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Wichtiger als Heiner Müller kann selbst den Surrealisten das Thema Traum nicht gewesen sein. Bereits als Schüler las Müller Freud, er zeichnete eigene Träume auf und sammelte Träume von Mitschülern. Traumtexte ordnet den bis in die letzten Lebenstage reichenden, teils unveröffentlichten Traumaufzeichnungen erzählerische und dramatische Texte zu, die einige dieser Träume aufnehmen und verarbeiten, und bündelt Müllers Reflexionen über den Zusammenhang von Leben, Träumen, Schreiben – und den Traum einer besseren Welt.
»Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen. Das geht nur, wenn er nicht interpretiert, was er hervorbringt. Ich schreibe mehr, als ich weiß. Ich will nicht nachdenken über das, was ich mache.
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Seitenzahl: 241
Heiner Müller
Traumtexte
Herausgegeben von Gerhard Ahrens
Suhrkamp Verlag
Für Anna Müller
Vorwort
Traumbuch
Traumprotokolle
Autorentraum
Traumtexte
Editorische Notiz
Traumtexte von Heiner Müller. Dieser Band versammelt Reverien aus dem Leben und dem Werk des Dichters. Das Material wird in vier Abteilungen ausgelegt. Präsentiert werden Notizen, Protokolle, Texte und Theaterszenen. Der Status der Texte ist unterschiedlich. Zum einen handelt es sich bei den Aufzeichnungen um Selbstzeugnisse eher privater Natur, auch wenn bei einem Schriftsteller wie Heiner Müller, dem alle erdenklichen Lebenszusammenhänge zu Material gerinnen, von privater Sphäre im strikten Sinne nicht mehr die Rede sein kann; zum anderen um Texte aus der Werkproduktion, den Traumtexten aus Poesie und Prosa oder den Traumszenen aus der Stückeproduktion, aber auch um Texte über den Traum aus den Gesprächen, die der Schriftsteller geführt hat. Bei den Traumaufzeichnungen, die aus dem im Heiner-Müller-Archiv [HMA] verwahrten Nachlaß vorgestellt werden, handelt es sich um Erstveröffentlichungen. Sie geben eine Anschauung von Heiner Müllers Traumvorstellungen und werden, wenn ihr manifester Inhalt in einem seiner Werke Einschlag gefunden hat, diesen Texten zugeordnet. Die vier Sektionen dieses Bandes mit den gesammelten Traumtexten Heiner Müllers tragen die Untertitel: Traumbuch, Traumprotokolle, Autorentraum, Traumtexte.
Die erste Sektion: Traumbuch
Heiner Müller hat in einer mit dem Titel »Traumbuch« versehenen Mappe eine Sammlung von Exzerpten aus Texten der Psychoanalyse, Psychologie und Psychiatrie und daraus folgenden Betrachtungen zur Technik der Psychoanalyse, Geschlechterspannung und Familie sowie Traumprotokolle von eigener und ein Konvolut mit Traumprotokollen von fremder Hand aufbewahrt, die aus der Zeit nach dem Krieg in Waren/Müritz stammen oder an anderen Orten, Frankenberg/Sachsen und Berlin, bis zum Jahre 1952 entstanden sind.
»Träume und dergleichen haben mich schon immer interessiert, schon in Waren. Da hatte ich angefangen über Literatur, Psychoanalyse, Psychologie und Psychiatrie zu lesen, natürlich auch die Traumdeutung von Freud. Ich fragte alle erreichbaren Personen nach ihren Träumen. Bedeutung für meine Arbeit hat der Traum nicht als bloße Erscheinung dessen, was nachts passiert, wenn man schläft, es geht weit darüber hinaus.« [Typoskript Autobiographie. HMA 4487, S. 416]
Die »Traumbuch«-Mappe umfaßt insgesamt 19 Autographen, die den Grundstock bilden sollten zu einem von Heiner Müller konzipierten TRAUMBUCH, das neben den in ihm versammelten Traumaufzeichnungen wohl auch eine Idee von der Traumstruktur seiner Texte insgesamt hätte vermitteln sollen.
Die überlieferten Traumprotokolle aus der Zeit in Waren erscheinen als Bruchstücke zu einem Portrait des Künstlers als junger Mann, das Heiner Müller nach seiner Autobiographie »Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen« [KoS; HMW 9. Eine Autobiographie] noch hatte schreiben wollen. Als Kondensat aus Gesprächen war dieser 1992 erschienene Lebensbericht in seinen Augen literarisch nicht von Belang, weshalb er noch einen autobiographischen Prosatext von Gewicht zu verfassen gedachte, nach dem Beispiel von James Joyce und unter dem Titel »Eine Jugend in Deutschland (Krieg ohne Schlacht)« oder auch: »Autoporträt between chairs // Selbstbildnis als junger Mann« [HMA 4467. vgl. HMW 9. Eine Autobiographie. Kommentar, S. 502]. Dieses Projekt ist am weitesten fortgeschritten in dem unter dem Titel »Im Herbst 197. . starb mein Vater …« aus dem Nachlaß veröffentlichten Text, aus dem in diesem Traumbuch wiederholt zitiert wird.
In Referenz zu diesem Vorhaben werden die aus früher Zeit stammenden Traumtexte und theoretischen Reflexionen, die das erwachende Interesse Heiner Müllers an der Psychoanalyse abbilden, umrahmt von einem biographischen Abriß seiner Lebensumstände in Waren. Vor und nach der Transkription der Autographen aus der »Traumbuch«-Mappe wird in Form einer Collage aus Selbstzeugnissen und Dokumenten in wiederholter Spiegelung die Jugend des Dichters beleuchtet, insbesondere sein Verhältnis zum Vater. Als Zeitzeuge des Geschehens tritt Gerhard Bobzin auf, ein Mitschüler Heiner Müllers aus Waren im Jahre 1947, der als Verfasser der Träume von unbekannter Hand aus der »Traumbuch«-Mappe ausfindig gemacht werden konnte.
Die Betrachtungen und Traumprotokolle aus der Warener Zeit sind Zeugnisse aus der Adoleszenzzeit des Künstlers, dessen Jugenderlebnisse zum konstituierenden Element seines Schreibens wurden. Sein Werk ist Schauplatz der historischen Zäsuren, die sein Leben bestimmt haben. Ihm sind die entscheidenden Daten deutscher Geschichte eingebrannt: 1933. 1945. 1953. 1961. 1968. 1989.
»Ich spreche von Geschichte, von ihr bin ich besessen, negiere sie aber gleichzeitig, zeige sogar, wie das Geschichtskonzept nicht mehr existiert.«
[Nach Brecht. Begegnung mit Heiner Müller. Heiner Müller und Maria Maderna. Mailand, September 1985. HMW 10. Gespräche 1, S. 797]
Eine Ausnahmebiographie. Jahrgang 1929, von dem Hans Magnus Enzensberger, ebenfalls Jahrgang 1929 wie Heiner Müller, sagte, damit sei man unter dem politischen Aszendenten des »Verrats« auf die Welt gekommen. Dergestalt von Geschichte okkupiert, hat Heiner Müller im Experiment seiner Dichtung wie in einem Selbstversuch die Zukunft der Vergangenheit eines Leben in zwei Diktaturen erkundet. Das Medium dieser Verdichtung von Gegenwart war die Erinnerung, die es zu bewahren gilt gegen das »VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN«
[Heiner Müller, Wolokolamsker Chaussee V: Der Findling. Nach Kleist. HMW 5. Die Stücke 3, S. 239-246 passim].
»Vergessen ist konterrevolutionär, denn die ganze Technologie drängt auf Auslöschung von Erinnerung.«
[Das Böse ist die Zukunft. Heiner Müller und Frank M. Raddatz. Berlin, Februar 1991. HMW 11. Gespräche 2, S. 825]
»Erinnerungen sind ja was sehr Kompliziertes. Der Text über meinen Vater, der Text über meinen Großvater, der Text über den Selbstmord meiner Frau … Nachdem das aufgeschrieben ist, wurde es so wie etwas Geronnenes. Es existiert jetzt als Text, und ich kann wirklich nicht mehr genau sagen, was an dem geschriebenen Text stimmt und was einfach Verdichtung ist oder Verdrängung. Das ist nicht mehr nachvollziehbar … Und ich glaube, es ist wirklich so etwas Ähnliches wie wenn das Leben als Traum erlebt oder erinnert wird. Und wenn Sie einen Traum erzählen, verändern Sie ihn schon. Wenn Sie ihn aufschreiben, verändern Sie ihn nochmal. Und da ist das Resultat schließlich doch Dichtung und Wahrheit, dieser geniale Titel von Goethe. Wer weiß schon, wie das wirklich war, nachdem man es aufgeschrieben hat. Es ist in eine Ebene, in eine Kategorie gekommen, wo man nicht mehr unterscheiden kann zwischen Wahrheit und Wirklichkeit. Wenn es geschrieben ist, hat es eine Wahrheit, die es vielleicht wirklich gar nicht hatte.«
[Heiner Müller oder Leben im Material. Heiner Müller und Hermann Theissen. Berlin, 22. 6. 1992. HMW 12. Gespräche 3, S. 245]
Die Sonderstellung der Schriften von Müllers Hand aus der »Traumbuch«-Mappe beruht darauf, daß es sich um authentisches Material aus der Jugend des Dichters handelt, das seine späteren Reminiszenzen an diese Zeit in den »Gesammelten Irrtümern« seiner Interviews oder in den Erinnerungen seiner Autobiographie konfrontiert mit der Seelentätigkeit des Jünglings, der im Durchträumen und Ahnen den Beginn der Entwicklung zum Dichter erfährt. Die wenigen Exponate aus dieser Zeit können getrost als Keimzelle des Müllerschen Œuvres angesehen werden, weil sie im Kern schon zentrale Motive beinhalten, deren Spuren und Ausläufer sich in den späteren Werken, bis ins Spätwerk hinein, verfolgen lassen. Und dies nicht nur verstanden als stofflicher Vorrat an Erlebtem, das er im Verlauf seines Schriftstellerdaseins ins Werk zu setzten gedachte, vielmehr ist an diesen Texten aus der Frühzeit die Motivation Heiner Müllers zum Schreiben selbst einsehbar, der Beweggrund, der von Anbeginn schon als Bewältigung der erlebten Stoffmasse die Form einer Textproduktion vor Augen hatte, die sich orientiert an der Collage von Traumbildern und der textuellen Struktur von Träumen.
Wie die Seele mit der Welt ihrer Träume eine untrennbare Einheit bildet, wodurch allererst im Träumen die Seele zur Vorstellung ihrer individuellen Welt gelangt, so ist, Hegel hat dies in seiner »Enzyklopädie« dargelegt, das Verhältnis des Individuums zu seinem Genius geartet: »Unter dem Genius haben wir die in allen Lagen und Verhältnissen des Menschen über dessen Tun und Schicksal entscheidende Besonderheit desselben zu verstehen. Ich bin nämlich ein Zwiefaches in mir, – einerseits das, als was ich mich nach meinem äußerlichen Leben und nach meinen allgemeinen Vorstellungen weiß, und andererseits das, was ich in meinem auf besondere Weise bestimmten Inneren bin. Diese Besonderheit meines Inneren macht mein Verhängnis aus, denn sie ist das Orakel, von dessen Ausspruch alle Entschließungen des Individuums abhängen; sie bildet das Objektive, welches sich von dem Inneren des Charakters heraus geltend macht. Daß die Umstände und Verhältnisse, in denen das Individuum sich befindet, dem Schicksal desselben gerade diese und keine andere Richtung geben, dies liegt nicht bloß in ihnen, in ihrer Eigentümlichkeit, noch auch bloß in der allgemeinen Natur des Individuums, sondern zugleich in dessen Besonderheit. ›Zu den nämlichen Umständen verhält dies bestimmte Individuum sich anders als hundert andere Individuen; auf den einen können gewisse Umstände magisch wirken, während ein anderer durch dieselben nicht aus seinem gewöhnlichen Geleise herausgerissen wird. Die Umstände vermischen sich also auf eine zufällige, besondere Weise mit dem Inneren der Individuen, so daß diese teils durch die Umstände und durch das Allgemeingültige, teils durch ihre eigene besondere innere Bestimmung zu demjenigen werden, was aus ihnen wird.‹«
[G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Dritter Teil. In: G. W. F. Hegel, Theorie-Werkausgabe, Bd. 10. Frankfurt am Main, S.131f.]
Die zweite Sektion: Traumprotokolle
Bei den in dieser Abteilung vorgelegten Traumaufzeichnungen Heiner Müllers handelt es sich zumeist um flüchtige Skizzen und Notate, mit denen er in Stichworten das Traumgeschehen nach dem Erwachen oder nachträglich aus der Erinnerung festzuhalten trachtete; aber auch um Traumnotizen, in denen die Traumerzählung schon Kontur annimmt; oder aber um Traumprotokolle, in denen der Versuch unternommen wird, die Geschichte eines Traumes ausformuliert zu erzählen, wenn auch beileibe nicht in der von Heiner Müller literarisch sanktionierten Gestalt eines Traumtextes, wie er dergleichen zu Ende seines Lebens veröffentlichte Texte explizit benannt hat.
[Vgl. im Kapitel TRAUMTEXTE die Texte Nr. 26 und 31.]
Die in dieser Sektion zusammengestellten Texte sind eine Weiterführung der von Heiner Müller angelegten »Traumbuch«-Sammlung, denn die Traumaufzeichnungen dieses Kapitels sind alle nach 1952 entstanden, jenem Jahr also, mit dem das Traumbuch endet. Die bis ins Todesjahr 1995 reichenden Aufzeichnungen sind aus dem Nachlaß kollektioniert und bisher ebenfalls nicht publiziert. Eine genaue Datierung läßt sich aus dem Material dieser Kollektion freilich nicht erschließen; einmal ist die Handschrift Heiner Müllers bereits sehr früh schon ausgeprägt, so daß aus ihr keine temporären Rückschlüsse zu ziehen sind; zum anderen ist auch vom Status der beschriebenen Papiere eine Datierung selten ablesbar, so daß als Kriterium am Ende die wenigen ausgeschriebenen Daten, zumeist aus den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, Anhaltspunkte bieten sowie manifest auftretende Hinweise zu Inhalten aus Tagesresten und Verweise auf andere Realitäten wie Sujets im Werkzusammenhang.
Heiner Müller soll mit den hier exponierten Traumnotizen und Traumprotokollen aus dem Nachlaß nicht auf die Couch gelegt und nachträglich ausgelegt werden nach allen Regeln der von Freud entwickelten Traumdeutungskunst. Deshalb wird auch, im Gegensatz zum Verfahren im Traumbuch, in diesem Kapitel auf die Darstellung biographischer Bezüge weitgehend verzichtet. Mit seinen Traumaufzeichnungen ist Müller ohnehin kein tauglicher Gegenstand für die Traumdeutung nach der von Freud entwickelten Maßgabe:
»Wir sehen oft, daß der Träumer dem Vergessen seiner Träume entgegenarbeitet, indem er den Traum unmittelbar nach dem Erwachen schriftlich fixiert. Wir können ihm sagen, das ist nutzlos, denn der Widerstand, dem er die Erhaltung des Traumtextes abgewonnen hat, verschiebt sich dann auf die Assoziationen und macht den manifesten Traum für die Deutung unzugänglich. Unter diesen Verhältnissen brauchen wir uns nicht zu verwundern, wenn ein weiteres Ansteigen des Widerstands überhaupt die Assoziationen unterdrückt und dadurch die Traumdeutung vereitelt.«
[Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XV, S. 14]
Die »Traumtexte«, die für Freud den manifesten Traum repräsentieren, werden hier nicht auf die hinter dem Traum verborgenen latenten Traumgedanken befragt. Heiner Müller hatte bei der »Erhaltung des Traumtextes« immer noch zu schreibende Texte im Blick. Die Traumproduktion des Schriftstellers ist Teil seiner Textproduktion. Nicht der oft delikate manifeste Trauminhalt ist von Interesse, sondern die für die literarische Produktion geräumige Topographie der Traumstruktur. Jenseits der Technik der Psychoanalyse lassen sich Prozesse der Verdichtung und Verschiebung von Träumen zu jenen Traumtexten verfolgen, die Müller als Schriftsteller aus dem Segment seiner Traumaufzeichnungen bewerkstelligt hat. Dementsprechend erscheinen im Kapitel Traumtexte dieses Bandes jene Traumprotokolle, die erkennbar Gedanken und Strukturelemente mit einem Text teilen und offenbar zur Genese dieses Textes beigetragen haben. Wo immer eine Zuordnung von Traum und Text im Werk Heiner Müllers abzusehen war, ist sie vorgenommen worden. Dabei geht es lediglich um Zuweisungen und Zuschreibungen, um Hinweise ohne Deutung. Traumaufzeichnungen, bei denen sich das Element einer solchen Verknüpfung nicht verifizieren ließ, erscheinen gesondert in diesem Kapitel der Traumprotokolle.
Heiner Müllers frühes Interesse an der Psychoanalyse und der von Freud praktizierten Technik der Selbstanalyse entspricht dem »Anfangen mit Freud« nach dem Kriege, von dem der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich berichtet hat. Für Heinrich, Jahrgang 1927, mit dem Heiner Müller nicht nur über Selbstzerstörungswünsche der Nibelungen lange Gespräche geführt hat, war der Aufklärungsanspruch der Psychoanalyse zentral bei der Bewältigung der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland, um den Schleier kollektiver Verdrängung zu durchdringen.
Das »Zeichensystem der Psychoanalyse« ist für den Schriftsteller Heiner Müller ein »Material für Kunst«, genau wie der Marxismus:
»Das sind zwei Ordnungsprinzipien, die ein Instrumentarium entwickelt haben für den Umgang mit Material oder mit Realitäten.«
[Kein Text ist gegen das Theater gefeit. Heiner Müller und Olivier Ortolani. Berlin, 18. 2. 1990. HMW 11. Gespräche 2, S. 570]
»Psychoanalyse ist das Gegenteil von Kunst. Kunst kann als Flucht vor der Selbstanalyse beschrieben werden. Wenn ich weiß, wer ich bin, habe ich keinen Grund mehr, zu existieren, weiterzumachen, zu schreiben oder sonst etwas zu tun.«
[Das Böse ist die Zukunft. Heiner Müller und Frank M. Raddatz. Berlin, Februar 1991. HMW 11. Gespräche 2, S. 825]
Die in den Traumprotokollen auftretenden Protagonisten, Lebensmenschen und Werksmenschen, sind Nebenfiguren, Statisten der Trauminszenierung im Leben und im Werk Heiner Müllers; ihre Abbreviatur in den Träumen kann ausgeschrieben oder das Geheimnis ihres Abkürzungsinkognitos kann gelüftet werden durch Nachschlagen im Register seiner Autobiographie [Krieg ohne Schlacht, S. 499-505. HMW 9. Eine Autobiographie, S. 505-519] und Biographie [Hauschild, S. 594-609]. Die Bedeutung der Satzzeichen im Abdruck der Transkriptionen wird in der Editorischen Notiz unter »Quellen« erläutert.
Die dritte Sektion: Autorentraum
Das Kapitel Autorentraum ist eine Collage aus Gesprächsfragmenten, in denen Heiner Müller über die Verfertigung von Texten nach dem Prinzip des Traums spricht. Dabei geht es ihm nicht darum, daß er bestimmte Elemente aus seinen Träumen zu einem Text verdichtet, sondern prinzipiell um die Übertragung der Traumstruktur auf die Struktur von Texten. Schreiben wie Träumen bleibt das nie zu erreichende Ziel des Dichters. Die Umschrift der Traumrealität auf die Textrealität. Das führt am Ende zu dem Wunsch, auch das Denken synchron im Schreibprozeß abbilden zu können.
Dergleichen Experimente hatten die Surrealisten in ihrer Schreibpraxis schon erprobt. Die für die Manifestationen des Unbewußten erdachte »écriture automatique« wurde als »unmittelbarer schriftlicher Ausdruck des Denkens« begriffen. Breton spricht in seinem ersten Manifest weiterhin von einer dadurch erzeugten »Art absoluter Realität«, in welcher die »scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit« aufgehoben werden oder in »Auflösung« verschmelzen, in Korrespondenz zum Projekt der Romantik, das in dem Satz des Novalis gipfelte, der von Heiner Müller wiederholt zitiert wurde: »Die Poesie ist das echt absolut Reelle.«
Für Heiner Müller ist diese poetische Kernschmelze von Traum und Wirklichkeit das Kraftwerk der Kunst:
»Ich glaube, das ist die wesentliche Funktion von Kunst überhaupt, Wert- und Denksysteme in Frage zu stellen, sie unter Umständen auch zu sprengen. Ganz simpel formuliert: Die Funktion von Kunst ist es, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.«
[Ich muss mich verändern, statt mich zu interpretieren. Auskünfte des Autors Heiner Müller. Heiner Müller und Teilnehmer des Kolloquiums. Berlin/Ost, 27. 1. 1981. HMW 10. Gespräche 1, S. 156]
Das wäre dann der politische Beitrag der Kunst, der Traum im Traume:
»Darum geht es bei der Trennung der Kommunisten von der Macht – um die Emigration in den Traum. Dadurch wird eine Idee wieder eine Macht. Den Traum hat es gegeben, und Träume, die einmal entstanden sind, hören nicht auf zu existieren. Realität kann aufhören zu existieren, kann durch eine neue Realität ausgelöscht werden. Aber Träume kann man nicht auslöschen, sie existieren in einer anderen Zeit. Das ist keine Zeit, die man in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einteilen kann. Aber je mehr Technik es gibt, um so wichtiger wird die Kunst. Um so wichtiger wird die Behauptung des Traums als Realität; die größte Gefahr liegt in der beschleunigten Realisierung von Wünschen durch Technik. In dieser Dimension wirkt die Konfrontation von Kapitalismus und Kommunismus völlig lächerlich. Der Kommunismus existiert in der Traumzeit, und die ist nicht abhängig von Sieg oder Niederlage. Der Rest ist Politik, interessiert eigentlich nur die Macher, die davon leben. Und der Raum dieser Macher muß durch die Mobilisierung von Phantasien und Utopien immer weiter verkleinert werden. Nur dürfen solche Utopien nicht realisierbar sein, daher kommt ihre Kraft. Die Utopie des Christentums bleibt existent, weil man sie in der Realität nicht überprüfen kann.«
[Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft. Heiner Müller und Frank M. Raddatz. Berlin, März 1990. HMW 11. Gespräche 2, S. 609]
Die vierte Sektion: Traumtexte
Das Kapitel Traumtexte – die Bezeichnung ist zugleich Titel dieses Bandes – enthält zum einen Texte von Heiner Müller, in denen Material aus seinen Traumaufzeichnungen aufscheint. Die entsprechenden Traumprotokolle werden direkt, ohne Kommentar, den Traumtexten zugeordnet. Zum anderen werden Texte, an denen sich die Traumstruktur in der Textproduktion Heiner Müllers besonders deutlich ablesen läßt, als Traumtexte aus seiner Poesie und Prosa oder Traumszenen aus seinen Theaterstücken vorgestellt.
Die Poetik der Textbilder von Heiner Müller beruht auf Traumbildern. In der Inkubationszeit seiner Texte, die sich oftmals über Dekaden erstreckt hat, arbeitet Müller Schicht für Schicht an der Textablagerung, einem Sediment aus Übermalungen und Überschreibungen, wobei die Bildvorstellungen seiner Texte im Auftragen neuer Textschichten jeweils neue Textbilder erzeugen. Ein Vorgang, dem Heiner Müller sich in seiner BILDBESCHREIBUNG bis zum Exzeß verschrieben hat. Analog zum Wechsel zwischen Traum und Erwachen, den Walter Benjamin in seiner Theorie des Traumbildes als Dialektik im Stillstand bestimmt hat, findet der Wechsel bei Müller zwischen Bild und Text statt. Im Schreibprozeß strebt er einen Progreß ins Unendliche an, wie ihn die Romantiker mit ihrer Experimentalphysik des Geistes als Universalpoesie traktiert haben.
Damit wird die Unmöglichkeit bedeutet, einen Text im strikten Sinne des Wortes zu vollenden. Heiner Müller hat auf die Musik als Idealtypus einer solchen Verfahrensweise verwiesen: »Musik ist kein Bild, Musik ist Denken über Bilder.« So wäre, der Kommentar-Status vieler seiner Texte gibt Hinweise genug, die Textproduktion Heiner Müllers als ein Denken über Texte zu begreifen.
In einem Gespräch mit Ruth Berghaus über Arnold Schönbergs »Moses und Aaron« spricht Heiner Müller über den Rahmen als Totenmaske des Werkes, die den Progreß ins Unendliche des Denkens arretiert: »Damit hängt es zusammen, daß es unmöglich war, die Oper zu vollenden. Sie hätte dann einen Rahmen bekommen, wäre zum Bild geworden. Auch bei Schönberg gibt es diese Hemmung vor dem Bild, dem Bild als Beerdigung von Wirklichkeit oder Prozeßhaftem. Auch bei Picasso ist dieser Widerstand gegen das Bild, vor allem gegen den Rahmen zu beobachten. […] Du kannst den Rahmen vermeiden, wenn du anfängst, ein Bild zu entwerfen, und bevor das wirklich gesehen wird, bringst du das nächste, als Übermalung, so kommt nie ein Bild zu Ende, das einen Rahmen bekommt. […] Das Modell dafür – das ist jetzt nicht von mir, das haben kluge Leute darüber befunden – ist BILDBESCHREIBUNG. Deswegen heißt es auch so. Da wird immer ein Bild angefangen, und dann kommt ein anderes, was das alte auflöst oder in Frage stellt. Es kommt nie ein Bild zustande, das du wirklich mit nach Hause nehmen kannst.«
[Ruth Berghaus und Heiner Müller im Gespräch. Zeuthen, 4. 10. 1987. HMW 11. Gespräche 2, S. 98]
»Moses, Marx, Freud, Einstein – das sind vier Pioniere der Abwesenheit. Moses – die Abwesenheit Gottes durch das Bilderverbot, Marx – die Abwesenheit eines gesellschaftlichen Endzustandes durch die Utopie des Kommunismus, Freud – die Abwesenheit des Wesentlichen, des Unbewußten, des Verdrängten, und Einstein – die Relativitätstheorie, die Abwesenheit der eigentlichen Raum-Zeit-Relation. Das sind vier Formulierungen des Bilderverbots. […] Ein Bild ist auch immer eine Verdrängung von anderen Bildern, ein Zudecken der anderen. Wieso habe ich das Recht, gerade dieses Bild auszuwählen und damit ein anderes zuzudecken? Das hat auch etwas mit Selektion zu tun. Die Judenverfolgung ist die Gegenbewegung zum Bilderverbot. Auschwitz wäre nicht möglich ohne ein Bild vom Juden. Man muß ein Bild von etwas haben, bevor man es zerstören kann.«
[Ruth Berghaus und Heiner Müller im Gespräch. Zeuthen, 4. 10. 1987. HMW 11. Gespräche 2, S. 97, 99]
Für Heiner Müllers ist das System der Selektion die Grundfigur der Politik. Er hat nach Auschwitz geschrieben. In seinen Gesprächen hat er immer wieder Kritik an der KuK-Monarchie aus Kapitalismus und Kommunismus geübt und das Prinzip der Selektion als Ultima ratio ihrer Realpolitik bezeichnet.
Für Schelling, der in seinen geschichtsphilosophischen Fragmenten »Die Weltalter« über Zeit und Ewigkeit reflektiert hat, ist »der wahre Grundstoff alles Lebens und Daseins eben das Schreckliche«.
[F. W.Schlelling, Die Weltalter. Werke 4. München 1927, S. 715]
Die Topographie des Schreckens seiner Zeit hat Heiner Müller Maß für Maß übertragen in die Visionen seiner Traumtexte und Traumszenen. Mit diesem Kunststück unternimmt er den Versuch, Zeit und Raum für »die Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit zu erkunden«.
[Kitsch leben, nicht lesen. Heiner Müller und Ruth Rybarski. Berlin, 23. 7. 1994. HMW 12. Gespräche 3, S. 580]
»Ich bediene mich gern des Theaters, um phantastische Räume zu konstruieren; also das wäre eine politische Aufgabe. Das Theater bringt am besten die Kraft des Mythos zum Ausdruck; und meines Erachtens ist der Mythos, der den kollektiven Erfahrungen Stimme verleiht, nichts anderes als ein Traum, und unsere Pflicht ist es, dafür zu sorgen, daß er Wirklichkeit wird.«
[Nach Brecht. Heiner Müller und Maria Maderna. Mailand, September 1985. HMW 10. Gespräche 1, S. 798]
HEINER MÜLLER IN WAREN (MÜRITZ) 1938-1947
Am 9. Januar 1929 in Eppendorf/Sachsen geboren, siedelte Heiner Müller 1938 mit der Familie nach Waren am Müritzsee um, weil der Vater, ein Verwaltungsangestellter und Funktionär der Sozialistischen Arbeiterpartei, nach Verhaftungen durch die SA, Internierung und Verbringung ins KZ Sachsenburg arbeitslos geworden, in Mecklenburg wieder eine Anstellung gefunden hatte, als Betriebsprüfer der Landeskrankenkasse in Waren. Heiner Müller besucht zunächst weiter die Volksschule, bevor er 1939 auf die Mittelschule wechselt, 1941 wurde er Stipendiat der Oberschule. Seit 1943 in der Hitlerjugend. 1944 Schließung des Gymnasiums, Einberufung zum Reichsarbeitsdienst, Volkssturm. 1945 Ausbildungslager bei Wismar, kurze Gefangenschaft im US-amerikanischen Kriegsgefangenenlager Schwerin. Auch der Vater kam 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück und nahm seine politische Tätigkeit als Funktionär der SPD wieder auf, der 1946 auch sein Sohn beitrat. Kurt Müller war Leiter der wichtigen Konferenz am 20. Januar 1946 zur Vorbereitung der Vereinigung von SPD und KPD zur Einheitspartei SED und legte auch die Entschließung vor, die sich für die baldige Vereinigung aussprach und die Bildung eines vorbereitenden Organisationskomitees beschloß. Kurt Müller wurde am 22. März 1946 von den SPD-Delegierten zum Kreisvorsitzenden der SPD gewählt. Der Kreisparteitag der SPD wählte ihn als Delegierten zum Landesparteitag der SPD und der Landesparteitag der SPD Mecklenburg als Delegierten zum Parteitag der SPD am 21. April 1946 in Berlin und somit zum Vereinigungsparteitag zur SED am 22. April 1946 im Admiralspalast. Bis 1947 war er Paritätischer Kreisvorsitzender der SED und Mitglied des Landesvorstands der SED. Es gibt Veröffentlichungen, die ihn als Gegner der Vereinigung charakterisieren: Er habe versucht, die Sozialdemokraten zusammenzuhalten. Bis zur Wiederaufnahme des Schulbesuchs wurde Heiner Müller bei der Entnazifizierung der Bibliotheken des Landkreises eingesetzt und kurzfristig in der für die Bodenreform zuständigen Abteilung am Landratsamt Waren angestellt, wo sein Vater stellvertretender Landrat war. Ende 1947 Umzug der Familie Müller nach Frankenberg in Sachsen (bei Chemnitz), wo der Vater zum Bürgermeister gewählt wurde. Nach dem Abitur 1948 war Heiner Müller Hilfsbibliothekar an der Stadtbücherei Frankenberg. Mitglied der Frankenberger FDJ und Gründungsmitglied eines »Arbeitsaktivs Junger Autoren«. 1949 journalistische Tätigkeit als »Volkskorrespondent« für die Chemnitzer »Volksstimme«. Delegation zum FDJ-Schriftstellerlehrgang in Radebeul. 1950 Verlobung mit der Mitschülerin Rosemarie Fritzsche. Teilnahme am Schriftstellerlehrgang in Bad Saarow. 1951 Flucht der Eltern in den Westen nach Reutlingen. Kurt Müller wird als »Titoist« aus der SED ausgeschlossen. Heiner Müller bleibt in der DDR. Erste Publikationen als Literaturkritiker in der Zeitung »Sonntag« und der kulturpolitischen Monatsschrift »Aufbau«. Einzelne literarische Arbeiten für den Zentralrat der FDJ bei den »III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten für den Frieden«. Am 31. August 1951 Heirat mit Rosemarie Fritzsche. Rückkehr nach Frankenberg. Am 25. Dezember 1951 Geburt der Tochter Regine. 1951-1954 erfolglose Bewerbung um eine Mitarbeit am Berliner Ensemble als »Meisterschüler« bei Bertolt Brecht. 1952 Übersiedlung nach Berlin. Arbeit als Journalist und Lektor für den Aufbau-Verlag.
Register der vita Heiner Müllers bis 1952 nach Hauschild, S.566f. und Heiner Müller Handbuch, S. 399. Zur Rolle des Vaters Kurt Müller bei der »Zwangsvereinigung« von SPD und KPD zur SED vgl.: 60. Jahrestag der Vereinigung der Kreisverbände von SPD und KPD im Kreis Waren am 24. März 1946. Herausgeber Peter Hamann und Otto Görisch mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, S. 40f. Vgl. auch: Neubeginn und Ende der SPD-Ortsgruppe 1945-1946. In: 100 Jahre Sozialdemokraten in Waren (Müritz). Herausgeber Rudolf Borchert, Jürgen Kniesz. Chronik. Schriftenreihe des warener Museums- und Geschichtsvereins e. V. Heft 5. Waren 1994, S.86ff. Vgl. Heiner Müller über den Widerstand seines Vaters gegen die Vereinigung von SPD und KPD zur SED: Krieg ohne Schlacht, S. 62; HMW 9. Eine Autobiographie, S. 49]
Ich hatte durch die Funktion meines Vaters relativ wenig Kontakt zur Bevölkerung. Die Funktionäre waren isoliert. Es fällt mir ganz schwer, mir vorzustellen, was »normale« Bürger in dieser Zeit über die Lage gedacht oder gesagt haben. Das war wie eine Glasglocke. Die Leute sprachen mit Funktionären nicht über das, was sie dachten. Das war dann in Sachsen, in Frankenberg, wieder anders. Die Leute in Waren sprachen nicht darüber. Das hat auch mit Mecklenburg zu tun, dort ist man sehr verschlossen.
[Krieg ohne Schlacht, S. 52; HMW 9. Eine Autobiographie, S.40f.]
Mecklenburg war für uns Sachsen wie eine Emigration. Man war Ausländer. Waren war eine kleine Stadt, vielleicht 50 000 Einwohner, ein Luftkurort für Berliner. Ich war völlig isoliert, vor allem in der Schule. Ausländer wurden aus Prinzip verprügelt. Da mußte man immer ziemlich schnell sein. Ich konnte sehr gut laufen. […] Der Weg zur Schule war gefährlich, auch der Heimweg, weil irgendwelche Mecklenburger auf Ausländerjagd gingen. Auf dem Schulhof haben die Lehrer meistens die großen Schlägereien unterbunden. Ich war der einzige Ausländer in der Klasse. Danach ging ich auf die Mittelschule, weil die billiger als das Gymnasium war. Es mußte ja Schulgeld gezahlt werden. In der Mittelschule gab es zwei alte Lehrerinnen, an die ich mich erinnere, alte Jungfern, sie lebten auch zusammen, zwei würdige alte Damen. Bei denen habe ich mir Bücher ausgeliehen. Sie hatten eine große Bibliothek. Ich war ein guter Schüler und ein sanftes Kind; die beiden Alten liebten mich sehr. 1945 haben sie sich umgebracht, nachdem sie von Russen vergewaltigt worden waren. Sie sind zusammen in den See gegangen.
Von der Mittelschule kam ich auf die Oberschule. Ich kriegte eine Freistelle wegen guter Zensuren. Meine Eltern hätten das Schulgeld nicht bezahlen können. Allerdings war ich dadurch auch ausgeliefert. Ich mußte mich gut verhalten. Ich hatte immer das Gefühl, die Lehrer wüßten, daß ich nicht dazugehöre; wahrscheinlich war es auch so.
[Krieg ohne Schlacht, S. 27; HMW 9. Eine Autobiographie, S.20f.]
Gerhard Bobzin, ein Mitschüler Heiner Müllers aus der Warener Zeit, gibt zu bedenken: »Waren hatte vor dem Krieg nicht ›vielleicht 50 000 Einwohner‹, sondern knapp 20 000, ein wohl nicht unwesentlicher Unterschied. Zu dem von Heiner Müller beschriebenen Status des ›Ausländers‹: Ich kann mich nicht erinnern, daß Schüler wegen ihrer Herkunft aus anderen Gegenden Deutschlands (›Ausländer‹) schikaniert wurden. In der Mittelschule (an der übrigens mein Vater zeitweilig unterrichtete) gab es solche Erscheinungen gewiß nicht. Ich habe einige Warener, die HM als Schüler kannten, nach diesen angeblichen Vorfällen gefragt. Ihnen war davon nichts bekannt. Wenn er Kontaktschwierigkeiten gehabt hat, so lag das sicher an seiner exklusiven, abweisenden Art. In der Zeit, als ich mit ihm in der Oberschule in einer Klasse zusammen war, war er nicht ›der Ausländer‹, sondern eben ein wenig kommunikativer, ein esoterischer Typ. Und zu den zwei Lehrerinnen der Mittelschule: Die zwei alten Lehrerinnen an der Mittelschule: Sie sind mir namentlich bekannt und waren zeitweilig Kolleginnen meines Vaters: Margarete Melms und Olga Reinhold. Daß sie HM förderten, ist richtig. Daß sich beide nach Vergewaltigung umgebracht hätten, indem sie in den See gingen, ist so nicht richtig. Fräulein Melms (so nannte man damals unverheiratete Damen) hat noch viele Jahre nach 1945 gelebt, Fräulein Reinholds Schicksal werde ich erst in einigen Tagen erfahren. Meines Wissens haben beide beim Einmarsch der Russen Gift genommen, das aber bei Fräulein Melms offenbar zu schwach dosiert war.«
[Gerhard Bobzin. Brief an den Herausgeber vom 3. Dezember 2008]
Noch einmal, nach 1992, hat Heiner Müller die Zeit in Waren und das Kriegsende, das er im Alter von sechzehn Jahren erlebte, Revue passieren lassen in einem Text, der in Erinnerung an seinen Vater geschrieben ist, eine Reminiszenz an die Kindheit: