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Venedig im November 1630. Die Pest wütet in der Stadt. Zwei arme Schlucker versuchen dennoch, als Grabräuber ihr Glück zu finden. Doch sie haben ihre Rechnung ohne die Begrabenen gemacht.
Ihr nächtliches Treiben wird von scharfen Augen beobachtet. Augen, die mühelos die Nacht durchdringen, weil sie nicht menschlich sind.
Das Prequel zum packenden Urban Fantasy-Roman „Trywwidt – Die Kaiserin der ewigen Nacht“ erzählt die Vorgeschichte zu den Abenteuern der Elfe Trywwidt in der Menschenwelt. Hier wird exklusiv verraten, wie gefährlich Trywwidts pflanzliche Widersacherin ist und welche Rolle Phyrridt spielt – eine Elfe, die noch nicht ahnt, dass sie bald einem grausigen Schicksal begegnen wird.
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„... Es haben uns schon längst unsere Vor-Eltern vieles von diesen in Gräbern fressenden Todten erzehlt, aber wir haben davor gehalten, es sey uns schimpflich diesen Mährgen und Aesopischen Fabeln, daran sich nur die alten Weiber ergötzen, Glauben zuzustellen. ...“
Aus: M. Michael Ranfts Diaconi zu Nebra, TRACTAT von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern, worin die wahre Beschaffenheit derer Hungarischen VAMPYRS und Blut-Sauger gezeigt, auch alle von dieser Materie bißher zum Vorschein gekommene Schrifften recensiret werden. Leipzig, 1734. Zu finden in Teubners Buchladen.
Venezia, 25. Novembre, anno 1630
Matteo presste einen Fluch durch die Zahnstümpfe. Um ein Haar wäre Carlo in die Pestärzte hineingestolpert, die mit ihren Schnabelmasken wie Dämonenvögel durch die Nacht stolzierten. Wenn der Tölpel sich weiter so dumm anstellte, konnten sie gleich durch die Gegend posaunen: Platz da, hier kommen die Grabräuber! Er schickte dem Freund einen drohenden Blick. Der senkte schuldbewusst den Kopf.
Zum Glück waren Fackel und Spaten in Tücher eingeschlagen, was weniger Aufsehen erregte. Er hätte auch Carlo in ein Tuch einwickeln sollen. Der tollpatschige Hüne starrte gerade mit offenem Mund einem Leichenkarren hinterher. Fehlte nur noch, dass er dem Karren nachrannte.
»Wir versündigen uns wirklich nicht?« Carlos Tonfall glich dem eines ängstlichen Kindes.
»Nein, stupido!« Matteo spuckte aus. »Außerdem nimmt uns Pater Lorenzo morgen früh die Beichte ab, und schon steht das Tor zum Paradies wieder offen.«
Aufmunternd knuffte er dem Freund in die Seite. Er kannte ihn aus den Mietskasernen von Santa Croce, wo sie sich als Müllsammler durchschlugen. Heute Nacht wollten sie alles andere als Müll sammeln. Ihr Ziel – ein Pestgrab innerhalb der Stadt – bot eine gute Gelegenheit für Grabräuber. Die Leichen dort waren noch nicht durch so viele gierige Hände gewandert. Normalerweise brachten sie die Pestopfer mit Gondeln bis zu den Gruben am Lazzaretto Vecchio. Warum sie die Toten an jenem Ort derart überstürzt verscharrt hatten, blieb ihm ein Rätsel. Eines, das ihm vollkommen gleichgültig war. Ihm sollte es recht sein. Dort wartete leichte Beute auf sie, und er war keinesfalls so dumm, sich diese einmalige Gelegenheit durch die Lappen gehen zu lassen.
Endlich am Kirchhof angelangt, hielten sie kurz inne. Wie er es erwartet hatte, waren sie alleine an diesem unheimlichen Ort, an den sich des Nachts kein Mensch hinverirrte. Ein Rascheln lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Angespannt spähte er in das Dunkel. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung an der Mauer irritierte ihn. Drückte sich da eine schmale Gestalt in die Schatten? Er blinzelte. Kein Rascheln. Keine Gestalt. Nur eine Sinnestäuschung, die ihm die Nacht vorgegaukelt hatte. Erleichtert atmete er auf.
»Und wenn es wirklich stimmt?«, flüsterte Carlo ängstlich. Den Spaten als Schutzschild vor die Brust gepresst, wackelte er mit dem Kopf wie ein Huhn, das Ausschau nach dem Habicht hielt.
»Nun hör schon auf mit dem Sündenkram«, zischte Matteo. Mit einer energischen Handbewegung schüttelte er seinen Spaten aus dem Tuch, der scheppernd auf dem Boden aufschlug. Zu laut! Sie waren viel zu laut. Hastig schaute er sich um. In den Schatten wohnte nur die Stille.
»Nein, das meine ich nicht.« Carlo schlotterte vor Angst. Das verrieten seine Worte, die kaum mehr als ein Stammeln waren.
»Sei endlich still.« Was für ein verdammter Angsthase! Verächtlich verzog Matteo den Mund. Nachlässig warf er das Tuch auf den Boden, der von seltsamen, etwa kniehohen Pflanzen bedeckt war. Er bückte sich und strich mit der Hand darüber. Samtig fühlten sich die Blätter an. Die Gewächse trugen Früchte, von denen im Dunkeln ein schwaches Leuchten ausging. Und wie köstlich sie dufteten. Beinahe war er versucht, sie zu probieren. Seine Finger umschlossen eine der Beeren. Sie war so überreif, dass sie ihm in die Hand fiel.
»Weißt du nicht mehr?«, jammerte der Hosenschisser Carlo. »Die Geschichten, die Großmutter Marietta immer erzählt hat.«
Der Kerl ließ einfach nicht locker. Matteo warf die Beere weg. »Deine Großmutter? Glaubst du etwa an Weibergeschwätz?« Ein Lacher platzte aus ihm heraus. Wenn ihn jemand hörte! Die Nacht hatte viele Ohren. Auch unsichtbare. »Welche Geschichten?«, flüsterte er und dachte an Carlos Großmutter, eine resolute Matrone mit bösem Blick, die großzügig Backpfeifen verteilte.
»Na, die Geschichten.« Carlo räusperte sich verlegen. »Die von den schmatzenden Toten. Den Nachzehrern.« Das letzte Wort hauchte er nur, als ob es niemand hören durfte.
Wie im Reflex fuhr Matteos Hand zu dem magischen Amulett um seinen Hals. Er streichelte die Metallscheibe mit den geheimnisvollen Zeichen, die sich um das Loch in der Mitte gruppierten. Es sollte ihn vor der Pest und bösen Geistern beschützen. Schließlich konnte man nie wissen. Innerlich lachte er über den albernen Aberglauben: Ein kurzes Aufflackern namenloser Angst, die er mit einem zynischen Grinsen wegdrückte.
Gerüchte über menschenfressende Untote erhitzten in Zeiten des Schwarzen Todes die Gemüter. Verstorbene, die keine Ruhe fanden, die aus dem Grab heraus die Kraft der Lebenden verzehrten. Einer wie er dagegen versuchte, aus dem Schrecken das Beste herauszuholen, und das war nun mal der Schmuck, den manche Leichen noch trugen.
»Jetzt hör mit den Ammenmärchen auf und fang an zu graben.« Matteos Hände streiften die samtig weichen Blätter der seltsamen Pflanzen. Er hob das Tuch vom Boden auf, in das er den Spaten eingeschlagen hatte. Zum Schutz vor giftigen Miasmen, die über dem Grab schwebten, band er es sich vor Mund und Nase. Das musste ausreichen, um den Pesthauch fernzuhalten. Beherzt ergriff er den Spaten. Carlo tat es ihm gleich, nur weitaus zögerlicher. Dabei stieß er einen derart verzweifelten Seufzer aus, als würde er selbst bald sein Leben aushauchen. Was für ein Weichei! Hätte er geahnt, welch ein jämmerlicher Feigling sich in dem riesigen Kerl versteckte, er hätte Carlo niemals in die Sache hineingezogen.