Triptychon - Max Frisch - E-Book

Triptychon E-Book

Max Frisch

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Beschreibung

Triptychon besteht aus drei Bildern, die nicht Stationen einer dramatischen Handlung sind, sondern drei szenische Aspekte zum Thema geben. Das erste: unsere gesellschaftliche Verlegenheit beim Ableben eines Menschen. Das zweite: die Toten unter sich, ihre langsam versiegenden Gespräche am Styx, wo es die Ewigkeit des Gewesenen, aber keine Erwartung gibt. Das dritte: der Lebende in der unlösbaren Beziehung zum toten Partner, der, was immer der Lebende tue, nicht umzudenken vermag.

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Seitenzahl: 91

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Max Frisch

Triptychon

Drei szenische Bilder

Suhrkamp

Inhalt

Widmung

Das erste Bild

Das zweite Bild

Das dritte Bild

GOTTFRIED HONEGGER IN FREUNDSCHAFT GEWIDMET

Das erste Bild

PERSONEN

Die Witwe

Die Tochter

Roger

Francine

Ein junger Pastor

Trauergäste

Ein Invalider

Ein Kind, stumm

Der Verstorbene, stumm

Glockgeläute von einer Friedhofskapelle. Dann Stille und Licht: ein weißer Schaukelsessel, der leer steht. Sonst nichts. Die Bühne ist schwarz, ausgenommen eine helle Grundfläche in der Größe eines Wohnzimmers. Es kommen die Witwe, ungefähr sechzig, und der erste Trauergast.

TRAUERGAST Unser Proll!

WITWE Ja –

TRAUERGAST Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, das war Ostern vor einem Jahr. Er war so guter Dinge.

WITWE Ja –

TRAUERGAST Was haben wir gelacht.

WITWE Ja –

Sie kämpft gegen Tränen.

TRAUERGAST Sophie?!

Die Witwe faßt sich.

TRAUERGAST Er hat einen schönen Tod gehabt. Heutzutage sind es nicht viele, die zuhause sterben können, und siebzig ist ein schönes Alter, meine ich.

WITWE Ja –

TRAUERGAST Sterben müssen wir alle.

WITWE Ja –

TRAUERGAST Sie haben bei ihm gesessen die ganze Nacht, Sie haben seine Hand gehalten, Sophie, bis zuletzt.

WITWE Ja –

Die Witwe schluchzt, der Trauergast steht ratlos, es dauert eine Weile, bis die Witwe sich wieder gefaßt hat.

WITWE Wissen Sie, ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Ich sehe ihn. Wie er in seinem Sessel sitzt. Ich sehe ihn. Ich höre die ganze Zeit, was Matthis denkt.

Der Trauergast nimmt seine Pfeife.

TRAUERGAST Das kann ich verstehen.

Ein junger Pastor erscheint außerhalb der Szene; er richtet sich an die Zuschauer als Trauergemeinde.

PASTOR »Einige unter ihnen aber sagten: Hätte er, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht machen können, daß dieser da nicht sterben mußte? Da ergrimmte Jesus abermals und trat zum Grab. Es war aber ein Felsengrab und davor lag ein Stein. Jesus sprach: Hebt den Stein weg! Und Martha, die Schwester des Verstorbenen, erwiderte ihm: Herr, er stinkt schon, denn er hat vier Tage gelegen. Jesus entgegnete ihr: Habe ich dir nicht gesagt, WENN DU GLAUBST, SO WIRST DU DIE HERRLICHKEIT GOTTES SEHEN? Da nahmen sie den Stein weg, Jesus aber hob seine Augen empor und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast! Ich wußte wohl, daß du mich allezeit hörst, aber um des Volkes willen, das hier herumsteht, habe ich geredet, damit sie glauben, daß du mich gesandt hast. Nach diesen Worten rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Tüchern an Füßen und Händen und sein Angesicht verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus sagte zu ihnen: Macht ihn frei von seinen Hüllen und laßt ihn gehen!« – Amen.

Es folgt Orgelspiel, kurz und nicht laut, während der Verstorbene erscheint in seiner Alltagskleidung; er setzt sich in den weißen Schaukelsessel, ohne von der Witwe und dem Trauergast beachtet zu werden und bleibt reglos mit offenen Augen.

PASTOR »Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat unter sie und sprach: Friede sei mit Euch! Darauf sagte er zu Thomas: Siehe meine Hände und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach: Mein Herr und mein Gott! Jesus aber erwiderte ihm: Weil du mich gesehen hast, bist du gläubig geworden; SELIG SIND, DIE NICHT SEHEN UND DOCH GLAUBEN!«

Es kommen die andern Trauergäste, sie versammeln sich auf der Grundfläche des Zimmers. Eine gewisse Würde er gibt sich aus ihrem Schweigen, das auch bei Begrüßungen gewahrt bleibt. Nicht alle tragen eine korrekte Trauerkleidung: eine junge Frau trägt Hosen, als Zeichen der Trauer nur ein schwarzes Kopftuch, die einzige Person, die schon raucht; ein jüngerer Mann erscheint in schwarzem Pullover mit Rollkragen. Man wartet. Die Pause wird so lang, daß die Würde übergeht in Verlegenheit. Endlich kommt die Tochter mit einem Tablett, und der erste, der sich bedient, ist der jüngere Mann im Pullover, der auch als erster mit natürlicher Stimme spricht.

ROGER Hunger! Ich kann’s nicht leugnen, ich habe einen irren Hunger, dabei habe ich vor zwei Stunden gefrühstückt.

Er nimmt noch ein zweites Brötchen.

ROGER Danke.

Die Tochter geht weiter.

WITWE Haben Sie keine Serviette?

ROGER Ich habe noch nie an einem Grab geredet.

WITWE Ich hole Ihnen eine Serviette.

Sie geht weg

TOCHTER Zu trinken gibt es im Garten.

Die Trauergäste bedienen sich langsam.

TRAUERGAST Haben Sie Feuer?

Er bleibt im Flüsterton.

TRAUERGAST Dieser junge Mensch, der auf dem Friedhof geredet hat – in seinem Pullover – offen gestanden, ich fand es eher peinlich …

Der Pastor tritt zu Roger, der allein steht und ißt.

PASTOR Wo ist Frau Proll?

ROGER Ich weiß es nicht.

PASTOR Ich möchte mich verabschieden.

Roger wischt sich die Finger an seinem Taschentuch.

ROGER Herr Pastor, das möchten wir alle –

Eine Weile lang sind alle Trauergäste mit Essen beschäftigt, ausgenommen der junge Pastor, der sich nach der

Witwe umsieht, und Roger, der schon gegessen hat, und die junge Frau in Hosen, die abseits steht und raucht, und der Trauer gast mit der Pfeife; dann kommt die Tochter zurück und verteilt Papierservietten.

TOCHTER Zu trinken gibt es im Garten.

Langsam entfernen sich die Trauergäste, jedermann läßt jedermann den Vortritt. Es bleiben: Roger und der junge Pastor und im Hintergrund die junge Frau in Hosen, die raucht, jetzt mit einem Aschenbecher in der Hand, und im weißen Schaukelsessel sitzt der Verstorbene, er wird nicht wahrgenommen.

ROGER Haben Sie ihn persönlich gekannt?

PASTOR Nein.

Roger steckt sich auch eine Zigarette an.

ROGER Ein Leben nach dem Tod, daran hat er nicht geglaubt. Ich habe ihn gekannt, Herr Pastor, ich habe in seinem Sinn geredet.

Der junge Pastor schweigt.

ROGER Ich habe den alten Proll sehr geschätzt –

Die junge Frau kommt aus dem Hintergrund.

FRANCINE Hier ist ein Aschenbecher.

ROGER Oh vielen Dank.

FRANCINE Es ist der einzige hier.

Roger klopft die erste Asche ab.

ROGER Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?

Sie zerdrückt ihre Zigarette im Aschenbecher.

FRANCINE Ich weiß es nicht …

Roger betrachtet sie.

FRANCINE Ich weiß es nicht!

Es kommt ein verspäteter Trauergast, ein alter Herr, der an zwei Stöcken geht; er sieht sich um und wirkt verlegen.

ROGER Ich bezweifle nicht, daß es die Ewigkeit gibt. Aber was verspreche ich mir davon? Es ist die Ewigkeit des Gewesenen.

Der Invalide nähert sich.

INVALIDER Wo ist Frau Proll?

ROGER Sie wollte eine Serviette holen.

Der Invalide hinkt weg.

ROGER Ich weiß nur, daß es ein menschliches Bewußtsein ohne biologische Grundlage nicht gibt. Schon eine Gehirnerschütterung macht mich bewußtlos. Wie soll mein Bewußtsein sich erhalten nach dem materiellen Zerfall meines Hirns? – zum Beispiel wenn ich mir eine Kugel in den Kopf schieße … Ich will nur sagen: als biologisches Faktum ist der Tod etwas Triviales, eine Bestätigung der Gesetze, denen alle Natur unterworfen ist. Der Tod als Mystifikation, das ist das andere. Ich sage ja nicht, daß sie inhaltslos sei. Aber eine Mystifikation. Auch wenn die Vorstellung eines ewigen Lebens der Person haltbar ist, die Mystifikation besteht darin, daß der Tod letztlich die Wahrheit über unser Leben ist: Wir leben endgültig.

FRANCINE Und was heißt das?

ROGER Es gilt, was wir leben. Ich meine: die einzelnen Ereignisse unsres Lebens, jedes an seinem Platz in der Zeit, verändern sich nicht. Das ist ihre Ewigkeit.

Der junge Pastor schweigt.

FRANCINE Haben Sie schon einmal einen Menschen verloren, den Sie geliebt haben wie keinen andern?

ROGER Warum fragen Sie mich das?

FRANCINE Sie denken so vernünftig.

Die Witwe kommt mit einer Serviette.

PASTOR Frau Proll, ich muß mich verabschieden.

Der junge Pastor reicht ihr die Hand.

PASTOR Die Wahrheit ist die Wahrheit, auch wenn Ihr verstorbener Gatte sie nicht erkannt haben mag. Er wird sie erkennen, Frau Proll, das ist meine Gewißheit.

WITWE Ich danke Ihnen, Herr Pastor.

PASTOR Es wird kommen ein Licht, anders als wir es je gesehen, und eine Geburt ohne Fleisch; anders als nach unsrer ersten Geburt werden wir sein, weil wir gewesen sind, und ohne Schmerzen und ohne Todesfurcht werden wir sein, geboren in Ewigkeit.

Die Witwe begleitet den jungen Pastor hinaus.

ROGER Ich wollte niemand verletzen.

Stimmen im Garten.

FRANCINE Im Garten gibt es zu trinken.

Roger und Francine begeben sich in den Garten, es bleibt der alte Proll im weißen Schaukelsessel, die Stimmen im Garten werden nicht laut, aber unbefangen; dann kommt die Witwe zurück.

WITWE Matthis, ich weiß! – du hast keinen Pastor haben wollen. Wie oft habe ich das gehört! Es war nicht anders zu machen.

Im Garten lacht eine Gruppe.

WITWE Jetzt sind alle im Garten.

Stille im Garten.

WITWE Du hast einen schönen Tag gehabt, Matthis. Das sagen alle. Heutzutage gibt es nicht viele, die zuhause sterben können. Denk an deine arme Schwester! Und siebzig ist ein biblisches Alter … Matthis, willst du, daß ich dich fürchte? – ich habe dich nicht wie einen Trottel behandelt. Wie hast du so etwas sagen können! Der Arzt hat es auch gehört, und dann hast du es auch dem Arzt noch gesagt: Meine Frau behandelt mich wie den letzten Trottel! … Ach Matthis! … Wo starrst du hin? … Wenn ich sage: Es war nicht anders zu machen. Du glaubst mir nicht! Ich habe dem jungen Pastor gesagt, du bist aus der Kirche ausgetreten – natürlich habe ich das gesagt! …Warum siehst du mich nicht an? Matthis, du bist fürchterlich.

Pause.

WITWE Ach Matthis, mein Matthis!

Pause.

WITWE Heute ist es schon eine Woche, seit du zum letzten Mal deine Angelrute genommen hast. Genau eine Woche. Und überall stehen noch Schuhe von dir, dann denke ich immer: wenn es anfängt zu regnen, kommst du nachhaus … Du weißt nicht, wie das für eine Witwe ist. Offen gestanden, ich war froh um das Glockengeläute, alle waren froh darum.

Der Trauergast aus der Toilette geht zurück.

WITWE Von deinen alten Spanienkämpfern ist nicht Einer gekommen. Vielleicht leben die nicht mehr – und was soll ich reden mit den Leuten! Du hast immer geredet …

Stimmen im Garten.

WITWE Der junge Pastor hat auch Ganzrichtiges gesagt: So soll der Tod uns eine Mahnung sein, daß wir einander in Liebe begegnen jeden Tag! – und dann sitze ich neben dir, Matthis, die ganze Nacht, und plötzlich sagst du, jetzt möchtest du allein sein. So hast du gesagt! Und am andern Morgen, als ich dir den Tee bringe, bist du tot – immer ist es nach deinem Kopf gegangen.

Stille.

WITWE Du hast keine Angst vor dem Tod. Wie oft hast du das gesagt! Immer hast du nur an dich gedacht –

Im Garten zerklirrt ein Glas.

WITWE