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Große Ferien reloaded: Eine Zugreise zu den Ferienorten unserer Kindheit Kurz vor seinem 40. Geburtstag hat Nilz Bokelberg kalte Füße bekommen: Hab ich genug erlebt? Gibt es Dinge, die man getan haben muss, bevor man 40 wird? Was läge da näher, als ein Interrail-Ticket zu kaufen und mit dem Zug durch Europa zu tingeln? Und da man mit 39½ auch ein bisschen melancholisch wird, beschließt Nilz Bokelberg, die Ferienorte seiner Kindheit zu besuchen, und das: im November. Tristesse royale, für die er aber schon immer eine besondere Faszination hatte. Orte, an denen sich das Leben fast das ganze Jahr überschlägt, liegen im November müde und still da. Genau die richtige Atmosphäre, um über das Leben, das Reisen und alles, was sonst so wichtig ist, zu sinnieren. Und um dieses Sinnieren auf eine höhere Ebene zu katapultieren, lässt Nilz das Handy und das iPad gleich zu Hause und zieht mit Faltplan und Analogkamera durch Europa. Kommen Sie mal mit auf diese etwas andere Reise und machen Sie mit Nilz Bokelberg Ferien im 80´s Train!
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Seitenzahl: 336
Nilz Bokelberg
Tristesse Renesse
Ferienorte unserer Kindheit revisited
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Die Lyrics, die diesem Buch als Motto voranstehen, wurden mit freundlicher Genehmigung der Band Locas in Love zur Verfügung gestellt.
Für meine Eltern.
Und alle unsere Familienautos.
Auf die Tage, die nicht mehr wiederkommen,
auf die Kleider, die nicht mehr passen.
Auf jedes weitere Mal, das wir scheitern
einfach nur, weil wir unsere Grenzen haben.
Aber immerhin immer weiter versuchen,
sie zu überschreiten.
Irgendwann werde ich
ein Loblied auf all das schreiben.
Irgendwann – oder jetzt gleich.
Locas in Love, Ich werde ein Lied für alle schreiben
Der Mensch kann ja irrsinnig gut vergessen. Nun sitze ich hier, ein halbes Jahr nach meiner Reise und überlege, was sie mir genau gebracht hat. Und fühle erst mal ganz lange nichts. Gar nichts. Ein bisschen wie damals auf der B-Seite der Single »Codo … düse im Sauseschritt« von DÖF. Da haben zwei Österreicher, Herr Tauchen und Herr Prokopetz, eine ganze Plattenseite lang erklärt, dass da jetzt nichts kommt. Da sei einfach nichts drauf, auf der B-Seite. Man solle die Platte doch bitte umdrehen, denn da sei die Musik zu finden.
So ist meine Gefühlswelt gerade. Da, auf der anderen Seite, da sind die Gefühle. Da wo die Reise war. Da wo ich mit dem Zug durch Europa gefahren bin. Da war die gute Zeit. Der große Spaß. Die riesige Aufregung. Hier ist nur die schnöde Erinnerung. Das Nachfühlen. Ich sollte dringend wieder zurück, sollte die Reise fortsetzen. Wieder im Zug sitzen, stundenlang. Irgendwo aussteigen. Tief einatmen. Und woanders sein. Woanders als hier, an meinem Schreibtisch.
»Codo« erschien 1983, da war ich sieben. Das Lied habe ich ein paarmal gehört, fand es aber nicht so toll. Es war mir, um ehrlich zu sein, ein klein wenig unheimlich. »Ich bin der Hass«, das ist doch nicht schön, wenn jemand so etwas singt. Die zweite Seite, die hatte es mir angetan. Zwei Männer verzweifeln daran, dass ich ihnen die ganze Zeit zuhören will, dass ich hören will, wie sie mich davon abbringen wollen, ihnen zuzuhören. Das fand ich genauso lustig wie spannend. Und ich habe dabei stets ein bisschen gehofft, dass sich ihr Text mal ein kleines bisschen ändern würde. Weil die Verzweiflung eben so groß war.
Ich war auf meiner Reise auch manchmal verzweifelt. Es gab Momente, in denen ich aufgeben wollte. Auch, weil es sich schräg anfühlt, eine Reise zu machen, die einen Versuchsaufbau hat. Ist das nicht das Gegenteil von reisen? Ist das nicht Stress pur? Ich war mir unsicher, was ich eigentlich zu finden erhoffte.
Wenn man 10 wird, ist die Einstelligkeit vorbei, wenn man 20 wird, ist die Jugend vorbei, wenn man 30 wird, ist langsam der reine Spaß vorbei – was passiert, wenn man 40 wird? Und warum treibt mich das eigentlich so um? 40 ist doch nur eine Zahl, oder?
Als Kind empfand ich Vierzigjährige als ziemlich alt. Die, die ich kannte, waren schon Leute, die wussten, was das Leben bringt und bedeutet. Gleichzeitig war das für mich so weit weg, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, überhaupt selber mal so alt zu sein. Also nicht, weil ich nicht mehr leben würde, sondern weil es Lichtjahre von mir entfernt war, irgendwo in den 2000er-Jahren, die ja sowieso wie eine ferne Zukunft schienen.
Ich erinnere mich noch genau daran, erinnere mich an meine Gedanken, aber ehrlich gesagt fühle ich sie nicht mehr. Wahrscheinlich ist das völlig normal, dass man diese Verbindung zum eigenen Kinder-Ich verliert. Vielleicht kann man das aber auch irgendwie aufhalten. Und wann, wenn nicht kurz vor der runden Zahl, die einen Menschen früher als »alt« markiert hat, ist der richtige Zeitpunkt, es auszuprobieren?
Das war mein Motor, das war meine Mission. Und mit den Gedanken bin ich damals in den Zug gestiegen. Um zu überprüfen, ob ich noch das Kind bin, das ich einmal war. Und ich möchte meine Kindheit nicht loslassen, ich will ihr nachspüren.
Aber ich bin kein notorischer Nostalgiker, ich finde das doch schlimm, an jeder Ecke dazu aufgefordert zu werden, meine Kindheit zu verklären. Sätze wie »Na, wir sind damals wenigstens noch auf Bäume geklettert!« finde ich ätzend. Ich bin nie auf Bäume geklettert, nur wenn sie ganz niedrig waren. Ich war doch schon damals nicht verrückt. Ich war ein Kind, das gerne ferngesehen hat.
Hätte ich früher gewusst, dass ich meinen Erinnerungen mal hinterherjagen würde, ich hätte mir wohl einen Vogel gezeigt und erwidert, dass ich es viel interessanter fände, mir neue Geschichten auszudenken. Mit Detektiven. Und Superhelden. Und Masters of the Universe.
Nun, ein bisschen so ist es ja gekommen. Die neuen Geschichten haben etwas mit den alten zu tun, sie bauen aufeinander auf.
Und das, was ich erlebt habe, war spannend, lehrreich, ich habe etwas gefühlt.
»Da kommt nix. Rein gar nix!«, hat der Mann verzweifelt auf der Platte gesagt. Und damit das unterhaltsamste, charmanteste und spannendste »Nix« erschaffen, das man sich vorstellen kann.
Und vielleicht hab ich dieses »Nix« auch gefunden.
Berlin, im Mai 2016
Es gibt Dinge, die muss man vor einer Reise noch erledigen. Bei mir heißt es heute: Ab zum Zahnarzt! Und ich gehe nicht nur freiwillig dorthin, die Praxis befindet sich auch noch in Düsseldorf. Für mich als Kölner die Höchststrafe. Aber ich wollte diesen Besuch vor meiner Abfahrt hinter mich bringen, vor der Abfahrt auf meine Reise, mein großes Abenteuer: Drei Wochen quer durch Europa mit dem Zug, Interrail. Durch ein günstiges Angebot sogar erster Klasse. Und da ich keinen Führerschein habe, kommt mir das total gelegen. Außerdem liebe ich Zugreisen. Die Landschaft an sich vorbeiziehen sehen, die Gedanken loslassen und immer rumlaufen können – genial. Seitdem ich den Plan gefasst habe, diese Reise zu machen, habe ich mir bestimmt 15 verschiedene Strecken überlegt. Ich habe einen Reiseführer besorgt, der sämtliche europäischen Zugverbindungen beinhaltet. Die Vorbereitung fand also nicht mit dem Finger auf der Landkarte, sondern mit den Fingern zwischen den telefonbuchpapierartigen Seiten des »European Rail Timetable« statt. Wenn einem plötzlich ganz Europa zu Füßen liegt, dann will man auch so viel wie möglich davon besuchen. Und so waren meine ersten Reisepläne davon beseelt, so viel Strecke wie möglich zu machen. So viele Länder wie möglich zu sehen. Holland, Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal, Spanien, Italien, Kroatien, Albanien, Griechenland. Dann die Erkenntnis, dass das vielleicht ein bisschen viel sein könnte. Also Albanien und Kroatien raus und direkt nach Griechenland. Dann die Erkenntnis, dass ich in Griechenland noch nie war und nicht weiß, was ich da soll, außer ein bisschen Elendstourismus. Außerdem, und das fällt mir tatsächlich erst Tage später ein, muss ich ja auch noch zurück nach Berlin. Das wären von Lesbos mit dem Zug und der Fähre ja auch noch mal zwei, drei Tage Rückreise. Also gut: Griechenland ist raus.
Was will ich eigentlich in Portugal? Also, jetzt mal so ganz ehrlich? Das ist schön und alles, aber was soll ich da machen? Ich war einmal in Lissabon, Ende der Neunziger, mit der Sendung, die ich damals für das DSF moderiert habe, und es hat mir auch gut gefallen. Aber wenn ich mir jetzt vorstelle, dorthin zu fahren, dann sehe ich mich da sinnlos rumstehen und überlegen, was ich jetzt machen soll. Und damit … hui … flog Portugal auch von der Route.
Spanien, Barcelona. Da war ich zuletzt mit 18. War eine lustige Nacht im Rahmen einer Kreuzfahrt, die ich mitgemacht habe. Die bislang einzige Kreuzfahrt in meinem Leben. »Rave & Cruise«. Und ja, genauso wie sich das anhört, war es auch. Ein Kreuzfahrtschiff, pickepacke vollgestopft mit Ravern, DJs und Freunden aus ganz Deutschland. Als die Fahrt vorbei war, sind die Zollspürhunde in Genua schier ausgerastet.
Nun habe ich mir für diese Reise noch ein paar zusätzliche Bedingungen auferlegt: keine Handynutzung (das Telefon steckt unten im Koffer, für Notfälle), Fotos nur mit einer Analogkamera. Ich habe mich für ein Modell aus der »La Sardegna«-Reihe entschieden, weil es cool aussah und aus diesem Lomo-Dunstkreis kommt und ich hatte mal eine Lomo, damals, in den Neunzigern, und ich mochte die Bilder, diese Patina, das Olle daran. Perfekt für meine Reise. Ich habe mich bewusst für den November entschieden, denn ich wollte auf jeden Fall trostlose Orte besuchen. Keine Ahnung, woher ich diese Vorliebe habe, aber ich finde Plätze toll, an denen sonst das Leben tobt. Total morbide, ich weiß, aber das ist es nicht. Ich mag es, wenn die Menschheit scheitert. Nicht aus Schadenfreude, sondern aus Bewunderung. Der Versuch, Hoffnungen zu realisieren ist umso ergreifender, wenn er gescheitert ist. (Ich hoffe, dass man in hundert Jahren mein Porträt mit diesem Satz daneben teilen wird.)
Aber als ich so über Barcelona nachdenke, merke ich, wie unausgereift meine Idee ist. Ich meine, einfach wahllos an trostlose Orte fahren, dafür muss ich keine Europareise machen, dafür reichen auch drei Wochen im Industriegebiet von Marzahn. Es muss ein Plan her. Am besten einer, der mir die Route schon automatisch vorgibt. Und ich muss mich zwingen, länger an den einzelnen Orten zu bleiben. Es hat einfach keinen Sinn, wochenlang im Zug zu sitzen, nur weil man es kann.
Als ich im Vorfeld meiner Reise wahllos herumgegoogelt habe und Berichte anderer Interrail-Reisender las, stieß ich öfter auf die Erwähnung zweier verschiedener Typen dieser Reiseart: Der Kilometer-Sammler befindet sich eigentlich nur auf der Schiene. Er versucht, das Streckennetz der europäischen Bahnen zu bezwingen und auf so vielen Strecken so weit wie möglich zu fahren, innerhalb der Gültigkeit seines Passes. Da wird dann sogar im Zug geschlafen. Nun gut, wie gesagt, ich mag Zugreisen – aber so hab ich mir das nicht unbedingt vorgestellt. Der andere Typ scheint der Spontanreisende zu sein, der aussteigt, wo er will und täglich entscheidet, wann und wie es weitergeht. Das entspricht mir schon viel eher.
Interessant ist es, wenn man Freunden und Bekannten erzählt, dass man eine Interrail-Reise macht, denn zu exakt hundert Prozent lautet die erste Reaktion: »Was, das gibt’s noch?« So als würde wie selbstverständlich alles aus unserer Jugend gelöscht, wenn wir selbst nicht mehr jugendlich sind. »Ach, echt? Junge Menschen feiern noch Partys?«; »Wie bitte? Ihre Kinder sehen fern?«; »Was? Jugendliche küssen sich noch? Ist das nicht ausgestorben?«. Es ist ein seltsamer Älterwerden-Reflex.
Andere typische Reaktionen waren:
Ja, warum denn nicht? Ich reise tatsächlich sehr gerne alleine. Und eigentlich sogar ohne die typische, polyglotte »Ich lerne so gerne überall Menschen kennen«-Einstellung, sondern weil ich einfach gerne mit mir und meinen Gedanken alleine bin. Stichwort Seele baumeln lassen. Ganz so schlimm ist es vielleicht nicht, aber ich mag es, nur mir verpflichtet zu sein, wenn ich neues Terrain betrete.
Für mich ist das wirklich die beste Art des Reisens.
Ja, im November. Ich will alles so echt wie möglich und so wenig für Touristen rausgeputzt wie möglich. Da bleiben einem eigentlich nur November und Januar. Ansonsten sind ja immer irgendwo auf der Welt Ferien oder größere Feierlichkeiten.
Das ständige Nachfragen, das ständige Wiedererzählen und Drüber-Nachdenken haben dann zum finalen Plan geführt: Hallo Kindheit, da bin ich wieder! Ich würde einfach in die Ferienorte meiner Kindheit fahren. Meine Eltern sind supergerne gereist. Als meine drei älteren Geschwister aus dem Gröbsten raus waren und nicht mehr mitkamen, sind sie sogar noch lieber durch die Welt getingelt als zuvor. Ab da haben sie beschlossen, den Kontinent zu erobern. Und das immer mit mir im Schlepptau. Mal mit mehr, mal mit weniger Begeisterung – meine Euphoriekurve sank umgekehrt proportional zu meinen Pubertätsstadien. Aber ich habe alles Mögliche gesehen. Und auch, wenn ich das damals nicht gecheckt habe und kurz danach niemals zugegeben hätte: Es ist schon ganz arg toll, so viel Verschiedenes von der Welt gesehen zu haben.
Nun also diese Reise. Viel Italien (meine Eltern lieben dieses Land mehr als alle anderen), Holland, Frankreich. Vielleicht Österreich. Und heute sollte es endlich losgehen.
Aber bislang sitze ich mit zwei dicken, blutigen Wattetampons im Mund im Zahnarztstuhl und warte auf meinen alten Schulfreund Adjmal, meinen Zahnarzt. Auf dass er mich losschickt und mir endlich erlaubt, Europa zu erobern. Da kommt er schon. Und fragt ganz fachmännisch, wie es mir geht.
»Gooot«, sage ich, so gut man eben mit vollem Mund sprechen kann. Und ich meine das wirklich so. Vielleicht ist es die Aufregung, vielleicht war das auch nicht der schlimmste Eingriff ever, aber ich spüre eine geradezu magnetische Reiselust. Was ich selbst gerade komisch finde, weil ich eigentlich eher reise, weil man mich zwingt, nicht weil ich unbedingt will. Aber hierzu zwinge ich mich eben selbst. Man muss sich ja jeden Tag aufs Neue selbst austricksen.
Mein Handy vibriert. Mein Kumpel Danyael aus Amsterdam schreibt mir seine Adresse. Mit ihm hab ich mich ganz klassisch verabredet. Am nächsten Abend. Dafür brauch ich dann nämlich das Handy auch nicht mehr (Remember: Handy nur für Notfälle). Die Adresse werde ich mir nachher im Zug noch rausschreiben und dann in Amsterdam ganz klassisch auf dem Stadtplan suchen. Verdammt, ich bin so was von bereit!
Adjmal hält mir eine Nierenschale vors Gesicht: »Spuck die Dinger hier rein. Ich hab jetzt auch Feierabend, komm, ich fahr dich noch eben zum Bahnhof.« Also, besseren Rundum-Service kann man ja wohl nicht kriegen. Bester Zahnarzt ever. Auf der Fahrt zum Bahnhof telefoniert Adjmal mit einer seiner Mitarbeiterinnen. Krass, denk ich mir, der hat jetzt Angestellte und so was. Dabei ist der im Herzen immer noch der Freak, mit dem ich mir damals die Nächte um die Ohren geschlagen habe, in denen wir dann Filme wie »Phantom Kommando« auf Video geguckt haben und uns megawitzig fanden, weil wir mit 14 Jahren gerade das Konzept »Ironie« für uns entdeckt hatten und dann lange Zeit nicht genug davon bekommen konnten. Ich spüre einen guten Moment lang nichts weiter als aufrichtige Bewunderung für das, was er geschafft hat. Klar, mein Lebensweg hat niemals vorgesehen in einer Position zu landen, in der ich Mitarbeiter habe, die von mir abhängig sind, und das ist auch ein Luxus, den ich zu genießen weiß. Aber beeindruckend ist es schon und ich wäre für so was vermutlich einfach nicht der Typ. Eventuell ist das aber auch nur eine Schutzbehauptung meines Hirns, sonst müsste ich hier im Auto sofort losheulen. Super – ich hab noch nicht einen Fuß in einen Zug gesetzt und bin schon beim Thema Selbstzweifel angekommen. Das kann ja heiter werden.
Ein Interrail-Ticket funktioniert so: Man darf in ganz Europa Bahn fahren, manchmal muss man reservieren und vielleicht für die Reservierung ein paar Euro extra zahlen. Nur im eigenen Land, da gilt das Ticket nicht. Ich habe also jetzt zwei Möglichkeiten: bis kurz hinter die holländische Grenze fahren und dort eine neue Reservierung für mein Interrail-Ticket im ICE nach Amsterdam machen oder für den Startschuss in den sauren Apfel beißen und ein Ticket direkt nach Amsterdam buchen und bezahlen. Und damit es endlich losgeht und ich Stress vermeide, entscheide ich mich für die zweite Variante.
Der Zug rollt in den Bahnhof ein. Businessleute strömen raus, ein paar vereinzelte Gestalten steigen ein. Jetzt geht es los! Europa, ich komme! Ich ziehe bestens gelaunt meinen Koffer quer durch das Abteil und summe fröhlich »Birdland« von Weather Report vor mich hin, keine Ahnung, warum mir das ausgerechnet jetzt im Kopf herumspukt. Vielleicht weil es so fröhlich ist? So was von Aufbruch hat? Ist das etwa Aufbruchs-Jazz?
Und dann das: Eine Frau sitzt auf meinem Platz. Sie wirkt leicht genervt. Vielleicht hatte sie einen wirklich schweren Tag und fährt jetzt nach Hause, kann aber nicht so richtig loslassen. Der Zug ist zu voll, als dass ich mich blind auf irgendeinen Platz setzen würde, denn der könnte ja auch reserviert sein und dann müsste ich mich an der nächsten Station megakompliziert umsetzen, in der Hoffnung, dass noch irgendwas frei ist. Worauf ich wirklich gar keinen Bock habe. Ich stehe schon relativ lange vor ihr und spiele diverse Szenarien in meinem Kopf durch, aber sie sieht mich nicht. Naja, sie sieht mich vermutlich ziemlich gut. Ich war schon mal schlanker, aber grundsätzlich bin ich ja nicht so der Typ, den man leicht übersieht. Aber das ist natürlich eine der schönsten menschlichen Verhaltensweisen: »Wenn ich so tue, als würde ich etwas nicht bemerken, besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass es nicht existiert.«
Es tut mir leid, aber ich existiere tatsächlich. Ich räuspere mich und merke in der freundlichstmöglichen Stimme mit einem Lächeln auf den Lippen an, dass sie auf meinem Platz sitzt. Sie wirft die Lockenmähne zurück und mit einem genervten »Dah!« räumt sie meinen Platz und setzt sich auf den daneben. Ich trage einen nicht gerade zierlichen Rucksack, aber sie macht keine Anstalten, mal kurz aufzustehen, um den Hinsetzprozess für uns beide zu vereinfachen. Ich darf mich an ihr vorbeidrängen. Was ich auch tue. Und was mir rein gar nichts ausmacht. Der Zug fährt los. Ich gucke aus dem Fenster. Düsseldorf verschwindet. Da es schon dunkel ist, sehe ich fast nix. Aber ich bilde mir ein zu bemerken, wie sich die Landschaft verändert. Alles wird langsam undeutscher. Die Frau neben mir macht noch ein paar genervte Laute, während sie auf ihr Handy starrt. Anscheinend trifft mich wirklich keine Schuld. Vielleicht hat ihr Freund gerade Schluss gemacht oder er versucht es gerade. Oder sie stört mein Wurstcroissant, das ich gerade esse. Tut mir leid. Ich kann es nicht ändern. Und ich will es auch nicht, denn: Ich fahre gerade in mein Abenteuer.
Auch bescheuert, wie man sich verkrampft, wenn man merkt, dass die Person, die neben einem sitzt, irgendwie nicht neben einem sitzen will. Aber nach einiger Zeit rollt der Zug tatsächlich in den abendlich dunklen Hauptbahnhof von Amsterdam ein und ich möchte mir keine Gedanken mehr über meine Sitznachbarin machen. Ich greife mir meinen Koffer und steige aus. Zwei Mädchen lächeln mich an. Na gut, sie lächeln jeden an, der aussteigt, und als ich ihre orange leuchtenden Warnwesten sehe, auf denen »Refugees Welcome« steht, weiß ich auch, warum. Ich freue mich aber trotzdem. Ich bin gut drauf. Hier startet meine Reise so richtig und es ist doch schön, von Fremden angelächelt zu werden. Außerdem: Angenommen, ich WÄRE ein Flüchtling, was ich mir natürlich nicht wirklich vorstellen kann, aber nehmen wir mal an, ich könnte es und ich wäre es: Dann wäre ich vermutlich froh, so nett empfangen zu werden. Ich freue mich also, nicht für Menschen, die fliehen müssen, aber darüber, wie sie hier empfangen werden. Während ich noch auf dem Gedanken rumkaue, gehe ich in die Unterführung. Von meiner Recherche weiß ich, dass es einen Bus gibt, der direkt zu meinem Hotel fährt. Den muss ich finden. Und da ich das Begriffspaar »Bus Station« ausgeschildert sehe, scheine ich meinem Ziel doch ziemlich nah zu sein.
An der Rückseite des Amsterdamer Bahnhofs fahre ich mit der Rolltreppe hoch und lande direkt an einem Busbahnhof mit mehreren Abfahrstationen. Den Rucksack auf dem Rücken, den Rollkoffer immer in den eigenen Hacken, studiere ich die diversen Abfahrtspläne. Verzweifelt suche ich nach der Nummer meines Busses und summe dabei Destiny’s Childs »Get on the Bus«, ein Song, mit dem ich meine Begeisterung für die Produktionen von Timbaland entdeckte, welche ihr jähes Ende im zweiten, unfassbar langweiligen Album von Justin Timberlake fand.
Ich finde Busse, die einen ähnlichen Streckenverlauf haben wie meiner, aber keiner von denen landet vor meinem Hotel. Mein Plan ist folgender: Ich gehe mal zur Vorderseite des Bahnhofs. Vielleicht fahren dort noch andere Busse.
Also, mit dem ganzen Kladderadätsch einmal quer durch den Bahnhof. In der Bahnhofshalle höre ich Musik. Da scheint eine Band zu spielen, vielleicht Straßenmusiker. Ich höre langsam auch das Publikum. Mal jubelnd, immer klatschend. Die scheinen echt gut Stimmung dort zu machen. Als ich in der Vorhalle angekommen bin, sehe ich ein Klavier, das anscheinend seinen festen Platz in der Vorhalle hat und an dem jeder spielen darf, der sich dazu berufen fühlt. Davor steht eine Frau und singt und drum herum stehen zufällige Passanten. Alle sind ganz mitgerissen von der singenden Frau, die den Eindruck macht, es ginge bei ihrer Performance um ihr Leben. Das feuert wiederum den Klavierspieler an, der sich kaum auf dem Schemel halten kann vor Euphorie. Die Akustik der Halle tut ihr Übriges. Das hier scheint ein spontanes Konzert zu sein, dem sich niemand entziehen mag. Außer mir. Also, ich muss. Schweren Herzens. Denn ich will endlich in mein Hotel, mein Gepäck loswerden und vielleicht noch etwas essen.
Als ich aus dem Bahnhof komme, werde ich erst einmal erschlagen von den Möglichkeiten: Es ist Donnerstagabend in einer Touristenhochburg. Überall strömen feierwütige Menschen herum. Schulklassen. Amerikanische Touristen. Ich bewege mich Richtung Hauptstraße und tatsächlich: Ich entdecke einen weiteren Busbahnhof. Fröhlich laufe ich darauf zu. Und die Zufälle nehmen kein Ende: Der Bus, den ich suche, steht gerade angeschrieben auf der Digitalanzeige. Aber es kommt noch besser (wobei »besser« hier eher ein Euphemismus ist): Der Bus rollt gerade an. Ich laufe aber entgegen der Richtung des Bussteigs, getrennt durch ein Geländer. Ich muss die ganze Länge der Haltestelle hochrennen und dann noch einmal zurück, um den Bus zu erreichen, da ich den Koffer auf keinen Fall über das Geländer gehievt bekomme. Der Bus hält, eine Traube von Menschen versammelt sich um die vordere Tür und ich sprinte, voll beladen, um mitfahren zu können.
Ich steige als Letzter ein, aber ich steige ein. Da der Bus ziemlich voll ist, muss ich mit meinem Koffer im Gelenkschlauch stehen, dem ziehharmonikaähnlichen Übergang, der die beiden Busteile miteinander verbindet und der sich in jeder Kurve dreht. Superätzend mit dickem Gepäck. Aber heute ist einer der seltenen Tage, an denen mir das total latte ist. Ich fahre mit dem Bus durch Amsterdam – besser kann man doch gar nirgendwo ankommen. Ich bin happy. Was mag noch alles passieren in den nächsten Wochen? Die Welt … o.k., Europa, liegt mir zu Füßen. Das wird gut, richtig gut!
Der Bus fährt wirklich, wirklich lange. Wir gondeln durch die ganze Stadt, bis ins Randgebiet. Man bemerkt auch langsam, wie viel ungeiler die Gegend wird. Mehr Hochhäuser, mehr Lidls, weniger Restaurants. Ach was, denk ich mir, dämliche Vorurteile. Und dann muss, kann und darf ich endlich aussteigen.
Der Bus fährt vor meiner Nase davon, fast, als hätte er es plötzlich eilig. Ich blicke auf eine Kreuzung. Quer vor mir eine breite Straße, in der Mitte Straßenbahngleise und eine Busspur. Links ein Kaufhaus. Rechts ein Haus, das schwer nach sozialem Wohnungsbau aussieht. Wie ein großer dunkler, dicker Balken liegt der Komplex mit den vielen Fenstern auf einem Unterbau, in dem unter anderem ein Restaurant untergebracht ist. Beim näheren Hinsehen entdecke ich, dass es sich um ein Febo-Restaurant handelt – ein Automatenrestaurant!
Zur Erklärung: Wenn ich in Holland bin, dann muss ich unbedingt in ein Automatenrestaurant. Ich liebe diese Art superpraktischer Ernährung. Eigentlich handelt es sich auch nicht um Automaten, sondern um eine besonders effiziente Form des Fast Foods: In der Küche werden die verschiedenen frittierten Snacks zubereitet und dann in Kästen gegeben, die sie warm halten. Der Kunde wirft von außen den Betrag für den Snack ein, öffnet das Fensterchen und nimmt sich die herrliche Speise heraus. Da gibt es frittierten Käse, frittiertes Ragout, frittiertes Huhn in Erdnusssauce und alles, was man sonst noch so frittieren kann. Es ist der Ungesundes-Essen-Himmel.
Das Automatenrestaurant, das ich da gerade entdeckt habe, löscht in dem Moment, als ich es als solches erkenne, das Licht. Das geht ja gut los hier. Die erste Sache, über die ich mich auf dieser Reise wirklich freue, macht vor meinen Augen dicht. Alles klar, Karma. Challenge accepted.
Ich überquere die Straße und laufe um das Automatenrestaurant herum. An dieser Stelle sollte irgendwo mein Hotel sein. Zumindest laut Plan. Auf der Rückseite des Restaurants ist eine ganz normale Wohnstraße, mit Treppenaufgängen, die man auf keinen Fall benutzen möchte. Ich gehe wieder zur hellen Straße und dem dunklen Restauranteingang zurück. Ich bin mir sicher, dass das Hotel hier irgendwo sein muss. Und urplötzlich verwandelt sich ein vages Bauchgefühl in die harte Keule der Realität: Der unwirtliche Wohnbalken, der auf dem Restaurant liegt, ist: das Hotel.
Die Eingangshalle ist sehr großzügig, aber auf eine denkbar seltsame Art. Ich weiß gar nicht, woher die Seltsamkeit kommt, aber es gibt ganz viel Platz, zwei große Automaten für die Verpflegung der Gäste, die Softdrinks, Bier, Schokoriegel und so weiter anbieten, aber natürlich auch Kondome, Rauchutensilien, Ladekabel und Adapterstecker. Man scheint hier für alles gewappnet zu sein. Eine schwere Treppe führt in den ersten Stock und anscheinend hat die jemand im Supersonderangebot erstanden, vielleicht bei eBay, denn: Auf dem ersten Plateau hat sie eine Abzweigung und führt sowohl geradeaus als auch nach rechts oben. Man kann sich entscheiden. Also, theoretisch. Denn während der Weg nach rechts oben einen wirklich in die nächste Etage führt, endet die Treppe geradeaus nach zwei Stufen an der Wand. Diese Treppe führt ins Nichts und mit ziemlicher Sicherheit hat sie schon immer in dieses Nichts geführt. Das kann man natürlich auch philosophisch begreifen, aber wenn man den wegen Bauarbeiten gesperrten Frühstücksraum im Erdgeschoss gesehen hat, der sicher mal umgebaut werden sollte, jetzt aber brach halb fertig daliegt, bezweifelt man doch stark die Mahnmal-Intention der Treppe ohne Ziel. Wahrscheinlich weiß am Ende niemand mehr, warum sie hier ist. So ein bisschen Lynch-Style. Es hat halt nie jemand gefragt, also war das auch nie ein Problem. Aber wage es bloß nicht, nach ihr zu fragen. Dann öffnet sich dort bestimmt ein Portal in eine andere Dimension. Andererseits: Da scheine ich schon längst gelandet zu sein.
Überall laufen junge Menschen rum. Im Fahrstuhl, in der Vorhalle, auf der Treppe – einfach überall. Und wer kann es ihnen verdenken: Dieses Hotel ist nahezu unschlagbar günstig. Ich hab es auch nach dem Preis ausgewählt. Mir ist nur eines wichtig: Eigenes Zimmer, eigenes Bad. Das sind meine Bedingungen. Ansonsten kann es auch gerne günstig sein. Dann erst kümmere ich mich um die Lage. Gut, die hab ich diesmal wirklich schmerzhaft vernachlässigt. So viel steht fest. Ganz so weit weg vom Schuss möchte ich eigentlich nicht wohnen. Aber hier scheint es okay zu sein. Ich bin wohl auch ganz gut … ähm … angebunden über Busse und die Straßenbahn. Der Check-in geht schnell und das Personal ist superfreundlich. Ich bekomme noch einen Stadtplan in die Hand gedrückt, auf dem mir typischerweise mit Kugelschreiber meine jetzige Position eingekreist wird (ab vom Schuss, wer hätte es gedacht?). Dann nehme ich mein Zeug, besteige den Fahrstuhl und fahre in den ersten Stock – zu meinem Zimmer.
Im etwas engen und klapprigen Lift dann die nächste Überraschung: Es gibt nur den ersten Stock. Gut, denk ich mir, dann ist das ein kleiner, gemütlich geführter Laden. Warum man dann so eine üppige Empfangshalle braucht, weiß ich nicht, aber kann ja jeder machen, wie er will. Man hat hier ja auch kein Problem mit Treppen ins Nichts. Da bin ich eigentlich schon etwas enttäuscht, dass der Fahrstuhl keine Knöpfe für fünfhundert Etagen oder gar die Etage 14¼ hat. Sehr inkonsequent.
Ich steige aus. Eine Gruppe von Leuten sitzt in einer Art Vorlobby auf abgewetzten Sesseln um einen kleinen Couchtisch herum, spielt Karten und spricht in einer mir komplett unbekannten Sprache, die ich als irgendetwas Slawisches einzuordnen geneigt bin. Als sie mich bemerken, verstummen sie blitzartig. Solche Situationen finde ich ja immer seltsam: Wenn Gruppen verstummen, weil ein einziger Mensch an ihnen vorbeigeht. Ich meine, sie sind in der Überzahl, sie sind stärker, sie sind überlegen – dennoch geben sie einem das Gefühl, man würde irgendeine Art von Gefahr darstellen. Was ja wiederum dazu führt, dass man selbst ganz dumm denkt, dass diese Gruppe auf keinen Fall irgendwas Gutes im Schilde führen kann. Vielleicht haben sie gerade über Drogen gesprochen oder einen Überfall geplant. Ein Teufelskreis der Paranoia. Befreiendes Gefühl also, wenn man endlich weit genug weg ist und die wieder anfangen, ihre Gespräche aufzunehmen. So weit bin ich leider noch nicht: Ich muss mit meiner Zimmerkarte die Tür zu einer Art Flur öffnen. Kompliziert versuche ich, alles so zu verstauen, dass ich eine Hand frei habe und dabei nicht vollkommen würdelos auszusehen. Doch der Stadtplan und die Snacks und Softdrinks, die ich mir unten am Automaten gezogen habe, sind unhandlicher als gedacht. Endlich bin ich so weit. Das Schloss reagiert nicht sofort auf die Schlüsselkarte und ich muss sie mehrmals reindrücken und wieder rausziehen. Hinter mir spüre ich die Blicke der schweigenden Gruppe. Langsam bricht mir der Schweiß aus. Vermutlich halten sie mich jetzt für einen Kriminellen, der gerade versucht, in dieses Hotel einzubrechen und die Zimmer auszuräumen. Man weiß ja: Am meisten Glück haben Diebe immer, wenn sie besonders dreist vorgehen – zum Beispiel, indem sie so tun, als seien sie stinknormale Hotelgäste. Schwitz.
Endlich, nach dem vierten Versuch, öffnet sich die Tür. Ich gehe rein und schließe sie schnell hinter mir. Durch das Fenster in der Tür sehe ich, dass die Gruppe das Gespräch wieder aufnimmt, als sei nichts geschehen. Puh.
Mittlerweile ist mir klar: »Jemand« will mich auf die Probe stellen, ob ich dieser Reise gewachsen bin. Der Hotelflur geht kerzengerade so weit, dass ich das Ende des Flurs nicht sehen kann. Ich mache mich auf den Weg. Mein Zimmer scheint sehr weit hinten zu liegen. Das Hotel erstreckt sich, natürlich, auf die ganze Länge des Balkens. Deswegen gibt es hier auch nur eine Etage: Weil die schon so unfassbar viele Zimmer fasst. Ab und zu sehe ich Leute in ihren Zimmern verschwinden oder höre mal Gegröle. Lustig. Die scheinen hier wirklich Spaß zu haben, fast ein wenig Jugendherbergsstyle. Ich habe die ganze Zeit Angst, dass plötzlich die Zwillinge aus »Shining« vor mir stehen. Aus einem Zimmer kommt ein Junge geflogen, etwa 19, der aussieht, als hätte er zum ersten Mal gekifft: rote Augen, seliges Grinsen, Zeitlupe-Bewegungen. Ich bin mir gar nicht sicher, ob er mich sieht. Aber ich grinse vorsichtshalber, damit er keinen Schiss haben muss, falls er mich doch wahrnehmen sollte.
Nach fünf Minuten in dem Horrorfilmgang, in denen ich das Gefühl hatte, eigentlich gar nicht vom Fleck zu kommen, stehe ich nun doch vor meinem Zimmer. Die Tür ist etwas wackelig. Ich gehe rein und umständlich ziehe ich meinen Koffer nach. Er und ich, wir haben nebeneinander nicht viel Platz in diesem Raum. Deswegen werfe ich den Koffer aufs Bett und setze mich daneben. Okay, das ist ein kleines Zimmer. Ein Einzelbett, ein fensterloses Bad und ein Fernseher auf dem schmalen Schreibtisch unter dem einzigen Fenster, aus dem man auf den Hinterhof blickt. Für mich ist das alles cool. Dafür hab ich ’nen Appel und ’n Ei gezahlt. Und mag das Bad auch ungeil sein – es ist mein eigenes, das ich nicht mit jungen Touristen teilen muss, die gerade ihre ersten Experimente mit Bierkonsum machen.
Aber als ich da so auf meinem Bett sitze und durchatme, neben meinem Koffer, da kribbelt es, da juckt es mich. Da kann ich nicht sitzen bleiben. Ich will wenigstens die Umgebung um mein Hotel herum auschecken, vielleicht finde ich mein erstes Abenteuer. Ich ziehe meinen Mantel wieder an, laufe den ewigen Korridor herunter, passiere die inzwischen leere Vorlobby (vermutlich ist die Gruppe von eben jetzt auf ihrem großen Raubzug – Hello Quatsch-Fantasie!), nehme die Treppe mit der toten Abzweigung in die Lobby und trete auf die Straße. Ich atme ein, ich atme aus. Hallo, Amsterdam, da bin ich!
Leider hat die Straße am Hotel nichts zu bieten, außer fancy Shisha-Bars und das Geruchsgemisch von Apfel-Tabak, Himbeer-Tabak, Melonen-Tabak, Ananas-Tabak, Kirsch-Tabak, Orangen-Tabak, Erdbeer-Tabak, RedBull-Tabak, Vanille-Tabak, Patchouli-Tabak und Rosen-Tabak turnt mich leider jedes Mal total ab, wenn ich vor solchen Läden stehe, weswegen ich auf dem Absatz wieder kehrtmache und zurück zum Hotel gehe. Auf dem Weg entdecke ich noch einen Kiosk, dessen Auswahl leider auch schwer zu wünschen übrig lässt: In einem Extraraum gibt es zwar so ziemlich alle Spirituosen, die die Welt so zu bieten hat, aber davon will ich gar nichts. Ich suche einen kleinen Snack, nehme noch eine Cola und ein Wasser und verlasse den Laden.
Ich bin zurück auf meinem Zimmer und würde supergerne schlafen, aber das kann ich mit Sicherheit vergessen. Nicht weil es laut wäre oder ungemütlich. Ich bin einfach so unglaublich aufgeregt, nicht wissend, was mir die kommenden drei Wochen bescheren werden. Und als hätte Gott oder eine andere Kraft mich erhört, stoße ich beim Zappen plötzlich auf den einzigen deutschen Sender. Und dort läuft: Maybritt Illner. Danke. Jetzt werde ich schlafen können.
Naja, was man so schlafen nennt. Ich wälze mich unruhig hin und her und immer wieder flimmert die große Frage des Reisenden durch meinen wirren Kopf: Was erwartet mich? Und ich bin unfassbar aufgeregt. Warum bin ich nur so hibbelig? Klar, andere Stadt, anderes Land. Eine Art Urlaub und Entdeckungsreise gleichzeitig. Aber das ist doch alles noch kein Grund zur Aufregung. Ich bin so aufgeregt, weil ich so viel erwarte. Diese Reise soll so viele Sachen gleichzeitig bieten, ich habe keine Ahnung, ob sie das überhaupt leisten kann: Erinnerung, Nostalgie, Urlaub, Erholung, Action, Seele baumeln lassen, Herz klopfen lassen, große Augen, kleine Gesten. Andererseits: Das sind schon sehr hohe Ansprüche an eine Reise, vielleicht sollte ich die mal runterschrauben? Das kann die doch gar nicht alles leisten, oder? Überhaupt: Ich bin gerade unsicher, warum ich mir das eigentlich alles antue. Ich könnte auch zu Hause im Bett liegen und mir so meine Gedanken über meine Kindheit machen. Das wäre sicher auch interessant und ich könnte aufstehen und wäre in meinen Räumen, bei meinen Menschen und meinen Sachen. Warum hab ich mich stattdessen entschieden, einen Koffer quer durch Europa zu ziehen? Wenn ich in den nächsten Wochen nicht einmal wenigstens einen »Woah!«-Moment erlebe, dann war das hier die dümmste Entscheidung ever. Oje. Mir kommen langsam ernsthafte Zweifel, das Richtige getan zu haben. Der Teufel auf meiner rechten Schulter wettert vor sich hin. Der Engel auf der linken beschwichtigt mich: Aber es ist gerade mal der erste Tag, du konntest doch noch gar nichts erleben! Der Teufel: Das wird er vermutlich auch nicht. Engel: Aber das kann man ja jetzt noch nicht sagen. Aaaah! Ich werde noch verrückt hier im Bett.
Erst mal raus. Mal langsam anfangen. Frühstück. Da, ein Bäcker/Imbiss/Büdchen.
Aber die Speisekarte liest sich nicht gerade frühstücksmäßig. Aus Verlegenheit – ich bin da manchmal wirklich so bescheuert – bestelle ich etwas, das sich okay anhört. Etwas mit »Kip«, und ich weiß aus meiner Automatenimbiss-Informiertheit heraus, dass das »Huhn« bedeutet. Ein Sandwich mit Huhn wird schon okay sein. Und zur Sicherheit noch etwas, das ich als Schokocroissant zu erkennen meine. Der Verkäufer knallt mir meine Bestellung auf den Tresen, als hätte ich ihn beleidigt. Ich zahle und gehe.
Gott im Himmel, dieses Huhnding schmeckt unfassbar beschissen. So eine Art Croissant mit Huhn und 25 Kilo Krautsalat, offensichtlich abgeschmeckt von jemandem, dessen Geschmacksnerven tot sind. Nach zwei Bissen werfe ich das Teil in den Mülleimer und spüle schnell den Geschmack mit einer Fanta hinunter. Während ich das mittelmäßige Schokobrötchen (da KANN man ja auch einfach nicht viel falsch machen) knabbere, ziehe ich endlich los. Ich möchte versuchen, die Anlegestelle für das Hausboot wiederzufinden, auf dem ich im Alter von 14 Jahren mit dem CVJM eine Jugendfreizeit lang im Herbst durch Holland geschippert bin. Da hatte ich meinen ersten Zungenkuss mit einem Mädchen, in das ich gar nicht verliebt war. Aber der Kuss war Bombe.
Ich steige an einer Ecke aus der Straßenbahn, die mir bekannt vorkommt. Ein großer Platz, Madame Tussauds. Stimmt, da wollte ich damals auch schon rein und da war mir die Schlange zu lang – oder es war zu teuer. Weiß ich nicht mehr so genau. Ein junges Pärchen kommt zu mir und fragt mich, auf Englisch, ob ich sie fotografieren könnte. Natürlich fotografiere ich die beiden, auch wenn ich es hasse, mit fremden Fotoapparaten beziehungsweise Handys zu knipsen, weil das immer lange dauert und es immer diesen superawkwarden Moment gibt, in dem alle Beteiligten auf das Foto warten: Der, der auslöst, wartet, dass es endlich auslöst und der, der fotografiert werden will, fragt sich, was der, der auslöst, denn bitte so lange macht. Aber alle lächeln. Ich kriege das Foto recht zügig und schön hin und die beiden bedanken sich fröhlich und ziehen von dannen. Ich folge der Hauptstraße Richtung Hauptbahnhof, weil ich mich an einen ganz besonderen Ort erinnere.
Und so lauf ich. Vorbei an Cafés, an den üppigsten Süßigkeitenläden, die ich kenne (nix für Kinder, nur was für die Kiffer mit Munchies), hier und da eine Boutique oder ein Souvenirladen. Fast schon glaube ich, mich vielleicht geirrt zu haben, da sehe ich es in altem Glanz erstrahlen: das Sexmuseum.
Als ich 14 war und wir hier mit großen Augen die Straße entlanggelaufen sind, da war das natürlich eine Sensation. Ein Sexmuseum. Kicher, kicher. Wie cool ist das denn? Wir wollten da unbedingt rein, und doch hatten wir eine Heidenangst davor, was genau uns darin erwarten könnte. Es war einfach zu aufregend, zu interessant. Sex – ich wusste natürlich, was das ist, also rein theoretisch. Im Schaufenster des selbst ernannten Museums dann allerlei Zeug, auch Folterinstrumente. Was etwas komisch, zumindest aber »unsexy« schien. Also irgendwelche Penis-Nagel-Durchbohr-Geschichten und andere Folterinstrumente für Untenrum. Ich habe dann damals einen Teil meines Urlaubs-Taschengelds tatsächlich dafür investiert, dort hineinzugehen. Der Ruf des Verbotenen war einfach zu groß – noch dazu auf einer Freizeit, die von der evangelischen Kirche ermöglicht wurde. Das Museum war ein langer Schlauch. Drinnen wurden noch mehr Gerätschaften gezeigt, die vermutlich wirklich unangenehm waren, aber auch Fotos von Männern mit Riesenpenissen, frühe Kondome aus irgendwelchen Tierdärmen und antike Reizwäsche. Wir gingen von Exponat zu Exponat und kicherten uns kaputt. Penisse überall. Als Skulpturen, als Statuen, als Witzfiguren. Riesenpenisse zum Draufsitzen, Penisschalen und Wachsfiguren, die alle irgendwie Sex hatten. Klar, in der Gruppe fanden wir das albern, peinlich, witzig. Wären wir aber alleine gewesen, hätten wir das vermutlich auch irgendwie scharf gefunden. Mit vierzehn war man damals ja schon froh, wenn man eine Ausgabe der »Praline« in die Hände bekam. Nachdem wir uns also durch das Museum gekichert hatten, liefen wir noch ein bisschen durch die Stadt und gingen dann wieder zurück aufs Hausboot. Wir hingen in unseren Mehrbettkajüten, es gab nichts zu tun. Wir spielten, was man in diesem Alter und in dieser Situation spielen muss: Wahrheit oder Pflicht. Ein lustiges Spiel, vor allem im Nachhinein: Wieso war es peinlicher, irgendwas zu erzählen, bei dem eh niemand überprüfen kann, ob es stimmt, als irgendwas Unangenehmes zu tun? Das Beste bei unserer Partie war aber, dass es gar nicht unangenehm war, was ich machen musste: Bei einer Runde, in der ich »Wahrheit« wählte, kam raus, dass ich noch nie gezungenküsst hatte. Nun ist es nicht schwer zu erraten, was ich machen musste, als ich in der nächsten Runde »Pflicht« wählte. Das Mädchen, das ich küssen musste, war kein Love-Interest von mir. Ich fand sie nicht hässlich, ich fand sie sogar ganz nett. Ich stand nur einfach nicht auf sie. Das spielte aber hier keine Rolle. Ich glaube, sie stand ein bisschen