Thriller von
Alfred Bekker (
Der Umfang dieses Ebook entspricht 140
Taschenbuchseiten.
Eine ultramoderne High-Tech Waffe gerät in falsche Hände und
bringt Tod und Verderben. Ihr genialer Schöpfer wird in New York
ermordet und scheint einer Verschwörung großer Syndikate zum Opfer
gefallen zu sein. Nur ein einsamer Ermittler ahnt die unfassbare
Wahrheit ...
Henry Rohmer ist das Pseudonym eines Autors, der unter dem
Namen Alfred Bekker vor allem als Autor von Fantasy-Romanen und
Jugendbüchern bekannt wurde. Daneben war er Mitautor von
Spannungsserien wie Jerry Cotton, Cotton Reloaded, John Sinclair ,
Kommissar X und Ren Dhark.
Covermotiv: STEVE MAYER
Copyright
Ein CassiopeiaPress E-Book
© 2014 by Author
© 2014 der Digitalausgabe by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
www.AlfredBekker.de
1
Lee Jiang betrat mit seinem Gefolge das Nobellokal 'The
Temple' in der Fifth Avenue. Der kahlköpfige Mann mit den
asiatisch-starren Gesichtszügen wurde von einem Dutzend Männern in
dunklen Maßanzügen begleitet. Die Meisten von ihnen trugen MPis im
Anschlag.
Sie flankierten ihren Boss von allen Seiten.
Lee Jiang selbst trug eine kugelsichere Kevlar-Weste unter dem
Jackett.
Der große Boss aus Chinatown blieb stehen, fixierte mit seinem
Blick die Männer, die bereits an der langen Tafel Platz genommen
hatten.
Es handelte sich um Jorge Menendez und seine Puertoricaner.
Blitzschnell gingen auch bei ihnen die Hände zu den Waffen. Ein
Dutzend Mündungen von MPis und automatischen Pistolen zeigten in
Richtung der Chinesen.
Der Kellner wartete erstarrt neben dem Buffet.
Sekundenbruchteile lang herrschte Stille.
Dann murmelte Lee Jiang einen knappen Befehl auf Kantonesisch.
Seine Männer senkten die Waffen.
Das Gesicht des Chinesen blieb völlig unbewegt.
"Verstehen Sie so einen Empfang etwa als puertoricanische
Gastfreundschaft, Mr. Menendez?", fragte er in makellosem
Englisch.
Jorge Menendez war noch keine dreißig. Ein fast zierlich
wirkender Latino, mit kinnlangem, schwarzblauem Haar und dünnem
Knebelbart, bis auf den Millimeter genau rasiert.
Eine dunkle Sonnenbrille verdeckte seine Augen. Er zögerte
noch eine Sekunde, machte dann seinen Leuten ein Zeichen.
Auch die Puertoricaner senkten jetzt die Waffen, die Lage
entspannte sich.
"Setzen Sie sich!", bot Menendez an.
Lee Jiang nickte. Zusammen mit einem Teil seines Gefolges trat
er an die Tafel heran, während sich der Rest im Raum verteilte.
Jemand zog für den Boss aus Chinatown den Stuhl zurück, Jiang
setzte sich.
"Ein schönes Lokal haben Sie für dieses Treffen ausgesucht",
sagte der Mann aus Chinatown anerkennend.
Menendez grinste schief, kicherte, wischte sich mit dem Ärmel
über den Mund.
"Seit kurzem gehört es mir", erklärte er.
"Mein Respekt."
"Ihre Gorillas können hier ruhig herumschnüffeln, soviel sie
wollen! Meinetwegen auch in der Küche! Ich habe nichts
dagegen."
"Ich gehe davon aus, dass Sie ein Ehrenmann sind, Mr.
Menendez."
"Ach, ja?"
Menendez grinste.
Lee Jiangs Gesicht blieb unbeweglich wie eine Maske.
"Sollte sich etwas anderes herausstellen, gibt es keinen Ort
auf der Welt, an dem Sie noch sicher wären. Ich - oder mein
Nachfolger - würden sich dann nicht nur damit begnügen, Sie einfach
zu töten..."
Menendez' Gesichtsausdruck wurde hart.
"Wollen Sie mir drohen?"
"Ich möchte das Geschäft mit Ihnen neu ordnen."
"Es wird uns niemand dabei stören", erklärte Menendez.
"Wie Sie sehen, haben wir diesen Nobelschuppen heute für uns
ganz allein..."
"Es gab in der Vergangenheit einige Unstimmigkeiten, die wir
aus der Welt schaffen sollten. Einen Krieg können wir uns im Moment
beide nicht leisten!"
Menendez bleckte die Zähne.
"Ich teile Ihre Analyse, Mr. Jiang."
Einer der Bodyguards, die den Mann aus Chinatown begleiteten,
hatte sich an der großen Fensterfront postiert. Er blickte hinaus.
'The Temple' lag im 27. Stock. Man hatte eine traumhafte Aussicht
auf den Central Park.
Der Bodyguard genoss sie einige Augenblicke lang. Dann
veränderte sich sein Gesichtsausdruck.
Es verzog sich zu einer Maske des Entsetzens.
Er trat einen Schritt zurück, schrie ein paar Worte auf
Kantonesisch.
Die Chinesen an der Tafel wirbelten herum.
Auch Menendez' Männer starrten jetzt zur Fensterfront.
Das Glas zersprang.
Pfeilschnell drang ein Geschoss ins Innere des 'Temple'.
Sekundenbruchteile danach gab es eine gewaltige Detonation,
der einen Moment später noch eine zweite und dritte folgte.
Die Todesschreie gingen im Lärm der Explosionen unter.
Eine mörderische Druckwelle breitete sich aus, ließ
menschliche Körper wie Puppen durch den Raum fliegen.
Innerhalb von Sekunden verwandelte sich 'The Temple' in eine
grausame Flammenhölle.
2
Die 5th Avenue war durch die zahllosen Einsatzfahrzeuge völlig
blockiert. Wagen der City Police und der Feuerwehr befanden sich
dort. Außerdem mehrere Krankenwagen, Fahrzeuge von Notärzten,
Einsatzwagen des FBI und der Scientific Research Division, dem
zentralen Erkennungsdienst aller New Yorker Polizeieinheiten.
Ich stellte den Sportwagen am Central Park ab.
Milo und ich stiegen aus.
Einige hundert Schaulustige hatten sich angesammelt. Die
Kollegen der City Police hatten ihre Mühe, sie davon abzuhalten,
näher an den Tatort heranzugehen.
Wir starrten die Fassade des 30 Stockwerke hohen
Wolkenkratzers hinauf. In Etage 27 war es geschehen. Die Folgen der
gewaltigen Explosion, die sich ereignet hatte, waren auch von außen
nicht zu übersehen. Eine Rauchsäule hing über dem Central Park.
Aber es quoll nichts mehr aus der zerstörten Fensterfront der 27.
Etage heraus.
Offenbar war der Brand gelöscht.
Ein gewaltiger Rußfleck verdunkelte die Fassade auf einer
Fläche von mindestens zwanzig Quadratmetern.
Milo und ich zeigten den Kollegen vom NYPD unsere
FBI-Dienstausweise, nachdem wir uns durch die Schaulustigen
gedrängelt hatten. Ein Sergeant winkte uns weiter.
Wir erreichten das Foyer.
Die Security Guards wirkten ziemlich hektisch.
Der Einsatzleiter der Feuerwehr gab über Walkie-Talkie seine
Befehle.
Wir mussten noch einmal unsere Ausweise vorzeigen. Der
Einsatzleiter wurde auf uns aufmerksam.
"FBI?", fragte er. "Ihre Kollegen von der SRD sind schon
oben!"
"Haben Sie eine Ahnung, was hier passiert ist?", fragte
Milo.
"Fragen Sie mich leichteres. Es sieht aus, als hätte jemand
eine Handgranate durchs Fenster geworfen!"
"In den 27. Stock?", hakte Milo nach.
"Ich sagte ja nur, dass es so aussieht. Wenn Sie wollen,
können Sie hinauf, aber Sie müssen über das Treppenhaus. Die
Aufzüge sind noch nicht wieder in Betrieb."
Ich atmete tief durch.
Das hatte ich schon befürchtet.
Aber das war bei jedem Hochhausbrand die eiserne Regel: Nie
die Fahrstühle benutzen. Da konnte man nicht vorsichtig genug
sein.
So blieb uns nichts anderes übrig, als das Treppenhaus zu
benutzen. Immer zwei Stufen nahmen wir auf einmal.
"Nimm's als Konditionstraining", meinte Milo.
"Ich dachte eigentlich, dass ich genug in dieser Hinsicht
tue..."
"Wird sich gleich zeigen, Jesse!"
"Ach, ja?"
"Wenn wir oben sind und du kriegst immer noch Luft, dann bist
du in Form!"
"Sehr witzig!"
Wir brauchten eine ganze Weile, bis wir die 27. Etage
erreichten und jene Räume betraten, in denen sich noch vor kurzem
ein Nobelrestaurant mit dem klangvollen Namen 'The Temple' befunden
hatte.
Der Anblick war entsetzlich, der Geruch beinahe unerträglich.
Überall waren Spurensicherer bei der Arbeit.
Captain Ronny Kwizinzky vom 43. Revier begrüßte uns.
"Hallo, Jesse!" Er sah ziemlich mitgenommen aus. "Frag mich
nicht, was hier genau passiert ist. Wir können mit Sicherheit nur
sagen, dass eine gewaltige Detonation stattgefunden hat. Es gibt
schätzungsweise zwanzig Todesopfer. Genau können wir das nicht
sagen. Bis die Toten allesamt identifiziert sind, kann es eine
Weile dauern..."
"Ja", nickte ich düster.
Und Milo fragte: "Keine Überlebenden?"
"Doch, zwei. Der eine heißt George Davis und arbeitete hier
als Kellner. Der Mann liegt im Koma, hat schwerste Verletzungen und
wird vielleicht nicht durchkommen."
"Wie konnte er die Detonation überleben?", erkundigte ich
mich.
"Er muss in der Tür zur Küche gestanden haben und wurde dann
zurückgeschleudert."
"Und der andere?", hakte ich nach.
"Mark Millroy, der Koch des 'Temple'. Er befand sich zum
Zeitpunkt der Explosion in der Küche."
"Ist er ansprechbar?"
"Körperlich fehlt ihm kaum etwas. Aber er steht unter Schock,
redet nur noch wirres Zeug..."
"Ich verstehe..."
"Der Besitzer dieses Ladens ist übrigens seit kurzem ein
gewisser Jorge Menendez", berichtete Kwizinzky. "Das ist für euch
ja wohl kein Unbekannter!"
"Allerdings", nickte ich.
Jorge Menendez war unseren Informationen nach eine
aufstrebende Größe in der New Yorker Unterwelt. Wir verdächtigten
ihn in illegale Waffengeschäfte verwickelt zu sein. Bislang lagen
allerdings nicht genügend gerichtsverwertbare Indizien vor.
"Gibt es Hinweise darauf, ob Menendez unter den Toten ist?",
fragte mein Freund und Kollege Milo Tucker.
Kwizinzky hob die Augenbrauen.
"Wie kommst du darauf?"
"Weil wir von einem Informanten wissen, dass hier ein Treffen
zwischen Menendez und Lee Jiang stattfinden sollte."
Kwizinzky pfiff durch die Zähne. "Eine Konferenz der
Bosse!"
"Ja, so könnte man sagen."
"Milo, wir haben keine Ahnung, wer die Toten sind. Noch
nicht..."
In diesem Moment trafen unsere Kollegen Clive Caravaggio und
Orry Medina ein. Sie wurden von Al Baldwin, einem unserer
Sprengstoffexperten, begleitet.
Al ließ den Blick kreisen.
"Das wird nicht einfach", meinte er. Er wandte sich an mich.
"Die Verwüstungen sind so groß, dass es schwer werden wird, noch
irgendwelche aussagekräftigen Spuren zu finden."
"Eine Angabe zur Beschaffenheit des Sprengstoffs würde uns
schon ein Stück weiterbringen", sagte ich.
Als Gesicht wurde skeptisch. "Du wirst Geduld haben müssen,
Jesse."
Eine halbe Stunde später waren wir immerhin etwas schlauer.
Die Videoüberwachungsanlage des privaten Sicherheitsdienstes hatte
genau festgehalten, wer sich hier getroffen hatte.
Menendez und seine Puertoricaner waren etwa zwanzig Minuten
vor den Männern aus Chinatown eingetroffen.
Jetzt lebte vermutlich keiner mehr von ihnen.
Genau wussten wir das erst, wenn wir überprüft hatten, wer von
diesen Männern das Gebäude wieder verlassen hatte.
Wir beschlagnahmten sämtliche Videobänder der letzten Tage.
Unsere Innendienstler würden sie sich vornehmen müssen. Irgendwie
musste die Sprengladung in das Restaurant 'The Temple' gebracht
worden sein. Bislang hatten wir keine Ahnung, wie das geschehen
sein konnte. Alle diejenigen, die uns darüber hätten Auskunft geben
können, waren tot oder nicht aussagefähig.
"Der Täter - beziehungsweise sein Auftraggeber - muss von dem
Treffen gewusst haben", stellte Milo fest. "Und er muss irgendeinen
Nachteil von einer Einigung zwischen den Puertoricanern und Jiangs
Leuten befürchtet haben."
Ich nickte. "Wenn man unseren Informanten glauben kann, dann
überschneiden sich die Interessen beider Gruppen beim illegalen
Waffenhandel."
"Dann wette ich, dass wir in der Waffenhändler-Szene auch
früher oder später auf jemanden treffen, der einen Vorteil von
diesem Verbrechen hat!"
Etwas später traf Terrence Cardigan ein.
Cardigan war der Geschäftsführer des 'Temple'.
Im Gegensatz zu dem bedauernswerten Koch, der jetzt die Hilfe
eines Psychologen brauchte, war Cardigan zur Zeit des
Sprengstoffanschlags nicht im Gebäude gewesen. Wir unterhielten uns
in einem Nebenraum mit ihm, der von den Security Guards als
Umkleide benutzt wurde.
"Mr. Cardigan, wann haben Sie von dem Treffen erfahren, das im
'Temple' stattfinden sollte?", fragte ich.
Cardigan, ein Mittdreißiger mit dunklen Haaren und kantigem
Gesicht, hob die Augenbrauen.
"Ich weiß nicht, von was für einem Treffen Sie reden",
behauptete er.
"Spielen Sie nicht den Ahnungslosen", forderte ich. "Sie sind
der Geschäftsführer. Sie können mir nicht erzählen, dass Sie nicht
wussten, wer sich heute im 'Temple' getroffen hat. Schließlich war
das Lokal für alle anderen Gäste geschlossen..."
Cardigan atmete tief durch.
"Kann ich meinen Anwalt sprechen?"
"Natürlich, wenn Sie wollen... Ich nehme an, es handelt sich
um Mr. Rick Tejero, den Sie jetzt anrufen wollen..."
Cardigan wirkte verblüfft. "Wie...?"
"Tejero ist der Anwalt von Mr. Menendez - und 'The Temple'
gehört ihm doch seit kurzem."
"Eigentümer ist Mr. Wynton Cross", korrigierte mich
Cardigan.
"Ein Strohmann", erwiderte ich.
"Wollen Sie mir was anhängen, oder was? Ich bin der
Geschäftsführer, nichts weiter, G-man."
"Irgendwie muss die Sprengladung in das Lokal gelangt sein.
Haben Sie eine Ahnung, wie das geschehen sein könnte?"
Er schüttelte den Kopf. "Nein."
"Wissen Sie etwas über die näheren Umstände, unter denen 'The
Temple' in Jorge Menendez' Besitz übergegangen ist?"
Cardigans Nasenflügel bebten. "Was soll das ganze Theater?
Warum werden mir solche Fragen gestellt? Ich mache hier hier meinen
Job und fertig. Das ist alles!"
Ich nickte nur, wechselte einen Blick mit Milo.
"Sie können gehen", meinte Milo. "Wenn wir noch Fragen an Sie
haben, melden wir uns..."
Cardigan blickte von einem zum anderen. Dann verließ er den
Raum.
"An dem Kerl ist etwas faul", meinte ich. "Der weiß sehr viel
mehr, als er uns weismachen will, da bin ich mir sicher."
"Ja, aber im Moment hat es wenig Sinn, mehr aus ihm
herauspressen zu wollen."
Ich zuckte die Schultern. "Schon merkwürdig, dass der
Geschäftsführer des 'Temple' ausgerechnet an dem Tag nicht im Laden
ist, an dem sich dort eine Explosion ereignet..."
Wir befragten noch Dutzende von Personen. Anlieger,
Geschäftsleute, deren Büros im gleichen Gebäude lagen, Menschen die
vielleicht irgendetwas beobachtet hatten.
Zwischendurch rief Mr. McKee an.
Der Chef des New Yorker FBI-Field Office hatte inzwischen
jeden verfügbaren G-man zu unserer Unterstützung abgestellt.
Die Sorge, die dahinterstand, war klar.
Das Attentat mochte der Vorbote eines Gangsterkrieges sein.
Von den Spannungen in der Waffenhändlerszene wussten wir schon seit
längerem. Auch davon, dass Jorge Menendez ein sehr ehrgeiziger Mann
gewesen war, der versucht hatte, den illegalen Waffenmarkt nach und
nach unter seine Kontrolle zu bekommen.
"Wer immer dieses Attentat ausgeheckt hat, wollte
möglicherweise ganz bewusst beide aus dem Weg räumen - Lee Jiang
und Menendez", meinte Milo.
"Du meinst, ein fremdes Syndikat versucht, hier mit
Brachialgewalt Fuß zu fassen?", fragte ich.
Milo nickte.
"Für mich sieht das so aus."
Am späten Nachmittag tauchte dann eine Spur auf, die unseren
Ermittlungen später eine ganz andere Richtung geben sollte.
Wir sprachen mit Cal McMartin, der ein Stockwerk unterhalb des
'Temple' als Senior Director der Werbeagentur McMartin &
Friends fungierte.
"Ich habe es genau gesehen", behauptete McMartin. "Ich stand
am Fenster, blickte hinaus auf den Central Park... Wissen Sie,
manchmal kommt man in einer Kampagne einfach nicht weiter und
dann..."
"Was genau haben Sie gesehen?", hakte ich nach.
"Etwas, das durch die Luft flog... Ich meine, es ging so
rasend schnell... Ich dachte zumindest, dass da etwas fliegt. Ein
Ding, das nicht größer als ein Stein gewesen sein kann!"
Er atmete tief durch, fuhr sich mit einer nervösen
Handbewegung durch das graue, kurzgeschorene Haar.
Er zeigte uns die Stelle in seinem Büro, wo er gestanden
hatte. Der Brandgeruch war auch bis hierhin vorgedrungen.
Aber die Scheiben der Fensterfront wiesen nur einige Sprünge
auf. Weiter hatte die Explosion in der Etage darüber sie nicht in
Mitleidenschaft gezogen - abgesehen von ein paar Eimern Putz, die
von der Decke gerieselt waren. Ein weißgrauer Staubfilm lag über
der gesamten Einrichtung der Agentur.
"Hier genau habe ich gestanden", sagte McMartin. "Im ersten
Moment dachte ich, ich bilde mir etwas ein, dann kam dieses Ding
dahergezischt... Es gab erst ein Geräusch wie von einem Aufprall,
dann klirrte es, so als würde eine Scheibe zu Bruch gehen.... Ich
dachte erst an einen Vogel. Wissen Sie, es wäre ja nicht das erste
Mal, das so ein Tier in eine Scheibe hineinfliegt, weil sich der
Himmel darin spiegelt."
"Aber dies war kein Vogel?", hakte ich nach.
Er schüttelte den Kopf.
"Nein", flüsterte er. "Sekundenbruchteile später folgte die
Explosion."
Ich trat ans Fenster heran, blickte hinaus.
Die Zahl der Schaulustigen unten an der Straße hatte sich
inzwischen deutlich verringert.
Der Verkehr auf der Fiths Avenue hatte sich normalisiert, ein
Großteil der Einsatzfahrzeuge war abgezogen. Ich sah auf den
Central Park hinaus.
Milo trat neben mich.
Und er dachte dasselbe wie ich.
"Siehst du da irgendwo einen Punkt, von dem aus man in den
27.Stock dieses Hauses ein Geschoss hineinjagen könnte,
Jesse?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Aus jeder anderen Richtung wäre das eher möglich gewesen, als
ausgerechnet aus dieser", meinte ich.
Der Central Park lag im Mittel um die 70 Meter unter
uns.
Es gab keine Erhebungen, die wesentlich über dieses Niveau
hinausgingen. Und andere, ähnlich hohe Gebäude, von denen aus
jemand hätte schießen können, gab es nur in entgegengesetzter
Richtung.
"Wollen Sie etwa behaupten, dass ich Unsinn rede?", fragte
McMartin etwas ungehalten.
"Nein", versicherte ich. "Wir nehmen Ihre Aussage sehr
ernst."
3
Dr. Alex Ferraro knüllte den Zettel zusammen. Jemand musste
ihn durch den Belüftungsschlitz in seinen Spind hineingeschoben
haben.
'22.30 im Labor!', hatte auf dem Zettel in ungelenk wirkenden
Druckbuchstaben gestanden. Darunter und etwas kleiner der Zusatz:
'Wir müssen reden...'
Alex Ferraro zerriss den Zettel sorgfältig und ließ die Fetzen
in den Papierkorb segeln.
Verdammt!, dachte er. Musste das unbedingt jetzt sein sein?
Nach diesem Tag?
Ferraro kratzte sich nachdenklich am Kinn, das von einem
grauen Stoppelbart bedeckt wurde.
Er hatte gerade eine strapaziöse Sitzung mit dem Vorstand von
Lonbury Electronics hinter sich. Ihm rauchte immer noch der Kopf.
Ferraro arbeitete in der wissenschaftlichen Entwicklungsabteilung
der aufstrebenden Firma im Osten von Queens. Sein Spezialgebiet
waren elektronische Steuerelemente und Relais von mikroskopischer
Größe. Ferraro hatte schon auf diesem Gebiet promoviert und galt
mittlerweile als eine der größten Kapazitäten im Bereich der
Mikroelektronik.
Er hatte den Labortrakt des Lonbury Central Buildings an
diesem Abend eigentlich nur deswegen noch einmal betreten, weil er
den Regenmantel mit den Wagenschlüsseln aus seinem Spind holen
musste, bevor er nach Hause fahren konnte.
Ferraro schloss den Spind wieder.
In einem Schrank auf der anderen Seite des Umkleideraums
hingen die hauchdünnen, weißen Staubschutzoveralls, die jeder
tragen musste, der die Labors von Lonbury Electronics betrat. Schon
winzige Staubmengen hätten ansonsten dafür sorgen können, dass die
Prototypen hochmoderner Mikrochips nicht mehr funktionierten.
Ferraro streifte den Overall über, dann verließ er den
Umkleideraum und passierte mit Hilfe seiner ID-Card ein System von
Schleusen.
Auf den Korridoren traf er niemanden mehr.
Nicht um diese Zeit.
Er erreichte das eigentliche Labor, ein Raum, in dem Dutzende
von Computern und Schaltkonsolen standen. Durch ein Sichtfenster
getrennt war ein Raum zu sehen, in dem elektronisch gesteuerte
Roboterhände mit unglaublicher Präzision arbeiten konnten. Jetzt
ragten sie wie erstarrt in den Raum. Hier und da leuchteten
Kontrolllampen.
Ferraro sah sich um.
"Eric?", rief er.
Ferraro bekam keine Antwort, blickte auf die Uhr.
Ein paar Minuten würde er Eric Daly noch geben. Ferraro tickte
nervös mit den Fingern auf einem der Tische herum.
Warum ausgerechnet das Labor als Treffpunkt?
Dann fiel Ferraros Blick auf eine der Kontrollanzeigen.
Da stimmte etwas nicht...
Ferraro trat an die Anzeigen heran, runzelte die Stirn.
Ein Stromausfall, ging es ihm siedend heiß durch den Kopf. Es
musste hier vor kurzem einen Stromausfall gegeben haben. Aber
angesichts der Tatsache, dass das Labor über mehrere eigenständige
Notsysteme verfügte, war das eigentlich so gut wie unmöglich.
Ferraro berührte einen der Schalter.
Ein grellweißer Blitz zuckte aus der Schaltkonsole heraus,
tanzte Ferraros Arm bis zur Schulter empor. Das schüttere Haar
stellte sich auf, Ferraros Hand schien an der Konsole zu
kleben.
Er zitterte heftig, wie von grausamen Krämpfen geschüttelt. Es
gab nichts, was er gegen die Kontraktionen seiner Muskeln tun
konnte.
In diesem Moment trat ein Mann durch eine Schiebetür ein, die
zu einem bis dahin geschlossenen Nebenraum führte, der als Lager
für elektronische Bauteile diente.
Der Mann lächelte kalt, während er beobachtete, wie Ferraro
hilflos an der Schaltkonsole hing.
Er wartete.
Dann trat er an eine andere Konsole heran, legte einen
Schalter um.
Das zischende Geräusch verstummte.
Ferraro fiel zu Boden und blieb reglos liegen.
Sein Mörder trat an ihn heran, kniete kurz nieder, um zu
überprüfen, ob der Elektroniker auch wirklich tot war.
Dann erhob der Mörder sich und verließ das Labor.
4
Es war kurz nach Dienstbeginn, als wir im Besprechungszimmer
unseres Chefs saßen. Mr. McKee, der Special Agent in Charge unseres
Field Office, hatte Milo und mich zusammen mit einer ganzen Reihe
weiterer G-men zu sich bestellt. Wir sollten auf den neuesten Stand
der Ermittlungen gebracht werden.
Die Labors der Scientific Research Division und unsere eigenen
Spezialisten hatten die ganze Nacht hindurch gearbeitet. Das
Sprengstoff-Attentat im 'Temple' besaß höchste Priorität.
Milo unterdrückte ein Gähnen und nahm einen Schluck von Mandys
vorzüglichem Kaffee. Wir hatten bis in den späten Abend hinein noch
Zeugen befragt. Uns allen rauchten noch immer die Köpfe
davon.
Jetzt würde sich vielleicht zeigen, was von diesem Wust an zum
Teil sehr widersprüchlichen Aussagen durch harte Fakten aus den
Labors untermauert wurde.
Ray Denzell, ein Erkennungsdienstler der Scientific Research
Division, fasste die Erkenntnisse vom Tatort für uns
zusammen.
Mit einem Projektor warf er dabei stark vergrößerte Fotos vom
Tatort an die Wand.
"Zunächst einmal dachten wir an einen gewöhnlichen
Sprengstoff-Anschlag unter Verwendung eines herkömmlichen
Plastiksprengstoffs, der mit einem Zeit- oder Fernzünder versehen
wurde. Um so schwere Zerstörungen anzurichten, wie sie im 'Temple'
vorliegen, muss sich die Sprengladung mitten im Raum befunden
haben, etwa ein Meter fünfzig oberhalb des Fußbodens."
"Sie meinen, einer der Männer, die bei dem Treffen der Bosse
anwesend waren, hat die Bombe mitgebracht?", hakte unser Kollege
Fred LaRocca nach.
Ray Denzell nickte.
"Ja, ein Selbstmordanschlag, das war unser erster Gedanke.
Aber dann fanden wir einige seltsame Metallsplitter aus einer
besonders harten Legierung. Wir haben die Splitter zusammenzusetzen
versucht. Sie könnten aus einem Objekt stammen, das etwa die Größe
eines Kugelschreibers besitzt."
Denzell zeigte uns ein paar Abbildungen.
"Auf einem der Splitter", so fuhr Denzell fort, "ist eine Art
Signatur eingestanzt. Sie ist nicht vollständig erhalten. Nur
einziges Wort."
Eine starke Vergrößerung wurde eingeblendet.
LONBUR stand dort gut erkennbar in Großbuchstaben.
"Können Sie sich irgendeinen Reim darauf machen?", hakte Mr.
McKee nach.
Denzell hob die Schultern. "Nun, was diesen Punkt angeht, gebe
ich das Wort lieber an Ihren Kollegen, Agent Max Carter,
ab..."
Alle Augen richteten sich auf Max.
Er wirkte ziemlich übernächtigt.
Der Innendienstler deutete auf einen Stapel mit
Computerausdrucken. "Ich habe per EDV-Recherche herauszufinden
versucht, wofür die Buchstaben LONBUR wohl stehen könnten und bin
auf die Firma LONBURY ELECTRONICS gestoßen. Sie werden gleich ein
kleines Dossier bekommen, in dem die wichtigsten Daten zu diesem
Unternehmen zusammengefasst sind."
Die Dossiers wurden ausgeteilt.
Während Carter fortfuhr, überflog ich das Wichtigste.
Lonbury hatte seinen Firmensitz in Queens. Eine
High-Tech-Firma, die sich auf hochmoderne elektronische
Steuerungssysteme spezialisiert hatte. Sie war ein wichtiger
Zulieferer für die Luft- und Raumfahrt sowie die Militärtechnik.
Außerdem galt sie als führender Entwickler sogenannter 'Smart
Weapons'.
'Intelligente Munition', die ihr Ziel selbständig erfassen,
verfolgen und vernichten kann. Die Marschflugkörper herkömmlicher
Machart oder die im Kosovo eingesetzten vollautomatischen
Aufklärungsdrohnen waren nur eine Vorstufe dessen, wovon man im
Pentagon träumte: Winzigen Flugkörpern, die selbständig über große
Distanzen hinweg navigieren und Sprengladungen in ein gegnerisches
Hauptquartier bringen konnten. Nicht eine ganze Stadt sollte
unnötig zerstört werden, sondern unter Umständen nur ein einzelnes
Büro.
Wie weit man auf diesem Weg schon war, blitzte nur hin und
wieder mal in den Medien auf.
Carter beendete seine Ausführungen.
Ray Denzell ergriff wieder das Wort.
"Auch in Anbetracht der Tatsachen, die Agent Carter
vorgebracht hat, müssen wir davon ausgehen, dass die Sprengladung
durch eine Art ferngelenktes Geschoss in das Restaurant 'The
Temple' gelangte..."
Das passte im Übrigen auch mit der Aussage des Werbeagenten
McMartin zusammen, die mir am Tag zuvor noch ziemlich eigenartig
vorgekommen war.
Mr. McKee wandte sich an Milo und mich. "Ich möchte, dass Sie
beide sich die Verantwortlichen bei Lonbury Electronics vorknöpfen.
Immerhin ist bei diesem Attentat offenbar ein Produkt aus deren
Fertigung verwandt worden."
"In Ordnung, Sir", sagte ich.
Unser Chef wandte sich an Clive Caravaggio.
Der flachsblonde Italo-Amerikaner hatte den Rang eines
stellvertretenden Special Agent in Charge und war damit nach Mr.
McKee die Nr. 2 im Field Office. "Clive, versuchen Sie alles, was
wir in der Waffenhändler-Szene an Informanten haben, zu aktivieren.
Wenn wirklich High Tech-Waffen, wie Lonbury Electronics sie
herstellt, im Umlauf sind, dann muss doch irgendjemand davon gehört
haben..."
5
Ein Anruf erreichte uns, als wir gerade den
Queens/Midtown-Tunnel passiert hatten.
Mr. McKee meldete sich.
Über die Freisprechanlage des neuen Sportwagens, den die
Fahrbereitschaft unseres Field Office mir zur Verfügung stellte,
konnten Milo und ich beide mithören.
"Die Kollegen der City Police haben uns den Mord an Dr. Alex
Ferraro gemeldet", berichtete uns der Chef. "Dr. Ferraro leitete
die Entwicklungsabeilung von Lonbury Electronics. Den Angaben der
Kollegen nach hat jemand wohl Ferraros Arbeitsplatz im Labor derart
manipuliert, dass er von einem Stromschlag getötet wurde."
"Sie meinen, es gibt da einen Zusammenhang mit unserem Fall?"
fragte Milo.
"Das ist zumindest nicht ausgeschlossen. Sprechen Sie mit den
Kollegen vor Ort darüber. Die Ermittlungen werden von Captain Pat
Jones geleitet..."
Eine Viertelstunde später erreichten wir das Firmengelände von
Lonbury Electronics. Es war durch hohe Mauern, elektronische
Überwachungsanlagen und einen gut bewaffneten Security-Dienst
nahezu perfekt abgeriegelt.
An der Pforte ließ man uns bereitwillig herein, nachdem wir
unsere Dienstausweise vorgezeigt hatten.
Offenbar brachte man uns sofort mit den Ermittlungen unserer
Kollegen vom NYPD in Zusammenhang.
Das Lonbury-Gelände war für die engen Großstadtverhältnisse
von Queens sehr weiträumig angelegt.
Es wirkte wie eine kleine Stadt für sich. Mehrere zwischen
zehn und zwanzig Stockwerke hohe Gebäudekomplexe erhoben sich.
Daneben gab es Lager- und Fabrikhallen sowie großzügige Parkplätze.
Dazwischen lagen ein paar Grünflächen, durchzogen von einem Netz
asphaltierter Straßen und Wege.
Die Beschilderung war exzellent.
Man konnte sich problemlos zurechtfinden.
"Sieh mal, die haben hier sogar eigene Läden und Restaurants
für die Mitarbeiter", stellte Milo fest. Er deutete mit der Hand
hinaus.
Ich nickte. "Allerdings auch an jeder Ecke einen Wächter mit
MPi."
Milo hob die Augenbrauen.
"Eine regelrechte Festung - und das am Rande von
Queens!"
"Kein Wunder - wenn man bedenkt, woran hier gearbeitet
wird!"
Wir folgten den Schildern, die zu den Labors der
Entwicklungsabteilung führten. Ein Pulk von Einsatzwagen parkte vor
dem Central Building, in denen die Labors untergebracht
waren.
Ich parkte den Sportwagen in der Nähe. Wir stiegen aus, gingen
die letzten Meter zu Fuß.
Zwei Uniformierte trugen einen Zinksarg zum Wagen des
Coroners. Bei einem der Zivilfahrzeuge des NYPD entdeckte ich
Captain Patricia 'Pat' Jones. Sie war schlank und zierlich. Die
Haare fielen ihr in einer wallenden Lockenmähne bis über die
Schultern. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie noch
Lieutenant gewesen.
Pat telefonierte gerade. Sie grüßte uns knapp.
Wir gingen auf sie zu.
Pat steckte das Handy ein.
"Hallo Jesse! Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht
mehr..."
"Wenn bei einem Unternehmen wie Lonbury jemand umgebracht
wird, dann ist das schon fast eine Frage der nationalen
Sicherheit."
Pat nickte. "Stimmt. Und angesichts der High-Tech-Waffen, die
hier entwickelt werden, kann man kaum vorsichtig genug sein. Nicht
auszudenken, wenn davon etwas in falsche Hände gerät."
"Vermutlich ist genau das geschehen, Pat."
"Ach!"
Sie starrte mich an.
"Du hast sicher von der Explosion Ecke Central Park/Fifth
Avenue gehört."
"Sicher."
"Der oder die Täter haben ein ferngelenktes Geschoss von
Lonbury Electronics verwendet, um zwei Unterweltbosse aus dem Weg
zu räumen."
Pat atmete tief durch. "Ihr vermutet einen Zusammenhang,
zwischen dem Tod von Dr. Ferraro und dem
Sprengstoffattentat?"
Ich zuckte die Achseln. "Ausgeschlossen ist das nicht. Aber im
Moment stochern wir noch ziemlich im Dunkeln."
"Ich nehme an, du willst eine Zusammenfassung der bisherigen
Ermittlungen", vermutete Pat.
Ich lächelte sie an. "Ich bitte darum."
Pat strich sich mit einer schnellen Bewegung eine Strähne aus
dem Gesicht. "Dr. Alex Ferraro war Chef der Entwicklungsabteilung
von Lonbury Electronics. Jemand hat seinen Arbeitsplatz im Labor so
manipuliert, dass Ferraro einen tödlichen Stromstoß erhielt."
"Ein Unfall ist ausgeschlossen?"
"Nach Meinung unserer SRD-Kollegen ja. Die sind zwar noch
dabei, den Tatort zu untersuchen, aber die Indizien, die sie bisher
gefunden haben, sind sehr eindeutig."
"Seit wann ist Ferraro tot?"
"Seit gestern Abend. Der Coroner meint, dass Ferraro auf jeden
Fall vor Mitternacht starb. Heute Morgen wurde die Leiche von
seinem Assistenten Dr. Daly gefunden."
"Ich würde mir den Tatort gerne mal ansehen", meinte
ich.
"Nichts dagegen."
Pat führte uns zu den Labors.
Ein ziemlich nervös wirkender Vertreter von Lonbury
Electronics bestand darauf, dass auch wir Staubschutz-Overalls
anlegten.
"Das ist übrigens Dr. Eric Daly", stellte Pat uns den
graugesichtigen Mann mit den flaschendicken Brillengläsern
vor.
"Special Agent Jesse Trevellian, FBI", stellte ich mich
vor.
Ich deutete auf Milo. "Dies ist mein Kollege Milo
Tucker."
"Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, dass einer von uns
so etwas fertig bringen könnte... Einen Menschen ermorden."
"Einer 'von uns'?", echote ich.
Eric Daly blickte ruckartig auf. "Nun, ich dachte, dass wäre
Ihnen klar. Die Zahl der Menschen, die die elektronischen Schranken
überwinden können ist begrenzt. Es handelt sich nur um eine
Handvoll autorisierter Personen, die mit einer elektronischen
ID-Card Zugang zu den Labors besitzt."
Ich hob die Augenbrauen. "Und Sie meinen, dass einer von denen
der Mörder sein muss."
"Liegt das nicht auf der Hand?"
"Ich nehme an, Sie gehören auch zu diesem auserwählten
Kreis?"
"Das ist richtig. Eine Liste der Verdächtigen stellt das
Personalbüro von Lonbury Electronics gerade für Ihre reizende
Kollegin vom Police Department zusammen. Sie können sicher eine
Kopie bekommen..."
Daly führte uns dann durch verschiedene Schleusen und
Korridore zum Tatort.
Die Kollegen der Scientific Research Division waren noch bei
der Arbeit.
"Woran arbeitete Dr. Ferraro genau?", wandte ich mich an
Daly.
"Mikroelektronische Steuerungssysteme", sagte er.
"Das ist sehr allgemein."
"Genaueres werden Sie von mir nicht erfahren. Jedenfalls
nicht, so lange mich die Führungsetage von Lonbury nicht
ausdrücklich dazu ermächtigt, Ihnen etwas zu den laufenden
Projekten zu sagen..."
Ich blickte mich in dem Labor um. Die Stelle, an der Ferraro
zusammengebrochen war, hatten die Kollegen mit Kreide
markiert.
Wenig später erläuterte uns einer der Erkennungsdienstler vom
SRD, wie die Anlage manipuliert worden war.
"Es war Mord, Jesse", bekräftigte Pat die Ausführungen des
Kollegen. "Daran kann es keinen vernünftigen Zweifel geben."
Pats Handy schrillte.
Sie griff zum Apparat, nahm ihn ans Ohr und sagte zweimal kurz
hintereinander "Okay".
"Neuigkeiten?", erkundigte ich mich.
Sie nickte.
"Wir wissen jetzt, wer außer Ferraro gestern zur fraglichen
Zeit noch im Labor gewesen ist... Wollt ihr an dem Verhör
teilnehmen, Jesse?"
6
Lonbury Electronics hatte für die Vernehmung einen Büroraum
zur Verfügung gestellt. Außer Milo und mir nahmen noch Pat, ein
Lieutenant namens Bolder sowie ein Anwalt teil, der die Interessen
des Beschuldigten wahren sollte.
Dr. Brad Weston war ein drahtiger Mittvierziger mit
Halbglatze. Er saß zusammengesunken in einem der schlichten
Ledersessel.
Pat setzte ihm stark zu.
So zierlich und sexy sie auch auf den ersten Blick wirken
mochte, so unerbittlich nahm sie Westons widersprüchliche
Äußerungen auseinander.
"Dr. Weston, Sie können doch nicht leugnen, dass Sie gestern
Abend noch im Labor waren. Die elektronischen Kontrollen sind
unbestechlich! Genau um 22.13 Uhr. Haben Sie den Magnetstreifen
Ihrer ID-Card ins letzte Schloss gesteckt!"
"Ich sagte doch: Ich war zu Hause!"
"Ja, allein - und ohne Zeugen!"
"Diese Tatsache dürfen Sie meinem Mandanten nicht anlasten",
mischte sich der Anwalt ein. Er hieß Belmont.
"Stimmt es, dass Sie gute Chance haben, Dr. Ferraros
Nachfolger als Entwicklungschef bei Lonbury Electronics zu
werden?"
"Wer sagt das?"
"Entspricht es den Tatsachen?" Pat ließ nicht locker.
"Einspruch!", zeterte Belmont.
Pat wies ihn mit Bestimmtheit zurecht. "Sie sind hier nicht
vor Gericht."
"Ich protestiere trotzdem gegen die Art und Weise Ihrer
Befragung!"
"Es stimmt", gab Weston dann zu. "Aber ich würde deswegen doch
keinen Mord begehen!"
"Was haben Sie gestern Abend im Labor getan?"
"Meine ID-Card ist mir gestohlen worden. Jemand anderes muss
sie benutzt haben!"
"Ich will Ihnen sagen, was passiert ist, Dr. Weston. Sie sind
ins Labor gegangen und haben auf Dr. Ferraro gewartet. Die Art und
Weise, in der Ferraros Arbeitsplatz manipuliert worden ist, spricht
dafür, dass der Täter sich dort hervorragend auskannte. So wie
Sie!"
"Ach was!", stieß Weston hervor. "Jeder könnte das! Jeder, der
in der Entwicklungsabteilung tätig ist. Vielleicht mit Ausnahme der
Security-Leute. Aber mir wollen Sie das anhängen! Dahinter steckt
doch Methode!"
Pat hob die Augenbrauen. Ihr Tonfall wurde etwas
sanfter.
"Und welches Interesse sollte ich daran haben, Ihnen etwas
anzuhängen, wie Sie es formulieren?"
"Liegt doch auf der Hand!"
"Ach!"
"Sie brauchen einen Schuldigen, wollen um jeden Preis
Ergebnisse vorweisen. Koste es, was es wolle!"
"Das ist doch Unsinn, Dr. Weston. Sie sind jedenfalls
vorläufig festgenommen!"
"Damit kommen Sie nicht durch!", rief Belmont.
"Das sehe ich anders", erklärte Pat kühl. "Ihr Mandant hatte
ein Motiv, er hatte die Gelegenheit und war zur fraglichen Zeit am
Tatort. Das sind schwer belastende Indizien."
Jetzt mischte ich mich in das Gespräch ein.
"Wann glauben Sie, wurde Ihnen die ID-Card gestohlen?"
Er wartete das Nicken seines Anwalts ab, bevor er antwortete.
"Ich weiß es nicht. Ich habe sie erst heute Morgen vermisst, als
ich wieder ins Labor wollte..."
"Aber gestern hatten Sie das Ding noch?"
"Ja. Ich verließ das Labor gegen 19 Uhr. Das müsste ebenfalls
elektronisch gespeichert worden sein! Sie glauben mir doch,
oder?"
"Wir werden das überprüfen", versprach ich.
Pat rief zwei ihrer uniformierten Kollegen herbei, die Dr.
Weston abführten.
Als der Wissenschaftler sich nicht mehr im Raum befand, wandte
sie sich an mich.
"Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass dieser Mord etwas mit
eurem Fall zu tun hat. Das jemand die ID-Card von Mr. Weston
gestohlen hat, halte ich für eine reine Schutzbehauptung."
"Überprüfen muss man das trotzdem", erwiderte ich.
"Natürlich."
"Wenn sich bei euren Ermittlungen irgendetwas Neues
herausstellen sollte, dann wäre es nett, wenn du mich das umgehend
wissen lässt."
Sie wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment klingelte ihr
Handy. Pat blickte mich nachdenklich an, während sie sprach. Am
anderen Ende der Leitung war offenbar ein ungeduldiger
Staatsanwalt, der sich nach den Fortschritten der Ermittlungen
erkundigte.
Ich verabschiedete mich mit einem Nicken von unserer
NYPD-Kollegin.
"Bis jetzt gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür,
dass dieser Mordfall irgendwie mit dem Sprengstoffanschlag
zusammenhängt, Jesse", gab Milo zu bedenken, als wir draußen auf
dem Korridor waren.
"Wir müssen Ferraros Privatleben durchleuchten. Vielleicht
ergibt sich dann eine Spur."
"Und wie sollte diese Verbindung deiner Meinung nach
aussehen?"
"Du siehst doch, wie groß hier Sicherheit geschrieben
wird."
"Allerdings."
"Aber Tatsache ist, dass mindestens eine dieser 'Smart
Weapons' aus den Mauern des Unternehmens hinausgelangt ist. Ich
denke, wer so etwas schafft, braucht dazu einen Helfer im
Unternehmen..."
"Ferraro?"
"Ja. Und weil er aussteigen wollte oder einfach nur ein
gefährlicher Mitwisser war, musste er sterben."
"Klingt etwas hergeholt, findest du nicht?"
Ich zuckte die Achseln. "Ich finde, das ist mindestens so
logisch wie Pats Theorie..."
"...für die sie immerhin ein paar handfeste Indizien
hat!"
"Dr. Weston ist ein hochintelligenter Wissenschaftler. Ich
kann mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet er so dumm gewesen
sein soll, nicht daran zu denken, dass genau aufgezeichnet wird,
wer wann das Labor betritt..."
Als wir den Ausgang des Gebäudes erreichten, erkundigte ich
mich bei einem der Security Guards nach der Videoüberwachungslage.
Er erklärte mir, dass lediglich der Eingangsbereich mit Kameras
überwacht wurde, der eigentliche Labortrakt jedoch nicht.
Schließlich kamen dort ohnehin nur diejenigen hinein, die über eine
ID-Card mit entsprechender Codierung verfügten.
"Das heißt aber, jeder der das Gebäude betritt oder verlässt
wird aufgenommen?", vergewisserte ich mich.
"Ja, Sir."
"Könnten Sie die Bänder von gestern Abend heraussuchen?"
"Tut mir leid, aber nach 45 Minuten beginnt die Aufzeichnung
von vorn. Alles, was vorher auf dem Band war, wird dann
gelöscht."
"Zu dumm", murmelte ich.
Eine halbe Stunde später empfing uns dann William Gerrets, der
Vorstandsvorsitzende von Lonbury Electronics. Sein Büro wirkte fast
spartanisch. Ein Bild, das den Nationalökonomen Adam Smith
darstellte, hing hinter ihm an der weißen Wand.
Ansonsten waren die Wände kahl. Gerrets begrüßte uns knapp und
deutete auf die schlichten Ledersessel. "Nehmen Sie Platz."
"Danke. Ich bin Special Agent Jesse Trevellian, FBI. Und dies
ist mein Kollege Agent Tucker."
"Was den Fall Ferraro angeht, gewähren wir Ihnen jede nur
denkbare Unterstützung!", versicherte Gerrets.
"Wir sind nicht in erster Linie wegen dem Mord an Ihrem
Entwicklungschef hier", erklärte Milo.
Gerrets kniff die Augen zusammen. "Sondern?"
Ich holte ein paar Fotos aus der Innentasche meiner Lederjacke
und legte sie vor Gerrets auf den Schreibtisch.
"Bei dem kürzlich verübten Sprengstoffanschlag im Restaurant
'The Temple' in der 5th Avenue wurde offenbar ein Geschoss aus
Ihrer Produktion verwendet."
Gerrets sah sich die Fotos an.
Obwohl es sich um Vergrößerungen handelte, nahm er sie ganz
nah an die Augen heran.
Sein Gesicht wurde farblos.
"Ich... ich habe keine Erklärung dafür", stotterte er dann.
Tief atmend lehnte er sich zurück. "Bislang hielt ich unsere
Sicherheitsvorkehrungen für perfekt."
"Das sind sie offenbar nicht", sagte Milo.
Und ich ergänzte: "Wir brauchen die Personaldaten aller Ihrer
Mitarbeiter."
"Sie glauben, dass unter den Lonburys-Angestellten schwarze
Schafe sind?"
"Ja", nickte ich. "Übrigens brauchen wir auch die Daten Ihrer
Security-Leute."
"Das geht in Ordnung", stimmte er zu.
Ich deutete auf die Fotos. "Es müsste für Sie festzustellen
sein, um welche Fabrikate von Fernlenkgeschossen es sich genau
handelt und wie viele davon hergestellt wurden..."
"Immer nur wenige Prototypen", erklärte Gerrets. "Einige
hundert maximal. Die Armee verbraucht sie zu Übungszwecken und wir
müssen staatliche Stellen ja schließlich davon überzeugen, dass sie
unsere Produkte abkaufen!" Gerrets beugte sich vor. Sein Tonfall
wurde gedämpft. "Sehen Sie, Agent Trevellian, unsere Waffen sind
etwas ganz Besonderes."
Er nahm einen Kugelschreiber von seinem Schreibtisch und hielt
ihn hoch.
"Stellen Sie sich einen Flugkörper dieser Größe vor, gefüllt
mit einem hochwirksamen Sprengstoff! Aber wir statten diese Dinger
auch mit einer Art Gehirn aus! Unsere MRX-230 kann Ziele
selbständig verfolgen. Sie orientiert sich mit Hilfe eines
Satelliten-Navigationssystems, so wie Sie es aus dem Auto kennen!
Keine feindliche Aufklärung kann so einer Waffe etwas anhaben! Wir
arbeiten noch daran, die Zielsicherheit zu verbessern. Das einzige
Problem, das wir bis jetzt noch nicht befriedigend gelöst haben,
ist die Reichweite."
"Wie groß ist sie?"
"Bei Flugkörpern dieser Größe bislang nur wenige Kilometer.
Für eine militärische Nutzung schweben uns natürlich erheblich
größere Reichweiten vor..."
"Wir brauchen genaue technische Daten."
Gerrets wirkte plötzlich reserviert. "Tut mir leid."
Ich hob die Augenbrauen. "Was soll das heißen?"
"Die technischen Einzelheiten unterliegen strengster
Geheimhaltung. Wer garantiert uns, dass diese Daten nicht an die
Konkurrenz gelangen?"
"Ich garantiere Ihnen jedenfalls erhebliche Schwierigkeiten,
wenn Sie unsere Ermittlungen behindern."
"Davon kann doch keine Rede sein!"
Jetzt schaltete sich Milo ein. "Mr. Gerrets, Sie scheinen den
Ernst der Lage noch nicht begriffen zu haben! Der Fall, dass
Lonbury-Waffen in falsche Hände geraten, ist bereits
eingetreten..."
"...und Sie sollten mindestens so sehr wie wir daran
interessiert sein, dass wir den Tätern und ihren Hintermännern
schnell auf die Spur kommen!", ergänzte ich.
William Gerrets fuhr sich mit einer hektisch wirkenden Geste
über das Gesicht. "Ich muss mich da im Vorstand erst
absichern."
Ich sah ihn an. "Dann beeilen Sie sich bitte damit!"
7
Der Wind pfiff über die Dünen. Die Villa lag sehr abgelegen am
Long Island Sound.
Wie eine Festung war sie von allen Seiten durch hohe
Stacheldrahtzäune gesichert. Bewaffnete mit mannscharfen
Dobermännern patrouillierten auf und ab. Draußen auf dem Wasser zog
ein Motorboot seine Kreise.
Ernesto, der jüngere Bruder des ermordeten Jorge Menendez ging
nach dem Anschlag in der 5th Avenue auf Nummer sicher.
Ernesto war 27 - nach Meinung vieler in der Organisation
vielleicht zu jung, um die Geschäfte zu übernehmen.
Andererseits hatten das auch viele behauptet, als sein Bruder
Jorge vor zwei Jahren die Macht übernommen hatte.
Ernesto erinnerte sich noch genau an den Tag.
Sein Vater war kurz zuvor mit seinem Ferrari von einer
abschüssigen Straße in Connecticut abgedrängt worden. Der Täter war
nie ermittelt worden. Mehr als ein paar Lackspuren eines fremden
Wagens hatten die Behörden nicht an Spuren zur Verfügung
gehabt.
Für Ernesto hatte damals festgestanden, dass es sich um einen
Mord gehandelt hatte. Begangen im Auftrag von Lee Jiang und seinem
Chinatown-Clan. Kurz zuvor hatte es Meinungsverschiedenheiten wegen
ein paar Clubs gegeben, deren Kontrolle für beide Seiten zur
Geldwäsche dienen sollte. Ernestos Vater hatte nicht nachgeben
wollen - und dafür bezahlen müssen.
Wie hatte Ernesto seinen Bruder Jorge innerlich verflucht, als
dieser sich dazu entschlossen hatte, sich mit den Chinesen an einen
Tisch zu setzen!
Inzwischen hatten sich nämlich neue Konflikte abgezeichnet,
weil beide Gruppen versuchten, den Waffenhandel zu
kontrollieren.
Du hast immer nur an die Dollars gedacht, ging es Ernesto
grimmig durch den Kopf, während er durch die Terrassentür
hinaustrat. Für ein gutes Geschäft hättest du jeden von uns
verkauft, Jorge!
Er trat hinaus ins Freie.
Eine hübsche, zierlich gebaute Frau und dunklem Haar stand
dort. Sie blickte nachdenklich hinaus auf das Meer. Sie trug ein
schwarzes Kostüm zum Zeichen der Trauer.
"Isabelita", sprach Ernesto sie an.
Er hatte die Witwe seines Bruders zu sich genommen. In ihrem
Haus in East Harlem würde sie jetzt wohl kaum Ruhe finden. Und das
war es, was sie vor allen Dingen brauchte.
Ruhe - und Sicherheit.
Isabelita drehte sich herum. Tränen glitzerten in ihren
Augen.
Seitdem sie durch Beamte des Police Departments vom Tod ihres
Mannes erfahren hatte, verfiel sie phasenweise in einen
schockähnlichen Zustand.
Ernesto trat an sie heran, fasste sie bei den Schultern.
"Wie geht es dir, Isabelita?"
"Du wirst dich an den Chinesen rächen, nicht wahr?", flüsterte
sie. "Ernesto, du musst es mir versprechen!"
Er zögerte, nickte dann.
"Ja", flüsterte er.
Für Isabelita stand fest, dass die Chinatown-Leute hinter dem
Anschlag standen. Es war ihr zu einer Art fixen Idee geworden. Auch
der Einwand, dass Lee Jiang schließlich selbst dabei ums Leben
gekommen war, rührte sie nicht.
Und vielleicht hatte sie sogar recht.
Was, wenn jemand aus Lee Jiangs Organisation zwei Fliegen mit
einer Klappe hatte schlagen wollen? Sich von einem missliebigen
Boss zu befreien und gleichzeitig die Konkurrenz zu
schwächen?
"Du brauchst jetzt viel Ruhe", sagte Ernesto sanft. "Mach dir
keine Sorgen..."
"Du wirst sie alle umbringen, nicht wahr, Ernesto?"
Das hübsche, feingeschnittene Gesicht der jungen Frau verzog
sich zu einer Maske des Hasses.
"Ja", versprach Ernesto, um sie zu beruhigen. Er nahm sie in
den Arm, sie legte den Kopf an seine Schulter. Er erinnerte sich
daran, dass er Isabelita ebenso begehrt hatte wie sein Bruder. Aber
sie hatte Jorge vorgezogen. Doch von der Anziehungskraft, die sie
auf ihn ausgeübt hatte, war kaum noch etwas übrig geblieben. Auf
lange Sicht musste er ein Sanatorium für sie suchen.
Ein breitschultriger Mann mit dunklem Schnauzbart trat durch
die Terrassentür ins Freie. Er trug ein Walkie-Talkie in der
Rechten. Links drückte sich ein Revolver durch das Jackett
hindurch.
"Es ist alles bereit für den Test, Mr. Menendez", erklärte
er.
"Okay, Ron. Ich hoffe, dass wir nur einen brauchen.
Schließlich sind die MRX-230-Geschosse nicht gerade
billig..."
"Aber wir müssen wissen, wie man damit umgeht, Boss."
"Ja, ich weiß..."
Ron blickte sich um, rief etwas auf Spanisch ins Innere des
Hauses. Ein Mann, der ebenso breitschultrig war wie er, trat ins
Freie. Er hatte graue Haare, die so kurz geschnitten waren, dass
man dadurch die Kopfhaut sehen konnte.
Der Graue hielt einen Koffer in der Hand. Er stellte ihn auf
den runden Tisch mitten auf der Terrasse, öffnete ihn.
Vorsichtig hob er ein Hochleistungslaptop heraus.
Dann eine Pistole.
"Für unseren Test benutzen wir eine Pistole, die mit
Luftenergie arbeitet und eigentlich dafür gedacht ist,
Betäubungspfeile gegen Elefanten abzuschießen", erläuterte Ron.
"Ich habe etwas an ihr herumfeilen müssen. Im Prinzip kann man aber
auch jedes andere Abschusssystem benutzen, das die hochempfindliche
Elektronik des Geschosses nicht zerstört."
Unterdessen fuhr der Graue das Laptop hoch. Ron holte eines
der kugelschreibergroßen MRX-230-Geschosse aus einer Innentasche
des Koffers. Über ein dünnes Kabel mit entsprechenden Adaptern
stellte er eine Verbindung zwischen Laptop und Geschoss her.
"Es war nicht ganz leicht, sich in die Software
hineinzuarbeiten", gestand der Graue. "Etwas komplizierter als ein
Navigationssystem für Autos ist es schon..."
Dann hatte er die MRX-230 programmiert.
Er löste den Adapter von dem Geschoss und steckte in den Lauf
der Luftpistole.
Ron meldete sich zu Wort.
Er deutete dabei mit der ausgestreckten Hand in Richtung Meer.
"Sehen Sie den alten Chevy, den wir dort abgestellt haben?"
Ernesto nickte.
"Ja."
Der Graue hob die Pistole, richtete sie in die Luft.
"Zielen ist überflüssig", meinte er. "Das Geschoss braucht nur
die entsprechende Anschubenergie. Den Rest besorgt das Ding
selbst!"
Er feuerte.
Das Geschoss zischte senkrecht in den Himmel, flog dann in
einem Bogen wieder abwärts. Dicht über dem Boden schnellte es
dahin, passte die Flugbahn den Unebenheiten an.
Nach ein paar Augenblicken war es nicht mehr zu sehen. Es war
einfach zu klein.
Der Graue blickte auf die Rolex an seinem Handgelenk.
Sekundenlang warteten die Männer.
Dasselbe galt für Jorges Witwe, die wie gebannt dorthin
starrte, wo das Geschoss verschwunden war.
Dann hörte sie die Detonation.
Der Chevy explodierte. Die MRX-230 hatte ihr Ziel
gefunden.
Auf Ernestos Gesicht erschien ein Lächeln. "Perfekt", murmelte
er.
"Ich denke auf einen Test der größeren Prototypen MRX-231 und
MRX-232 können wir verzichten", meinte Ron, "zumal wir sie mit
Granatwerfern abfeuern müssten. Ansonsten unterscheiden sie sich
nur in der Reichweite und der Sprengstoffmenge, die damit ins Ziel
gebracht werden kann."
Isabelita erwachte jetzt aus ihrer Erstarrung. "Du wirst diese
Hunde aus Chinatown damit ausradieren, ja?"
8
Es war später Nachmittag, als wir Dr. Alex Ferraros Haus in
Riverdale erreichten.
Ein schmucker Bungalow mit Flachdach, umgeben von einem
penibel gepflegten Garten. Am Straßenrand parkten eine Reihe von
Fahrzeugen. Schließlich fand ich eine Lücke, die groß genug für den
Sportwagen war.
Wir stiegen aus.
Die traurige Pflicht, Mrs. Ferraro vom Tod ihres Mannes zu
unterrichten, hatten uns die Kollegen der City Police bereits
abgenommen.
Wir gingen über einen gepflasterten Weg zur Haustür. Der Rasen
war englisch kurz. Exakt auf einer Länge. Die Blumenbeete bildeten
geometrische Formen. Mir fiel ein weggeworfener Zigarettenstummel
zwischen den Grashalmen auf.
Milo war als erster an der Tür. Er klingelte.
Eine Mitvierzigerin mit brünettem, kinnlangen Haar öffnete
uns.
"Mrs. Ferraro?", fragte ich.
"Ja?"
"Ich bin Special Agent Jesse Trevellian vom FBI und dies ist
mein Kollege Milo Tucker. Wir müssen Ihnen im Zusammenhang mit dem
Tod Ihres Mannes ein paar Fragen stellen..."
Sie sah uns misstrauisch an.
Milo reagierte und streckte ihr den FBI-Ausweis entgegen. Ich
folgte seinem Beispiel.
Ihre Verblüffung blieb.
"Sie... Sie sind auch vom FBI?"
"Was heißt hier auch?", fragte ich.
"Es sind schon zwei Kollegen von Ihnen hier. Sie durchsuchen
gerade die Sachen meines Mannes."
"Vielleicht Beamte der City Police", vermutete Milo.
Aber Mrs. Ferraro schüttelte den Kopf. "Die Ausweise sahen
genau so aus wie Ihre!"
Milo und ich wechselten einen kurzen Blick. Beinahe
gleichzeitig griffen wir zu unseren Dienstwaffen. "Diese "Kollegen
sind vermutlich falsch, Mrs. Ferraro", erklärte ich der Witwe in
gedämpftem Tonfall. "Wo sind die angeblichen Kollegen?"
"In Alex' Arbeitszimmer." Sie deutete mit dem Arm. "Es ist auf
der anderen Seite... Den Flur entlang, dann links!"
"Gibt es Nachbarn, zu denen Sie gehen können?"
"Ja! Nebenan."
"Dann bringen Sie sich dorthin in Sicherheit! Schnell!"
Sie nickte, bedachte mich noch mit einem letzten zweifelnden
Blick und lief dann los. Einmal drehte sie sich noch um, bevor sie
das Nachbargrundstück erreichte.
Während ich mich bereits in das Innere des Bungalows
vortastete, verständigte Milo per Handy unser Hauptquartier in der
Federal Plaza.
Er forderte Verstärkung an.
Mit der SIG Sauer P226 in der Rechten ging ich den Flur
entlang.
Die Stimmen unserer angeblichen Kollegen waren jetzt leise zu
hören.
Eine Tür am Ende des Flurs öffnete sich.
Ich sah einen Mann.
Er musste bemerkt haben, dass etwas nicht stimmte.
Jedenfalls hielt er eine Pistole in der Faust.
"Hände hoch, FBI!", rief ich, riss dabei die SIG hoch.
Mein Gegner feuerte sofort. Der Schuss ging knapp über mich
hinweg. Die Kugel fuhr in die Wand, kratzte die Tapete auf.
Ich schoss nur Sekundenbruchteile später.
Mein Gegenüber schrie auf.
Das Geschoss traf ihn an der Schulter und riss ihn
zurück.
Er stolperte zurück in das Zimmer, aus dem er gekommen war.
Eine Scheibe klirrte. Offenbar machte sich der Komplize des
falschen FBI-Agenten davon.
Ich setzte in geduckter Haltung nach, stürmte in das
Arbeitszimmer hinein.
Der Mann, den ich getroffen hatte, lag am Boden. Er wand sich,
presste eine Hand gegen die Schulter. Rot rann es ihm zwischen den
Fingern hindurch.
Mit verzerrtem Gesicht starrte er mich an, riss die Waffe
herum. Ich kickte sie ihm mit einem Tritt aus der Hand, Milo
stürzte herein.
Der Lauf seiner SIG zeigte auf den Oberkörper des falschen
FBI-Agenten.
Ich wandte den Blick, duckte mich.
Der Komplize war durch das Fenster gesprungen, befand sich
jetzt im Garten und feuerte zweimal kurz hintereinander in unsere
Richtung. Schlecht gezielte Schüsse, die nur dafür sorgten, dass
noch eine weitere Fensterscheibe zu Bruch ging.
Für Sekundenbruchteile sah ich sein Gesicht.
Es war kantig, die Augenbrauen traten sehr kräftig
hervor.
Die Nase war mal gebrochen gewesen und am rechten Ohr
glitzerte etwas. Ein Ohrring.
Einen Augenaufschlag später tauchte der Kerl hinter ein
Gebüsch.
Ich pirschte mich an das Fenster heran, durch das der Mann mit
dem Ohrring geflohen war.
Milo blieb in geduckter Haltung bei dem Gefangenen, legte ihm
Handschellen an.
Der Flüchtende kämpfte sich durch die Büsche im Garten,
strebte auf das Nachbargrundstück zu.
Ich sprang auf, nahm Anlauf und kam mit einem Satz durch das
Fenster. Ich rollte mich auf dem Rasen ab, kam einen Augenblick
später wieder auf die Beine und setzte zu einem Spurt an.
Das Grundstück der Ferraros wurde durch ziemlich üble
Dornensträucher begrenzt. Ich kämpfte mich vorwärts. Der Kerl mit
dem Ohrring hetzte unterdessen über die Einfahrt des
Nachbargrundstücks.
Ein roter Mercedes stand dort.
Der Flüchtende duckte sich dahinter, tauchte dann einen
Sekundenbruchteil später dahinter hervor und feuerte in meine
Richtung.
Dann rannte er weiter.
Ich hetzte hinter ihm her, verlor ihn aus den Augen, als er
hinter einer Hecke verschwand.
Ein Wagen wurde gestartet.
Ich stürzte zur Straße, sah wie ein blauer Ford aus der Reihe
am Straßenrand parkenden Fahrzeuge ausbrach und sich brutal in den
Verkehr einfädelte.
Ein Lieferwagen musste abbremsen.
Reifen quietschten.
Ich stellte mich mitten auf die Straße, der blaue Ford
beschleunigte.
Die SIG hielt ich mit beiden Händen umklammert, senkte den
Lauf ein paar Grad und versuchte die Vorderreifen zu treffen.
Vergeblich.
Nur einen Augenblick später war der Wagen schon heran. Der
Kerl mit dem Ohrring fuhr ohne Kompromisse. Im letzten Moment,
bevor mir die Kühlerhaube des Fords den Knockout verpassen konnte,
sprang ich zur Seite. Ich knallte gegen den Kotflügel eines
parkenden Chevys. Der blaue Ford schoss indessen an mir
vorbei.
Ich war leicht benommen.
Die Reifen des Fords quietschten schrill, als er um die
nächste Ecke bog.
Ich schnellte hoch, kniete mich hin.
Ruckartig zog ich den Lauf der SIG etwas nach oben, zielte und
feuerte dreimal kurz hintereinander.
Einer der Hinterreifen des blauen Ford platzte. Der Wagen
brach zur Seite aus, rutschte mit dem Heck in ein parkendes
Fahrzeug hinein.
Dann blieb er stehen.
Ich setzte in geduckter Haltung zu einem Spurt an, obwohl Kopf
und Schulter höllisch schmerzten.
Der Kerl mit dem Ohrring riss die Wagentür auf, feuerte in
meine Richtung. Einer der Schüsse zischte ganz knapp an meinem
Oberkörper vorbei.
Ich schlug einen Haken, nahm Deckung hinter einem Lieferwagen,
der am Straßenrand parkte.
Als ich aus dieser Deckung wenig später hervorzutauchen
versuchte, schlug mir ein wahrer Geschosshagel entgegen.
Mehrere Schüsse feuerte der Kerl mit dem Ohrring
hintereinander ab. Die Kugeln kratzten am Lack des Lieferwagens,
stanzten hier und da Löcher ins Blech. Eine Scheibe ging zu
Bruch.
Als das Feuer verebbte, schnellte ich nach vorn, nahm die SIG
in den Beidhandanschlag und schoss. Ich erwischte den Kerl mit
einer Kugel am Bein. Er schrie auf, humpelte ein paar Meter in
Richtung eines Vorgartens.
"Stehenbleiben! FBI!", rief ich. "Du hast keine Chance!"
Der Mann hielt inne, keuchte.
Sein Oberschenkel hatte sich rot gefärbt.
Er wusste, dass er jetzt nicht mehr entkommen konnte.
Der Lauf meiner SIG zeigte in seine Richtung.
Mein Gegner hielt seine Waffe mit der Rechten umklammert. Eine
einzige Sekunde zu lang hatte er gezögert.
Und jetzt herrschte eine angespannte Patt-Situation mit einem
ganz leichten Vorteil auf meiner Seite. Der Mann mit dem Ohrring
hätte seine Waffe ein paar Grad bewegen müssen, um mich treffen zu
können.
"Die Waffe weg!", rief ich.
Sekunden krochen dahin.
Ich sah die Anspannung seiner Muskeln, die groß genug waren,
um sich durch die Jackettärmel abzudrücken. Sein Gesicht wurde zu
einer verzerrten Maske.
"Verdammt!", schrie er.
Er ließ die Waffe fallen.
Ich trat näher an ihn heran und nahm seine Pistole an
mich.
"Sie sind verhaftet", sagte ich, "alles, was Sie von nun an
sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben
deshalb das Recht zu schweigen. Außerdem..."
"Hören Sie auf, ich brauche einen Arzt!", stöhnte der Kerl
auf.
"Ist schon unterwegs."
Ich durchsuchte ihn und förderte dabei seinen FBI-Ausweis zu
Tage. Er war ausgestellt auf den Namen Brandon J. Lynn.
Ich suchte nach Anzeichen für eine Fälschung und fand zu
meinem Erstaunen nichts. Der Ausweis sah echt aus. Das
eingeschweißte Lichtbild sah dem Gesicht meines Gegenübers bei
oberflächlicher Betrachtung recht ähnlich. Offenbar hatte der Kerl
sein Aussehen nach dem Foto gestylt, um den Ausweis benutzen zu
können.
"Woher hast du das Ding?", fragte ich.
"Ich sage keinen Ton ohne Anwalt", knurrte er.
9
Mrs. Ferraro war ziemlich konsterniert, als sie uns eine halbe
Stunde später in ihrem Wohnzimmer gegenüber saß.
Unsere Kollegen waren längst eingetroffen. Sam Folder, einer
unserer Erkennungsdienstler, nahm Alex Ferraros Arbeitszimmer unter
die Lupe und suchte es nach Spuren ab.
Die beiden Männer, die Milo und ich überwältigt hatten,
befanden sich in ärztlicher Behandlung. Am nächsten Morgen würden
Kollegen von uns sie vernehmen können, aber es war fraglich, ob
etwas dabei herauskam. Sie hatten beide lautstark angekündigt,
keinerlei Aussage zu machen.
"Diese Ausweise... Mein Gott, die sahen so überzeugend aus",
brachte Mrs. Ferraro heraus. "Ich habe nicht eine Sekunde dran
gezweifelt, wirklich Kollegen von Ihnen vor mir zu haben..."
"Das ist nur zu verständlich", erklärte ich.
"Haben Sie irgendeine Ahnung, was die beiden unter den Sachen
Ihres Mannes gesucht haben könnten?"
Mrs. Ferraro schüttelte den Kopf.
"Nein. Nicht die geringste."
Ich bemerkte das Glitzern in ihren Augen. Sie rang mit den
Tränen. Der Tod ihres Mannes, das Auftauchen der falschen
FBI-Agenten... Vielleicht hatten die jüngsten Ereignisse sie
einfach überfordert.
"Sie haben mit Ihrem Mann nie über die Arbeit gesprochen?",
wunderte sich Milo.
Mrs. Ferraro schüttelte den Kopf.
"Nein, nie", murmelte sie. Ihre Gedanken waren meilenweit
entfernt. Sie starrte ins Leere. "Ich wusste nur, dass die Sachen,
an denen er arbeitete alle streng geheim waren... Schließlich
handelte es sich um hochentwickelte Militärtechnik."
"Gab es Kollegen, mit denen er sich besonders gut verstand?
Welche, die ihn vielleicht auch privat kannten?"
"Nein, das würde ich nicht sagen. Dr. Eric Daly war ein paar
Mal bei uns zu Hause, ansonsten hielt mein Mann Beruf und
Privatleben streng auseinander. Er war, glaube ich, auch nicht so
sehr der kumpelhafte Typ, der schnell mit jemandem warm wird. Die
wenigen Freunde, die er hatte, kamen alle nicht aus der Branche. In
den letzten Jahren hatte er auch noch Kontakt zu ihnen, weil sie
fast alle aus der Umgebung von Michigan stammten. Dort haben wir
gewohnt, bis Alex den Posten eines Entwicklungschefs bei Lonbury
Electronics bekam..."
"Was ist mit Dr. Brad Weston?", unterbrach Milo sie.
"Er erwähnte den Namen mal", erinnerte sich Mrs.
Ferraro. "Ein sehr ehrgeiziger Mann, Alex hat ihn sehr
geschätzt."
"Können Sie sich vorstellen, weshalb er Ihren Mann umbringen
wollte?"
"Weston?" Sie schüttelte den Kopf. "Nein... Aber wie ich Ihnen
schon sagte, er hatte privat kaum Kontakt zu seinen
Kollegen..."
In diesem Moment betrat Sam Folder den Raum. "Jesse, ich
möchte, dass du dir etwas ansiehst."
Ich nickte in Richtung von Mrs. Ferraro. "Sie entschuldigen
mich..."
Milo blieb bei ihr, während ich mit Sam das Arbeitszimmer
betrat, das die beiden falschen FBI-Agenten auf den Kopf gestellt
hatten.
Sam deutete auf die Rechnung einer Mobilfunkfirma, die er auf
den Schreibtisch gelegt hatte. "Das war in der Post von heute. Du
kannst den Wisch ruhig anfassen, Jesse. Es sind keine Spuren
daran."
Ich sah mir die Liste der Gespräche an. Die meisten waren nur
sehr kurz, unter einer Minute. Dafür wiederholten sich einige
Nummern auffällig oft.
Sam Folder deutete mit der Hand. "Ich habe mit dem
Hauptquartier gesprochen und die drei häufigsten Nummern abfragen
lassen.."
"Und?", fragte ich.
"Spitzenreiter ist Dr. Eric Daly." Sam zeigte auf die
entsprechende Nummer. In der Liste waren auch die Zeiten
verzeichnet, zu denen die Gespräche stattgefunden hatten.
"Die beiden müssen sehr wichtiges miteinander zu besprechen
gehabt haben", schloss ich. "Drei der Gespräche wurden nach
Mitternacht geführt..."
"Eine andere häufig angerufene Nummer gehört einem gewissen
Cardigan..."
"Terrence Cardigan, dem Geschäftsführer von 'The Temple'?",
entfuhr es mir erstaunt. "Der kam mir schon bei der ersten
Vernehmung dubios vor."
"Vielleicht lohnt es sich, wenn ihr ihn euch noch einmal
vorknöpft."
"Ja."
"Und da ist noch etwas!" Sam Folder zeigte mir eine Broschüre.
"Hast du schonmal was von den sogenannten WHITE CRUSADERS gehört,
Jesse?"
"Eine radikale Organisation, die glaubt, dass alles Übel in
Amerika durch die Nicht-Weißen Einwanderer verursacht wird!
Rassistische Wirrköpfe, die von der angeblichen Überlegenheit der
weißen Rasse faseln..."
"Die Broschüre war hinter den Schreibtisch gerutscht. Laut
Impressum ist sie zwei Monate alt."
"Tatsache ist, dass man ihn als Entwicklungschef bei Lonbury
sofort gefeuert hätte, wenn er bei den CRUSADERS wirklich Mitglied
gewesen wäre. Er wäre dann ein Sicherheitsrisiko gewesen."
Sam zuckte die Achseln. "Möglich, dass ihm diese Broschüre
zufällig zugesandt wurde oder er sie irgendwo zugesteckt bekommen
hat."
Mein Blick fiel auf ein Schwarzweiß-Foto an der Wand. Es
zeigte einen jungen Mann mit feingeschnittenem Gesicht und einem
sympathischen Lächeln.
Sam erriet meine Frage.
"Ferraro hat einen Sohn", erklärte er. "Er heißt James E.
Ferraro. Ich habe hier Rechnungen über ziemlich hohe Beträge
gefunden, die Ferraro in den letzten Jahren an eine neurologische
Spezialklinik in Jersey City gezahlt hat. Außerdem hatte Ferraro
wohl einen Prozess gegen die Krankenversicherung seines Sohnes
geführt..."
"Heißt das, er hatte finanzielle Schwierigkeiten?"
"Er muss immense Schulden aufgehäuft haben, Jesse", war Sam
überzeugt. "Genau kann ich das nicht überblicken, aber wenn ich die
Beträge überschlage und mit seinen Einkünften vergleiche..."
"Ich dachte, als Entwicklungschef bei Lonbury bekommt man ein
Spitzengehalt!"
"Für Ferraro hat das offenbar nicht gereicht!"
Ich kehrte in das Wohnzimmer zurück. Milo hatte seine
Befragung von Mrs. Ferraro gerade beendet. Sie hatten sich beide
bereits aus den Sesseln erhoben.
Mrs. Ferraro musterte mich. "Ich konnte Ihrem Kollegen leider
nicht sehr helfen. Wenn Sie jetzt keine weiteren Fragen mehr an
mich haben..."
"Es tut mir leid, aber da wäre noch etwas. Wissen Sie, ob Ihr
Mann Kontakt zu einer Organisation namens WHITE CRUSADERS
hatte?"
Ihr Gesicht verhärtete sich. "Was soll das? Stehen ich und
mein Mann jetzt vielleicht auf der Anklagebank? Sie durchforschen
unser Leben, ohne Rücksicht auf..." Sie stockte, sprach nicht
weiter.
"Wir suchen nur nach Ansatzpunkten, um den Mörder Ihres Mannes
zu überführen", gab ich zu bedenken.
"Ihre Kollegen vom Police Department wirkten dabei auf mich
aber um einiges kompetenter!"
Entweder hatte meine Frage einen wunden Punkt berührt oder
Mrs. Ferraro war jetzt einfach am Ende ihrer Kräfte.
Milo warf mir einen Blick zu.
Er schüttelte den Kopf.
"Sie haben einen Sohn", sagte ich an Mrs. Ferraro
gewandt.
Sie blickte ruckartig auf. "James?" Ihr Gesicht bekam einen
milden Ausdruck. "James ist sehr krank. Er würde gar nicht
begreifen, was vorgefallen ist. Kommen Sie ja nicht auf den
Gedanken, ihn befragen zu wollen." Sie schluckte.
Ihre Stimme klang belegt, während sie weitersprach. "Ein
Verrückter hat ihn mit einem Baseballschläger zusammengeschlagen.
Zwei Jahre ist das her. James erlitt eine Kopfverletzung und liegt
in einem Zustand, den die Ärzte Wachkoma nennen. Wollen Sie noch
mehr wissen?"
"Sie und Ihr Mann haben Schulden?"
"Gerichte und Ärzte sind teuer, Agent Trevellian. Aber wir
waren zu allem entschlossen, um unseren Sohn aus seinem Zustand zu
befreien..."
10
Eine Viertelstunde später saßen Milo und ich wieder in unserem
Sportwagen.
Die Befragung von Mrs. Ferraro war insgesamt nicht sehr
ergiebig gewesen.
"Fest steht, dass Ferraros finanzielle Verhältnisse desolat
waren", sagte ich.
Milo hob die Augenbrauen. "Du willst darauf hinaus, dass er
erpressbar war?"
"Ja. Er war ein ideales Opfer dafür."
Milo nickte. "Nehmen wir an, jemand aus der Unterwelt oder ein
ausländischer Geheimdienst hat Ferraro unter Druck gesetzt,
irgendwie dafür zu sorgen, dass diesen Leuten Prototypen der
MRX-230 zugespielt werden..."
"...dann könnte Cardigan als Mittelsmann zum Menendez-Clan
fungiert haben. Daher die zahllosen Telefonkontakte zwischen
Cardigan und Ferraro."
Milo schüttelte den Kopf.
"Das ergibt alles noch keinen Sinn. Schließlich wird Jorge
Menendez sich kaum mit seinen eigenen MRX-230-Geschossen umgebracht
haben!"
"Womit wir wieder bei unserer Ausgangstheorie wären, Milo:
Dass es nämlich entweder bei den Chinatown-Leuten oder bei den
Puertoricanern eine Art Palastrevolte gegeben hat."
"Wie auch immer. Dieser Cardigan ist uns noch ein paar
Auskünfte schuldig."
"Wahrscheinlich wird er uns erzählen, dass Alex Ferraro
achtmal die Woche einen Tisch im Restaurant 'The Temple' bestellt
hat!"
Wir suchten Cardigans Adresse auf.
Der Geschäftsführer des 'Temple' residierte in einem
efeubewachsenen Sandstein Haus im West Village.
Früher war das Village eine Künstlerkolonie gewesen, jetzt
stellte es eher eine Wohngegend für Besserverdienende dar.
Der freie Blick auf den Hudson hatte seinen Preis.
Cardigan bewohnte das Penthouse.
Als er uns in einem modern eingerichteten Wohnzimmer empfing,
war er nicht allein. Eine junge Frau in knappem T-Shirt und
enganliegender Jeans war bei ihm. Die blondrote Mähne fiel ihr bis
weit über die Schultern. Eine Beretta trug sie in einem
Schulterholster.
Cardigan bedachte uns mit einem spöttischen Blick.
"Sie können es nicht lassen, was, G-man? Es muss Ihnen Spaß
machen, unbescholtenen Bürgern etwas am Zeug zu flicken..."
"Wir haben einfach nur ein paar Fragen", erwiderte ich.
Milo wandte sich an die junge Frau.
"Wer sind Sie bitte?"
"Laureen Rossner", sagte sie mit rauchiger Stimme.
"Meine Leibwächterin", ergänzte Cardigan.
"Haben Sie so etwas denn neuerdings nötig?", fragte ich.
"Die Welt ist vom Verbrechen verseucht, Mr. Trevellian. Das
sollten Sie doch am besten wissen!" Er grinste schief, gab seiner
Leibwächterin einen Klaps auf den Po. "Geh für 'ne Weile vor die
Tür, Laureen."
Laureen sah ihn etwas verwundert an.
"Na, mach schon!", zischte ihr Boss sie an.
Sie nahm ihre Handtasche und ihre Jacke und verließ
schulterzuckend den Raum.
"Ich weiß nicht, ob das die richtige Leibwächterin für Sie
ist, wenn Sie ihr gegenüber schon Geheimnisse haben müssen",
stichelte Milo.
"Das lassen Sie mal meine Sorge sein, G-man", knurrte
er.
Ich kam zur Sache. "Haben Sie vom Tod eines gewissen Alex
Ferraro gehört?"
Er zuckte die Schultern. "Möglich."
"Der Entwicklungschef von Lonbury Electronics fiel einem
Attentat zum Opfer."
"Was hat das mit der Explosion im 'Temple' zu tun?"
"Vielleicht mehr, als Sie uns glauben machen wollen..."
Ich wartete seine Reaktion ab. Er wirkte nervös, griff nach
einem der Champagnergläser, die auf dem niedrigen Glastisch standen
und trank es aus.
"Dr. Ferraro war ein häufiger Gast im 'Temple'", erklärte er
dann.
"Haben Sie deswegen so häufig mit ihm telefoniert?"
"Was heißt hier häufig? Meinen Sie, ich habe das
gezählt?"
"Jetzt sagen Sie bloß, dass es üblich ist, Tische nach
Mitternacht zu bestellen, zu einer Zeit, da der 'Temple' überhaupt
nicht mehr geöffnet war."
Seine Gesichtszüge erstarrten. "Was wollen Sie von mir?"
"Dass Sie mir sagen, worüber Sie mit Ferraro wirklich
gesprochen haben."
Eine dunkle Röte überzog sein Gesicht.
Jetzt meldete sich Milo zu Wort. "Es war keineswegs Zufall,
dass Sie zum Zeitpunkt der Explosion nicht im 'Temple'
waren..."
"Ach, ist Überleben jetzt vielleicht schon strafbar?", fauchte
er.
Milo fuhr unbeirrt fort. "Das Attentat auf Menendez und Lee
Jiang wurde mit einer Fernlernkwaffe ausgeführt, die von Lonbury
Electronics hergestellt wird. Sie sind erstaunlicherweise gerade zu
diesem Zeitpunkt nicht im Lokal und hatten außerdem einen äußerst
intensiven Telefonkontakt zum Entwicklungschef von Lonbury. Da
liegt der Zusammenhang doch auf der Hand."
Cardigan kaute auf seiner Unterlippe.
Er wirkte nervös, versuchte das aber zu überspielen.
"Ich würde vorschlagen, Sie besuchen mich wieder, wenn Sie
Beweise dafür haben, dass ich irgendeines Verbrechens schuldig
bin!"
"Und ich würde vorschlagen, dass Sie den Mund aufmachen, bevor
Sie aus dem Netz, in dem Sie sich verfangen haben nicht mehr
herauskommen!", erwiderte Milo.
Ich fügte hinzu: "Ich nehme an, dass Sie vom Anschlag vorher
wussten..."
"Beweisen Sie es!", fauchte Cardigan dazwischen.