TSCHEPLANOWA - Dorte Lena Eilers - E-Book

TSCHEPLANOWA E-Book

Dorte Lena Eilers

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Beschreibung

Valery Tscheplanowa trat wie eine Explosion auf die Bühne. "Ich bin Ophelia. Die der Fluss nicht behalten hat. Die Frau am Strick. Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern." Mit diesen Worten fesselte sie 2007 das Publikum im Deutschen Theater Berlin von der ersten Sekunde an. Mur­melnd, rufend, schreiend. Seit dieser Inszenierung von Heiner Müllers "Hamletmaschine" in der Regie von Dimiter Gotscheff sind zwölf Jahre vergangen, in denen Valery Tscheplanowa wie ein Irrlicht durch die Stadttheater zog und längst auch ihren Weg zum Film gefunden hat. Es waren trotz beglücken­ der Momente auch Kämpfe, die sie dort austrug – gegen den Betrieb und für die Kunst. Dieser reich bebilderte Gesprächsband schil­dert die Reise einer eigenwilligen Schauspielerin, die 1980 im sowjetischen Kasan beginnt, den Leser durch die Wirren des Systemumbruchs in ein ein­sames norddeutsches Dorf führt, von russischen Schamanen, hilflosen Intendanten und palästinen­sischen Macho­-Frauen erzählt und mit ihrer Theaterarbeit mit Dimiter Gotscheff und Frank Castorf noch lange nicht endet.

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Valery Tscheplanowa trat wie eine Explosion auf die Bühne. „Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern“. Mit diesen Worten fesselte sie 2007 das Publikum im Deutschen Theater Berlin von der ersten Sekunde an. Murmelnd, rufend, schreiend. Seit dieser Inszenierung von Heiner Müllers Hamletmaschine in der Regie von Dimiter Gotscheff sind 13 Jahre vergangen, in denen Valery Tscheplanowa wie ein Irrlicht durch die Stadttheater zog und längst auch ihren Weg zum Film gefunden hat. Es waren trotz beglückender Momente auch Kämpfe, die sie dort austrug – gegen den Betrieb und für lebendige Arbeit.

Dieser reich bebilderte Gesprächsband schildert die Reise einer eigenwilligen Schauspielerin, die 1980 im sowjetischen Kasan beginnt, den Leser durch die Wirren des Systemumbruchs in ein einsames norddeutsches Dorf führt, von russischen Schamanen, hilflosen Intendanten und palästinensischen Macho-Frauen erzählt und mit ihrer Theaterarbeit mit Dimiter Gotscheff und Frank Castorf noch lange nicht endet.

Dorte Lena Eilers

TSCHEPLANOWA

backstage

Mit Gedichten von Valery Tscheplanowaund einem Nachwort von Josef Bierbichler

Inhalt

Fünf Gedichte

Die Geste ist blank

Setzung

Ungezählte Deine Namen

Lied vom Selbstmitleid

Abgang

NACHWORT

Rollenverzeichnis

Bildnachweis

Fünf Gedichte

von Valery Tscheplanowa

Die Geste ist blank

Und es beginnt

Der Umriss sich zu meißeln

Und ich erkenne das Gesicht,

Das Du zu Anbeginn am Herzen trugst. Ich stehe nebst zur Seite

Und Wache halt ich,

Adler Echo, über Dich,

Der Du den Aufbruch wagst ins Eigne.

Setzung

Engel und Affen sind eitel.

Der beliebige Raum ist Kirche.

Du bist unschuldig.

Gnade und Ungnade ist Rauschgift.

Vielleicht ist ein Seufzen.

Du bist eine Anzahl von Engeln und Affen.

Den Einlass bringt nicht Sehnsucht noch Gewalt.

Jedweder Angriff trifft ins Leere,

Da dort der wahre Widerstand

Den Aufenthalt verschweigt.

Ungezählte Deine Namen

Ohne Kleider und Erbarmen ohne Andacht, ohne Ohnmacht,

Nur ein klaglos offen Obdach,

Eine Klippe überm Meer und ein Moor, das naht.

Gut ist, wenn Du nackt und schweigsam,

Täglich bei dem Hochzeitsmahle mein Gesicht vergessen hast

Und Dich wundert, wer sie ist, die an Deiner Seite isst.

Tausche mein Gesicht. Ich bleibe.

Mach die Tür zu. Ich bin hier.

Schneide meine Haut. Ich weine.

Trotzdem bin ich, trotzdem hier.

Der Verdacht, dass ich Dich brauche, endet,

Wenn Du siehst,

Wie ich Dein Gesicht beweine.

Wenn Du nicht mehr bist.

Deine Hand, die halt ich heute, morgen auch und gestern nicht.

Und der Lohn, den ich erschleiche, ist nur Dein Gesicht.

Deine Kinder nenn ich Bäume, Gräser, Milch und Stadt

Und das eine oder andere wird nicht satt.

Unser Haus ist eine Straße, die zum Grab uns führt.

An den Rändern lauter Leiber, die wir nicht berührt.

Und im Grab, da leg ich meinen Arm um Dich, denn erst dort,

So nackt und schweigsam fliehst Du nicht.

Lied vom Selbstmitleid

Fällt der Tag so auf mich nieder

Ohne Gnade aufs Gefieder

Schlägt mich nieder

Schlägt mich wieder

Ohne Gnade aufs Gefieder

Ich erlahme ich ersticke ich verende ich verrecke

Ich ersaufe ich verlaufe mich in meinen Zimmerecken

Kommt denn niemand mich zu wecken

Mich aus meinem Schlaf zu schrecken

So zu enden ist doch schrecklich

So zu enden mich zu schrecken

Mich aus meinem Schlaf zu wecken

Leider muss ich immer weiter leider find ich keine Ruh

Leider geht es immer weiter leider steht die Ruhe mir nicht zu

Und ich stehe wacklig steh ich und vergehe so im Stehen

Immer tiefer immer weiter immer nur hinab die Leiter

Grabe Wurzeln in die Erde grabe mir mein eigen Grab

Abgang

Wieder auf Wieder

Den Schädel an den Wolken sich stoßen

Und Fall auf Fall nicht Trauer tragen

Denn Schritt auf Schritt drängt es mich zu denen

Die zu leuchten wissen

Wie die Heiligkeit

Erhalten dessen was ich vor dem Wissen gewusst

Wie klaglos weil kein Schmerz mehr trügt

Den Ort nicht mehr verlassen

Wo das Meer sich öffnet meinwärts

Dem Tod

Ein Bett kaufen

Und seine Hand halten

Während er neben mir schläft

Aber für einen Menschen bereite die Kissen

Habe keine Angst

Ich hänge am Himmel

Nicht an Dir.

Valery Tscheplanowa in Die Hamletmaschine, Regie: Dimiter Gotscheff, Deutsches Theater Berlin 2007

Valery Tscheplanowa, Sie kommen gerade aus Salzburg, wo Sie bei den Festspielen im diesjährigen Jedermann die Buhlschaft spielen. Hugo von Hofmannsthal sagte vor einhundert Jahren über diese Stadt: Das mittlere Europa habe keinen schöneren Raum. Der ewige Salzburg-Hasser Thomas Bernhard hingegen sprach von einer perfiden Fassade, derer man so schnell wie möglich entfliehen solle. Steht Ihr Fluchtauto auch schon bereit?

Beides trifft zu! Ich empfinde die Stadt aber als sehr angenehm. Die Leute haben, vor allem, was den Jedermann betrifft, teils ein enormes Wissen …

… und können wahrscheinlich die ganze Rezeptionsgeschichte herunterbeten.

Oh ja! Letztens nahm ich zwei Zuschauer in meinem Taxi mit, die standen da so am Straßenrand herum. Der Mann erzählte, dass man früher die Buhlschaft nach der Qualität ihres Schreis beurteilt habe. Anders als in unserer Stückfassung gab es damals noch keinen dritten Auftritt für die Buhlschaft, keine Szene, in der sie sich, kurz bevor der Jedermann stirbt, von ihm verabschiedet. Daher habe sie, wenn der Tod kam, einfach nur geschrien. Und dieser Schrei war das Wichtigste.

Das ist interessant. Denn tatsächlich ist das Erste, wenn ich an Valery Tscheplanowa auf der Bühne denke, ihr Schrei. Als Zuschauer der Hamletmaschine von Heiner Müller, Ihrer ersten großen Arbeit am Deutschen Theater Berlin 2007 in der Regie von Dimiter Gotscheff, wurde man von Ihrem Schlussschrei als Ophelia, „Im Namen der Opfer!“, förmlich vom Sitzplatz gefegt. Ein Jahr zuvor hatten Sie mit Gotscheff Die Perser geprobt, eine Inszenierung, in der Sie letztlich nicht mitspielten. Mark Lammert, der für diese Produktion die berühmte gelbe Wand geschaffen hatte, berichtete 2018 in seiner Laudatio zur Verleihung des Ulrich-Wildgruber-Preises an Sie, dass die Proben mit Ihnen größtenteils aus zwei Elementen bestanden: einem „elfenhaften Drehen der Wand“ und einem „wesenhaften Schreien“.

Ja! Das war der Anfang!

Wie entdeckt man diesen Schrei? Diesen eigenen Ton? Sicherlich nicht auf der Schauspielschule.

Ich habe mal eine Kritik über Edith Clever gelesen, in der stand, sie habe ein Antlitz und einen Schrei. Diese Beschreibung hat mich so getroffen! Ich dachte: Ja, das ist es! Man muss als Schauspieler ein Antlitz und einen Schrei haben. Diesen Schrei zu finden, ist für mich wie das Zentrum des Bühnendaseins. Es gibt eine lustige Geschichte aus der Schauspielschule. Ich spielte Anna Petrowna aus Iwanow und sollte in einer Szene jemanden rufen. Einer meiner Dozenten sagte: „Du rufst so, dass man mitschreien will.“ Angeblich ist er hinterher in seinen Schuppen gegangen und hat es ausprobiert.

Den Schrei?

Ja! (lacht) Also so zu schreien, dass es einen mit dem Schrei wegträgt.

Nachdem ich mit den beiden Zuschauern in Salzburg im Taxi gesessen hatte, dachte ich: Komisch, warum ist der Schrei weg? Ich würde gerne mal recherchieren, wer zuletzt geschrien hat.

Und was bedeutet Antlitz?

Auf jeden Fall nicht bloß ein Gesicht. Es ist eher das Wesen, das einem innewohnt. Und das auch nicht damit beschrieben ist, dass ich eine Frau bin, dass ich 39 Jahre alt bin, dass ich aus Russland stamme. Der Schrei wiederum hat für mich auch damit zu tun, noch zu wissen, wie man als Kind geschrien hat.

Valery Tscheplanowa und Tobias Moretti in Jedermann, Regie: Michael Sturminger, Salzburger Festspiele 2019

Er hat etwas Ursprüngliches.

Genau. Es gibt ein Schreien, das einen nicht heiser macht.

Das ist aber Technik.

Nicht nur. Es ist eine Art von Zustand. Denn das Kind schreit aus einem Gefühl des Vertrauens heraus. Und zwar zur Mutter, zur Welt, zum eigenen Körper. Wenn es mir gelingt, so zu schreien, ist das etwas sehr Angenehmes, ich glaube, auch für den Zuschauer.

Wobei es auch den Angstschrei gibt. Etwa wenn einem, wie im Jedermann, der Tod begegnet. Auch den Schrei der Empörung, den Verzweiflungsschrei. Ein Kind schreit aus einer Not heraus, weil es sich noch nicht anders artikulieren kann.

Ja, der Ort, von dem der Schrei kommt, ist für mich entscheidend. Ich glaube, wer den Schrei in sich findet, hat auch den Zugang, um emotionale Räume zu gestalten. Viele Stücke handeln von Zuständen, von Sackgassen oder von Figuren, die in Not geraten. Diese Not zu beschreiben, erfordert in der Regel viel Sprache – und die will geführt sein, will zum Klingen gebracht sein. In der Suche nach einem Schrei liegt der Ursprung, diesen ausdeklinieren zu können, davon erzählen zu können.

Eine Art Kristallisationspunkt für alles.

Genau. Und Djadja Mitja, also Onkel Mitja – so nannte ich Dimiter Gotscheff –, suchte diesen Schrei von Anfang an. Er ließ mich wochenlang nur schreien. (lacht) Daraus entstand später Die Hamletmaschine.

Gotscheff soll gesagt haben: „Ein Ton ist wichtig in unser Gewässer Raum“. Mir kam es zunächst seltsam vor, ein Gespräch über ein Schauspielerleben mit einem Stück zu beginnen, das wie derJedermann von den letzten Dingen handelt. Aber für Sie ist es möglicherweise gar nicht seltsam.

Ja, das stimmt.

Denn das steckt für mich auch in diesem Schrei: Ich habe das Gefühl, da steht jemand auf der Bühne, der über ein größeres Weltwissen verfügt als andere.

Was für ein Wort! Weltwissen!

Ja, ein Wissen um das Leben und eben auch um den Tod. Für mich hat Ihre Präsenz auf der Bühne – und das mag an einer Erfahrung liegen, die ich selbst einmal in Sibirien gemacht habe – etwas Schamanisches. Ich will nicht in die Folklore-Kiste greifen, aber könnte dieser Eindruck auch etwas mit der Landschaft zu tun haben, aus der Sie kommen? Sie sind in Kasan geboren, Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan in Russland.

Das ist wirklich verrückt, dass wir hier anfangen. Ich habe in Vorbereitung auf dieses Gespräch festgestellt, dass ich eine Menge steiler Thesen habe, und gedacht: Jetzt mal langsam. Wo verorte ich den Ursprung meiner Gedankenwelt? Hatte ich erzählt, dass ich jetzt zum ersten Mal bei einem Schamanen war?

Nein!

Tatsächlich. Seit zehn Jahren habe ich davon geträumt. Und diesen Winter sagte einer meiner Freunde, ein sechzigjähriger Professor, plötzlich: „Komm, wir machen eine Spritztour in die Wälder!“ Ich fragte ihn, wohin es denn gehe. Und er sagte: „Zum Schamanen!“ Ich bin auf dieser Fahrt für zweieinhalb Stunden eingeschlafen vor Aufregung. Es hätte ja auch sein können, dass es ganz doof wird und gar nicht das, was ich mir erhoffte. Und dann kamen wir an. Es waren Minus 25 Grad, in der Nähe gab es eine heiße Quelle.

Die Praxis des Schamanen in der Nähe von Marijnka

Wo war das genau?

In der Nähe von Marijnka, das ist dreieinhalb Stunden von Kasan entfernt. Diesen Ort kennen nur diejenigen, die den Schamanen kennen und einen Termin haben. Wobei es nie klar ist, ob er einen dann auch empfängt. Uns hat ein Chemiker mitgenommen, der ihn seit Jahren aufsucht, weil er beruflich mit giftigen Chemikalien arbeiten muss. Als wir in diesen Wald kamen … Moment! Ich zeige Ihnen ein Bild! Sie müssen sehen, wie es dort aussieht. (zeigt ein Foto auf ihrem Handy) Dort ist die heiße Quelle und hier ein kleines Häuschen.

Das sieht gar nicht nach Wohnhaus aus.

Das ist auch kein Wohnhaus, das ist seine Praxis. Mitten im Wald. Er wohnt irgendwo anders. Ich zeige Ihnen auch ein Bild von ihm.

(Auf dem Foto ist ein Mann mit halblangen schwarzen Haaren und schwarzer Lederjacke zu sehen.)

Der sieht ja aus wie ein Rockstar!

Als wir ankamen, lachte es uns aus diesem Häuschen entgegen. Plötzlich kam er herausgerannt und bremste direkt vor meinem Gesicht. „Wer bist du?“, fragte er. Ich sagte: „Vica.“ Das ist mein Spitzname. Er sagte: „Okay. Du kannst gleich rein.“ Alle anderen mussten draußen bleiben. Er ließ mich eineinhalb Stunden in diesem Häuschen sitzen, während er nach und nach die anderen hereinholte, um sie zu behandeln. Er hat mir sozusagen gezeigt, wie er arbeitet. Dann war ich an der Reihe.

Wie läuft eine Behandlung bei ihm ab?

Er führt ganz praktische Dinge durch und Dinge, die nicht erklärbar sind. Praktische Dinge sind: Er gibt einem Ameisensäure zu schnupfen, sodass einem die Plörre aus allen Öffnungen schießt, Augen, Nase, Ohren, das pustet alles frei …

… als Reinigung …

Ja. Danach gibt er einem unbeschreiblich bittere Kräuter zu trinken. Später legt er einen auf den Bauch, zieht an der Haut, knackt die Wirbel ein, knackt den Rumpf an das Becken. Und dann – und das ist das Gruseligste, die Leute vor mir haben geschrien wie am Spieß, ich sagte mir, ich werde nicht schreien … Ich habe so geschrien! Er greift mit den Fingern in den Körper und ertastet über Hitze Krankheiten, Entzündungen, Geschwüre … Es war ein junger Mann da, dem er sagte, es sei schon zu spät für eine Behandlung bei ihm selbst, er müsse zum Arzt. Auch bei mir hat er etwas ertastet, nichts Schlimmes, aber auch ich bin zum Arzt und sagte zu ihm: „Entschuldigen Sie, ich war beim Schamanen, können Sie mal gucken?“ (lacht) Der Arzt hat die Diagnose bestätigt und meinte, ich könne ruhig weiter zum Schamanen gehen.

Die Vereinigung von Wissenschaft und Metaphysik.

Er liest auch in den Augen und sagte zum Beispiel zu mir, dass ich etwas Neues beginnen werde und dass ich meinem Partner noch nicht vertraue. Ich glaube, er meinte meine Agentin. (lacht) Das hat sich inzwischen geändert.

Hatten Sie keine Zweifel, dass er einfach mit Versatzstücken arbeitet und den Leuten erzählt, was sie hören wollen?

Da war ich sehr aufmerksam. Ich habe schon erlebt, dass Leute eine Art Technik haben. Auch Regisseure. Was mich an dem Schamanen so beeindruckt hat, war zum einen sein Wissen um den Körper und zum anderen sein Wissen um sehr konkrete Dinge, von denen er im Grunde nichts wissen kann.

Nicht einmal durch Google-Recherche?

Nein. Zumal ich ja unerwartet kam. Er sagte zum Beispiel – und das hat mich umgehauen: „Du wohnst aber nicht im Putin-Land.“ Ich sagte: „Nein.“ Und er sagte: „Dort, wo du lebst, wird funktionieren, was du vorhast.“ Ich müsse nur sehr viel Verantwortung übernehmen, so viel wie möglich, mit der Zeit immer mehr, je mehr, desto besser.

Insofern: Zweifel? Nein. Und sowieso: Er hat mir ja auch gezeigt, wie er arbeitet. Wenn sich jemand derart in die Karten gucken lässt, ist das für mich immer das beste Zeichen, dass jemand das ist, was er vorgibt zu sein. Und: Er hat keinen Preis. Du gibst, was du willst. Du kannst auch nichts geben. Du kannst auch deine Jacke dalassen.

Auch Gotscheff stammt aus einer Gegend, den Rhodopen in Bulgarien, wo der Zugang zum Leben kein rein wissenschaftlicher ist. Es heißt, er habe in seiner Jugend seinem Vater geholfen, der Tierarzt war, und auf diese Weise miterlebt, wie Leben entsteht und auch endet.

Was an dem Schamanen auch sehr wichtig war: Er hat wahnsinnig viel gelacht und war sehr unverschämt. Er war ungeheuer unmittelbar und verhielt sich auch nicht wie eine Autorität, sondern eher wie eine Art Pendel. Er war sehr sensibel und hat schnell reagiert. Was ich toll fand: Er ging ständig raus und hat das, was er empfing, immer abgeschüttelt. Ich meine, was für ein Glück! Ein europäischer Arzt sitzt den ganzen Tag in seiner Praxis, muss alles schlucken, was seine Patienten mitbringen, und hat bloß eine Mittagspause. Der Schamane kann alle 15 Minuten raus in die Natur. Deswegen wirkt er tatsächlich wie ein Rockstar. Weil er frisch ist. Die Haare waren bestimmt gefärbt. Ich schätze schon, dass er weit über sechzig Jahre alt ist. Aber voller Leben.

Nun würde man Schamanismus und den Jedermann in der Regie von Michael Sturminger gar nicht zusammenbringen. Der Abend ist mit seinem Bühnenbild, den Kostümen und dem auf Psychologie setzenden Spiel durchaus für ein Salzburger Domplatzpublikum gebaut. Nichtsdestoweniger fand ich, dass Ihre Buhlschaft – auch dadurch, dass Sie sehr viel singen, ein aus dem Schrei heraus entwickeltes Singen – etwas Ursprüngliches hat. Inwieweit hat die Erfahrung mit dem Schamanismus Ihre Beschäftigung mit dem Jedermann,