Trauma verstehen, bearbeiten, überwinden - Luise Reddemann - E-Book

Trauma verstehen, bearbeiten, überwinden E-Book

Luise Reddemann

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Beschreibung

Durch Trauma wachsen Traumatische Erlebnisse können sehr vielfältig sein: von schweren kindlichen Verlusterfahrungen bis zu sexualisierter Gewalt. Viele Betroffene leiden lange an den Folgen dieser extrem belastenden seelischen Erfahrungen. Sie wollen sich vor allem wieder geborgen fühlen und die quälenden Erinnerungen hinter sich lassen. Die gezielten Methoden der modernen Traumatherapie helfen, neues Zutrauen zu sich und anderen zu entwickeln. - Selbstheilung: Aktivieren Sie Ihre erstaunlichen Kräfte der Regeneration. - Resilienz: Mit den speziell entwickelten Übungen erhöhen Sie Ihre Widerstandskraft gegenüber den Stürmen des Lebens. - Hilfe: Entdecken Sie Ihre Ressourcen durch Körperübungen und Gedankenreisen.

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Seitenzahl: 219

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Trauma verstehen · bearbeiten · überwinden

Ein Übungsbuch für Körper und Seele

Luise Reddemann, Cornelis Dehner-Rau

6. Auflage 2020

10 Abbildungen

Einleitung

Mit diesem Buch richten wir uns an Menschen, die wissen oder vermuten, dass sie ein Trauma erlitten haben. Es soll helfen, sich über Trauma, Traumafolgen und die Möglichkeiten, mit Traumata fertig zu werden, zu informieren. Des Weiteren geben wir Informationen zur posttraumatischen Belastungsstörung, zur komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und den Krankheitsbildern, die häufig damit auftreten.

Wir möchten auch Angehörigen und Freunden von Menschen mit Traumafolgestörungen Informationen und Hilfe zur Verfügung stellen. Wir wissen, dass etwa ein Drittel der Menschen, die traumatische Erfahrungen machen, damit im Lauf der Zeit fertig werden, ohne krank zu werden. Dies halten wir für wichtig und bedenkenswert. Von diesen Menschen kann man nämlich lernen. Wir möchten Sie anregen, sich Ihre eigenen Selbstheilungskräfte bewusster zu machen und zu prüfen, inwieweit diese – falls nötig neben einer Therapie – genutzt werden können.

Traumatische Erfahrungen zeichnen sich ganz besonders dadurch aus, dass man sich hilflos und ohnmächtig fühlt. Daher möchten wir Sie ermutigen, sich im Fall einer Therapie einen Behandler zu suchen, der Sie partnerschaftlich behandelt. Eine gute Therapie erkennt man daran, dass man Ihnen hilft, Ihre Probleme zu bewältigen. Traumatische Erfahrungen fordern uns heraus, alles einzusetzen, was wir zur Verfügung haben, um zu heilen. Wir werden Ihnen daher verschiedenste Möglichkeiten der Selbsthilfe und der Therapie aufzeigen. Wir raten sehr dazu, sich Zeit zu lassen, das herauszufinden, was wirklich zu einem passt.

Prof. Dr. med. Luise ReddemannDr. med. Cornelia Dehner-Rau

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Einleitung

Teil I Was bedeutet Traumatisierung?

1 Was sind traumatische Erfahrungen?

1.1 Welche Traumata gibt es?

1.1.1 Unsere Wertesysteme spielen eine Rolle

1.1.2 Der soziale Kontext ist wichtig

1.2 Welche Ereignisse können traumatisieren?

1.3 Wie gehen wir mit einem Trauma um?

2 Die Rolle unserer Bindungsmuster

2.1 Die besondere Bindung an die Eltern

2.1.1 Wir brauchen Schutz und Geborgenheit

2.1.2 Frühgeborene erhielten oft nicht genug Liebe

2.1.3 Wie kann ich meinem Baby Sicherheit geben?

2.1.4 Wann entwickelt sich eine unsichere Bindung?

2.2 Wie erkennt man das Bindungsmuster?

2.3 Welche Schutz- und Risikofaktoren gibt es?

2.3.1 Wie wirkt sich eine unsichere Bindung aus?

2.4 Was sind Bindungsstörungen?

3 Traumata kommen oft vor

3.1 Viele Menschen erholen sich von selbst

Teil II Welche Folgen hat ein Trauma?

4 Was passiert im Körper?

4.1 Akuter, chronischer und traumatischer Stress

4.2 Was geschieht im Gehirn?

4.2.1 Wie lernen wir?

4.2.2 Angst engt das Denken ein

4.2.3 Heißes Gedächtnis – die emotionale Erinnerung

5 Bin ich traumatisiert?

5.1 Anzeichen für traumatischen Stress

5.2 Wie zeigt sich eine Traumafolgestörung?

6 Verarbeitung eines Traumas

6.1 Abwehr der Ohnmacht

6.1.1 Scham- und Schuldgefühle

6.1.2 Nicht bagatellisieren

6.2 Wie erklärt man es Kindern?

6.3 Unrealistische Erwartungen

6.4 Was tun bei akuten Traumafolgestörungen?

Teil III Wenn ein Trauma krank macht

7 Posttraumatische Belastungsstörungen

7.1 Was macht krank? Was hält gesund?

7.2 Die offizielle Definition

7.3 Wie kann man die PTBS einordnen?

7.4 Symptome der PTBS

7.5 PTBS und Folgestörungen

7.5.1 Angst- und Panikstörungen

7.5.2 Depression

7.5.3 Schmerzen

7.5.4 Zwangsstörungen

7.5.5 Essstörungen

8 Dissoziative Störungen

8.1 Was ist Dissoziation?

8.1.1 Wann wird Dissoziation zur Störung?

8.2 Bin ich jetzt verrückt?

9 Diagnose von Traumafolgestörungen

9.1 Diagnose der PTBS

9.1.1 Kriterien für eine einfache PTBS

9.1.2 Zusätzliche Kriterien für eine komplexe PTBS

9.1.3 Faktoren bei der Traumaverarbeitung

9.1.4 Risikofaktoren für die Entwicklung einer PTBS

9.2 Weitere Störungsbilder

9.2.1 Kriterien für eine Borderline-Störung

9.2.2 Kriterien für eine dissoziative Störung

9.3 Unterscheidung der Störungsbilder

9.3.1 Hintergründe der Borderline-Persönlichkeitsstörung

9.3.2 Wie lassen sich dissoziative Symptome verstehen?

9.3.3 Chronisch-komplexe posttraumatische Belastungsstörung

9.3.4 Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Teil IV Welche Behandlung Ihnen hilft

10 Behandlung von Traumafolgestörungen

10.1 Psychotherapie

10.1.1 Die einzelnen Verfahren

10.2 Medikamentöse Behandlung

10.2.1 Antidepressiva

10.2.2 Neuroleptika

10.2.3 Benzodiazepine oder Tranquilizer

10.3 Phasen der Traumapsychotherapie

10.3.1 1. Schritt: für äußere Sicherheit sorgen

10.3.2 2. Schritt: gut informieren

10.3.3 3. Schritt: traumaspezifische Stabilisierung

10.3.4 4. Schritt: Traumabearbeitung

10.4 Wann soll ich therapeutische Hilfe suchen?

10.5 Die richtige Therapeutin finden

11 Traumakonfrontation bei einfacher PTBS

11.1 Welche Therapieformen haben sich bisher bewährt?

11.1.1 Kognitiv-behaviorale Therapien

11.1.2 Prolongierte Exposition (nach Edna Foa)

11.1.3 Imaginary Rescripting (nach Mervin Smucker)

11.1.4 Psychodynamische Therapien

11.1.5 EMDR (nach Francine Shapiro)

11.1.6 Vor- und Nachteile der Therapieverfahren

11.2 Was Sie zusätzlich tun können

11.3 Achten Sie auf schonenden Umgang

11.4 Was sollten Sie mitbringen?

11.5 Was die Therapeutin mitbringen sollte

11.6 Distanzierungstechniken

11.6.1 Innerer Beobachter

11.6.2 Bildschirm

12 Traumakonfrontation bei komplexer PTBS

12.1 Voraussetzungen, die Sie kennen sollten

12.1.1 Der Nutzen wird oft überbewertet

12.1.2 Das BASK-Modell

12.1.3 Sich »inneren Trost« geben

12.2 Wann schadet Traumakonfrontation?

12.3 Sorgen Sie für Ihre innere Sicherheit

12.4 Welche Verfahren eignen sich zur Therapie?

Teil V Umgang mit Folgestörungen

13 Was hilft bei Angst und Panik?

13.1 Fühlen Sie sich oft ängstlich und hilflos?

13.1.1 Was Sie bei Angst tun können

13.2 Wenn Sie Panik haben

13.2.1 Was Sie bei Panik tun können

13.3 Selbstmanagement und Selbstberuhigung

13.4 Wenn die Therapie Verdrängtes aufwühlt

13.5 Panik als Schutz gegen Dissoziation

14 Was tun bei Dissoziation?

14.1 Woran erkennen Sie Dissoziation?

14.1.1 Selbstbeobachtung bei Dissoziation

14.2 Dissoziative Amnesie

14.2.1 Was Sie bei Dissoziation tun können

14.3 Machen Ihnen Gefühle Angst?

15 Was hilft noch?

15.1 Was Ihr Körper braucht

15.1.1 Hilfreicher Umgang mit Schmerzen

15.2 Wie kann ich mit meiner Sucht umgehen?

15.2.1 Sucht als Selbstheilungsversuch

15.2.2 Was Ihnen hilft, wenn Sie ein Suchtproblem haben

15.3 Hilfe bei Selbsttötungsgedanken

15.4 Verletzen Sie sich selbst?

15.4.1 Selbstverletzung nimmt vorübergehend den Druck

15.4.2 Behandlungsvertrag schließen

15.4.3 Das kindliche Ich an einen guten Ort bringen

15.5 Wie gehe ich mit Gewaltfantasien um?

15.5.1 Tresor

15.5.2 Wutraum

15.6 Leiden Sie unter einer Essstörung?

15.6.1 Möglichkeiten der Selbsthilfe bei Essstörungen

16 Trauma und Partnerschaft

16.1 Wenn beide Partner traumatisiert sind

16.2 Wenn »nur« ein Partner betroffen ist

16.3 Wenn der Partner der Täter ist

Teil VI Wieder gesund werden

17 Nutzen Sie Ihre Ressourcen

17.1 Was bedeutet Ressourcenorientierung?

17.1.1 Erstellen Sie Ihre persönliche Ressourcenliste

17.2 Versuchen Sie, selbstbestimmt zu leben

17.3 Finden Sie Ihre eigene »innere Wahrheit«

17.3.1 Achten Sie auch auf Erfreuliches

17.4 Zwei Geschichten zum Mut machen

17.4.1 Das Märchen von der glücklosen Königstochter

17.4.2 Die Wandlung vom Huhn zum Adler

17.5 Wie Ihre Imagination Ihnen helfen kann

18 Sich selbst unterstützen

18.1 Übung Absorptionstechnik

18.2 Nutzen Sie Ihre Vorstellungskraft

18.2.1 Das innere Erleben zum Ausdruck bringen

18.3 Stehen Sie zu Ihren Stärken

18.4 Die positiven Seiten fördern

18.4.1 Der Flow-Zustand

18.4.2 Wie erreicht man eine positive Einstellung?

18.5 Gönnen Sie sich Vergnügungen

18.6 Fördern Sie Ihre Achtsamkeit

18.6.1 Ein achtsamer Spaziergang

18.7 Der Nutzen von bewusstem Denken

18.8 Pessimismus und Optimismus

18.8.1 Für gesündere Einstellungen sorgen

18.9 Menschliche Tugenden

19 Die Opferrolle verlassen

19.1 »Pro-aktiv« sein

19.1.1 Von innen nach außen

19.2 Schon am Anfang das Ende im Sinn haben

19.3 Das Wichtigste zuerst

19.3.1 Ausgewogene Selbsterneuerung

20 Durch ein Trauma wachsen

20.1 Das Märchen von der Palme

20.2 Das Trauma als Wende im Leben

20.2.1 Menschen verfügen über erstaunliche Heilungskräfte

20.3 Haben Traumata einen Sinn?

21 Service

21.1 Empfehlungen zum Weiterlesen

21.2 Wo Sie Hilfe finden

21.2.1 Opferhilfe

21.2.2 Fachgesellschaften

Autorenvorstellung

Sachverzeichnis

Impressum

Teil I Was bedeutet Traumatisierung?

1 Was sind traumatische Erfahrungen?

2 Die Rolle unserer Bindungsmuster

3 Traumata kommen oft vor

Verschiedene Ereignisse können Traumata auslösen; bezeichnend sind extreme Angst- und Ohnmachtsgefühle.

1 Was sind traumatische Erfahrungen?

Traumatische Erfahrungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie unsere Verarbeitungsfähigkeit weit übersteigen. Wir wollen der Situation entfliehen oder kämpfen und uns in Sicherheit bringen.

Wir sind in der Klemme, weil wir uns nur noch ohnmächtig und hilflos fühlen. Und das ist schwer auszuhalten. Ohnmacht, Todesangst und Hilflosigkeit sind vermutlich die unangenehmsten Erfahrungen, die wir in unserem Leben zu erleiden haben. Dennoch erleiden Menschen wie auch Säugetiere solche Erfahrungen und haben einige Mechanismen entwickelt, damit irgendwie doch fertig zu werden. Wie? Das werden wir weiter unten besprechen.

Stellen Sie sich vor, Sie machen gut gelaunt an einem schönen Sonnentag im Mai eine kleine Spazierfahrt auf einer selten befahrenen Landstraße im Gebirge. Sie freuen sich über das schöne Wetter und den Bergfrühling. Sie fahren langsam und vorsichtig, denn die Straße ist eng. Rechts von Ihnen steigt der Berg auf, links geht es in die Tiefe.

Plötzlich rast ein Auto auf Sie zu. Sie können nicht ausweichen. Der Fahrer des anderen Fahrzeugs bremst gar nicht. Sie denken: »Oh mein Gott, das ist das Ende«. Dann kracht es …

Sie kommen wieder zu sich und bemerken, dass Sie im Wagen eingeklemmt sind. Irgendwie schaffen Sie es, sich aus dem Auto zu befreien. Was Sie sehen, lässt Ihnen das Blut in den Adern gefrieren … (Wir beschreiben das absichtlich nicht genauer.) Irgendwie schaffen Sie es, ins nächste Dorf zu kommen und Hilfe zu holen.

Erst als sich dort jemand um Sie kümmert, bemerken Sie, dass Sie zittern und Sie sich setzen müssen, weil Ihre Knie weich sind. Jemand bringt Ihnen warmen Tee und gibt Ihnen eine Decke. Als Sie diese Zuwendung erfahren, kommen Ihnen die Tränen. Jetzt erst bemerken Sie, dass in Ihnen Todesangst ist, Panik, Entsetzen, Ohnmacht und Hilflosigkeit.

Sie haben soeben eine traumatische Erfahrung erlitten. In jedem Fall sind solche Erfahrungen sehr einschneidend und man steckt sie nicht einfach weg. Die Verarbeitung braucht Zeit und setzt voraus, dass die äußere Gefahr vorüber ist.

1.1 Welche Traumata gibt es?

Traumata, die Menschen anderen Menschen zufügen, bezeichnet man auch als »Man-made-Traumata«; leider kommen diese häufiger vor als die zweite Kategorie, die uns als Naturkatastrophen oder schwere Schicksalsschläge, wie z. B. schwere Erkrankungen, begegnen. Als dritte Kategorie gibt es kollektive Traumatisierungen, die wir uns als Menschen gegenseitig zufügen, die aber in einem größeren, also nicht individuellen Kontext geschehen, die allen widerfahren, wie z. B. Kriege.

»Man-made-Traumata« der ersten Kategorie wirken sich am schlimmsten aus. Es ist schrecklich, wenn andere, denen wir vertrauen, uns schaden, uns verraten und verletzen.

Wenn uns die Natur verletzt, z. B. durch ein Erdbeben, ist das natürlich auch entsetzlich, dennoch können wir innerlich damit leichter fertig werden, weil wir doch wissen, dass solche Dinge geschehen können, und weil wir uns nicht persönlich verraten und geschädigt fühlen, selbst wenn uns das Ereignis Schaden zufügt.

Wenn wir kollektive traumatische Erfahrungen machen, wie z. B. einen Krieg erleben, können wir uns zumindest damit »trösten«, dass alle das gleiche Schicksal trifft. Das hilft vielen Menschen, mit Schrecklichem besser fertig zu werden.

Verkehrsunfälle, Feuer u. Ä. werden meist eher wie eine Naturkatastrophe erlebt und weniger als etwas, das uns von einem anderen Menschen angetan wird. Aber hier gibt es Übergänge.

Diese Einteilung ist nur grob, und es gibt immer wieder Situationen, die sich nicht eindeutig einer der drei Kategorien zuordnen lassen. Stellen Sie sich z. B. ein kleines Kind vor, das im Krieg seine Eltern verliert. Oder Menschen, die infolge des Krieges vergewaltigt werden.

Traumatische Erfahrungen übersteigen das Erträgliche.Wir fühlen uns ohnmächtig und hilflos.Danach ist nichts mehr, wie es vorher war.Wir haben Angst, sind panisch oder fühlen uns leer – wie abgetötet.

1.1.1 Unsere Wertesysteme spielen eine Rolle

Auch unser kultureller Hintergrund ist wichtig. Wenn wir z. B. gedemütigt werden, berührt das unsere Wertesysteme, und die sind unterschiedlich. So würde es in Deutschland einen Mann vermutlich weniger demütigen, von einer Frau gezwungen zu werden, sich vor ihr zu entkleiden, als das bei einem arabischen Mann der Fall ist. (Im Zusammenhang mit der Folter irakischer Gefangener durch US-Soldaten konnte man im Fernsehen sehen, dass dieses Entkleiden als Demütigung eingesetzt wurde und dementsprechend bei den betroffenen Volksgruppen einen Impuls nach Blutrache auslöste.)

Unsere Wertesysteme können uns die Verarbeitung von Traumatisierungen erleichtern oder erschweren. Wenn wir z. B. sagen können, »das war Gottes Wille« oder »ich habe für eine gerechte Sache gekämpft«, hilft uns das durchzuhalten und leichter zu genesen.

1.1.2 Der soziale Kontext ist wichtig

Traumata, die Menschen anderen Menschen zufügen, geschehen darüber hinaus in einem sozialen Kontext. In der Familie und in der Gesellschaft. Dieser Kontext trägt ebenfalls dazu bei, ob wir Traumata schwerer oder leichter verschmerzen können. Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem totalitären Staat, in dem Sie andauernd damit rechnen müssen, verschleppt und gefoltert zu werden. Oder ein Kind lebt in einer Familie, in der es zur Tagesordnung gehört, dass Misshandlungen, Vernachlässigung und sexuelle Gewalt geschehen.

In beiden Fällen wäre der Mensch, dem solches widerfährt, in Dauerspannung, Angst und Panik. Dies würde seine Abwehrkräfte möglicherweise noch zusätzlich schwächen, in manchen Fällen allerdings auch gerade die Widerstandskräfte besonders fördern, z. B. bei Menschen, die sehr entschlossen gegen ein Unrechtsregime kämpfen.

1.2 Welche Ereignisse können traumatisieren?

Wichtig ist, dass wir uns klar machen, dass ein traumatisches Ereignis mit Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühlen extremer Art einhergeht. Gleichzeitig kann es zu Gefühlsüberflutung, Panik und Todesangst führen. Wir beginnen mit der Kindheit, denn für Kinder sind traumatische Erfahrungen am schlimmsten, sie verfügen ja noch nicht über so viele Möglichkeiten des Schutzes und der Verarbeitung wie Erwachsene.

Alle Fachleute sind sich heute einig, dass Vernachlässigung, sexualisierte Gewalt und emotionale wie körperliche Gewalt traumatisch sind. Ebenso schwere Erkrankungen des Kindes, aber auch kranke, insbesondere ▶ seelisch kranke Eltern. Peter Levine hat darauf hingewiesen, dass Kinder durch Erfahrungen traumatisiert werden können, die Erwachsene nicht für traumatisch halten. Ein Angriff eines Tieres (z. B. eines Hundes), körperliche Verletzungen durch Unfälle und Stürze (z. B. vom Fahrrad oder einer Treppe), hohes Fieber oder auch Erfahrungen von extremen Temperaturen können extreme Ängste auslösen, insbesondere, wenn das Kind dabei alleine ist. Traumatisch auswirken können sich auch plötzliche Verluste (z. B. der Tod des geliebten Haustieres), beinahe Ertrinken oder das Verlorengehen in Kaufhäusern. Die genannten Situationen können traumatische Auswirkungen haben, müssen es aber nicht. Es kommt auch immer darauf an, wie stabil das Kind in der Situation und insgesamt ist.

Medizinische und zahnmedizinische Eingriffe sind auch ein wichtiges Feld. So können z. B. Krankenhausaufenthalte mit Gefühlen von Verlassenheit und Ausgeliefertsein bis hin zu Todesängsten verbunden sein. Früher war es üblich, Eltern außerhalb vorgegebener Besuchszeiten nicht zu ihren Kindern zu lassen; manchmal wurden Kinder auch fixiert.

Wie werden traumatische Ereignisse definiert?

Trauma heißt Verletzung. Diese kann sowohl körperlich als auch seelisch sein. Definitionsgemäß erfüllt ein traumatisches Ereignis folgende Kriterien: Die Person war selbst Opfer oder Zeuge eines Ereignisses, bei dem das eigene Leben oder das Leben anderer Personen bedroht war oder eine ernste Verletzung zur Folge hatte. Die Reaktion des Betroffenen beinhaltete Gefühle von intensiver Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen.

Medizinisch notwendige Eingriffe können als Trauma erlebt und entsprechend fehlverarbeitet werden. Schwere körperliche Erkrankungen können sich ebenfalls traumatisch auswirken. All diese möglichen Erfahrungen können Sie in Betracht ziehen, wenn Sie sich fragen: »Bin ich traumatisiert?«

Insbesondere spielen sexuelle und andere Gewalt eine große Rolle. Es wäre aber falsch, nur an Gewalt und sexuelle Gewalt zu denken, wenn man bei sich beobachtet, dass man Zeichen einer ▶ Traumafolgestörung aufweist. Es könnte auch die Mandeloperation mit vier Jahren gewesen sein, bei der fünf Erwachsene das Kind festgehalten und ihm eine Spritze verpasst haben. Manchmal haben auch »kleine Traumata« große Auswirkungen. So können wiederholte Demütigungen (z. B. Hänseleien oder Mobbing im Kindergarten oder in der Schule) die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls verhindern, wenn nicht gleichzeitig unterstützende Faktoren vorhanden sind.

Auflistung der möglichen Traumata

Naturkatastrophen jeder Art

Krieg

Vertreibung

Folter

Traumata durch medizinische (notwendige) Eingriffe

traumatisches Geburtserleben

Unfälle im Verkehr, am Arbeitsplatz oder an anderen Orten, z. B. beim Bergsteigen

Der Verlust einer nahen Bezugsperson, insbesondere im Kindesalter oder unerwartet. Vor allem der Verlust der Eltern im Kindesalter oder für Eltern der Verlust eines Kindes.

Vernachlässigung in der Kindheit – körperlich, psychisch und emotional

Gewalt

sexualisierte Gewalt

das Miterleben von Gewalt und sexualisierter Gewalt als Zeuge

Das Miterleben anderer traumatischer Ereignisse als Zeuge, z. B. als naher Angehöriger miterleben, wie jemandem Gewalt angetan wird oder auch, ein krebskrankes Kind haben.

Die Konfrontation mit Traumafolgen als Helfer (z. B. Polizisten, Feuerwehrleute, Ärzte) wird auch als sekundäre Traumatisierung bezeichnet.

Das Zusammenleben als Kind mit traumatisierten Eltern (Holocaustopfer, Kriegsopfer, Opfer sexueller Gewalt). Hier wird ebenfalls von sekundärer Traumatisierung gesprochen oder auch vom »Second-Generation-Phänomenen«.

1.3 Wie gehen wir mit einem Trauma um?

Für den Umgang mit traumatischen Erfahrungen und deren Auswirkungen spielen folgende Faktoren eine wesentliche Rolle:

Ein einmaliges traumatisches Ereignis im Erwachsenenalter kann in der Regel besser verarbeitet werden als wiederholte und über Jahre andauernde Traumata im Kindesalter.

Ein durch äußere Faktoren (z. B. Naturkatastrophen, Unfälle) ausgelöstes Trauma kann normalerweise besser verkraftet werden als ein durch Menschen verursachtes traumatisches Ereignis.

Je enger die Beziehung zur verursachenden Person ist, desto schwerer sind im Allgemeinen die Folgen.

Je mehr unterstützende Faktoren vorhanden sind, desto besser gelingt der Umgang mit schweren Belastungen. Unterstützend wirken können vertrauenswürdige, verlässliche Menschen, aber auch persönliche Fähigkeiten (z. B. sich Hilfe holen können, sich besser schützen können).

Im Erwachsenenleben gibt es viele Ereignisse, die uns herausfordern. Jede länger anhaltende psychosoziale Belastung, z. B. Arbeitslosigkeit oder Mobbing, erfordert auf der anderen Seite sichere Bindungen und Unterstützung, ansonsten können sie traumatische Folgen haben.

Es gibt also eine Vielzahl von traumatischen Ereignissen. Einige werden Sie kennen, bei einigen werden Sie sich vielleicht wundern, dass diese Ereignisse als Traumata angesehen werden. So wissen z. B. auch manche Fachleute nicht, dass Vernachlässigung im Kindesalter eine schwere Traumatisierung darstellt.

Wir unterscheiden heute den Faktor, der durch das Ereignis gegeben ist und den subjektiven Faktor, der sich aus den Widerstandskräften des Individuums ergibt, dem das Trauma widerfährt.

Entscheidend ist also, auf welchen Boden traumatische Erfahrungen fallen, welche Vorerfahrungen Betroffene gemacht haben. Wer bereits Vertrauen und Sicherheit erfahren hat, weiß, dass es so etwas wie soziale Unterstützung gibt. Das hält die Hoffnung aufrecht, dass es besser oder gut werden kann.

2 Die Rolle unserer Bindungsmuster

Wie wir auf ein traumatisches Ereignis reagieren, hängt auch davon ab, welche Bindung wir als Kind zu unseren nahen Bezugspersonen – also meist unseren Eltern – hatten.

Es ist nachgewiesen, dass traumatische Erfahrungen und sogenannte Bindungsstörungen sich wechselseitig beeinflussen, das heißt, traumatische Erfahrungen können zu Bindungsstörungen führen, andererseits sind bindungsgestörte Kinder/Erwachsene auch verletzlicher. Diesen Zusammenhang wollen wir im Folgenden näher beleuchten.

2.1 Die besondere Bindung an die Eltern

Karl Heinz Brisch führt in seinem Buch »Bindungsstörungen« viele seelische Störungen von Kindern und Erwachsenen auf einen Mangel an Sicherheit, Schutz und Geborgenheit in den ersten Lebensjahren zurück. Dabei bezieht er sich auf die sogenannte »Bindungstheorie«, die der englische Psychoanalytiker John Bowlby in den 1950er-Jahren entwickelte. Diese besagt, dass der Mensch, wie auch viele andere Lebewesen, ein biologisch angelegtes »Bindungssystem« besitzt. Sobald eine Gefahr auftaucht, wird es aktiviert. Ein kleines Kind wendet sich in einer solchen Situation an die ihm vertraute Person (z. B. an seine Mutter oder seinen Vater), zu der es eine ganz besondere »Bindung« aufbaut. Die Art der Gefühle, Erwartungen und Verhaltensweisen in dieser Bindungsbeziehung hängt von den Erfahrungen mit den wichtigsten Bezugspersonen ab. Vertrauen kann sich entwickeln, wenn die Bedürfnisse befriedigt werden.

2.1.1 Wir brauchen Schutz und Geborgenheit

Das sogenannte Bindungsmuster, das sich bereits während des ersten Lebensjahres ausprägt, bleibt in seinen Grundstrukturen relativ konstant. Für das unselbstständige menschliche Neugeborene und Kleinkind ist die Bindung an die Person, die Schutz und Fürsorge gewährt, von lebenserhaltender Bedeutung. Das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit durch eine zuverlässige Bindungsperson, die in Gefahrensituationen Schutz und Hilfe gewährt, bleibt lebenslang bestehen. Auch bei Erwachsenen wird in einer bedrohlichen Situation das in der frühen Kindheit ausgeprägte Bindungssystem aktiviert und löst schutzsuchendes Bindungsverhalten aus. Schwierig wird es, wenn das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz nicht befriedigt wird und die Angst bleibt.

2.1.2 Frühgeborene erhielten oft nicht genug Liebe

Trennungs- und Verlusterlebnisse spielen bei der Entstehung vieler Erkrankungen eine wesentliche Rolle. Durch den medizinischen Fortschritt überleben heute auch extrem kleine Frühgeborene. Eltern von Frühgeborenen sind auf den frühen Verlust der Schwangerschaft oft nicht vorbereitet und können Schwierigkeiten haben, zu den sehr kleinen Frühgeborenen eine emotionale Bindung aufzubauen. Der Beginn des neuen Lebens verläuft somit anders als erwartet, das Frühgeborene muss oft wochenlang im Krankenhaus gepflegt werden. Man weiß heute, wie wichtig Körperkontakt und Ansprache auch für ganz kleine Frühgeborene sind und versucht entsprechend, die Eltern miteinzubeziehen. Dabei ist es wichtig, dass sich die Eltern mit ihren Ängsten nicht alleingelassen fühlen und sich bei Bedarf auch Unterstützung holen.

2.1.3 Wie kann ich meinem Baby Sicherheit geben?

Ein Säugling sucht besonders die Nähe zu seiner engsten Bezugsperson, wenn er Angst erlebt. Wenn sich Ihr Baby von Ihnen getrennt fühlt, unbekannte Situationen oder die Anwesenheit fremder Menschen als bedrohlich erlebt oder wenn es Schmerzen hat, erhofft es sich von Ihrer Nähe Sicherheit, Schutz und Geborgenheit. Es sucht Ihre Nähe durch Blickkontakt oder körperlichen Kontakt. Ihr Kind gibt dabei ganz aktiv Signale. »Feinfühliges Verhalten« besteht darin, die Signale des Kindes (z. B. Weinen) wahrzunehmen, richtig einzuordnen und seine Bedürfnisse angemessen und sofort zu befriedigen. Sucht Ihr Kind Nähe und Körperkontakt? Hat es Hunger oder Durst? Friert es oder ist ihm zu warm? Hat es Schmerzen? Erkennen und befriedigen Sie »feinfühlig« seine Bedürfnisse, kann der Säugling eine sichere Bindung entwickeln. Diese Feinfühligkeit setzt bei den Bezugspersonen Einfühlungsvermögen voraus.

2.1.4 Wann entwickelt sich eine unsichere Bindung?

Wird auf die Bedürfnisse gar nicht, nicht genügend oder unberechenbar (z. B. Wechsel zwischen Verwöhnung und Vernachlässigung) eingegangen, entwickelt sich häufiger eine unsichere Bindung.

Ist die wichtigste Bezugsperson bei drohender Gefahr nicht anwesend oder wird das Kind von ihr getrennt, reagiert es mit Weinen oder Wut und sucht aktiv nach seiner Bezugsperson. Dabei entwickelt der Säugling im ersten Lebensjahr eine bestimmte Rangfolge verschiedener Bezugspersonen. Je größer der Schmerz oder die Angst (z. B. bei einer Verletzung oder Erkrankung), desto intensiver wird das Kind die wichtigste Bezugsperson einfordern und sich nicht durch weniger wichtige Bezugspersonen trösten lassen. Bleibt der Trost aus, bestehen Schmerz oder Angst weiter.

2.2 Wie erkennt man das Bindungsmuster?

Wenn Ihr Kind emotionale Sicherheit erlebt, kann es seiner Neugier nachgeben und sich mehr oder weniger weit von Ihnen entfernen, ohne emotional in Stress zu geraten. Die Selbststeuerung in Bezug auf Nähe und Distanz wird von einer feinfühligen Bezugsperson akzeptiert. Wenn die Bezugsperson das Kind übermäßig bindet, stellt sie zwar eine nahe Bindung her, gleichzeitig gewährt sie aber keinen ausreichenden Spielraum für dessen Bedürfnisse nach Exploration und frustriert auf diese Weise das Kind.

Sicher gebundene Kinder zeigen deutliches Bindungsverhalten bei Trennung von der Bezugsperson. Sie rufen nach ihr, folgen ihr nach und suchen sie auch längere Zeit. Schließlich weinen sie und sind deutlich gestresst. Auf die Wiederkehr der Bezugsperson reagieren sie mit Freude, suchen Körperkontakt, wollen getröstet werden, können sich aber nach kurzer Zeit wieder beruhigen.

Unsicher-vermeidend gebundene Kinder reagieren auf Trennung mit wenig Protest und zeigen kein deutliches Bindungsverhalten. Auf die Rückkehr der Bezugsperson reagieren sie eher mit Ablehnung und wollen nicht auf den Arm genommen und getröstet werden. In der Regel kommt es auch zu keinem intensiven Körperkontakt.

Unsicher-ambivalent gebundene Kinder zeigen nach Trennungen den größten Stress und weinen heftig. Nach der Rückkehr der Bezugsperson können sie von dieser kaum beruhigt werden. Wenn sie von ihrer Bezugsperson auf den Arm genommen werden, drücken sie einerseits den Wunsch nach Körperkontakt und Nähe aus, andererseits verhalten sie sich aggressiv (Strampeln mit den Beinen, Schlagen oder Sich-abwenden).

Kinder mit desorganisiertem Verhaltensmuster lassen sich keiner der oben genannten Kategorien zuordnen. Sie wirken in ihrem Verhalten unsicher und desorientiert. Sie laufen z. B. zur Bezugsperson hin, bleiben auf der Hälfte des Weges stehen, drehen sich um, laufen wieder weg und vergrößern den Abstand. Ihre Bewegungen können mitten im Bewegungsablauf erstarren und scheinbar »einfrieren«. Außerdem beobachtet man stereotype Verhaltens- und Bewegungsmuster. Das Bindungssystem dieser Kinder ist zwar aktiviert, äußert sich aber nicht in konstanten und eindeutigen Verhaltensweisen. Das Desorganisationsmuster wurde überzufällig häufig bei Kindern aus klinischen Risikogruppen wie auch bei Kindern von Eltern gefunden, die ihrerseits traumatische Erfahrungen mit in die Beziehung zum Kind einbrachten.

Man geht davon aus, dass Temperament oder genetisch bedingte Verhaltensweisen des Kindes ebenfalls eine wesentliche Rolle in der Beziehung des Kindes zur Bezugsperson spielen. Ein unruhiger Säugling (z. B. mit Schreien oder ausgeprägten Schlafproblemen) kann eine feinfühlige Bezugsperson herausfordern.

2.3 Welche Schutz- und Risikofaktoren gibt es?

Vom ersten Lebensjahr bis zur Jugendzeit finden sich Parallelen wie auch Veränderungen in der Entwicklung der Bindung. Im ersten Lebensjahr ist nicht nur die Bindung für die weitere Entwicklung entscheidend. Vielmehr spielen die jeweiligen Schutz- und Risikofaktoren eine große Rolle.

Schützend wirken Feinfühligkeit, ein gewohnter Rhythmus, Gegenseitigkeit und Vorhersehbarkeit. Kind und Bezugsperson sind ein eingespieltes Team, stellen sich aber auch immer wieder auf die neue Situation ein. So kennt das Kind den Ablauf des Wickelns bei der Mutter und ist mit ihr im Kontakt. Genauso vertraut kann der ganz anders ablaufende Wickelvorgang durch den Vater sein. Das Kind kennt die jeweiligen Verhaltensweisen und ordnet sie verschiedenen vertrauten Personen zu. Risikofaktoren können wichtige Lebensereignisse sein wie Scheidung, Umzug, Krankheit oder Tod eines Elternteils. So kann aus einer anfangs sicheren Bindung eine unsichere werden.