Traum einer Sommernacht - Andrea Eichhorn - E-Book

Traum einer Sommernacht E-Book

Andrea Eichhorn

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Beschreibung

Die junge Köchin Hanna lebt in einer langjährigen Beziehung mit Emil. Doch sie merkt immer mehr, dass sie andere Wünsche an eine Partnerschaft hat. Nach dem überraschenden Heiratsantrag von Emil bricht Hanna überstürzt nach München auf. Dort lernt sie in einer traumhaften Sommernacht Moritz kennen. Mit ihm fühlt sie sich sofort verbunden, und die beiden kommen sich näher. Doch Hanna reist zurück nach Kitzbühel. Auf Wunsch ihrer Mutter, die einen Herzanfall erlitten hat, versöhnt sie sich wieder mit Emil. Als ausgerechnet Moritz der neue Arzt im Dorf wird, ist das Gefühlschaos perfekt. Hanna ist hin und hergerissen zwischen ihren Gefühlen und dem Verantwortungsbewusstsein für ihre Mutter. Wie wird sie sich entscheiden?

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Die nachfolgende Geschichte spielt größtenteils in Kitzbühel, einem realen Ort in Tirol, und der umliegenden Gegend. Die Personen und Handlungen sind jedoch rein fiktiv. Übereinstimmungen mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

LESEPROBE zu

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2016

© 2016 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelfoto: © SeanPavonePhoto – Fotolia.com (oben) und

4FR – iStockphoto.com (unten)

Lektorat: Beate Decker, München

Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

Worum geht es im Buch?

Andrea Eichhorn

Traum einer Sommernacht

Die junge Köchin Hanna lebt in einer langjährigen Beziehung mit Emil. Doch sie merkt immer mehr, dass sie andere Wünsche an eine Partnerschaft hat. Nach dem überraschenden Heiratsantrag von Emil bricht Hanna überstürzt nach München auf. Dort lernt sie in einer traumhaften Sommernacht Moritz kennen. Mit ihm fühlt sie sich sofort verbunden, und die beiden kommen sich näher. Doch Hanna reist zurück nach Kitzbühel. Auf Wunsch ihrer Mutter, die einen Herzanfall erlitten hat, versöhnt sie sich wieder mit Emil. Als ausgerechnet Moritz der neue Arzt im Dorf wird, ist das Gefühlschaos perfekt. Hanna ist hin und hergerissen zwischen ihren Gefühlen und dem Verantwortungsbewusstsein für ihre Mutter. Wie wird sie sich entscheiden?

1

»Vergisst du mir auch ja ned die Spinatknödel und die Erbsensuppe, Hanna?«, rief Isolde Wagner mit unverkennbar gereizter Stimme in die winzige Küche der »Alpenrose« hinein.

»Nein, Mama!«, gab die Angesprochene mit gerunzelter Stirn zurück.

Dabei goss sie zerlassene Butter über die bereits auf dem Teller platzierten Spinatknödel, streute danach geriebenen Bergkäse darüber. So ganz kapierte sie selbst nicht, warum es auf einmal nicht nur auf dem Herd – natürlich, die Erbsensuppe! –, sondern auch in ihr drin immer heftiger zu brodeln begann. Noch mehr, als ihr Blick zu der großen Küchenuhr gewandert war. Kurz nach neun Uhr abends war es bereits, obwohl es eigentlich in dem kleinen Almgasthaus nur bis acht Uhr warmes Essen gab. Was Isolde aber gerne mal ignorierte, wenn bei schönem Wetter auch noch später Wanderer vom Wilden Kaiser mit knurrenden Mägen in der »Alpenrose« einkehrten. Hanna seufzte müde auf, stopfte sich zum wohl hundertsten Mal an diesem Tag eine lange widerspenstige Strähne zurück unter ihre Kochmütze. Seit geschlagenen zehn Stunden stand die gelernte Köchin bereits in der Küche, produzierte Spinatknödel, Kaiserschmarrn und Tiroler Gröstl am laufenden Band. Praktisch ohne Pause, wenn man von zwei kurzen Gängen auf die Toilette und einem Hüpfer hinaus ins Freie, um sich zumindest ein paar Minuten lang die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen, absah. Dennoch bedachte ihre Mutter sie mit einem Ton, als ob sie ein selten faules Stück wäre. Fast unmerklich schüttelte die Fünfundzwanzigjährige den Kopf. Sie verstand sich selbst nicht so recht. Bis jetzt hatte sie doch Isoldes herbe Art einfach hingenommen, meistens auf Durchzug geschaltet. Doch seit Kurzem fühlte es sich so an, als ob sie jeden Moment explodieren könnte. Offenbar war sie extrem dünnhäutig geworden …

»Ich richte den Salat an«, wurde sie da von der Resi, die ihr in den letzten beiden Stunden geschickt zur Hand gegangen war, aus ihren trüben Gedanken gerissen.

»Danke, du bist ein Schatz!«, lächelte sie in Richtung der alten Dame mit dem hochgesteckten grauen Zopf.

Weit über siebzig war die ehemalige Bergbäuerin, die ihren Hof längst verkauft hatte und nun in einer kleinen Wohnung in Kirchberg, dem Nachbarort von Kitzbühel, wohnte. Mit den Worten »Fürs Stricken allein bin ich halt noch viel zu quirlig«, hatte sie sich einige Monate zuvor bei Hannas Mutter mit einem ganz und gar nicht greisenhaften Augenzwinkern als Küchenhilfe vorgestellt.

»Und eine recht passable Köchin bin ich auch. Fragen S’ einmal meine Enkelkinder!«

Seitdem arbeitete sie mehrmals die Woche für ein paar Stunden in der Küche der »Alpenrose«, besserte sich damit ihre kleine Rente auf. Für Hanna ein wahrer Segen, denn allein war vor allem jetzt im Sommer der Ansturm der hungrigen Einkehrer kaum zu bewältigen. Außerdem verkörperte Resi mit ihrer herzlichen Art genau den Typ fürsorgliche Mutter, den sie sich insgeheim wünschte. Auch wenn sie vom Alter her eher ihre Oma hätte sein können. Wieder seufzte sie auf. Bestimmt war Isolde früher anders gewesen. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie sie sie als kleines Mädchen in den Arm genommen oder ihr zwischendurch immer wieder lächelnd über die dunklen Locken gestrichen hatte. Lang, lang war’s her …

»Jetzt reicht’s aber!«, wies sich Hanna nun in Gedanken scharf zurecht, während sie nicht mehr ganz so beschwingt wie noch am Vormittag Würstel für die Erbsensuppe klein schnitt. Schließlich war sie kein kleines Kind mehr, das andauernd Streicheleinheiten brauchte! Außerdem hatte ihre Mutter es eben nicht einfach gehabt im Leben. Aus einer armen Familie stammend, hatte sie sich als junge Frau in den feschen Peter mit den geheimnisvollen grünbraunen Augen verliebt. Die gleiche Augenfarbe, die neben Peters dunkelbraunen kräftigen Haaren auch Hanna geerbt hatte, während ihre vier Jahre ältere Schwester Marie genauso blond und blauäugig wie Isolde war. Strahlend blaue Augen hatte Isolde auch heute noch mit ihren sechsundfünfzig Jahren, und das sonnenhelle Blond zauberte jetzt ein exquisiter Friseur in Kitzbühel in ihr Haar. »Eine fesche Hüttenwirtin«, hörte Hanna die Gäste zuweilen anerkennend über ihre Mutter sagen. Allerdings auch den meist nur getuschelten Nachsatz: »Wenn sie nicht immer so verhärmt dreinschauen würd …«

Damit hatten sie wohl nicht ganz unrecht. Denn seitdem Peter sie und die zwei Töchter vor fünfzehn Jahren wegen einer anderen Frau, einer Urlauberin aus Salzburg, verlassen oder besser gesagt auf einem Berg Schulden hatte sitzen lassen, war ihre ohnehin nicht ganz heile Welt völlig ins Wanken geraten. So charmant der Peter auch war, er trank zu viel, trug, wenn man nicht aufpasste, jegliches ersparte Geld ins nächste Spielcasino. »Eigentlich kannst froh sein, dass du ihn los bist«, hatte Hanna damals eine Nachbarin nicht nur einmal zu ihrer weinenden Mutter sagen gehört.

Es war bestimmt als Trost gemeint gewesen, hatte aber nur noch heftigeres Schluchzen provoziert. »Krepieren soll er, der gemeine Teufel! Das wäre mein einziger Wunsch! Dann könnte ich wenigstens wieder glücklich werden«, hatte Isolde völlig außer sich zwischen zusammengepressten Lippen hervorgestoßen.

Keine sechs Monate danach war der abtrünnige Peter dann tatsächlich mit nur neunundvierzig Jahren an einer Leberzirrhose gestorben. Für die, die seine täglichen Alkoholrationen kannten, wenig überraschend. Doch Isolde war trotzdem kein bisschen glücklicher geworden.

»So, für heute hätten wir’s!«, sagte jetzt die Resi zufrieden lächelnd zu Hanna, während sie einen Kochtopf in ein schiefes Regal, von dem seit Langem der Lack abbröckelte, stellte. »Jetzt kannst endlich zu deinem Emil fahren und den Abend genießen.« Mit einem Achselzucken fügte sie fast wie zu sich selbst hinzu: »Obwohl ich mir manchmal nicht so sicher bin, ob du ohne ihn nicht besser dran wärst!«

Offensichtlich erschrocken über ihre eigenen Worte schlug sie sich mit der Hand gegen den Mund, und Hanna tat so, als ob sie nichts gehört hätte. Sie war ohnehin vielmehr über sich selbst entsetzt: So viele Gedanken über ihre Mutter gingen ihr heute durch den Kopf. Aber an ihren Freund, mit dem sie schließlich seit über sechs Jahren zusammen war, hatte sie bestimmt seit Stunden nicht mehr gedacht. Nun ja, im Grunde genommen war diese Beziehung eine weitere Baustelle in ihrem Leben. Erst vor Kurzem hatte sie versucht, mit ihm zu reden, weil sich mit der Zeit alles so anders anfühlte mit ihm. Aber natürlich war sie nicht völlig naiv: Frisch verliebt wie damals, als sie sich in einer Disco kennengelernt hatten, konnte man nach über sechs Jahren nicht mehr sein. Oder vielleicht doch? Die Marie war schließlich schon fast zehn Jahre mit ihrem Robert zusammen, seit vier Jahren gab es auch die kleine Emma – und dennoch hielten die beiden immer noch so oft wie möglich Händchen miteinander, himmelten sich gegenseitig an wie Teenager beim ersten Schulball … Eigentlich hatte sich Hanna das auch so vorgestellt: Dass sich nach dem ersten Feuerwerk eine vertraute Liebe zwischen ihnen entwickeln würde. Aber nun musste sie sich eingestehen, dass ihr der zugegeben sehr attraktive Mann von Tag zu Tag fremder wurde. Statt sich mit ihr zu unterhalten, hockte er lieber stundenlang vor seinem Computer. Und wann hatte sie eigentlich das letzte Mal in seinen Armen gelegen, wurde von ihm geküsst, ohne dass sie miteinander schliefen? Es musste eine kleine Ewigkeit her sein. Hätte hingegen eine Freundin Hanna diese Situationen geschildert, wäre ihr Urteil eindeutig gewesen: Der Mann wollte nicht mehr so richtig, wusste nur nicht, wie er es seiner ehemals Liebsten am schonendsten beibringen sollte. Na ja, im Grunde hoffte er wohl, dass sie es anhand seines Verhaltens möglichst bald selbst kapierte und sich verabschiedete. Aber bei Emil lagen die Dinge sicher anders: Er schien wirklich an ihr zu hängen, drängte ja darauf, dass sie nicht nur hin und wieder bei ihm übernachtete, sondern endlich richtig mit ihm zusammenzog. Schon lange war es ihm ein Dorn im Auge, dass sie noch in der Wohnung ihrer Mutter in Kitzbühel lebte, um noch eine Weile Geld für eine Eigentumswohnung oder ein eigenes kleines Häuschen anzusparen. Bestimmt wollte sie sich nicht sagen lassen, dass sie sich auf dem Vermögen ihres wohlhabenden Freundes ausruhte. Aber sie konnte natürlich nachvollziehen, dass der Emil mit ihr zusammenleben wollte. Nach sechs Jahren war das ja wohl völlig normal. Vielmehr verstand sie selbst nicht, warum sich alles in ihr dagegen sträubte … »Ja, die Mama lässt mich bei ihm aussteigen, dann machen wir uns einen gemütlichen Abend«, sagte sie jetzt mit einem etwas steifen Lächeln zur Resi. »Mein alter Käfer steht ja leider in der Werkstatt.«

In dem Moment steckte Isolde ihren Kopf zur Tür herein. Hanna musste kurz schlucken, hoffentlich nicht noch weitere späte Gäste, die man unmöglich wieder mit knurrendem Magen wegschicken konnte. Nein, das hatte sie ja auch gar nicht vor. Aber irgendwann, sie war doch auch nur ein Mensch und kein Roboter, musste ihrer Meinung nach auch ein zünftiges Schmalzbrot reichen. Aber Isolde hatte andere Neuigkeiten zu verkünden: »Der Emil hat gerade angerufen, er holt dich in einer Viertelstunde ab.« Mit einem beinahe schon hingebungsvollen Lächeln fügte sie hinzu: »Ein Traum, dieser Mann, nicht wahr? Kannst echt froh sein, dass du so einen gefunden hast.«

Aber danke auch! Das klang ja so, als ob sie nicht gut genug für ihn wäre … Und da war noch etwas: Insgeheim ahnte Hanna, dass Isoldes Begeisterung für Emil nicht ganz uneigennützig war. Hatten sich doch Emils Eltern, erfolgreiche Bauunternehmer, bereit erklärt, die schrecklich heruntergekommene »Alpenrose« für wenig Geld zu sanieren. »Das wird unser Prestigeobjekt, kommt ganz groß auf unsere Website. Quasi als Verschönerung unserer Region«, hatte Emil letztens stolz erklärt. »Schließlich darf man ein so schönes altes Almgasthaus nicht vor die Hunde gehen lassen.«

Aber Hanna sagte nichts zu Isoldes ein wenig gehässiger Bemerkung. Sie schlug auch nicht vor, obwohl es ihr auf der Zunge lag, dass ihre Mutter gerne einen Emil-Fanclub gründen könnte. Stattdessen murmelte sie bloß: »Sicher, er ist wirklich nett«, gleichzeitig zog sie ihr Handy aus ihrer Jeanstasche.

Bei ihr hatte er sich nicht gemeldet, hatte es vorgezogen, direkt ihre Mutter anzurufen. Die schien ihre Gedanken lesen zu können. »Er wollte dich nicht beim Kochen stören, deswegen hat er bei mir angerufen«, sagte sie scharf. »Das ist doch kein Verbrechen!«

»Nein, nein«, sagte Hanna hastig, die allmählich selbst fürchtete, langsam aber sicher ein wenig wunderlich zu werden. Warum fühlte sie sich auf einmal so fehl am Platz? Sowohl in der Küche der »Alpenrose« wie auch an der Seite von Emil? »Du bist einfach überspannt!«, gab sie sich in Gedanken selbst die Antwort und hängte ihre rot-weiß karierte Küchenschürze mit einer energischen Handbewegung an einen Haken.

In der nächsten Sekunde tippte ihre Mutter ihr von hinten auf die Schulter. »Besuch für dich!«

»Der Emil?«, fragte sie nach, doch da war ihre Mutter bereits mit grimmigem Gesichtsausdruck aus der Küche geeilt. Neugierig duckte sich Hanna, so, dass sie durch die Durchreiche in den zwar mit Alpenveilchen und weißen Tischdecken hübsch dekorierten, aber dennoch ziemlich heruntergekommenen Gastraum sehen konnte. Allein die baufällige Schank! Bei der hatte man ja das Gefühl, dass man sie allein mit einem scharfen Blick zum Einsturz bringen konnte … Im nächsten Moment beschleunigte sich Hannas Puls. Oh, da hinten, an einem kleinen Tisch am Fenster saß er. Und sie konnte sich nicht so recht entscheiden, ob sie entsetzt sein oder sich freuen sollte.

»Servus Hanna!«, grüßte Tobias Oberreiter, der Besitzer der »Goldenen Harfe« sie gleich darauf mit einem angenehm festen Händedruck.

In dem weit über die Tiroler Grenzen berühmten Edelrestaurant hatte Hanna ihre Kochlehre absolviert. Mit großer Leidenschaft … »und außergewöhnlicher Bravour«, wie Tobias Oberreiter ihr nicht nur einmal versichert hatte. Umso enttäuschter reagierte er, als sie kurz nach ihrem Abschluss gekündigt hatte, um wie noch zu Schulzeiten in der »Alpenrose« zu arbeiten. Ehrlich gesagt war er völlig fassungslos gewesen. »Nichts gegen Tiroler Hausmannskost, aber in dir steckt einfach mehr. Kochen ist dein Leben, bei uns kannst du dich da verwirklichen! Wenn ich nur an die super Gerichte denke, die du kreiert hast. Dein Lachs mit Orangenhonigkruste steht heute noch auf unserer Speisekarte.«

Hanna hatte damals die Tränen, die in ihren Augen brannten, verzweifelt wegzublinzeln versucht und es schließlich mit großer Anstrengung geschafft, auch wenn ihre Stimme danach ziemlich brüchig klang: »Meine Mutter braucht mich und findet auch niemanden, der ordentlich in der ›Alpenrose‹ kocht.«

Dass die Gründe womöglich auch die waren, dass Isolde nicht viel bezahlte und nicht allzu intensiv nach Köchen gesucht hatte, behielt sie lieber für sich. Und dann appellierte sie noch an das Gewissen ihrer Tochter: »Du wirst mich doch nicht im Stich lassen wie …«

Den Satz musste Isolde gar nicht vollenden, Hanna verstand auch so. Oft genug erzählten ihr die Leute, dass sie ihrem Vater nicht nur verblüffend ähnlich sehe, sondern dass sie auch sein heiteres und freundliches Wesen geerbt habe. Hanna konnte nur hoffen, dass sich eines Tages nicht auch die dunklen Seiten ihres Vaters bei ihr bemerkbar machen würden: seine Süchte, die er nicht im Griff hatte – nicht zufällig trank Hanna so gut wie nie Alkohol, aber auch seine Verantwortungslosigkeit, als er seine Frau verließ. Danach bekamen ihn auch seine damals erst zehn und vierzehn Jahre alten Töchter kaum mehr zu Gesicht. Der vorher so liebevolle Papa, der seine Töchter als wahre Goldschätze bezeichnet hatte, schien auf einmal wie vom Erdboden verschwunden. Bis er dann endgültig weg gewesen war … Hanna schluckte einige Male, dann war sie wieder in der Gegenwart angelangt. Wenn sie ihren ehemaligen Chef hier so sitzen sah, spürte sie unwillkürlich einen dumpfen Druck in der Brust. So richtig wollte sie gar nicht mehr an die schöne Zeit in der »Goldenen Harfe« erinnert werden. Das zog ihre im Moment ohnehin so düstere Stimmung noch mehr in den Keller. »Servus, Tobias!«, sagte sie dennoch freundlich lächelnd zu dem schlanken Mitvierziger. »Schön, dass du zu uns gekommen bist! Darf ich dir noch was zu essen bringen?«

»Nein, danke. Ganz lieb, aber ich hab keinen Hunger.«

Jetzt erst sah sie, dass er nicht mal ein Getränk vor sich stehen hatte. Ach, Mama … »Was darf’s denn zu trinken sein? Ein Glas Wein vielleicht?«, fragte sie hastig, dabei spürte sie, wie sich ihre Wangen röteten.

»Keinen Wein, danke. Da halte ich es so wie du. Nur ein Mineralwasser.« Er grinste jungenhaft. »Ist doch ein ganz schönes Stückerl zu euch herauf.«

Hanna nickte, hielt dann nach ihrer Mutter Ausschau, die an der Schank stand und mit verbissenem Blick Gläser polierte. Man konnte darauf gespannt sein, wann das erste unter dem Druck in tausend Teile zersplitterte … »Mama, kannst dem Herrn Oberreiter bitte ein Mineralwasser bringen?«, rief sie.

»Wenn’s sein muss …«, hörte man Isolde bis zu ihnen her aufstöhnen.

Am liebsten hätte sich Hanna in Luft aufgelöst. Noch mehr, als Isolde gleich darauf das volle Glas vor Tobias Oberreiter mit Schmackes auf den Tisch pfefferte. Der Mann zuckte nicht mal mit der Wimper, doch Hanna schnappte empört nach Luft. Gut, ihre Mutter war als resche Wirtin bekannt, aber zu den Gästen normalerweise auch herzlich und auf ihre etwas resolute Art zuvorkommend. Aber jetzt? Sie behandelte Hannas ehemaligen Chef dermaßen unfreundlich, dass man sich dafür zu Tode schämen konnte.

So, als ob er wüsste, was in ihr vorging, legte Tobias seine Hand begütigend auf ihren Unterarm. »Ist schon gut, ich nehm’ das nicht persönlich.«

»Es ist aber persönlich gemeint«, hätte sie wahrheitsgetreu erwidern können, stattdessen grinste sie schief. »Tut mir trotzdem leid.« Sie räusperte sich. »Ich freu mich aber wirklich, dich zu sehen.«

»Ich freu mich auch«, sagte Tobias, dann neigte er den Kopf näher in ihre Richtung.

Vielleicht auch deswegen, weil Isolde jetzt den Tisch neben ihnen mit Hingabe polierte. »Noch ein bisschen mehr und die oberste Holzschicht ist ab«, schoss es Hanna durch den Kopf, wäre sie nicht so verärgert gewesen, hätte sie sogar laut aufgelacht. Tatsächlich bot sich dem Betrachter ein spaßiger Anblick, wie die Mutter ewig herumputzte, vermutlich um nur ja kein Wort zu versäumen. Doch von Spaß konnte keine Rede mehr sein, wenn man den verkniffenen Gesichtsausdruck bemerkte.

»Du, ich hab ein Angebot für dich«, lenkte Tobias Hannas Aufmerksamkeit wieder auf sich.

Er schaute sie dabei so bedeutungsvoll an, dass sie nun doch lachen musste. »Ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann?«, fragte sie schließlich mit tiefer Stimme, so als ob sie höchstpersönlich Marlon Brando als »Pate« wäre.

Tobias grinste breit, und Hanna wusste wieder, warum sie so gerne in der »Goldenen Harfe« gearbeitet hatte: Es war nicht nur das hohe Niveau, auf dem gekocht wurde. Mit dem Tobias hatte sie einen Chef gehabt, der auch in Stresszeiten gute Stimmung verbreitete. »So ähnlich«, sagte er schließlich. »Ich mache es kurz: Unser Jungkoch Lukas hat eine Stelle in San Francisco angenommen. Mindestens für ein Jahr, aber vielleicht bleibt er auch ganz in den USA.«

Hanna nickte. Sie konnte sich gut daran erinnern, wie der schlaksige Mann schon zu Zeiten ihrer Lehre von Amerika geschwärmt hatte. Die Route 66, die Nationalparks, der Atlantik, Los Angeles, New York und natürlich San Francisco, seine absolute Traumstadt … Nach jedem Urlaub war seine Begeisterung noch größer geworden.

»Hast du Lust, wieder bei uns einzusteigen? Von mir aus kann es auch schon morgen losgehen. Du weißt ja, wie viel ich von dir halte.«

»Ich stelle es mir wirklich schön vor …«, sagte Hanna leise.

»Es wird fantastisch werden!«, bekräftigte Tobias. »Vor allem kann ich mir bei dir sehr gut vorstellen, dass du bald stellvertretende Küchenchefin wirst und dann …«

Plötzlich baute sich Isolde vor ihnen auf, ihre Wangen glühten vor Zorn. »Jetzt lass doch einfach mein Mädel in Ruhe! Die kocht hier gut und gern und hat wirklich keine Lust, sich in einem fremden Restaurant herumkommandieren zu lassen!«

»Dann wohl schon lieber von dir …«, musste Hanna denken, als sie in das wutverzerrte Gesicht ihrer Mutter schaute. Die ganze Situation war so peinlich, dass man nur noch den Kopf schütteln konnte. Das tat Hanna auch in Richtung von Tobias, der eben im Begriff war, aufzustehen. »Tut mir wahnsinnig leid. Vielleicht können wir das ja ein anderes Mal besprechen.«

»Machen wir. Komm einfach in den nächsten Tagen im Restaurant vorbei …« Er nickte Hanna kurz zu, dann legte er, ihre abwehrende Geste ignorierend, drei Euro für das Mineralwasser auf den Tisch.

»Du bist natürlich eingelad …«, begann sie mit betretener Stimme, doch da hatte sich ihre Mutter die Münzen bereits geschnappt und stapfte mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck zur Schank.

»Na endlich!«, bekam Hanna anstatt einer Begrüßung zu hören, als sie kurz darauf aus der »Alpenrose« in die sternenklare Nacht hinaustrat.

Millionen von Diamanten auf schwarzem Samt, wie Hanna wieder einmal überwältigt feststellte, als sie zum Himmel hochsah. Zu gerne hätte sie Emil dazu ermuntert, mit ihr »Sternderln zu schauen«. Aber so wie er mit offenkundig gereizter Miene neben seinem Auto stand, hatte er wohl keinen Sinn für den imposanten Nachthimmel. Im Übrigen ein auffallender neuer schwarzer Sportwagen, den er sich erst vor Kurzem zugelegt hatte – genau genommen ein Präsent von seinen Eltern. »Der Bua muss schließlich was darstellen, wenn er zu Kunden fährt. Da kann er doch nicht mit seinem alten Vehikel daherkommen«, begründete dies sein Vater Josef Hanna gegenüber mit demonstrativ hochgezogener Augenbraue.

Auch so hätte Hanna die Anspielung auf ihren alten hellblauen VW-Käfer verstanden, ignorierte sie jedoch. Genau, wie sie die Bemerkung, dass sie Emils Golf bei Weitem sympathischer fand als dieses Protzgefährt, runtergeschluckt hatte. Natürlich wollte sie ihrem Freund, der nun einmal in eine wohlhabende Familie hineingeboren worden war, die Freude nicht verderben. Auch jetzt versuchte sie, als sie in ihren Turnschuhen auf dem knirschenden Kiesweg auf Emil zukam, einen anerkennenden Blick in Richtung des Flitzers zu werfen. Was Emil jedoch nicht einmal wahrzunehmen schien. Okay, dann eben nicht … Mit einem leisen »Hallo« stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um dem großen blonden Mann einen Begrüßungskuss zu geben. Nur flüchtig erwiderte er ihn, was eigentlich keine große Überraschung war – gerne geküsst hatte Emil schließlich noch nie … »Aber warum stört mich das auf einmal so sehr?«, fragte sich Hanna ausgerechnet jetzt, während sie ihrem Freund einen eher verwunderten als enttäuschten Blick zuwarf.

»Was schaust denn so komisch?«, herrschte er sie an. Im nächsten Moment zog er sie mit reumütiger Miene an sich ran. »Tut mir leid. Ich hab heute einen echt anstrengenden Tag gehabt.«

»Ist schon gut«, murmelte sie, machte sich los und ging zur Beifahrerseite, um einzusteigen. Sie hatten beide lange gearbeitet, da sollte sie nun wirklich nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Trotzdem, wenn sie genauer nachdachte, herrschte diese genervte Stimmung zwischen ihnen bereits eine ganze Weile. Es schien geradezu wie verhext: Statt sich gegenseitig zu stärken, schienen sie sich ihre Energie zu rauben. Als sie neben Emil saß, wandte sie den Kopf in seine Richtung. »Danke, dass du mich abgeholt hast. War ziemlich viel los heute, und dann ist auch noch was passiert …«

Sie brannte geradezu darauf, ihm von dem Gespräch mit ihrem ehemaligen Chef zu erzählen, der fantastischen Chance, wieder in der »Goldenen Harfe« zu arbeiten. Allein der Gedanke daran, in der hochmodernen Küche zu stehen, anstatt am Herd der »Alpenrose«, der demnächst den Geist aufgeben würde, ließ ihre Haut am ganzen Körper kribbeln. Doch so wie sie Emils Gesichtsausdruck einschätzte, hatte er im Moment kein großes Interesse daran, ihr zuzuhören. Wie so oft. Wenn sie in der Vergangenheit von Problemen – meist mit ihrer Mutter – berichtet hatte, war sofort ein entnervtes »Du und deine verkorkste Familie!« von ihm gekommen. Natürlich hatte Hanna dann keine große Lust gehabt, weiterzureden.

»Hm«, gab er auch jetzt geistesabwesend von sich, während er mit verzücktem Gesichtsausdruck wie ein kleiner Bub den Motor startete. So laut, als ob er nicht mitten in der Natur stehen würde, sondern in der Poleposition bei einem Formel-1-Rennen.

»Geht’s ein bisschen leiser?«, raunte sie ihm wütend zu, konnte nicht verhindern, dass sie dabei die Augen verdrehte.

»Kannst vielleicht einmal den Mund halten?«, gab er nicht minder sauer zurück, dabei warf er ihr einen dermaßen vernichtenden Blick zu, dass Hanna der für sie einzige logische Gedanke durch den Kopf schoss: »Jetzt macht er Schluss mit dir.«

Fast schon neugierig hörte sie in sich hinein, ob Entsetzen oder Panik in ihr hochkroch. Ob eine Trennung von Emil ihr unsagbar wehtun würde. Nicht wirklich … Beinahe spürte sie so etwas wie Erleichterung, dass nicht sie diesen Schritt machen musste. Keine Frage, sie war fürchterlich feige. Und bestimmt kein bisschen stolz darauf.

»Hanna, so geht das nicht weiter«, sagte Emil tatsächlich.

Sie nickte, spürte plötzlich doch einen dicken Knödel im Hals. Und irgendein unsichtbares Wesen stemmte seine Faust fest gegen ihre Brust. Ja, auch wenn es so besser schien – Emil und sie waren dennoch sechs lange Jahre zusammen gewesen. Und am Anfang hatten sie, so unterschiedlich sie auch sein mochten, eine sehr schöne Zeit miteinander verbracht. »Ich sehe das genauso«, gab sie zurück. »Jetzt sind wir noch jung, können unser Leben so gestalten, dass wir glücklich werden.« Mit einem tiefen Seufzer fügte sie hinzu: »Zusammen sind wir es ja leider nicht!«

Emils Augen verengten sich auf einmal zu Schlitzen. »Was redest denn da für einen Blödsinn? Ich versteh rein gar nix!« Dann gab er wütend Gas, so heftig, dass der Sportwagen auf der schmalen Bergstraße, auf der sie Richtung Tal unterwegs waren, in einer Kurve ins Schlingern geriet. Gerade noch im letzten Moment, wie es aussah, bekam er das Auto wieder unter Kontrolle. »Ich wollte dir vorschlagen, dass du endlich aufhörst, in der ›Alpenrose‹ zu arbeiten. So viele Stunden stehst du in der winzigen Küche, der Herd pfeift auf dem letzten Loch …«

Hanna musste wider Willen lachen. »Ja, da hast recht. Ich warte eigentlich nur drauf, dass alles zusammenbricht.« Fast rührte es sie, dass sich Emil doch mehr Gedanken um sie machte, als ihr bewusst gewesen war. So oft hatte sie ihm erzählt, wie sehr sie sich eine Arbeit in einer gehobenen Restaurantküche wünschte. Denn vielleicht stimmte es ja, was man ihr beim Lehrabschluss prophezeit hatte: In ihr steckte ein großes Talent, das sie weit bringen würde.

»Flausen im Kopf«, hallte da plötzlich der Kommentar ihrer Mutter in ihrem Kopf wider. »Blöde Flausen im Kopf.«

Wenn Hanna jetzt an Isoldes Worte dachte, spürte sie erneut einen schmerzhaften Stich in der Brust. Es war ja nicht so, dass ihr das Kochen in der »Alpenrose« nicht lange Zeit Spaß gemacht hatte – und sie liebte die deftige Tiroler Hausmannskost. Aber so allein lernte sie kaum etwas dazu. Im Gegenteil, sie hatte vielmehr das Gefühl, als ob alle Kochkenntnisse, die sie in der »Goldenen Harfe« erworben hatte, bereits tief verschüttet waren. Ja, bestimmt würde der Tobias entsetzt sein, wie stümperhaft sie sich nun anstellte!

In der nächsten Sekunde wurde ihr erst wieder bewusst, dass zwischen Emil und ihr ein höchst unangenehmes Missverständnis bestand. Auch wenn er ihr offenbar gut zureden wollte, sich einen Job in einem Restaurant zu suchen, musste sie ihre Zweifel an ihrer Beziehung endlich offen aussprechen. Sie atmete tief durch, dann setzte sie zum Reden an. Doch Emil sprach bereits weiter: »… Deswegen habe ich mir gedacht, du beginnst bei uns in der Firma im Büro zu arbeiten. Da kannst dich gleich auf die Zukunft vorbereiten, wenn wir …«

Weiter kam er nicht, denn Hanna unterbrach ihn. Wie sie selbst erschrocken bemerkte, mit entsetzlich schriller Stimme: »Ich möchte nicht bei euch im Büro arbeiten. Davon habe ich doch gar keine Ahnung. Verstehst du denn nicht, dass ich in einem Restaurant kochen möchte?« Sanfter fügte sie hinzu: »Und ich mache mir wirklich Gedanken über uns. Ob wir noch so gut zusammenpassen wie früher. So richtig glücklich wirkst du auf mich auch schon lange nicht mehr.«

Emil hatte seinen Wagen inzwischen vor seinem eindrucksvollen Elternhaus am Stadtrand von Kitzbühel, einem Neubau im Stil eines alten Tiroler Bauernhauses, in dem er in einer schicken Einliegerwohnung lebte, eingeparkt. Völlig verständnislos starrte er Hanna an: »Ich weiß gar nicht, was mit dir los ist. Uns geht’s doch super miteinander!«

»Aber …«

Er unterbrach sie: »Du bist nur deswegen völlig überreizt, weil du dich in der ›Alpenrose‹ nicht wohlfühlst. Und ich muss das ausbaden!«

Beleidigt presste er die Lippen aufeinander, während sich Hannas Kehle zuschnürte. Womöglich lag er gar nicht mal so falsch: Sie war unzufrieden mit ihrer Arbeit und machte ihn für ihr Unglück verantwortlich, stellte vielleicht sogar deswegen ihre Beziehung infrage. Versöhnlich legte sie ihre Hand auf seine. »Wahrscheinlich hast du recht. Wir sollten einfach schlafen gehen.« Die Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr eindringlich zuflüsterte: »Du machst dir etwas vor!«, versuchte sie zu ignorieren.

Zur gleichen Zeit hatte Resi die letzten Tische in der Wirtsstube der »Alpenrose« sauber gewischt. Nicht nur einmal hätte sie sich dabei um ein Haar einen der Holzsplitter, die überall aus den alten Tischen ragten, in einen Finger eingezogen. Man bekam ja schon Angst, dass so ein wackliger Tisch zusammenkrachte, wenn man nur ein Bierglas darauf abstellte. Keine Frage, die Hütte und ihr Inventar hatten schon weit bessere Zeiten erlebt. Versonnen lächelte Resi, musste an damals denken, als der Peter die »Alpenrose« von einem Onkel erbte. Die zwei Madeln, die Marie und die Hanna, waren noch klein gewesen, noch nicht mal in der Schule. Natürlich stand das Almwirtshaus dort völlig heruntergekommen, nachdem der gebrechliche alte Onkel jahrzehntelang kaum etwas erneuert hatte. Aber der Peter und seine Isolde waren so voller Eifer und Optimismus gewesen, dass man dachte, die beiden würden es schaffen. Ein Kredit wurde aufgenommen, damit man renovieren konnte. Leider, leider hatte der Peter kein Händchen fürs Geld, dafür immer einen Schnaps parat, um sich aufzuheitern. Irgendwann war dann auch der Gang zum Spielcasino zur Gewohnheit geworden … Und als Isolde nur mehr zeterte, verliebte sich der Peter dann auch noch in eine andere Frau … »Eigentlich ein so lieber Kerl«, musste die Resi jetzt wehmütig denken. »Vernarrt in seine Frau und in seine zwei kleinen Mädchen.«

Sie konnte sich noch gut erinnern, wie er einmal mit der Hanna im Arm durch die Hütte getanzt war. Gejuchzt vor Freude hatte die Kleine. Und auch die Isolde war damals noch eine andere gewesen, eine herzliche, lebenslustige Frau, wie geschaffen zur Hüttenwirtin. Wenn sie daran dachte, mit welch verbissenem Gesicht sie heute durch die Gegend rannte …

»Bist endlich fertig?«, holte die sie auch jetzt mit schroffer Stimme in die Gegenwart zurück. »Ich möchte endlich zusperren und nach Hause fahren! Und du ja wohl auch. Oder soll ich dich im Dunkeln allein den Berg hinunterstolpern lassen?« Isolde warf Resi einen vorwurfsvollen Blick zu, so als ob die ihr geradezu die Zeit stehlen würde. Dabei packte die alte Frau kräftig an, rechnete nicht mal jede Überstunde ab. Auch wenn sie sonst eher von sanfter Natur war, spürte sie, wie sie langsam die Geduld verlor. »Jetzt mach aber einmal halblang!«, sagte sie scharf. »Schließlich hab ich dir geholfen und nicht umgekehrt!«

Sie merkte, wie Isolde fast unmerklich zusammenzuckte, während ihr Gesicht einen empörten Ausdruck annahm. Offenbar war sie es nicht gewohnt, dass man ihr die Meinung sagte. »Dabei täte ihr das von Zeit zu Zeit ganz gut …«, dachte Resi fast amüsiert und beschloss, noch weiterzugehen. »Heute war ja der Tobias Oberreiter von der ›Goldenen Harfe‹ da«, sagte sie in unschuldigem Ton.

Isolde warf ihr einen harten Blick zu, der unmissverständlich bedeutete, dass sie dieses Thema nicht weiterverfolgen wollte. Aber Resi kam jetzt erst so richtig in Fahrt. »Wäre ja eine tolle Möglichkeit für die Hanna, dort wieder zu arbeiten. Ich würde ihr das von Herzen wünschen.«

»Ich ganz bestimmt nicht!«, zischte Isolde. »Oder soll ich mir irgendeinen nichtsnutzigen Koch holen, der total unzuverlässig ist? Die meisten Angestellten werden doch alle naselang krank, verlangen aber Gehälter, dass einem ganz schwindelig wird!«

»Aber geh!« Resi konnte angesichts der unsinnigen Vorurteile von Isolde nur lachen. »Es gibt auch viele ausgezeichnete und zuverlässige Köche. Und es ist ja selbstverständlich, dass sie auch ordentlich bezahlt werden wollen.« Den Satz, den sie eigentlich noch hinzufügen wollte, nämlich dass sich die Hanna hier für einen Hungerlohn abrackerte, behielt sie dann aber doch lieber für sich. Das konnte sich ihre Chefin auch so denken. Stattdessen sagte Resi beschwichtigend: »Als Mutter möchte man doch, dass die Kinder glücklich werden …«

Gespannt wartete sie auf Isoldes Reaktion, vielleicht hatte sie ja die richtigen Worte gefunden, um ihre mütterlichen Gefühle zu erreichen. Doch als sich Isoldes und ihr Blick trafen, war ihr klar, dass das Gespräch kaum in die geplante Richtung laufen würde.

»Kannst du aber hoch schaukeln!«, lobte am nächsten Nachmittag Hanna ihre vierjährige Nichte, die sich mächtig anstrengte, »es bis rauf in die Wolken zu schaffen.«

Emma nickte mit geröteten Pausbäckchen, während sich Hanna zu Marie auf die Bank gleich neben der Schaukel setzte. Puh, ganz schön heiß war es. Zumindest spendete eine hohe Birke an diesem heißen Sommertag, an dem nur einzelne Schäfchenwolken am schon fast unwirklich blauen Himmel zu sehen waren, einigermaßen Schatten. Dennoch tat es Hanna ein wenig leid, dass sie an ihrem freien Montag nicht alle drei an den See baden gegangen waren. Schließlich hatte Marie, die als Volksschullehrerin arbeitete, bereits seit Mittag frei. Aber da Emma ein wenig erkältet war, hatte Marie statt des Badenachmittags einen Ausflug auf den Spielplatz vorgeschlagen. Auf dem es sich schließlich auch ganz gut aushalten ließ. Mit einem leisen Seufzer ließ Hanna den Blick über die Almen und Berggipfel um sie herum schweifen. Braun-weiße Kühe entdeckte sie, die gar nicht weit von ihnen entfernt matt im Gras lagen, jedoch eifrig kauten. Eine herrliche Idylle. Kurz musste Hanna an Lukas denken, den es nach Amerika zog. Für ihn freute sie sich, dass er dort seinen Traum leben konnte, aber für sie wäre das nichts. Ihr eigenes Fernweh hielt sich nämlich erstaunlich in Grenzen …

Jetzt erst merkte sie, dass Marie sie von der Seite ansah. Ihrem amüsierten Gesichtsausdruck nach zu schließen, offensichtlich seit einer ganzen Weile. »Woran denkst du denn gerade?«

Hanna hob den Blick, sah ihrer hübschen Schwester in die veilchenblauen Augen. Auch wenn es nichts Neues war, von dieser immensen Ähnlichkeit mit Isolde war sie immer wieder fasziniert. Und machte insgeheim drei Kreuze, dass Marie ansonsten viel umgänglicher war als die Mutter. »Ich denke daran, wie schön ich es hier finde«, sagte Hanna schließlich.

Marie verzog den Mund. Hanna wusste, das machte sie immer, wenn sie sich sorgte. »Dieses Gefühl vermittelst du in letzter Zeit aber nicht so wirklich.« In mitfühlendem Ton setzte sie hinzu: »Im Gegenteil. Du kommst mir immer unglücklicher vor.«

»Na ja«, versuchte Hanna zu beschwichtigen, auch weil sie spürte, wie ihr plötzlich aus dem Nichts Tränen in die Augen stiegen. »Ist halt irgendwie eine komische Zeit. Die viele Arbeit in der ›Alpenrose‹, mit dem Emil läuft es nicht so rund … Aber alles halb so schlimm, ich bin wohl nur ein bisschen überspannt.«

Sie winkte bereits ab, war sie es doch ohnehin gewohnt, dass sich weder ihre Mutter noch Emil für ihre bestimmt grauenhafte Jammerei interessierten.

Aber Marie musterte sie mit ihrem typischen aufmerksamen Blick. »Erzähl einfach weiter«, sagte sie, dabei drückte sie ihrer Schwester leicht die Schulter. Die zuckte verwirrt zusammen. Himmel, in was für ein Gespräch war sie da bloß hineingeraten! Marie und sie verstanden sich wirklich gut, aber so ans Eingemachte gingen ihre Gespräche selten. Eigentlich war es auch viel angenehmer, sich über die niedliche kleine Emma zu unterhalten. Oder über Kinofilme, oder die neue CD von Robbie Williams, den beide Schwestern grandios fanden. »Komm schon«, forderte Marie sie auf. »Ich mache mir schon eine ganze Weile Gedanken um dich.«

Kurz überlegte Hanna noch, ob sie nicht doch lieber das Thema wechseln sollte. Doch dann sprudelte alles aus ihr heraus: Der Unwillen, in der »Alpenrose« weiter unter der Fuchtel ihrer Mutter zu stehen. Das Angebot von Tobias Oberreiter. Und nicht zuletzt das immer stärker werdende Gefühl, dass sie mit dem Emil nicht glücklich werden konnte. Und diese Panik, dass sie wie eine Marionette durchs Leben wackelte, während andere die Fäden in der Hand hielten. Danach sagten beide Frauen eine ganze Weile nichts, füllten stattdessen, nachdem Emma genug vom Schaukeln hatte, gemeinsam mit der Kleinen Sand in Kuchenförmchen. Ewig hätte Hanna mit ihr so weiterspielen mögen. Am liebsten wäre es ihr auch gewesen, Marie hätte ihren wirren Redeschwall gleich wieder vergessen. Inzwischen kam sie sich ja selbst total egoistisch vor, wie sie alles, was den liebsten Menschen in ihrem Leben wichtig war, infrage stellte.

Leider hatte Marie nicht vor, ihr peinliches Geschwafel einfach zu übergehen. »Hanna«, sagte sie in bestimmtem Ton und zog ihre Schwester ein Stück von der Sandkiste fort, »wenn du möchtest, gebe ich jetzt meinen Senf dazu …«

2

Zum wiederholten Mal innerhalb weniger Minuten strich sich Emil Hofstätter seine kurzen blonden Haare aus der Stirn. Himmel! Bei den blöden Zotteln, die ihm immer wieder ins Gesicht fielen, konnte sich ja kein Mensch konzentrieren! Keine Frage, ein Friseurtermin war längst fällig. Aber war er nicht erst vor zwei Wochen dort gewesen? Ja, sicher. Offenbar war er tatsächlich ziemlich durcheinander. Beim Friseur hatte er doch die Maier-Lene getroffen. Die kurvige Blondine, die er noch aus der Schule kannte, hatte sich dort Strähnchen machen lassen – und ihn wie jedes Mal, wenn sie sich begegneten, mit ihren langen Wimpern so richtig filmreif angeklimpert. Daran konnte sie auch die Alufolie auf ihrem Kopf nicht hindern, mit der sie ein bisschen wie eine Außerirdische gewirkt hatte. »Du, die steht auf dich. Das sieht ein Blinder«, hatte ihm erst letztens der Jauffen-Sepp, ein alter Kumpel, viel zu laut zugerufen, als ihnen die Lene in einem Biergarten über den Weg gelaufen war. Dazu hatte er ihm alles andere als unauffällig den Ellenbogen in die Rippen gerammt, sodass es auch der letzte Gast hatte mitkriegen müssen. Ja, hübsch und lustig war die Lene wirklich – und womöglich würde sie nicht dauernd an ihm herumnörgeln wie Hanna, der er es ja offensichtlich nie recht machen konnte. Es war halt nur zu dumm, dass sein Herz bereits vergeben war. Egal. Erneut versuchte er, den Baubeschluss über die Modernisierung eines alten Bauernhauses, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, durchzuarbeiten. Es klappte einfach nicht, die Buchstaben verschwammen geradezu vor seinen Augen. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu Hanna ab. Wenn er daran dachte, was seine Freundin ihm gestern an den Kopf geworfen hatte, schnürte es ihm geradewegs die Kehle zu. Hektisch trank er in einem Zug seine Kaffeetasse leer. Viel besser fühlte sich sein Hals jetzt allerdings auch nicht an. So ein seltsames Kratzen, als ob sich eine Verkühlung anbahnte …

Zornig schnalzte er mit der Zunge. Was die Hanna aber auch für einen Blödsinn verzapft hatte: Sie würden nicht zusammenpassen, wären nicht mehr so richtig glücklich miteinander! Abschätzig verzog er den Mund. Natürlich waren sie glücklich zusammen! Er liebte sie doch, sie beide waren sozusagen eine Einheit! Auch wenn er nicht immer verstand, was in ihr vorging. Und zugegeben, er ging in letzter Zeit immer häufiger den schier endlosen Gesprächen, die sie so gerne führen wollte, aus dem Weg. Worüber sich die Hanna aber auch den Kopf zerbrach … Und aus jeder Mücke machte sie einen Elefanten! Sollte sie doch einfach bei ihm in der Firma arbeiten. Da kam sie raus aus dem Küchendunst der »Alpenrose«, der ewigen Schinderei. Aber nein, lieber wollte sie wieder zurück in die »Goldene Harfe«. Sich dort rund um die Uhr ausbeuten lassen. Wer sollte das verstehen? Seufzend hob er den Kopf, sah durchs geöffnete Fenster seines Büros auf die Kitzbüheler Altstadt hinunter – das emsige Treiben aus Einheimischen und Touristen – ein Anblick, der ihn normalerweise aufheiterte. Aber heute konnte dazu die Sonne auch noch so hell, wie aus einem Heimatfilm, vom Himmel scheinen und die Liebfrauenkirche anstrahlen – seine Stimmung blieb im Keller. Als die Tür seines Büros aufging, zuckte er unverhältnismäßig stark zusammen, fuhr auf seinem Schreibtischstuhl so rasch herum, dass er sich fast im Kreis gedreht hätte. Im letzten Moment stoppte er mit seinen Füßen und sah seiner Mutter Gerda, die ihm einen belustigten Blick zuwarf, ins Gesicht.

»Na, ist dir ein Gespenst begegnet?« Als er nicht antwortete, fügte sie lachend hinzu: »Oder bin ich etwa das Gespenst?«

»Nein, nein«, beeilte sich Emil zu sagen, musste plötzlich auch grinsen. »Ich habe nur nachgedacht …«

Nun mit ernsterer Miene ließ sich Gerda Hofstätter, eine große, schlanke Frau mit jugendlichem, fast schwarz gefärbtem Kurzhaarschnitt, auf der Schreibtischkante nieder. Sie musterte ihren jüngeren Sohn, der heute wie völlig durch den Wind wirkte. Ihrer Meinung nach musste man keine Hellseherin sein, um zu erkennen, dass sein unglücklicher Zustand mit Hanna zu tun hatte. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf. Die Hanna war ein liebes Mädel, kein Zweifel. Auch wenn der Josef, Emils Vater, zu Beginn der Beziehung ein wenig die Nase gerümpft hatte. Ausgerechnet die Tochter einer heruntergekommenen Hüttenwirtin musste sich der Emil aussuchen, da hätte Josef wirklich andere Vorstellungen von seiner zukünftigen Schwiegertochter gehabt. Schließlich wusste ganz Kitzbühel, was für ein nichtsnutziger Haderlump ihr Vater gewesen war. »Aber dafür kann doch die Hanna nichts!«, hatte Gerda damals ihrem Mann ins Gewissen geredet. »Sie ist fleißig, ehrlich und ganz bestimmt nicht darauf aus, einen reichen Bräutigam zu bekommen.« Jetzt fügte Gerda noch in Gedanken hinzu: »Und ein herzlicher Mensch ist sie auch …«

Trotzdem, von Anfang an hatte sie das Gefühl, dass ihr Emil und die fesche Wagner-Tochter sehr, vielleicht zu sehr verschieden waren. Der Emil war ja ein Lieber, aber einer, der sich nicht gerne mit ernsten Themen beschäftigte, das Leben lieber von der leichten Seite nahm. Während die Hanna manchmal schon so wirkte, als ob sie irgendeine unsichtbare Last auf dem Rücken tragen würde. Und da war es nicht gerade förderlich, wenn sich der Emil zeitweise wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen benahm. Geradeheraus fragte sie nun ihren Sohn: »Gibt’s Ärger mit der Hanna? Möchte sie vielleicht gar nicht bei uns in der Firma arbeiten?«

»Doch, doch!«, sagte er ein wenig zu hastig, wirkte dabei ganz und gar nicht überzeugt. »Alles bestens. Sie muss das nur noch mit ihrer Mutter klären.«

Gerda biss sich auf die Unterlippe. Inzwischen tat es ihr bereits leid, dass sie ihrem Sohn diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Einerseits, weil sie ehrlich der Meinung war, dass Hanna von ihrer Mutter ganz schön ausgenutzt wurde. Und andererseits war sie sich sicher, dass Hanna mit ihrer freundlichen Art und schnellen Auffassungsgabe sich auch ohne Bürokenntnisse perfekt ins Hofstätter-Unternehmen einfügen würde. Außerdem waren ihr Sohn und die junge Frau bereits seit sechs Jahren ein Paar, da konnten sie doch auch beruflich zusammenrücken. »Man muss ja nichts überstürzen«, sagte sie jetzt zu Emil, der so bekümmert dreinschaute, dass ihr das Mutterherz blutete. »Wenn die Büroarbeit nichts für die Hanna ist, kann man es auch nicht erzwingen. Wichtig ist doch nur, dass ihr beide den Weg geht, auf dem ihr glücklich werdet.«

Ihre aufmunternd gemeinte Bemerkung kam wohl nicht so recht an, denn Emil verdrehte entnervt die Augen. »Danke Mama für deine weisen Ratschläge, aber ich weiß schon selbst am besten, was gut für uns ist. Du wirst es nicht glauben – ich geh nicht mehr in den Kindergarten.«

»Na, dann …« Gerda nickte ihm kurz zu, dann verließ sie sein Büro.

Ein wenig beschämt sah Emil ihr nach. Er hatte nicht so unfreundlich sein wollen, aber die ganze seltsame Situation mit der Hanna machte ihn noch völlig wahnsinnig. Und seine Mutter kapierte wohl auch nicht, dass es seine Freundin war, die sich total daneben benahm. Egoistisch und unvernünftig. Plötzlich kam ihm eine Idee. Nun wusste er, mit welchem Menschen er sprechen sollte. Natürlich! Er wunderte sich richtiggehend, dass ihm diese Idee nicht bereits früher gekommen war.

Zur gleichen Zeit in München versuchte Moritz die schluchzende Frau, die vor ihm in seiner Küche stand, zu beruhigen. So richtig kapierte er immer noch nicht, wie er in dieses Unglück hineinkatapultiert worden war. Eigentlich hatte der Nachmittag richtig nett begonnen: Anja war bei ihm auf einen Kaffee vorbeigekommen, bevor sie an diesem heißen Sommertag gemeinsam mit seinem Kumpel Clemens in einen Biergarten an der Isar spazieren wollten. Sie hatten sich geküsst, miteinander gelacht. Doch plötzlich war die langbeinige Blondine ernst geworden, wollte mit ihm reden. »Ich denke, das mit uns wird etwas Richtiges, was sagst du?«, hatte sie ihn gefragt, dabei viel zu hoffnungsvoll dreingeschaut. Er dagegen wohl eher so, als ob ihn ein Bus gerammt hätte. Perplex und entsetzt zugleich.

Auch jetzt konnte er es kaum glauben, dass die Frau, die nun völlig am Boden zerstört vor ihm stand, dieselbe war, die er einen Monat zuvor durch seinen Kumpel Clemens kennengelernt hatte. »Ich habe gar keine Lust auf eine Beziehung, das kannst du mir glauben«, hatte die – scheinbar kühle – Blonde in engen Jeans und bauchfreiem Top auf der Geburtstagsparty von Clemens’ Schwester nach dem zweiten Glas Wein geradeheraus zu ihm gesagt. Und mit laszivem Unterton hinzugefügt: »Aber eine nette Zeit im Sommer, das wär was für mich …«

Moritz hatte gelacht und der seiner Meinung nach bewundernswert coolen Frau geantwortet: »Da geht es dir genau wie mir.«

Seitdem waren drei Wochen vergangen, in denen sie sich einige Male getroffen hatten. Plaudern im Biergarten, gemeinsame Spaziergänge im Englischen Garten und einige ziemlich heiße Nächte – alles völlig unverbindlich, so wie ausgemacht und auch ganz nach Moritz’ Geschmack. Er war bestimmt nicht stolz darauf, aber nachdem vor drei Jahren seine nunmehrige Exverlobte Marion mit ihm Schluss gemacht hatte, erschien es ihm bis heute einfach unmöglich, sich erneut zu verlieben. So, als ob sein Herz genug davon hätte, sich der Gefahr auszusetzen, erneut in tausend Stücke zerfetzt zu werden. Irgendwann fand er sich einfach damit ab. Und bemerkte, dass es sich eigentlich ganz gut damit leben ließ, wenn hübsche Frauen in seinen blauen Augen versanken und nur zu gerne eine Nacht mit ihm verbrachten. Allzu oft nahm er dieses Angebot nicht an, denn irgendetwas fehlte dabei. Oder bildete er sich das bloß ein? Auf jeden Fall war liebesmäßig nicht mehr für ihn drin, damit hatte er sich abgefunden. So gesehen begegnete ihm mit Anja der absolute Glücksfall: ein liebenswerter Mensch und eine äußerst attraktive Frau, die nicht mehr wollte als er. »Nur damit du es weißt: Ich bin ein eingeschworener Single«, musste er beim zweiten Treffen noch mal zur Sicherheit erklären, wobei er sich ein wenig verlegen mit den Fingern durch die dunklen Haare fuhr.

Er wollte unbedingt ehrlich sein, auch auf die Gefahr hin, so nicht unbedingt sympathisch rüberzukommen. Aber einer Frau etwas vorzumachen, nur um sie ins Bett zu kriegen, war einfach nicht sein Ding. Und Anja hatte ebenfalls völlig gelassen reagiert. »Schatzi, ich möchte nur ein bisschen Spaß mit dir haben«, lautete ihr Kommentar, bevor sie ihn an der Hand ins Schlafzimmer zog.

So weit, so schön. Aber warum stand sie jetzt tränenüberströmt vor ihm und zitterte am ganzen Körper? »Ich kann doch nichts dafür, dass ich mich in dich verknallt habe«, stieß sie zwischen bebenden Lippen hervor.

»Natürlich nicht«, sagte Moritz matt, strich ihr zögerlich über die Schulter.

Falsche Reaktion. Denn Anja interpretierte sein Mitleid anders, schmiegte sich an ihn und flüsterte: »Wir können es doch miteinander probieren und …«

Himmel, kam er sich hundsmiserabel vor! Wie der letzte Arsch. »Es tut mir furchtbar leid, aber in mir drin ist schon vor Jahren irgendetwas kaputtgegangen …« Über seine peinlichen dramatischen Worte erschrak er selbst. Noch mehr, als er kapierte, dass sie absolut der Wahrheit entsprachen. Seine Exverlobte hatte sein Herz tatsächlich unwiederbringlich als Scherbenhaufen hinterlassen. Und seitdem tigerte er als Gefühlskrüppel durchs Leben und brach Frauen das Herz. Herzlichen Glückwunsch, darauf konnte er wirklich stolz sein!

Nun rückte Anja ein Stück von ihm ab. »Bist du dir sicher, dass du dich auf keinen Fall in mich verlieben kannst?«

Wahrheitsgetreu hätte er einfach »Ja« sagen müssen, stattdessen stammelte er rum, machte die Sache damit natürlich nur schlimmer: »Es liegt nicht an dir …« Hilfe! Fiel ihm wirklich nichts anderes als diese lahme Plattitüde ein? Doch jetzt konnte er nicht mehr zurück. Er sprach so schnell, dass er sich andauernd verhaspelte. »Du bist ein wunderlicher … äh … wunderbarer Mensch, eine tolle Frau. Ich habe doch gar nichts verdient … äh … dich gar nicht verdient. Du aber hast auf jeden Fall nicht so einen Trottel wie mich verdient …«

»Aber ich will nur dich …«, flüsterte sie, während eine weitere Träne über ihre hohen Wangenknochen kullerte.

»Es tut mir furchtbar leid …«, wiederholte er sich. Nun wagte er es gar nicht mehr, ihr in die Augen zu schauen. Stattdessen kramte er hinter sich in der Küchentischlade nach Papiertaschentüchern.

Gleich darauf hörte er die Wohnungstür knallen – und schämte sich schrecklich. Denn ein Gefühl der Erleichterung machte sich in ihm breit, da dieses schreckliche Gespräch nun endlich vorbei war. »Zu früh gefreut«, schoss es ihm in der nächsten Sekunde durch den Kopf, als er die Wohnungsklingel hörte.

Mit schleppenden Schritten bewegte er sich in den Flur, öffnete – und sah Clemens vor sich stehen. »Ah, du bist es …«, sagte er nicht besonders geistreich.

Sein Kumpel nickte. »Sieht so aus. Übrigens, ich habe auf der Treppe deine Anja getroffen.« Schulterzuckend fügte er hinzu: »Ziemlich aufgelöst!«

»Ich weiß«, sagte Moritz leise. »Und ich weiß auch, dass ich ein absolut fieser Kerl bin und …«

»Ach, geh!«, fiel Clemens ihm ins Wort, während er dem um einen halben Kopf größeren, ziemlich breitschultrigen Freund in die Wohnung folgte. »Die Anja hat doch auch nicht mit offenen Karten gespielt. Weißt, dass mir meine Schwester vorhin erzählt hat, dass sich die Gute schon auf der Party in dich verliebt hat? Von wegen locker vom Hocker. Offenbar hatte sie aus irgendeiner Frauenzeitschrift, dass man erst recht begehrenswert erscheint, wenn man gefühlsmäßig einen auf Eisprinzessin macht.«

Moritz ließ sich mit einem resignierten Stöhnen aufs Sofa fallen, streckte die langen Beine von sich. »Trotzdem tut’s mir leid, dass ich sie unglücklich gemacht habe. Ich bin doch echt das Letzte.«

Sein Kumpel zwinkerte ihm zu: »Und was willst in Zukunft machen?«

»Die Finger von den Frauen lassen!«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.

Clemens lachte auf. »Aha, willst also wie ein Mönch leben?«

»Besser so, als ein totaler Widerling zu sein.« Er deutete mit dem Kopf zur Tür. »Ich glaub, ein Bier wäre jetzt nicht schlecht.«

»Gute Idee, der Trubel draußen lenkt dich wenigstens ab. Wirst sehen, in null Komma nix bist wieder gut drauf!«

Davon war Moritz zwar alles andere als überzeugt. Aber es gefiel ihm immer noch besser, als allein daheim zu hocken und darüber nachzugrübeln, warum er sich in Herzensangelegenheiten wie ein dermaßen großes Rindviech benahm.

Mit einem Lächeln auf den Lippen spazierte Hanna in Richtung der »Goldenen Harfe«. Von wegen spazieren? Sie fühlte sich dermaßen befreit, dass sie fast meinte, zehn Zentimeter über dem Boden zu schweben. Ihr Lächeln wurde noch breiter. »Gleich grinst du rund um deinen Kopf«, musste sie denken, was ihre Mundwinkel noch mehr nach oben zog. Während sie in die Sonne blinzelte, ließ sie das Gespräch mit Marie Revue passieren, dass ihr so richtig gutgetan hatte.

»Du solltest endlich mal das tun, was du willst!«, hatte die nicht lange um den heißen Brei rumgeredet. »Auch wenn die Mama dich nicht aus ihrer Hüttenküche lassen möchte. Es ist dein Leben, und sie wird einen anderen Koch finden, keine Sorge!«

»Meinst wirklich?«, hatte Hanna zaghaft gefragt, während sich – mittlerweile ein wohlbekanntes Gefühl – das schlechte Gewissen in ihr breitmachte. »Ich will sie nicht im Stich lassen …«

Marie hatte mit den Augen gerollt, was eher drollig als entnervt aussah und vermutlich daran lag, dass sie gleichzeitig den Mund ganz schief verzogen hatte wie ein Clown. »Du lässt sie nicht im Stich. Im Gegenteil, du hast ihr lange genug geholfen, jetzt muss sie mal auf eigenen Füßen stehen …«

Kaum war der Satz ausgesprochen, mussten beide lachen. Sie lebten wohl in einer verkehrten Welt, in der die Mutter erst noch selbstständig werden musste … Aber ein wenig kam es ihnen tatsächlich so vor. Dann verkündete Marie auch noch ihre Meinung zu Emil – und Hanna war ihr dankbar, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm: »Er ist sicher kein schlechter Kerl. Aber ob er der Richtige für dich ist – keine Ahnung …«

»Daran muss ich auch immer denken. Und komme mir dabei so richtig fies vor«, hatte Hanna gemurmelt.

»Du musst ja nichts überstürzen«, hatte Marie sanft erwidert, ihre jüngere Schwester dabei an sich drückend. »Gib dir einfach Zeit und schau, wie du dich an seiner Seite fühlst. Vielleicht findet ihr ja wieder zusammen. Aber wenn du dich dabei total aufgibst, ist es das nicht wert.«

Diese Worte hallten auch jetzt noch in ihrem Ohr, als Hanna mit entschlossenen Schritten auf den Eingang der »Goldenen Harfe« zusteuerte. Ja, sie würde Emil und sich eine Chance geben, aber sich auch nicht länger unterbuttern lassen. Und endlich das tun, was ihr guttat. Und den Anfang machte sie damit, dass sie sich ganz in Ruhe mit dem Tobias Oberreiter unterhielt. Ja, natürlich hätte sie vorher noch einmal mit dem Emil und ihrer Mutter darüber reden können. Aber was dann? Die beiden hätten doch so lange auf sie eingeredet, bis sie wieder auf die Größe eines Gartenzwerges geschrumpft wäre. Nein, diesmal ließ sie sich von niemandem beeinflussen.

»Hanna, das ist ja eine Freude, dich so schnell hier zu sehen!«, begrüßte Tobias sie mit einem aufrichtig wirkenden Lächeln, als sie den Kopf zur Restaurantküche hereinstreckte. Seiner herzlichen Gestik nach hätte er sie wohl am liebsten umarmt – doch an seinen Fingern klebte Semmelfülle, die ganz offensichtlich in die Ente gehörte, welche in einer großen Bratpfanne neben ihm auf dem Küchentisch stand.

»Hallo, Tobias«, sagte Hanna und zwinkerte ihm zu. »Am liebsten würde ich sofort ins Kochgewand reinspringen und mitmachen!« Mit einem kleinen Seufzer fügte sie hinzu: »Geht mir immer so, wenn ich hier bin.«

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. »He! Das klingt ja ganz so, als ob ich mir Hoffnungen machen darf!« Grinsend setzte er nach: »Dann wasche ich mir nur rasch die Hände, und gleich können wir miteinander plaudern.«

»Vorher kannst ruhig noch die Ente in den Ofen schieben«, sagte Hanna. »Wäre ja schade, wenn sie nicht rechtzeitig fertig wird.«

Es störte sie tatsächlich überhaupt nicht, dass sie noch ein wenig auf den Tobias warten musste. So konnte sie sich von ihrem Tisch aus ganz in Ruhe in der »Goldenen Harfe« umschauen, jetzt am Nachmittag waren gerade keine Gäste da. Doch am Abend würde das Restaurant wieder bis auf den letzten Platz voll sein, davon war Hanna überzeugt. Ein tolles Lokal, in dem uriges Landhaus-Design gekonnt mit modernen Akzenten kombiniert worden war. Tische und Bänke aus hellem Holz, in der Ecke ein gemütlicher offener Kamin, der jetzt im Sommer aber kalt blieb. Dazu bildete die trendige Bar aus Milchglas einen interessanten Kontrast. »Ist wirklich eine gute Idee gewesen, dass der Tobias sie vor zwei Jahren hat einbauen lassen«, stellte Hanna auch jetzt wieder für sich fest.

Auch die meisten Stammgäste, die den Umbau zuerst empört nach dem Motto »So ein Blödsinn! Dieses moderne Zeug!« kommentiert hatten, revidierten ihre Meinung und mussten zugeben, dass die Einrichtung der »Goldenen Harfe« einfach stimmig war.

Leise seufzte Hanna auf. Das, was ihr hier am meisten gefiel, hatte nur wenig mit der Einrichtung zu tun. Es war das schlichte, aber deswegen nicht weniger berauschende Gefühl, hierher zu gehören. In einem Team zu arbeiten, mit dem es keine Sekunde langweilig wurde.

»Na, was gibt’s für Neuigkeiten?«, hörte sie da Tobias hinter sich, gleichzeitig spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter.

Als sie ihn ansah, wedelte er übertrieben eifrig mit seinen Händen in der Luft rum. »Keine Angst, alles frisch gewaschen.«

»Glaub ich dir«, lachte sie. »Aber ich werde stutzig, wenn mir nachher alle Hunde von Kitzbühel nachrennen, weil ich so schön nach Ente dufte …«

Tobias schnitt eine treuherzige Grimasse, dann nickte er Hanna zu.

»Also …«

Sie setzte sich kerzengerade hin. »Zuerst möchte ich mich noch mal für meine Mutter entschuldigen, irgendwie hast du sie wohl auf dem falschen Fuß erwischt. Tut mir echt leid.«

»Schon vergessen.«

»Puh«, atmete sie lautstark auf. »Dann habe ich ja vielleicht recht gute Chancen, wenn ich dir sage, dass ich hier sehr gerne wieder zu arbeiten beginnen würde.« Während sie sprach, spürte sie, wie sich ein warmes Glücksgefühl in ihrer Brust breitmachte. Nun konnte sie gar nicht mehr verstehen, warum sie so lange gezögert hatte. Auch Tobias schien sich ehrlich zu freuen. Er strahlte sie an, dann sprang er auf und schloss sie in seine Arme. »Hanna, das ist die beste Nachricht, die ich seit Langem erhalten habe. Wenn du möchtest, kannst schon morgen wieder in die Küche einziehen.«

Hanna machte sich gerührt von ihm los, wendete rasch das Gesicht ab, sonst merkte der Tobias noch, was für eine Heulsuse sie war. Dabei fiel ihr Blick durch eines der großen Restaurantfenster. Gleich darauf erkannte sie ein Gesicht. Die Maier-Lene, eine ehemalige Mitschülerin vom Emil, stand draußen auf der Straße und winkte ihr freundlich lächelnd zu. Herrje, in so einem kleinen Ort liefen einem wirklich immer wieder mal Bekannte über den Weg! Geistesabwesend winkte sie zurück, dann hatte sie sich so weit gefasst, dass sie wieder mit Tobias reden konnte. »Danke, aber so schnell geht’s dann doch nicht. Ich muss mich noch mit meiner Mutter besprechen, und sie muss erst einen Ersatz für mich finden …«

Als sie den enttäuschten Gesichtsausdruck von Tobias registrierte, warf sie schnell ein: »Aber das wird alles kein Problem sein. In spätestens einem Monat stehe ich hinter deinem Herd.«

»Na, hoffentlich«, sagte Tobias und zupfte am Kragen seiner Kochjacke. »Ich hätte mir ja gewünscht, dass Isolde bereits ihren Segen gegeben hätte.«

»Wird sie ganz bestimmt. Keine Sorge!«, beruhigte ihn Hanna, die sich auf einmal sehr zuversichtlich fühlte. Ihre Mutter würde ihr nicht böse sein. Bestimmt nicht, nach all den Jahren, in denen Hanna für sie ohne Murren und im Grunde für ein Taschengeld gearbeitet hatte. Sogar Marie war sich sicher gewesen, dass Isolde Vernunft annahm, wenn die kleine Schwester endlich ihren Standpunkt verteidigte.

»Na, dann freue ich mich auf unsere baldige Zusammenarbeit!«, lachte Tobias und streckte ihr die Hand entgegen. »Nächste Woche setzen wir den Arbeitsvertrag auf.«

»Ja, das machen wir«, sagte Hanna und schlug mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung ein.

Schnipp, schnapp, die Marionettenschnüre waren durchtrennt. Sie hörte geradezu die Schere klappern. In dem Moment betrat Lukas, der Koch, der nach Kalifornien gehen würde, das Restaurant. Als er den Handschlag sah, reckte er mit einem breiten Grinsen die Faust in die Höhe. »Juhu! Die Hanna kommt zurück! Dann hat der Chef heute gute Laune und gibt nach der Arbeit noch ein Bier aus!«

»Sei ned so frech!«, drohte ihm Tobias mit hoch erhobenem Zeigefinger. Dabei konnte er jedoch ein Lachen nicht unterdrücken, betrachtete danach fast gerührt, wie sich Hanna und Lukas zur Begrüßung umarmten.

»Wie ein stolzer Papa«, flachste Lukas und zwinkerte Hanna zu.

Die lachte auf. »Schaut so aus.« Verträumt fügte sie hinzu: »Wie schön, dass wir beide unsere Träume wahr machen können, du in San Francisco und …«

»… du hier!«, ergänzte Lukas stöhnend. »Gleich fang ich an zu heulen!«

»Ja, ja, ich hör ja schon auf, so pathetisch zu sein«, wiegelte Hanna in bemüht lässigem Ton ab.

Bestimmt besser so, denn ihre Augen fühlten sich schon wieder ganz feucht an. Zum Glück machte Lukas gerade eine Handbewegung, als ob er sich gleich völlig unfeierlich übergeben müsste. Und Tobias rief übertrieben entsetzt aus: »Bitte nicht hier, sonst glauben die Gäste noch, bei uns ist das Essen schlecht!«

Himmel, war das ein Kasperltheater! Hanna grinste übers ganze Gesicht. Hier würde sie sich bestimmt sauwohl fühlen …

Zufrieden drückte Isolde, die auf einer Bank vor der »Alpenrose« saß, auf die Aus-Taste ihres Handys. Kurz blinzelte sie in die warme Sonne, schloss schließlich mit einem tiefen Seufzer die Augen. Es hatte richtig gutgetan, mit dem Emil zu reden. Wenigstens einer, der sie verstand und sich bereitwillig ihre Ratschläge anhörte. Wenn sie da an ihre eigenen Töchter dachte … Marie, die ohnehin schon immer ihren eigenen Kopf gehabt und sich ihren Beruf, ohne viel zu fragen, ausgesucht hatte. »Ich werde Lehrerin und nichts anderes!«, verkündete sie bereits als kleines Mädel. So entschlossen, da fuhr die Eisenbahn drüber.

Vielleicht hatte Isolde deshalb nur halbherzig versucht, sie umzustimmen und für die Almhüttenwirtschaft zu begeistern … oder ihre Versuche auch deswegen so rasch abgebrochen, weil ihre Hanna immer schon gerne gekocht hatte. Mit nicht mal zehn Jahren hatte die Kleine bereits in der Küche gestanden und die Palatschinken wie eine Große in die Luft geschupft. Lächelnd schüttelte Isolde den Kopf. Ja, sie wusste sehr wohl, dass die Hanna in der Küche ein Riesentalent war. Und zum Glück hatte sich das auch in der Gegend rumgesprochen. Bestimmt ein Hauptgrund, warum sich die »Alpenrose« trotz der vielen, von Peter hinterlassenen Schulden über Wasser halten konnte. Eines Tages würde Hanna das Almwirtshaus übernehmen und ihr ewig dankbar sein, dass sie ihr bei der Entscheidung geholfen hatte. Wäre ja noch schöner, wenn man als Mutter nicht ein wenig mitreden durfte! Da meldete sich eine zaghafte Stimme in ihrem Hinterkopf: »Nutzt du ihre Gutmütigkeit nicht ganz schön aus?«

»Blödsinn!«, sagte Isolde laut. Gar nix nutzte sie aus! Auch wenn sich sogar die Resi auf einmal so blöd aufführte und meinte, für die ach so arme Hanna Partei ergreifen zu müssen. Das war doch wirklich lachhaft! Gut, sie selbst hätte vielleicht nicht so ausrasten und die Resi anschreien dürfen. Mit leichter Scham dachte sie an die Szene vom Vorabend zurück, als sie sich wie ein wild gewordener Teufel gebärdete: »Das ist doch die Höhe!«, hatte sie die alte Resi angekeift, weil die an ihre Muttergefühle appellierte.