gesamten deutschsprachigen Raum und in Italien unterwegs. Michaela Dietl hat zwei erwachsene Töchter.
www.michaela-dietl.de
Michaela Dietl
Trau dich!
Improvisation – in der Musik wie im Leben Unter Mitarbeit von Gunna Wendt
Kösel
Meinen TöchternCarla und Mira
Inhalt
Morgengebet
Mein Aufbruch in die Welt
Musik – Hoffnung fürs Leben
Ein Künstler auf dem Bauernhof
Nahrung für die Seele
Aus der Erstarrung
Zwischen Johnny Cash und Harry Belafonte
Bierflaschenrhythmus
Akkordeon – Jetzt trau ich mich
»Das Proletenklavier«
Erste Auftritte
Zwischen Frauenwelt und Männerwelt
30 Forellen und ein Hut voller Münzen
Zwischen Weinen und Lachen
Wilde Jahre
Mutter und Musikerin
Ein besonderer Probenraum
Mit Liebeskummer nach Paris
Trennungen, Affären und meine Tochter Carla
Kinderlieder und Eifersucht
Wie mir meine Tochter Mira Halt gab
Mein eigener Ton
Das bin ich
Unterricht und eine Gans im Ofen
Der weite Ozean in meiner Küche
Das Unerwartete verändert das Klischee
Spielen mit Fantasiesprache
Leben ist Rhythmus
»Quetschenweiber«
Heilende Heimat
Ganz da sein
Die Neugier wiederfinden
»Hoamatland« im Krankenhaus
Jeder ist ein Instrument
Ein »Isarmärchen«
Improvisation ist die Würze des Lebens
Wenn Text und Ton auf einmal weg sind
Der vergessene Text
Als das C auf den Boden fiel
Jeder gescheiterte Plan ist ein Neuanfang
Schnulzen gibt es nicht
Das Schwein von Dijon
Die bairische Hochzeit
Ein Ausstellungsbesuch mit Sirtaki und Tarantella
Der Bankräuber und das Rosenatelier
Ein starker Abgang
Mit Mut den Funken zum Feuer entfachen
Es gibt keine Umwege
Eine andere Dimension
Improvisation und Hingabe
Unendlichkeit
Risiko lohnt sich
Dank
Morgengebet
Versuchen Sie, noch im Bett, bevor Sie aufstehen, zu summen. Sie liegen und brummen in sich hinein. Vielleicht sind Sie überrascht, wie dunkel Ihr Ton ist. Ja, es ist noch frühmorgens.
Geben Sie nicht auf! Der Ton wird lichter werden, räkeln Sie sich zu Ihrem Ton. Ja, es ist Ihr Ton. Das sind Sie. Sie stehen vor einem neuen Tag. Lassen Sie sich Zeit. Warten Sie, bis der Ton aus der Brust den ganzen Körper mitnimmt in den Klang. Dann stehen Sie langsam auf. Begleiten Sie sich, Ihre Bewegungen, mit der Stimme. Sie dürfen ruhig dabei schmunzeln, wenn Sie den ersten Fuß auf den Boden setzen. Und dann den zweiten. Produzieren Sie Töne dazu, egal, welche. Als mein Enkel zum ersten Mal stand, grunzte er!
Grunzen Sie, wenn Sie ganz stehen. Wenn Sie ins Bad gehen, begleiten Sie sich auch hierbei mit der Stimme. Versuchen Sie erst gar nicht, ein schönes Lied dabei zu singen, murmeln Sie lieber, räuspern Sie sich, grunzen Sie, pfeifen Sie, summen Sie. Vielleicht sind Sie es ja gewohnt, unter der Dusche zu singen. Bis dahin haben Sie sich eingestimmt.
Jetzt singen Sie und mit Gesang gehen Sie an Ihr Frühstück. Sollte es nur eine Tasse Kaffee sein, begleiten Sie auch diesen Vorgang wieder mit Tönen. Wenn Sie einen kleinen Frühstückstisch decken, komponieren Sie dazu kleine Melodien, die Sie vor sich hin summen. Auch das Anziehen, der Blick in den Kleiderschrank wird so zu Musik. Sollten Sie Zeit für Sex am Morgen haben, suchen Sie nach genüsslichen Tönen. Diese können sehr leise sein, fiepsige Laute, die Sie vielleicht selbst noch nicht kennen. Lassen Sie sich von Ihrer Morgenimprovisation überraschen: Die Welt danach wird bunter sein!
Seit einiger Zeit mache ich jeden Tag eine Morgenimprovisation, setze mich aufs Bett, nehme das Akkordeon und spiele das, was kommt. Improvisation geht zurück auf das italienische Wort »improvviso« – plötzlich, unvorhergesehen, unerwartet. Ich lasse alle Gefühle zu, tauche ein in den Moment, beobachte, wo ich mich kontrollieren will, suche die Konfrontation – seien es auch Tränen, die sich lange versteckt gehalten haben, sei es Wut, sei es Enttäuschung – eben genau, was eher unangenehm, unbequem scheint. Mit dieser »Selbsthygiene« stimme ich mich ein auf den Tag, mache mich zum Resonanzkörper, um die Welt empfangen zu können – und umgekehrt: empfangen zu werden.
Mein Aufbruch in die Welt
Heute früh im Bett gingen mir tausend Gedanken durch den Kopf und endeten immer mit der Frage, warum ich überhaupt Musik machen wollte. Ich erinnerte mich daran, wie schnell sich meine Stimmung jedes Mal veränderte, wenn meine jüngste Tochter Mira hier in der Wohnung Geige übte. Irgendetwas in mir öffnete sich, eine leise Zärtlichkeit breitete sich in mir aus, Poesie kam in den Raum. Auch die Dinge um mich herum fingen an, sich zu verändern, so, als sprächen sie mit mir. Mir war, als entstünde eine Verbindung – aber zu was? Zu allem?
Musik – Hoffnung fürs Leben
Wo liegt die Kraft der Musik? Warum wollte ich unbedingt spielen?
Plötzlich war mir der Tag sehr nahe, an dem ich beschloss, Musikerin zu werden. Ich stand auf dem Marienplatz in München und spielte leise Summertime auf meinem kleinen Akkordeon. Es blieben nicht viele Leute stehen, doch einen Fan hatte ich. Ich glaube, er arbeitete hier irgendwo in der Gegend, jedenfalls kam er fortan bei Summertime.
Ich stand da ganz allein, die Töne sprachen aus mir heraus, eine Sehnsucht nach »Summertime«, Leichtigkeit, Sinnlichkeit. Jedenfalls eine Sehnsucht heraus aus der Schwere, eine Sehnsucht nach Poesie.
»And the cotton is high …« Der Geruch eines Feldes, kurz bevor geerntet wird.
»Fish are jumpin’ …« Es bedarf der Ruhe, der Muße, zu warten, bis Fische springen. Da muss man schon eine ganze Weile aufs Wasser blicken, bis sie das tun, und sie tun es nur, wenn es ruhig ist.
Ein Künstler auf dem Bauernhof
»Your daddy’s rich …« Mein Vater, ein einfacher Bauernsohn, arbeitete hart, bot all seine Kräfte auf, um seine Familie zu ernähren, vier Kinder, dazu zwei uneheliche. Er war bei Linde in Höllriegelskreuth beschäftigt, darauf war er sehr stolz. Was er dort eigentlich tat, bekamen wir nie wirklich heraus. Wir litten keine Not, er wollte unbedingt, dass wir, meine beiden Schwestern, mein Bruder und ich, studierten. Das war für ihn das Wichtigste: Eine Frau sollte Bildung haben. Diesen Drang nach Bildung, Unabhängigkeit, nach Selbstständigkeit gab er mir mit auf den Weg.
Meine Mutter konnte die Schule nur selten besuchen, mein Vater brachte ihr Lesen und Schreiben bei. Seine eigene Mutter, meine Großmutter, kam mit einem großen Hut aus der Stadt nach Tegernbach auf den Hof meines Großvaters und musste ihn bewirtschaften. Mein Großvater hatte dazu keine Lust, er wollte lieber Theaterstücke inszenieren. Das tat er zweimal im Jahr mit Laiendarstellern. Das halbe Dorf spielte mit, er war der »Opa Kaiser«, bewundert und geachtet für sein Theater. Meine Oma war davon nicht so begeistert, sie musste für das Materielle sorgen, die Schweine im Stall füttern, das Feld bestellen, den Hopfen ernten.
»So a Künstler hod zwoa linke Händ!« Es war ihre Erfahrung mit meinem Großvater, dass er zu nichts zu gebrauchen war.
Mein Großvater sah das nicht so, seine Regiearbeit erfüllte ihn, wenn sie ihn nicht sogar rettete. Es heißt, er sei phasenweise schwer depressiv gewesen und hätte ohne das Theater vielleicht schon viel eher versucht, sich umzubringen. Seinen Selbstmordversuch mit 96 Jahren überlebte er.
All seine inszenierten Stücke hatten eine gewisse Tragikomik. Bei den Aufführungen wurde in Tegernbach laut gelacht. Ich schaute manchmal zu und fiel fast vom Stuhl vor Lachen. »Mogst mitschbuin?«, fragte er mich. Ich hatte keine Zeit, denn ich ging ja in München noch zur Schule.
So sehr dem Großvater sein Theater gefiel, so sehr litt meine Großmutter darunter, denn die ganze Arbeit auf dem Hof blieb an ihr hängen. Und dann gab es noch all die Frauen, die er liebte und die er mit nach Hause brachte. Gott sei Dank bekam sie das nicht mit, weil sie draußen auf dem Feld war. Die Beziehung zu meinem Großvater erkaltete dadurch dennoch. Es wurde nicht mehr miteinander gesprochen.
Mein Vater hat sicher mitgelitten mit seiner Mutter, dieser stummen, großen und starken Frau, die in der Früh aufstand und tat, was sie für notwendig hielt. Eiserne Disziplin und auch Demut vor den Tieren im Stall, die sie brauchten, zeichneten sie aus. Demut vor dem Feld draußen, das bewirtschaftet werden sollte, vor den Kindern, die essen wollten. All das übernahm sie. Zur »Oma Kaiser« wurde sie durch meinen Opa.
Einmal durfte ich dabei sein, als Ferkel auf die Welt kamen. Ich vergesse nie das warme rote Licht, und als mir die Oma dann so ein kleines nasses Ferkel auf den Arm legte, war ich überglücklich. Genau wie sie. Manche meiner Auftritte später kamen mir wie dieses Erlebnis vor: Alle grunzen und quietschen und allen wird es warm.
Als ich meinen Opa nach seinem Selbstmordversuch im Krankenhaus besuchte, machte er mit seinen Armen die Zugbewegung wie beim Akkordeonspielen. Er wollte mir Mut machen, nicht aufzugeben. Der Rest der Familie war sehr skeptisch bezüglich meiner Entscheidung, Musikerin zu werden. »Des is nix für a Frau«, waren sie sich einig.
Mein Großvater konnte meinen Wunsch verstehen. Er spürte, dass es mir Hoffnung gab fürs Leben.
Nahrung für die Seele
»And your ma is good-lookin’ …« Ja, meine Mutter war und ist wunderschön. Die reinste Poesie. Meinem Vater blieb die Luft weg, als er sie zum ersten Mal sah. Vor allem er, der mit einer Hasenscharte zur Welt gekommen war! Sie wertete ihn als Mann auf. Und sie war keine Feldarbeiterin, das übernahm er. Sie trug eine Hochfrisur wie aus einem Hollywoodfilm – Grace Kelly, eine Fürstin. Er wollte nicht, dass sich seine Frau so schinden muss, wie er es bei seiner Mutter erlebt hatte. Er wollte sie gut versorgen.
Meine Mutter liebte Harry Belafonte, diesen zarten gefühlvollen Mann, mein Vater liebte Mahalia Jackson, diese kräftige Seele einer Frau. Beide liebten sie Musik. Und so spürte ich, dass Musik etwas Besonderes sein musste. Anscheinend verband sie Menschen mehr als Sprache oder zumindest auf einer anderen Ebene. Musik war das Licht – aus dem Dunkel. Dem Dunkel des Krieges, der Nachkriegszeit, der Härte des Alltags? So ging es mir im Kopf herum. Musik berührte die Seele – was immer das auch sein sollte. Sie brachte etwas zum Schwingen, das man nicht sah, aber spürte.
Und das war es, was ich auf dem Marienplatz spürte, als ich Summertime spielte. Es war Nahrung für die Seele. Es gab etwas in mir drin, das Musik brauchte. Wo das war, wusste ich nicht. Ein geheimer Ort, ein innerer Tresor, der durch Musik geöffnet werden konnte. Der Heilige Gral? Etwas sehr Intimes wurde da berührt, ein Ort der Zärtlichkeit, etwas, das mir sonst meist fehlte, ein Hauch von Glückseligkeit.
»And the livin’ is easy …« Das kannte ich am allerwenigsten. Das Leben kam mir nicht leicht vor. Mein Vater arbeitete viel, unsere Wohnung war so groß wie die, in der ich heute allein lebe. Dort wohnten wir zu sechst, und mein Vater war schwer krank. Er trank viel, hatte einen gelähmten linken Arm, er litt – besonders, wenn er viel getrunken hatte –, noch immer unter seiner Internatszeit, sprach vom »Kuttenbruder«, weinte und verletzte sich selbst: Er zerschnitt sich mit einem zerbrochenen Weißbierglas die Arme. Wir spürten die innere Not des Vaters. Das prägte unseren Alltag.
»So hush, little baby, don’t you cry …« Traurigkeit war das Schlimmste. Bloß nicht traurig sein – das war die Devise meiner Mutter. Und sie war es doch.
Das spürten wir. Sie hielt aus und durch. Bewundernswert. Später verstand ich es kaum mehr, wie sie das geschafft hatte. Ich konnte einfach nicht so funktionieren. Wenn ich wenig geschlafen habe, bin ich unleidlich. Meine Mutter jammerte nicht. Das war der Preis für die Versorgung durch den Ehemann.
»One of these mornings you’re gonna rise up singin’ …« Ich stand auf dem Marienplatz und spielte, mit meiner Freundin Helga sang ich auch.
Zweistimmig. Das war besonders schön. Ich habe die Stimme meiner Mutter im Ohr, wenn sie sang. Da wollte ich bei ihr sein! Da war sie so schön für mich, so weich, so anders.
»Then you’ll spread your wings …« Ja, ich bekam Flügel, wenn ich spielte. Einmal sagte ein Bekannter: »Gebt’s ia die Quetschen in den Arm, da wead de ganz anders.«
»And you’ll take to the sky …« Die Musik war der Weg in den Himmel, weg vom Alltag, weg von der Schwere. Ein Weg in die Luft, ins Freie, weg vom Boden. Sehnsucht nach einer anderen Welt? Flucht? Sicher auch. Ausweg aus einem Trauma? Aber vor allem: Sehnsucht nach etwas, das Gefühl verspricht, Hoffnung, Liebe.
»But ’til this morning’, there’s nothing’ can harm you / Yes, with daddy and mammy, standing by …« Darin bestand wohl meine größte Sehnsucht: Beide sollten um mich herum sein, Vater und Mutter. Oft konnte ich diesen Text gar nicht ohne Tränen singen. Daher spielte ich das Lied lieber, als dass ich es sang.
Tatsächlich hatte ich als kleines Kind viele Monate lang allein im Krankenhaus gelegen. Nur einmal in der Woche war Besuchszeit. Die Musik gab mir jetzt so etwas wie ein mich umhüllendes Gefühl. Ich war nicht mehr einsam. Im Äther der Musik waren meine Eltern bei mir. So stand ich damals dann allein auf dem Marienplatz und fühlte mich geborgen.
Von außen sah das ganz anders aus: Da steht eine junge Frau, später auch noch schwanger, allein mit ihrem Akkordeon mitten auf dem Marienplatz mit einem Schrei in die Welt. Doch ich selbst fühlte mich endlich nicht mehr so allein. Ich war in der Welt. Das Akkordeon wurde zu meinem Begleiter, öffnete mir die Tore. Mit dem Akkordeon vor dem Bauch fühlte ich mich sicher. Dass es mich tatsächlich auch abschirmte, verstand ich erst viel später. Es wurde mein Schutz. Meine Eischale, die bloß nicht zu stark gedrückt werden durfte.
Aus der Erstarrung
Wie lange genau ich im Krankenhaus war, weiß ich nicht. Mit zwei Jahren wurde ich das erste Mal operiert. Die Krankenhausaufenthalte für die Operationen an beiden Beinen zogen sich über zwei Jahre hin. Die Besuchszeiten waren auf eine halbe Stunde wöchentlich beschränkt, sonntags gab es eine Extra-Besuchszeit. Ich lag also als kleines Kind in einem körperlangen Gips im Krankenhaus ohne eine wirkliche Bezugsperson – das war die übliche Praxis zu jener Zeit. Es ging um bestmögliche körperliche Betreuung, seelische Bedürfnisse waren kein Thema. Was es allerdings in meinem Zimmer gab, war ein Radio, das ich selbst an- und ausschalten konnte. Ein kleines altes Radio – das war mein Zugang zur Welt. Und mein Halt.
Der Besuch meiner Eltern tat eher weh, weil er so verdammt kurz war. Ich sei immer so stumm und still gewesen, wenn sie da waren, hätte nur traurig geschaut – so erzählte es mir meine Mutter. Schon zu Beginn des Besuchs hatte ich Angst vor dem Abschied. Wenn die Schritte meiner Eltern verhallten, war ich wieder allein. Allein mit meinem Radio.
Als ich entlassen wurde, gingen meine Eltern mit mir in ein Café. Meine Genesung sollte gefeiert werden! Mit Kuchen und allem, was ich mir wünschte. Das war damals etwas ganz Besonderes. Im Café saß ich wieder still und schweigsam auf meinem Stuhl – wie in meinem Krankenzimmer. Meine Mutter verstand das nicht. Schließlich war ich doch jetzt raus aus dem Krankenhaus. Sie wünschte sich so sehr, dass ich mich freute. Aber ich war einfach nicht voller Freude, sondern wie erstarrt. Meine Eltern wurden fast grantig, weil sie nicht wussten, was sie mit so einem Trauerkloß anfangen sollten. Ihre Ratlosigkeit beunruhigte mich. Trotz meiner äußerlichen Erstarrung war ich innerlich nervös und angespannt – und dann gab ich mir einen Ruck. Ich stieg auf einen der Tische im Café und begann zu singen. Schließlich hatte ich all die Schlager ständig im Radio gehört, jetzt konnte ich sie auswendig. Ich trällerte Zwei kleine Italiener und Marina.
Die Leute im Café waren begeistert. Und da stand ich mitten auf dem Tisch auf meinen wackligen Beinen. Im Gehen und Stehen war ich noch nicht wieder geübt. Meine Mutter reichte mir die Hand, damit ich nicht umfiel. Und ich trällerte weiter. Die Leute quietschten vor Vergnügen. Wie ich die Lieder gesungen habe, weiß ich nicht mehr, nur dass mir selbst gar nicht zum Lachen war. Doch endlich war die Spannung zwischen mir und meinen Eltern aufgelöst – sie freuten sich, und mir wurde wohl. Einer der Gäste ging sogar mit einem Brotkörbchen zum Sammeln.
Ich sang bestimmt eine halbe Stunde und wackelte mit meinen operierten Hüftchen im Rhythmus der neuesten Schlager – dort oben auf dem Tisch. Am Ende fuhren wir in einer ganz anderen Stimmung nach Hause. Meine Eltern waren stolz auf mich, und ich war erlöst. Ich hatte es geschafft mit Hilfe der Erinnerung an das, was ich dauernd im Radio gehört hatte. Ich hatte die Lieder »frei nach Schnauze« gesungen, improvisiert, ich hatte vorher nie ausprobiert, so zu singen. Im Krankenhaus hatte ich ja nur Radio gehört. Im Café auf dem Tisch – das war das erste Mal gewesen, dass Musik aus meinem Mund kam, mein eigener Ton. Darüber war ich selbst überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Zwischen Johnny Cash und Harry Belafonte
Musik bedeutete meinem Vater viel. Er spielte selbst auch Akkordeon – in einer Art, die meiner Mutter jedoch gar nicht gefiel. »Der haut so rein, das mag ich nicht«, sagte sie immer.
Einmal habe ich meinen Vater La Vie en Rose spielen gehört. Sein Gesicht dabei habe ich noch in Erinnerung: Das Lied schmerzte ihn, seine Sehnsucht war ihm selbst zuwider. Er schämte sich dafür. Am liebsten hätte er losgeheult, doch zugleich brannte er in dem Lied, so sehr berührte es ihn.
Diese Widersprüchlichkeit, diese riesige Spannung zwischen Sehnsucht und Scham prägten ihn zeit seines Lebens.
Wie ruppig er auch manchmal sein mochte, er spielte uns die gefühlvollsten Lieder vor, wie These Hands von Johnny Cash. Seine Lieblingssängerin war Mahalia Jackson, und wenn sie White Christmas sang, wurde uns Kindern ganz anders. Wir erkannten unseren Vater kaum wieder: Mahalia Jacksons tiefe, ausdrucksvolle Stimme – das gefiel ihm, ohne diese Stimme war Weihnachten kein Weihnachten. Auch das war der bairische Mann, der ständig darüber schimpfte, dass die Volksmusik so verkomme, dass kein Gefühl mehr in der Volksmusik sei, dass die Ruhe, das Innige fehle. Als Austauschschüler des Freisinger Internats war er in Amerika gewesen, der Jazz hatte ihn mehr als begeistert. Es war für ihn eine musikalische Offenbarung, dass es eine solche Musik gab. Er schwärmte von der Improvisation als einem Lebenselixier und ging so weit, Musikern, die nicht improvisieren konnten, das Musikersein abzusprechen. »A richtiger Musiker kann improvisiern, sonst is des koa richtiger!« Womit er sicherlich vor allem den persönlichen Ausdruck meinte.
Mein erstes Konzert mit eigenen Stücken kommentierte er mit den Worten: »Wennst ned improvisierst, fehlt noch was!«
Sein Herz schlug für die improvisierte Musik, auch in der Volksmusik, aber immer »mit Gfui«! Er wurde regelrecht aggressiv, wenn in der Musik das Gefühl fehlte. Einmal riss er vor Wut den Tannenbaum aus seiner Halterung, als er im Fernsehen eine Weihnachtssendung anschaute und ihm darin das Gefühl fehlte. Das hielt er kaum aus: »Die ham koa Gfui, denen geht’s bloß ums Geld!«
Mit Mitte dreißig hatte er einen Unfall: Er war auf einer Eisplatte ausgerutscht, als er seinem Vater helfen wollte, einen Bulldog anzuschieben. Sein Vater hatte bei dem Versuch, ihm den Arm wieder einzukugeln, einen Nerv erwischt. Seitdem war der linke Arm gelähmt. Ein tragischer Unfall, der es ihm unmöglich machte, weiterhin Akkordeon zu spielen. Wir schenkten ihm zu Weihnachten ein Keyboard, das er sich gewünscht hatte, aber es war halt nicht das Gleiche … »Do geht koa Gfui raus«, sagte er und wünschte sich eine Mundharmonika. Die spielte er gelegentlich – herzzerreißend, im wahrsten Sinne des Wortes. Weil er es selbst nicht aushielt, musste er danach unbedingt Weißbier trinken, um sich »vom Gfui« zu erholen.
Auch musikalisch wollte er uns erziehen. Schlager mochte er nicht. Der unterhaltsame Aspekt von Musik nervte ihn. Zwei kleine Italiener – meine Mutter pfiff das Lied. Ihr gefiel es, ihm nicht. Bei Harry Belafonte kamen sie musikalisch zusammen. »Des is halt a Musiker«, da gab er meiner Mutter Recht, auch wenn er zugleich ein wenig eifersüchtig darauf war, wie sehr sie ihn verehrte. Er ging nicht mit ihr zusammen aufs Konzert in München, sondern meine Mutter ging mit einer Freundin. Eine Revolution war das für uns Kinder: Was für eine Musik musste das sein, dass die Mutter sich traute, ohne den Vater da hinzugehen und sich ein Glitzerkleid dafür kaufen durfte! Wir Kinder holten es immer wieder aus dem Schrank und wollten, dass sie es nochmals anzieht. Es blieb bei dem einen Mal.
Meine Mutter liebte das Leichte in der Musik, das Unterhaltende. Mit Jazz konnte sie wenig anfangen. Mahalia Jackson war ihr zu wuchtig. »Das kann man nur ganz selten hören«, befand sie. Aber Johnny Cash gefiel ihr auch. Da traf sie sich wieder mit meinem Vater. Musik, die sie im Alltag begleitete, Schlager aus dem Radio – das war es, was meine Mutter mochte. Volksmusik langweilte sie – da war ihr zu wenig Schwung drin. Sie liebte Adriano Celentano, Vico Torriani, Conny Froboess. Das wiederum nervte meinen Vater. Er liebte es, auf der Couch zu liegen, wenn im Radio Stubenmusi lief. Einfache, ruhige Stubenmusi, authentisch gespielt, ohne Leistungsdruck, ohne Firlefanz, wie er sagte.
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