Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt - Luise Reddemann - E-Book

Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt E-Book

Luise Reddemann

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Beschreibung

Dieses Buch ist nichts weniger als eine kleine Schule der Lebenskunst, die uns zeigt, wie wir uns aus Blockaden befreien und Leichtigkeit und Gelassenheit zurückgewinnen können.

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Luise Reddemann
Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt
Seelische Kräfte entwickeln und fördern
Für Heiner
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016
www.herder.de
Durchgesehene und überarbeitete Sonderausgabe der unter dem gleichen Titel erstmals 2004 in der Taschenbuchreihe Herder Spektrum erschienenen Ausgabe.
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © sharply_done / iStock / Getty Images
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Liebevoll annehmen, was ist
Wenn Sie das Gefühl haben, »am Boden« zu sein
Sich das Klagen erlauben
Der nährende Aspekt von Krankheit und Leid
Die Unmessbarkeit von Leid und Leiden
Perspektivenwechsel
Die Relativität des Zeiterlebens
Akzeptanz entwickeln
Segensworte finden
Eine persönliche Bilanz ziehen
Die richtige Zeit wahrnehmen
Bedingungen für Veränderungen schaffen
Innere Kräfte entwickeln und stärken – Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt
MUT
Herz und Verstand
Wiederholen und Üben
Freude und Freuen
Freude als Weg
Lachen
Schönheit
Merken und Achtsamkeit
Anfängergeist
Gegenwärtig sein
Sich selbst beobachten
Einstellungen verändern
Annahme
Nachgeben
Alles geht vorüber
Besonnenheit
Entschlossenheit und Willenskraft
Denkmuster bewusst machen
Verändern
Mühelosigkeit
Einfachheit
Die Bereitschaft, sich helfen zu lassen
Die einfachen Dinge des Lebens
Faulheit
Engagement
Hoffnung
Demut
Selbst- und Menschenbilder
Selbstheilung
Die innere Heilerin/der innere Heiler
Schuld- und Schuldgefühle
Grenzen
Kampfgeist
Nein sagen
Ja sagen
Mitgefühl und Mitleid
Barmherzigkeit
Wärme
Solidarität
Innere Bilder und Vorstellungskraft
Vorstellungskraft nutzen
Visionen
Intuition
Inspiration
Kreativität
Originalität
Authentisch sein
Was uns daran zu hindern scheint, unser volles Potenzial zu leben
Gelassen sein
Wohlwollen
Stolpersteine
Heilsame und unheilsame Worte
Handlungen
Gewohnheiten
Der Stein-ins-Wasser-Effekt
Stille
Spiritualität
Liebe
Dankbarkeit
Natur
Pausen
Was in schwierigen Situationen wichtig sein kann
Resilienz
Salutogenese
Flow
Hilfe in schwierigen Situationen
Wie kann man mit Angst besser umgehen?
Was hilft gegen Niedergeschlagenheit?
Wie kann man geschickter mit Wut umgehen?
Wie kann man Humor entwickeln?
Wie kann man mit Konflikten besser fertigwerden?
Wie kann man loslassen und abschiedlich leben?
Wie kann man mit Trauer fertigwerden?
Wie kann man Klagen in Wünsche verwandeln?
Wie kann man das Selbstwertgefühl verbessern?
Was kann helfen, um Grenzen besser ziehen zu können?
Wie kann man mit Schmerzen umgehen?
Wie kann man dem »inneren Kind« helfen?
Zum Schluss und zum Dank
Literatur
Quellenhinweise
Über die Autorin
Einleitung
Dieses Buch soll Menschen, die Schweres erlebt haben und die Unterstützung suchen, helfen, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Es kann keine Therapie ersetzen, dort, wo sie nötig ist, sie aber unterstützen.
Während man sich seit dem Aufkommen der wissenschaftlichen Medizin überwiegend mit dem Kranken, der Pathologie, also der Lehre vom Krankmachenden, beschäf­tigte, wird zunehmend ein uraltes Wissen wiederentdeckt, nämlich das der Widerstandskräfte. Seelische Widerstandskraft ist das Zauberwort, das erklärt, warum manche Menschen auch mit extremen Belastungen fertigwerden, unter denen andere zu zerbrechen scheinen.
Die gute Nachricht dabei ist, dass man Widerstandskraft erwerben, genauer: einüben kann, denn es handelt sich bei ­genauer Betrachtung um ganz »normale« Dinge, wie mutig sein, Geduld haben, die richtigen Dinge zur richtigen Zeit tun usw. Oft hat es mit Nichtwissen zu tun, mit dem Festhalten an wenig nützlichen Vorstellungen und Konzepten, wenn diese Kräfte sich nicht entfalten.
Als junge Ärztin habe ich nichts überResilienz– das ist das Fachwort für Widerstandskraft –gelernt, auch nicht über den SchwesterbegriffSalutogenese,das ist die Lehre von den Bedingungen, die gesund machen oder Gesundheit erhalten. Immer noch erfahre ich, dass vielen meiner Kolleginnen und Kollegen diese Begriffe fremd sind.
Dennoch kennt jede Ärztin und jeder Arzt Patienten, die auch von schwersten Leiden genesen, die mit schweren Schicksalsschlägen fertigwerden. Ist die Frage nicht inte­ressant, welche Bedingungen es sind, die dazu beitragen, dass diesen Menschen das gelingt? Wenn man untersucht, was Menschen hilft, zu genesen und zu heilen, kann man Menschen auch helfen, dieses Wissen anzuwenden.
Es sei aber betont, dass dieses Wissen nicht dazu missbraucht werden sollte, Menschen zur Selbstoptimierung zu zwingen, um damit von Ungerechtigkeit und sozialer Ungleichheit abzulenken.
Aaron Antonowsky war einer der Urväter der Forschung zu Resilienz, und er hat gefordert, dass wir uns in der therapeutischen Arbeit auf die Stärkung der gesunden Anteile eines Menschen konzentrieren und uns vom alleinigen Kampf gegen das Kranke abwenden. Auf ihn beziehe ich mich genauso wie auf die Heilerin Susun Weed, deren Buch »HeilWeise« eine große Bereicherung für mich darstellt. Sie bezieht sich auf die uralte Tradition der Weisen Frauen. Die Weisen Frauen haben ihr Wissen mündlich weitergegeben, deshalb ist vieles davon in Vergessenheit geraten. Dennoch ist es vorhanden und kann wieder zum Leben erweckt werden. Weed geht noch über Antonowsky hinaus, wenn sie empfiehlt, dass wir alles in »Nahrung« für uns verwandeln können, auch das Schmerzliche. Darauf werde ich ebenfalls immer wieder zurückkommen. Schließ­lich fühle ich mich besonders von einer Sichtweise inspiriert, dass wir eigentlich vollkommen sind und dass es die Momente der Freude und der Inspiration sind, in denen wir unserer Vollkommenheit begegnen können. Diese grundlegende Einstellung wird ebenfalls meine Überlegungen begleiten.
Ich schreibe in diesem Buch auf, was ich in den letzten Jahren durch die Arbeit mit meinen Patientinnen und Patienten erfahren und gelernt habe. Ihnen habe ich am meisten zu danken. Bereitwillig haben sie mir ihr Wissen, ihre Fragen, ihre Zweifel und ihre Erfahrungen zur Verfügung gestellt, und bereitwillig haben sie Dinge erprobt, die ich ihnen vorschlug, so dass daraus immer wieder neue Erfahrungen für sie und mich wurden, über die ich jetzt berichten kann.
Als ich dieses kleine Buch begann, hatte ich kurz zuvor die Leitung einer Klinik beendet und damit auch die Begleitung vieler Patientinnen und Patienten. Das Büchlein war auch als eine Art Abschiedsgeschenk und Dank gedacht. Es ging mir darum, in einfachen Worten Dinge zu erklären, die mir am Herzen lagen: dass man auf sich selbst hören sollte, dass es helfen kann, mit sich selbst geduldig zu sein, dass Innehalten – statt des damals immer mehr in Mode kommenden Begriffs der Achtsamkeit – hilfreich ist, und dass man erst dann, wenn man innehält etwas über sich selbst gründlicher erfahren kann.
»Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt« hat inzwischen mehr Menschen erreicht, als ich erwartet habe. Es scheint eine gute Unterstützung dabei zu sein, sich in kleinen Schritten intensiver mit sich zu beschäftigen. Denn meine Idee war es auch, kleine Anregungen zu geben, so dass diese aufgegriffen werden konnten und nicht sofort ein Gefühl der Überforderung aufkommen musste.
Was ich hier zu Papier gebracht habe, ist nicht als Rat­geber gedacht, sondern als ein freundlicher Begleiter, den man gelegentlich oder regelmäßig bitten kann, hilf mir, etwas über mich herauszufinden. Ich möchte der Leserin bzw. dem Leser Mut machen, einen ureigenen Weg zu finden.
Jeder Mensch ist einmalig. Deshalb kann es nichts geben, was immer für alle gilt. Dennoch kann man auch aus Erfahrungen anderer und auch von der Forschung auf bestimmten Gebieten lernen oder sich etwas abschauen. Prüfen Sie, was Sie für sich verwenden können auf Ihrem Weg zu mehr seelischer Widerstandskraft. Lesen Sie das Buch ganz so, wie Sie möchten. Vom Anfang bis zum Schluss oder nach Stichworten. Oder Sie schlagen irgendeine Seite auf und schauen, ob Sie dort etwas für Sie Brauchbares entdecken.
Wichtig ist, dass Sie das eine oder andere ausprobieren.
Ich nenne es Innehalten, wenn ich Ihnen vorschlage, etwas auszuprobieren. Meist geht es darum, Dinge genauer wahr­zunehmen, genau hinzusehen. Dazu braucht es die Bereitschaft, innezuhalten.
Wenn Sie alles in diesem Buch erproben wollen, was ich Ihnen vorschlage, wird das einige Zeit beanspruchen. Haben Sie also bitte Geduld. Wählen Sie das aus, was Ihnen spontan zusagt.
Ich empfehle Ihnen, konzentrieren Sie sich eher auf die Dinge, die Ihnen leicht fallen, und kümmern Sie sich nicht andauernd um Ihre Schwächen. Die werden dann oft wie von selbst milder. Ähnliches steht auch bereits im Weisheitsbuch des I Ging, das vor tausenden von Jahren entstand: Wie überwindet man das »Böse«? Durch beharrliches Tun des »Guten«. (Die Anführungszeichen stammen von mir. Prüfen Sie für sich, was für Sie das »Böse« bzw. das »Gute« ist.)
Sowohl die Forschungsergebnisse der »Positiven Psy­cho­logie« wie die der Resilienz- und Salutogeneseforschung, die sich alle mit dem beschäftigen, was Menschen hilft, gesünder und stärker zu werden, untermauern vieles, was ich im Lauf der Jahre in der praktischen Arbeit mit meinen Patientinnen und Patienten gefunden habe.
Das Buch ist in drei große Abschnitte gegliedert. Im ersten geht es darum, das, was ist, liebevoll anzunehmen, im zweiten eher um grundlegende Möglichkeiten, innere Kräfte zu entwickeln und zu stärken. Im dritten sollen einzelne Themen, die Patientinnen und Patienten von mir immer wieder für wesentlich gehalten haben, angesprochen werden, da­runter auch einiges Grundlegende zu den Begriffen Resilienz, Flow und Salutogenese.
Wahrscheinlich ist alles, was uns heute helfen könnte, schon einmal gedacht, gesagt, aufgeschrieben und getan worden. Mir erscheint es ermutigend, mir vorzustellen, dass und wie viele andere vor mir sich ähnliche Fragen gestellt haben, von ähnlichen Nöten geplagt waren und ihre Antworten gefunden haben. Daher schreibe ich Ihnen auch Texte auf, die für mich inspirierend sind. Vielleicht sind sie es auch für Sie.
Weil schon so vieles, wenn nicht alles, gesagt wurde, gebe ich Ihnen am Ende des Buches Empfehlungen zum Weiterlesen und Vertiefen.
Bitte bedenken Sie auch: Leben lernt man nicht aus Büchern, Leben lernt man dadurch, dass man lebt. Und das tun Sie so oder so. Wenn Sie es bewusster und leichter tun wollen, finden Sie hier einige Anregungen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute!
Liebevoll annehmen, was ist
Wenn Sie das Gefühl haben, »am Boden« zu sein
Vielleicht ist es dieses Gefühl, diese Erfahrung, die Sie veranlasst hat, zu diesem Buch zu greifen.
Es könnte sein, dass ich Ihnen Dinge sage, die Sie längst wissen. Es könnte auch sein, dass ich hier einiges zur Sprache bringe, was Sie verwundert oder sogar bestürzt. Deshalb bitte ich Sie, betrachten Sie meine Worte als Anregungen, die Sie annehmen, aber genauso gut ablehnen können. Nur Sie allein wissen, was jetzt in diesem Moment für Sie richtig und hilfreich ist. Menschen sind sehr verschieden, es gibt nichtdenWeg für alle. Auch mein Wissen und meine Erfahrungen sind beschränkt, deshalb kann es sehr gut sein, dass ich Sie überhaupt nicht erreichen kann, weil Sie Dinge erfahren und erlebt haben, die ich nicht kenne.
In diesem Kapitel, aber auch später immer wieder, werde ich jeweils zwei Seiten einer Medaille darstellen. Das wird Sie vielleicht zu der Frage veranlassen: »Was ist denn jetzt richtig?« Meine Antwort: Vermutlichsowohl das eine wie das andere.Als Menschen leben wir in der Dualität und in der Polarität der Dinge. Dualität und Polarität lassen sich – vorübergehend! – auflösen, wenn wir erleben können, dass beides zusammengehört, aber nicht dadurch, dass wir den einen oder den anderen Teil aus unserem Bewusstsein verbannen.
Dazu eine kleine Geschichte, die ich sehr mag:
Ein Mann und eine Frau kommen zum Rabbi, weil es schlecht steht um ihre Ehe. Erst beklagt sich der Mann, und der Rabbi sagt: »Du hast Recht.« Dann beklagt sich die Frau, und der Rabbi sagt: »Du hast Recht.« Da sagen beide: »Rabbi, du bist verrückt.« Da sagt der Rabbi: »Ihr habt Recht.«
Es braucht also ein wenig Bereitschaft zum Verrücktsein – nämlich, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, eben zu ver-rücken, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Beide haben Recht, sie sehen aber nicht das Leiden des anderen, weil sie ganz auf ihr eigenes fixiert sind, und genau dadurch befinden sie sich in einer scheinbar unauflösbaren Situation.
Unsere innere Situation lässt sich damit vergleichen: Wir haben kein Verständnis für die andere Seite in uns. Der gesunde Teil will oft nichts von dem kranken Teil und dessen Potenzial wissen, der kranke aber häufig auch nichts von den Möglichkeiten der gesunden Seite. Können wir anerkennen, dass beide Seiten Recht haben, erschließen sich uns neue Möglichkeiten.
Keine Verurteilung
Wenn Sie sich am Boden fühlen, bitte ich Sie zuallererst: Verurteilen Sie sich nicht dafür. Auch wenn Sie nicht ver­stehen, warum es so ist, auch wenn Ihnen andere sagen, Sie hätten dieses oder jenes tun oder lassen sollen, dann wäre alles anders: Verurteilen Sie sich nicht!
Weiter unten werde ich erklären, warum wir verurteilen, dennoch ist es selten hilfreich.
Hat sich in Ihrem Leben je etwas in die gewünschte Richtung entwickelt, weil Sie sich selbst verurteilt haben?
Es könnte lohnend für Sie sein, dass Sie sich damit beschäftigen zu unterscheiden:Verurteilung ist nicht das Gleiche wie der Wunsch, dass sich etwas ändern möge.Manche meinen, wenn ich das jetzt nicht verurteile oder ablehne, dann ändert sich nichts. Das ist ein Irrtum. Verurteilung bewirkt keine Veränderung. Verurteilung bewirkt Leid und Leiden.
Wenn Sie sich selbst dafür verurteilen, dass Sie jetzt Angst haben oder depressiv sind, dann wird das Problem, das Sie so gerne los sein möchten, höchstwahrscheinlich schlimmer.
Warum ist das so?
Stellen Sie sich vor, es wäre in Ihnen ein Teil, der aus ­unbekannten Gründen depressiv, ängstlich usw. ist. Und dann gibt es Sie, die/der gesund sein will. Diese beiden Teile kämpfen gegeneinander. Ein Teil sagt: Ich bin krank, ich bin krank, ich bin krank, der andere Teil sagt: Ich will gesund sein, ich will gesund sein, ich will gesund sein. Verstehen sich diese beiden? Wohl kaum. Was kann eine Lösung sein? Dass die beiden miteinander sprechen. Der Teil, der sich krank fühlt, sollte z.B. die Chance bekommen, darüber zu berichten, was ihn krank macht, bekümmert, ängs­tigt; der andere Teil sollte aber ebenso ernst genommen werden mit seinem Wunsch nach Gesundheit.
Werden diese Teile etwas voneinander erfahren, wenn sie sich gegenseitig verurteilen? Wenn sie nichts voneinander erfahren und lernen, wird die Kluft immer größer und ­dadurch vergrößert sich meist auch das Leiden.
Wenn Sie im äußeren Leben mit jemandem besser zurechtkommen wollen, hilft es auch nicht, den anderen abzulehnen und zu verurteilen. Im Innern ist es genauso. Der große Psychoanalytiker Arno Gruen schreibt darüber, wie schwer es uns fällt, das »Fremde in uns« anzunehmen. Meist ist für uns das Kranke auch das Fremde. Wir wollen es nicht, wir kennen es nicht. Wir haben gelernt, dass wir immer gesund, fit, jugendlich usw. zu sein haben. Haben wir allgemein verbindliche Modelle dafür, dass auch Kranksein, Schwachsein eine Berechtigung haben? War es nicht die meiste Zeit lästig im günstigeren Fall oder gar verpönt im ungünstigeren?
In Deutschland ist es zwar mittlerweile zwei Generationen her, dass Kranke und Schwache getötet wurden, jedoch hat unser kollektives Gedächtnis möglicherweise mehr davon bewahrt als uns bewusst lieb ist. Auch deshalb, weil wir uns mit dieser dunklen Seite unserer Geschichte noch zu wenig auseinander gesetzt haben. Nicht selten haben wir gefunden, dass diejenigen unserer Patientinnen und ­Patienten, die sich selbst am meisten mit ihren Schwächen verurteilten, aus einer Familie stammten, in der es eine traumatische Geschichte gab im Umgang mit Schwerkranken oder Behinderten.
Wir haben alle diese Geschichte, diese Einstellungen und die damit zusammenhängenden Ängste »in den Knochen«, ob wir es wissen oder nicht.
Es ist noch gar nicht lange her, dass in Deutschland das Ideal galt, »reiß dich zusammen« (das wird heute zwar immer noch gesagt, aber es ist kein Ideal mehr), oder sei »hart wie Kruppstahl«, insbesondere für Jungen und Männer.
Wenn Sie jetzt denken, Sie können aber nicht anders, als zu verurteilen: Tun Sie es, aber tun Sie es bewusst! Dann bitte ich Sie genau zu beobachten, wie es sich auf Sie auswirkt, wenn Sie sich verurteilen, und was geschieht, wenn Sie es einmal nicht tun. Ziehen Sie dann bitte selbst Ihre Schlüsse daraus.
Urteilsfähigkeit ist etwas sehr Wichtiges. Sie hilft uns zu unterscheiden. Verurteilen ist insoweit eine Extremform unserer Urteilsfähigkeit.
Dass das eine als angenehm und das andere als unangenehm erlebt wird, kann damit zu tun haben, dass wir im Fall von Verurteilung uns mehr von Angst und Ablehnung leiten lassen, während wir, wenn wir unsere Fähigkeit zum Urteilen liebevoll einsetzen, zu mehr Klarheit gelangen.
Es ist in Ordnung, aus Angst zu handeln! Leider geht es uns damit aber meist nicht gut. Was meine ich in diesem Fall mit »aus Angst handeln«?
Es gibt tief sitzende Ängste, die uns nicht einmal bewusst zu sein brauchen: Dass wir uns nicht geliebt fühlen, dass wir fürchten, die Liebe wichtiger Menschen zu verlieren, dass wir fürchten, verletzt zu werden oder, schlimmer noch, zu sterben. Wenn wir nun mit jemandem oder etwas zu tun haben, das in uns diese Ängste anspricht, so greifen wir – auch wieder oft unbewusst – zu Verteidigungsmaßnahmen. Eine zentrale ist, das, wovon man sich in irgend­einer Art bedroht fühlt, abzuwerten und zu verurteilen.
Stellen Sie sich vor, tief in Ihnen wäre eine Angst, Sie ­wären nicht mehr liebenswert, wenn Sie sich schwach zeigen. Dann werden Sie vielleicht nicht nur vermeiden, schwach zu sein, sondern Schwäche allgemein ablehnen und verurteilen. Sie können vielleicht dabei nun auch ein Bemühen erkennen, das eigentlich dem Schutz vor Liebesverlust dient.
Das heißt, wenn wir genauer hinsehen, verfolgen wir mit unserer Tendenz zu verurteilen sogar »gute« Absichten, wir möchten uns schützen.
Wenn Sie sich die Mühe machen, einander widersprechende Teile mehr miteinander ins Gespräch zu bringen, werden Sie häufiger entdecken, dass ganz am Ende die Ansichten beider Seiten ihre Berechtigung haben können und dass dadurch etwas verständlicher wird. An diesem Punkt angelangt, kann es dann leichter werden, etwas zu ändern.
Jetzt könnten Sie zum Beispiel dem Teil, der verurteilt, sagen: Ich weiß, du willst mich eigentlich schützen, weil du denkst, wenn ich Schwäche zeige, passiert etwas Schlimmes. Bitte mach dir keine Sorgen, denn selbst wenn du und ich die Liebe von … verlieren, geht davon die Welt nicht unter. Wir können uns ja gegenseitig unterstützen.
Sich das Klagen erlauben
Wir haben keine Kultur des Klagens. Viele tun es, jammern, auch an Stellen, wo sich andere fragen, ob das gerechtfertigt ist, das ist aber nicht Ausdruck einer Kultur, sondern einer Not.
Stellen Sie sich vor, es gäbe einen Ort, z.B. eine Klagemauer, wo Sie einmal alles, was Sie beschwert, bekümmert, belastet, ausdrücken dürften. Wie würden Sie sich dann fühlen? Denken Sie, das könnte Sie erleichtern? Falls das der Fall ist, bitte ich Sie, weiter unten (s. S. 164) die Übung zur Klagemauer zu lesen und, wenn möglich, auch zu ­machen.
Wenn Sie sich erlauben zu klagen, bekommen Sie den Kopf wieder frei. Wenn Sie sich aber das Klagen dauernd verbieten, wird es sich durch die Hintertür wieder bemerkbar machen.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich nicht von den Ansichten scheinbar wohlmeinender Menschen davon abhalten lassen, Ihre Klagen zu formulieren und laut auszusprechen. Sich Zeit und Raum fürs Klagen zu nehmen heißt allerdings nicht, von früh bis spät zu klagen.
Es könnte hilfreich sein, wenn Sie sich überlegen, wie viel Zeit am Tag Sie sich fürs Klagen nehmen möchten. Wenn Sie es für richtig halten, das lieber ganz für sich zu tun, könnten Sie z.B. in den Wald gehen oder an einen Ort, wo grade niemand ist.
Ich habe meine Klagen meist an Gott gerichtet. Ich spreche dann laut mit ihm und beklage mich so lange, bis ich das Gefühl habe, jetzt ist es gut. Manchmal dauert das kaum eine Minute, manchmal dauert es auch eine halbe Stunde.
Wenn ich mich »ausgeklagt« habe, fühle ich mich frei und kann meist erkennen, dass es auch Gründe gibt, dankbar zu sein und mich zu freuen. Solange ich mir das Klagen nicht erlaube, geht das nicht.
INNEHALTEN
Probieren Sie nun selbst aus, wie es bei Ihnen mit dem Klagen steht.
Tun Sie es so oft, wie Sie es bräuchten? Oder vielleicht sogar nie, weil Sie meinen, Sie müssten »die Zähne zusammenbeißen«? Oder klagen Sie von früh bis spät, aber immer mit schlechtem Gewissen? Das erleichtert Sie vermutlich nicht. Wenn Sie Dinge mit schlechtem Gewissen tun, bringt es im Allgemeinen keinerlei Erleichterung oder Beruhigung, weil Sie sich den Raum, den Sie eigentlich bräuchten, dauernd selbst wieder nehmen.
Anschließend können Sie, wenn Sie wollen, all Ihre Klagen in Wünsche verwandeln. Wie geht es Ihnen damit?
Der nährende Aspekt von Krankheit und Leid
Dieser Gedanke mag Sie verblüffen. Wie kann Krankheit »nährend« sein?!
Von Susun Weed, die ich in der Einleitung bereits erwähnt habe, habe ich diesen Gedanken zum ersten Mal in aller Deutlichkeit gehört. Sie berichtet davon, dass die Frage der »Weisen Frau«, der Heilerin, lautet: »Womitnährt mich dies oder jenes«, und weniger die häufig und oft unbeantwortbare Frage: »Warumplagt mich dies oder jenes?«
INNEHALTEN
Daher lade ich Sie ein, sich diese Frage zu stellen. Welche Dinge erhalten Sie durch die Erkrankung, die Sie anders nicht oder weniger erhalten? Ist es mehr Distanz von Menschen und Dingen, die Ihnen zu viel wurden; mehr Zuwendung von Menschen, die jetzt, wo Sie krank sind, Sie vielleicht besuchen, Sie anrufen etc.; mehr Verständnis, wie tüchtig und engagiert Sie sind und dass Sie ­vermisst werden; mehr Ablehnung? Es wird Sie ver­wundern, wenn ich mehr Ablehnung als »Nahrung« bezeichne. Wenn Sie sich fragen, ob die Erfahrung von ­Unverständnis und Ablehnung auch zu mehr Klarheit in Beziehungen führen könnte, dann könnte Ablehnung eine zwar bittere, aber notwendige Nahrung sein.
So kann also Krankheit durchaus ihre nützlichen und uns nährende Seiten mit sich bringen.
Wenn Sie entdecken können, dass Ihr derzeitiges »am Ende sein« Sie mit etwas nährt, können Sie sich als Nächs­tes fragen, ob Sie das so weiter wollen oder ob Sie sich die Nahrung auf andere Art und Weise be­schaffen wollen. (Um im Bild zu bleiben: Man kann zu McDonald’s gehen oder in ein Feinschmeckerlokal oder sich zu Hause selbst etwas kochen. Alles nährt, aber das eine oder das andere könnte mehr oder weniger an­genehm sein …)
Die Unmessbarkeit von Leid und Leiden
Leid und Leiden kann man nicht messen. Deshalb hilft es meist wenig, wenn man sich mit anderen vergleicht. Oder wenn jemand anderes sagt, stell dich nicht so an, das ist doch »halb so schlimm«. Oft fühlt man sich dann gekränkt. Der andere kann gar nicht wissen, was es heißt, jetzt diesen Schmerz zu erleben.
Jeder kann nur in seinen eigenen Schuhen stehen, sagt eine indianische Weisheit. Auch wenn wir sehr mitfühlend sind, können wir nie ganz erfassen, was in einem anderen Menschen vor sich geht, so dass wir auch nie ganz den Schmerz eines anderen nachvollziehen können.
Das ist die eine Seite der Medaille.