Tü-Tü und Zack-Zack - Matthias Gerschwitz - E-Book

Tü-Tü und Zack-Zack E-Book

Matthias Gerschwitz

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Beschreibung

Der eine, Wilhelm Bendow, galt als Galionsfigur des Spiels mit den Geschlechterrollen; der andere, Hubert von Meyerinck, war mit seinen zahllosen Nebenrollen auf der Bühne, im Film und im Fernsehen ein König der zweiten Reihe. Beide lernten das Handwerk der Schauspielkunst bei Max Reinhardt und bewährten sich im Theater und im Kabarett, in der Operette und auf der Leinwand. Beide standen auf denselben Bühnen, zuweilen auch gemeinsam. Beide waren wegen ihres Humors, ihrer Komik, ihren Persiflagen und ihrem Witz, aber auch ihrer unbestrittenen Professionalität Lieblinge des Publikums und haben im kulturellen Trubel der 1920er Jahre (und auch später) mehr als nur verwehte Spuren hinterlassen. Obwohl sie nie Stars heutiger Prägung waren, haben auch sie ihrer Zeit ihren Stempel aufgedrückt. Beide können als queere Ikonen gelten, obwohl sie unterschiedlich offen mit ihrer sexuellen Orientierung umgingen - zu einer Zeit, in der Strafe oder sogar das KZ drohte. Beide sind so viel mehr als nur ein traniges "Aaaach, ist der Rasen schön grün" oder ein preußisch-markantes "Zack-Zack". Die bewegten Karrieren zweier fast vergessener Künstler und ihre Zeit faszinieren auch heute noch, ebenso wie die ungeheure Vielfalt des Berliner Bühnenlebens. Viel Spaß beim Entdecken und Wiederentdecken einer spannenden Zeit!

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In memoriam Wolf, der an diesem Buch seine helle Freude gehabt hätte …

DER AUTOR

Matthias Gerschwitz, Jahrgang 1959, betreibt seit 1992 in Berlin eine Werbeagentur. Seit 2007 erzählt er, wie er es formuliert, Geschichte anhand von Geschichten und widmet sich besonders seiner Wahlheimat. So entstanden zum Beispiel Bücherüber einen altbewährten Berliner Markenartikel (»Bullrich Salz«) oder die älteste Kneipe Berlin-Charlottenburgs (»Wilhelm Hoeck 1892«). Auch zum Film hat Gerschwitz einen Bezug:Er arbeitete mehrere Jahre für die Bavaria Film-Pressestelle und in gleicher Funktion für den Deutschen Filmpreis. In der nun vorliegenden Künstlerbiographie über Wilhelm Bendow und Hubert von Meyerinck verbinden sich Berliner Theater- und Kabarettgeschehen mit Zeitgeschichte und Vielfalt zu einem lebendigen Bild zweier ungewöhnlicher und zu Unrecht fast in Vergessenheit geratener Künstler und ihrer Zeit.

matthias-gerschwitz.de

Titelbild: Wilhelm Bendow und Hubert von Meyerinck

INHALT

Vorwort

Wilhelm Bendow – Das Spiel mit den Geschlechterrollen

Hubert von Meyerinck – Der ewige Preuße

Aufbruch und neue Perspektiven

Meyerinck und Sternheim

Kabarett mit K

Die »Wilde Bühne«

Der Irrtum mit dem »Lila Lied«

Zwischenspiel: Hupsi und Marlene

Wilhelm Bendow und das »Tü-Tü«

Meyerinck entdeckt das »Dramatische Theater«

Zwischenspiel: Tee im Hause Meyerinck und anderswo

Revuestadt Berlin – darin:

Was sie wollen – was ihr wollt

;

Bei uns um die Gedächtniskirche rum

;

Es liegt in der Luft

und anderes

Meyerinck tingel-tangelt

»Bendows Bunte Bühne«

Klappe, wir drehen! Frühes Filmschaffen

Über das Privatleben …

Kultur im Dritten Reich: Was darf bleiben – was muss weg?

Lustspiel und Geschichtsklitterung: Der gleichgeschaltete Film

Die Gottbegnadetenliste

Ein neuer Frühling – Erneuter Aufbruch

Meyerinck und die Bundesrepublik

Ausgezeichnet!

Letzter Akt: Charakterfach

Nachwort

Anhang

Filmographien: W. Bendow

H. v. Meyerinck

Anmerkungen

Namensregister

Bildnachweise

»SCHAUSPIELEREI IST DIE KUNST, DIE MENSCHEN IN EINEM THEATER VOM HUSTEN ABZUHALTEN.«

Ralph Richardson (1902 - 1983), britischer Charakterdarsteller

VORWORT

Manche Lebensläufe lassen sich nicht erfinden – es hat sie einfach gegeben. Schon vor einhundert und mehr Jahren sind Menschen nicht einfach die ihnen vorbestimmten Wege gegangen, sondern haben sich eigene gesucht – mit oder ohne Einverständnis der Eltern, die sich auch nicht immer darüber einig waren, was für den Nachwuchs das Beste sei. Und so sind auch damals schon Menschen aus tradierten Gesellschafts- und Geschlechterrollen ausgebrochen. Heute, wo so viel mehr möglich scheint, feiern wir das ganz besonders. Aber haben wir wirklich so viel mehr erreicht als jene, die schon vor langer Zeit den gesellschaftlichen Konventionen entflohen?

Wenige junge Frauen konnten schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts als faszinierende Diseuse (Blandine Ebinger), selbstbewusste Chansonsängerin (Claire Waldoff) oder resolute Theaterdirektorin (Trude Hesterberg) in Deutschland Karriere machen, ohne dass sie ein männliches Schutzschild gebraucht hätten. Und manche jungen Männer haben eben nicht die militärische oder kaufmännische Laufbahn ihrer Vorfahren eingeschlagen, sondern sich früh künstlerischen Berufen und Berufungen zugewandt, auch wenn dieser Weg oft steinig war. Leider sind viele dieser Künstlerlebensläufe aus der Erinnerung getilgt worden, der Vergessenheit oder der zeitflüchtigen Darstellung auf der Bühne zum Opfer gefallen, weil sie nicht konserviert werden konnten – nach dem Motto »aus den Augen, aus dem Sinn«. Nur Künstler, von denen uns Tonaufnahmen, Fotos, Filme oder Bücher hinterlassen wurden, sind noch präsent – oft aber auch dann nur bruchstückhaft oder in einer nicht immer realitätsnahen Historienbeschreibung.

Erstaunlich viele Lebensläufe der Künstler aus den liberalen Zeiten der Weimarer Republik haben queere Hintergründe. Vielfalt schien für einen kurzen Hauch der Geschichte normal, wurde 1933 brüsk unterbunden und hat nach 1945 lange gebraucht, um wieder wahrgenommen werden zu können. Daher möchte ich mit diesem Buch an zwei großartige Bühnenkünstler mit einem queeren Hintergrund erinnern, über die es weit mehr zu erzählen gibt als nur ein traniges »Aaaaach, ist der Rasen schön grün« oder ein markiges »Zack–Zack«.

Wilhelm Bendow (1884-1950) und Hubert von Meyerinck (1896-1971) standen auf denselben Bühnen und vor denselben Kameras – gelegentlich sogar zusammen – und hatten auch sonst viel gemeinsam, sei es der Berufsbeginn unter der Ägide des ›Theaterzauberers‹ Max Reinhardt, ihre Präsenz auf (nicht nur) Berliner Theater- und Kabarettbühnen oder ihre »tragische Veranlagung«, wie man Homosexualität in den Zeiten der GARTENLAUBE nannte, jenem 1853 erstmalig erschienenen illustrierten Familienblatt, das in Deutschland lange Zeit als Nordpfeil des moralischen Kompass‘ galt.

Bendow und Meyerinck sind unterschiedlich mit ihrer sexuellen Orientierung umgegangen. Der eine hat sie nie öffentlich gemacht, ist aber schon früh mit kokett effeminierter und manierierter Art auf der Bühne und im Film aufgefallen, zudem hatte er im Stillen einen langjährigen Partner. Vom anderen, der aus seiner Männerliebe nie einen Hehl machte, sind offiziell keine Partnerschaften bekannt, da er sein Privatleben geschickt vor Öffentlichkeit und Presse abzuschirmen wusste. Überliefert sind dafür aber wahre Freundschaften im privaten und beruflichen Umfeld. Zudem zeigte er auch große Solidarität gegenüber ihm eigentlich unbekannten Menschen, denen zu helfen er beseelt war, wann immer es ihm nötig schien. Nicht nur aus diesen Gründen haben Bendow und Meyerinck diese Hommage, die mit ihrer Künstlerbiographie einhergehen soll, mehr als verdient.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Entdecken und Wiederentdecken zweier faszinierender Künstler und ihrer Zeit.

Matthias Gerschwitz

WILHELM BENDOW DAS SPIEL MIT DEN GESCHLECHTERROLLEN

»Ich weiß gar nicht, warum die Leute über mich lachen. Vielleicht, weil ich eine Brille aufhabe? Das hat ein anderer doch auch. Oder weil ich schüchtern bin? Das ist ein anderer ebenso. Oder weil ich eine leise und zögernde Stimme habe? Auch die hat manch anderer. Oder weil ich eigentlich gar nicht komisch aussehe? Das sieht ein anderer auch nicht aus. Es ist eigentlich eine Gemeinheit, fällt mir jetzt auf, daß die Menschen über mich lachen.«1

Natürlich lachen die Menschen nicht über ihn, sondern er bringt sie zum Lachen. Ein Blick, eine Geste, ein Wort genügt. Viele seiner Nummern sind in ihrer Wirkung unzerstörbar, haben ihr eigenes Tempo, ihr eigenes Timing. Heute allerdings scheint er vergessen. Wilhelm Bendow, Schauspieler, Kabarettist und Bühnenkünstler, ist mehr als siebzig Jahre nach seinem Tode, wenn überhaupt, fast nur noch im Sketch Auf der Rennbahn präsent – und auch der wird heute viel zu oft Vicco von Bülow alias Loriot, dem Großmeister des deutschen Humors, zugeschrieben, weil jener 1972 zu einer Tonspur der Rennbahngespräche seine Knollennasenmännchen zeichnete. Es wird also Zeit, eines zu Unrecht fast vergessenen Künstler zu gedenken.

Eigentlich müsste Wilhelm Bendow eine queere Ikone sein. Er macht seine Vorliebe für das eigene Geschlecht zwar nie offiziell, aber er scheut sich auch nicht, das Spiel mit den Geschlechterrollen und ihren Klischees auf der Bühne und im Film darzustellen, so dass man über seine frivolen Anspielungen, sein naiv-affektiertes Verhalten oder seine hintergründig kessen Sprüche lachen kann, ohne dabei Homosexuelle auszulachen oder vorzuführen; zudem darf er, ob bewusst oder unbewusst, als Vorreiter eines freiheitlichen Selbstbewusstseins gelten. Er gibt in seinen Auftritten ungefragt so viel Privates über sich preis, dass Nachfragen nicht mehr nötig werden. Er agiert eindeutig zweideutig in einer Zeit, in der die immer noch vorherrschende doppelmorallastige wilhelminisch-bürgerliche Sexualität nur samstags, im Dunkeln und unter der Bettdecke stattfindet – zumindest bei Ehepaaren. Über andere Familienstände oder gar sexuelle Identitäten wird lieber nicht gesprochen, und wenn, nur hinter vorgehaltener Hand. Homosexualität ist nicht nur ein Straftatbestand im Sinne des § 175 StGB, sondern nach landläufiger Meinung widernatürlich oder krankhaft und führt angeblich zu Einsamkeit, Depression und Suizid oder Flucht in Alkohol- oder andere Abhängigkeiten.

Doch Bendow lässt sich davon nicht beirren. Gleich in seinem ersten Film Aus eines Mannes Mädchenzeit schlüpft er 1912 in Frauenkleider und wird mit dem Wechsel der Geschlechter auch später in den Kabaretts und Revuen der Weimarer Republik große Erfolge feiern. »So sein, wie man ist, und es der Welt anheimstellen, daß sie einen ernst nimmt oder auslacht«,2 hat er einmal geschrieben; die Berliner Landesstelle für Gleichbehandlung hat ihn dann auch ernst genommen und ihm 2015 einen Platz in einer Broschüre über queere Persönlichkeiten in Berlin eingeräumt.3 Doch es gibt noch viel mehr über Wilhelm Bendow zu erzählen, als man dort oder an manch anderer Stelle lesen kann.

Wilhelm Bendow stammt aus dem südniedersächsischen Einbeck. Die ehemalige Hansestadt ist nicht nur für den nahezu vollständig erhaltenen spätmittelalterlichen Stadtkern und den PS.Speicher mit Europas größter Oldtimersammlung bekannt, sondern insbesondere für ihre jahrhundertelange Brautradition. »Die ältesten Hinweise auf Bierexport belegen Bierlieferungen nach Hamburg (1351) und an das Celler Schloss (1378)«, heißt es im offiziellen Tourismusportal der Stadt.4 Martin Luther ist seit 1521 vom Einbecker Bier begeistert. Selbst der bayerische Hof will nicht mehr auf den süffigen Trunk verzichten. Allerdings wird Herzog Wilhelm V. der Transport des besonders stark gebrauten Gerstensafts auf Dauer zu teuer. So beschließt er, statt des Bieres lieber den Braumeister zu importieren. Er eröffnet 1589 das Münchner Hofbräuhaus und wirbt 1614 einen Einbecker Fachmann ab. Aus dem ursprünglichen Einbecker Bier macht der bayerische Dialekt erst Ainpöckisch Bier, dann Oanbock, und schließlich Bockbier. Diese Bezeichnung wiederum wird von der Einbecker Bierindustrie übernommen, aber nicht, ohne auf ihre viel ältere Tradition hinzuweisen: Sie nennt ihr Erzeugnis fortan Ur-Bock.

Auch Wilhelm Bendow ist eng mit dem Einbecker Bier verbunden, zumindest familiär. Der Schauspieler, der am 29. September 1884 unter dem bürgerlichen Namen Emil Boden das Licht der Welt erblickt, ist der fünfte Sohn des Unternehmers August Friedrich Boden, dessen Familie sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, und seiner Gattin Marie, geb. Steinberg. Der Vater ist Teilhaber der 1873 gegründeten Brauerei Domeier & Boden. Wilhelms ältere Brüder etablieren sich erfolgreich als Oberlandesgerichtsrat, Landgerichtsdirektor und Professor für Geologie. Die Brauerei soll der zweitälteste Sohn übernehmen – der aber verstirbt unerwartet mit 28 Jahren in Davos. Nun ist Emil für die Nachfolge auserkoren, aber statt seiner wird Adolf Koch, der die jüngste Boden-Tochter Marie heiratet, die Brauerei übernehmen. 1922 fusioniert sie mit der örtlichen Stadtbrauerei zum Einbecker Brauhaus.5

oben: Brauerei Domeier & Boden (links) und Wohnhaus der Familie Boden Mitte: Familie Boden. Wilhelm steht rechts im Vordergrund

unten: Realgymnasium Einbeck

Emil Boden besucht in Einbeck zunächst die Volksschule und schließt die Schulausbildung 1901 am Realgymnasium ab, ohne sich durch besonderen schulischen Eifer oder Fleiß ausgezeichnet zu haben. Seit frühester Jugend liebt er es, sich zu verkleiden und in verschiedene Rollen zu schlüpfen – beste Voraussetzungen also, um Schauspieler zu werden. Die EINBECKER Morgenpost berichtet am 31. Mai 1980, dass sich der junge Emil auch als Seiltänzer bei einem Wanderzirkus versucht habe, der damals in der Stadt gastierte. Er stürzt zwar ab, hat aber die Lacher auf seiner Seite.

Seine Eltern sind von Emils Flausen nicht begeistert. Aber sie lassen ihn gewähren, denn sie müssen anerkennen, dass er ein Talent dazu hat, die Schwächen und Fehler seiner Mitmenschen treffend zu parodieren. Aber vor den Erfolg haben die Götter bekanntlich den Schweiß gesetzt: »Ich wollte schon mit sechs Jahren zum Theater gehen, aber leider musste ich erst die Schule durchmachen«, erinnert er sich später.6 So legt er mit Ach und Krach das Abitur ab und beginnt auf Wunsch seines Vaters mit einer kaufmännischen Ausbildung. Doch es lässt sich nicht verhehlen, der Drang zur Bühne wird immer stärker, und er erreicht das Unglaubliche: Der Vater gewährt ihm 1906 eine Frist von zwei Jahren, um sich als Schauspieler zu beweisen. Sollte er bis dahin aber keine messbaren Erfolge erzielt haben, soll er in den Familienbetrieb zurückkehren.

Das lässt sich Emil Boden nicht zweimal sagen. Sofort wird er bei Adalbert Steffter vorstellig, dem Publikumsliebling am Hannoveraner Residenztheater. Der Sommer ist schön, wie sich Bendow später erinnert, und Steffter gut gelaunt. Er begutachtet den jungen Mann von allen Seiten und sagt schließlich: »Sie scheinen ja ganz anständige Garderobe zu haben, kommen Sie mit an mein Sommertheater, und ich werde sehen, ob Sie Talent haben.« Und so fährt Emil Boden nach Putbus auf Rügen, um am Fürstlichen Kurtheater erstmals jene Bretter zu betreten, die für ihn die Welt bedeuten werden. Sein Humor blitzt schon auf, als er zur Spielstätte nur trocken bemerkt: »Die Fürsten waren übrigens schon weg!«7

Dass eine gute Garderobe wichtig war, bestätigt auch Willi Schaeffers, Schauspieler, Conférencier und langjähriger Leiter des ›Kabarett der Komiker‹ am Lehniner Platz in Berlin-Charlottenburg. Als er 1902 bei der Theater- und Konzertagentin Dora Bauer-Sachse vorspricht, wird er zuerst nach seiner Garderobe gefragt: »Sie brauchen einen Frack, Gehrock, Lackschuhe, anständigen Straßenanzug. Haben Sie das?« Erst als er die Frage bejaht, wird er für 50 Mark monatliche Gage und 50 Pfennig Tagesdiäten für das ›Berliner Novitäten-Theater‹ engagiert, das aber trotz seines Namens ausschließlich an Wanderbühnen in Ostpreußen und Schlesien gastiert.8

In Putbus tritt Emil Boden erstmals unter dem Künstlernamen Wilhelm Bendow auf. Schon bei seiner ersten Rolle geht so ziemlich alles schief. Laut Regieanweisung soll er in der Komödie Madame Sans-Gêne (»Frau ohne Schamgefühl«) als Schuster der Titelfigur Schuhe anpassen und gleichzeitig seinen Text deklamieren, aber er ist sehr nervös – und der Schuh ist sehr klein. Im Eifer des Gefechts verheddert er sich auch noch im Text, was seine Nervosität weiter steigert. Seine Bühnenpartnerin wird ungehalten und improvisiert: »Was ist denn, ist der Schuh zu klein, kriegen Sie den Fuß nicht hinein?« Bendow ist nun völlig aus dem Konzept. Ratlos und verdattert ruft er laut: »Ich krieg’ ihn nicht rein, ich krieg ihn nicht rein!« Das Publikum lacht, Applaus brandet auf. Bendow hätte sich dafür gerne einen besseren Moment gewünscht; er ist sicher, dass seine gerade begonnene Karriere soeben ihr jähes Ende gefunden hat. Doch weit gefehlt: Der Direktor ist begeistert: »Sie sind ja der geborene Komiker!« Dabei will Bendow doch eigentlich ein ernsthafter Schauspieler sein, ein jugendlicher Liebhaber wie Mortimer in Schillers Maria Stuart. Aber daraus wird in Putbus nichts.9 Und so wechselt er nach nur einer Saison von Rügen ans Neue Stadttheater Beuthen (Oberschlesien, heute Bytom). Aber auch dort bleibt er nur kurz; sein Weg führt ihn nach Berlin. Hier, an der von Max Reinhardt gegründeten Schauspielschule des Deutschen Theaters, unterrichtet Alexander Strakosch. Der kleine, energische Schauspieler mit dem wilden Vollbart gilt als strenger, aber deshalb wohl auch als einer der besten Lehrer. Von Bendows erster Begegnung mit Strakosch berichtet das Programmheft10 des Berliner Varieté-Theaters Wintergarten im Februar 1932:

Eines Tages erschien ein junger Mensch aus dem Hannoverschen, mit einem Kneifer behaftet, dem man ansehen konnte, daß sein Inhaber unter ganz starker Kurzsichtigkeit zu leiden hatte. Etwas linkisch stellte er sich vor: ›Mein Name ist Wilhelm Bendow – ich möchte gerne zum Theater gehen. Gestatten Sie mir, Ihnen etwas vorzusprechen?‹ Strakosch gestattet – und Bendow legt mit dem Mortimer aus ›Maria Stuart‹ los. Es klang stark nach Hannover, er s-tolperte über jeden s-pitzen S-tein. Strakosch ließ ihn die Erzählung beenden und fragte ihn, was er jetzt sei. ›Ich bin Kaufmann in Hannover‹, war die Antwort. Daraufhin prüft er ihn auf Herz und Nieren. Hinter verschiedenen Türen des Arbeitszimmers muss Bendow seine Sprechtechnik und Durchdringungskraft unter Beweis stellen: ›Barbara saß nah am Abhang‹, ›Wie sie friedlich, lieblich blicket‹, ›Unter Ulms Ulmen fuhren bunte Fuhren‹ und ähnliche Satzkonstrukte rauben ihm den Atem. Strakosch schüttelt den Kopf. ›Da ist noch eine Tür. Sehen Sie? Öffnen Sie sie weit!‹ Bendow tut es. ›Was sehen Sie da?‹ – ›Eine Hintertreppe!‹ Da schreit Strakosch los: ›Die gehen Sie jetzt hinunter und lassen sich nie mehr vor mir blicken, Sie talentlose Bestie, Sie! Zurück nach Hannover und Kaufmann bleiben!‹ Bendow steht eine Weile unschlüssig auf der Straße, dann geht er kurz entschlossen die Vordertreppe wieder hinauf und klingelt erneut. Der Meister öffnet und wird blaß. Bevor er etwas sagen kann, stellt Bendow seinen Fuß in die Tür. ›Was wollen Sie jetzt noch?‹, fragt Strakosch entgeistert. ›Ihnen den Lanzelot Gobbo vorsprechen …‹ – eine Figur aus Shakespeares ›Der Kaufmann von Venedig‹ –, ›… vielleicht habe ich Talent zum Komiker.‹ Er beginnt zu rezitieren, Strakoschs Antlitz hellt sich zusehend auf, und Berlin hat einen neuen Komiker. So erzählt es jedenfalls Bendow.

Der neue Schüler ist fleißig – so fleißig, dass er bereits 1907 am neu eröffneten Schiller-Theater in Charlottenburg auftreten kann. Trotz geringer Erfahrung spielt er schnell auch umfangreiche Rollen, wie in Lessings Minna von Barnhelm, in Björnsons Fallissement oder im Schauspiel Traumulus von Arno Holz und Oskar Jerschke. Seine erste Presseerwähnung findet er im Juni 1907 nach der Premiere von Arthur Dinters Komödie Die Schmuggler: »Sehr fein vom Dichter wie von den Darstellern ausgestattet war ein zimperliches Professorsehepaar aus Mühlhausen (Wilhelm Bendow und Lotte Holms).«11 Schnell wird Max Reinhardt, der »Theaterzauberer«, wie er später einmal genannt werden wird, auf ihn aufmerksam und holt ihn ans Deutsche Theater. Von 1908 bis 1913 steht er hier und in den angeschlossenen Kammerspielen auf der Bühne. Unter der Regie von Reinhardt und weiteren angesehenen Regisseuren spielt er in Stücken von Nestroy (Revolution in Kräwinkel), Arno Holz (Sozialaristokraten), Shakespeare (Hamlet, Was ihr wollt, Der Widerspenstigen Zähmung und Viel Lärm um Nichts), Goethe (Faust), Leo Tolstoi (Der lebende Leichnam) und weiteren bekannten und neu entdeckten Autoren. In der Besprechung zu Thomas Manns Fiorenza schreibt die Presse, dass er im ersten Akt »etwas zu kindisch« sei,12 seine Shakespeare-Figuren Güldenstern [in Hamlet] oder Junker Bleichenwang [in Was ihr wollt] dagegen werden so etwas wie ein Markenzeichen. Die schrulligen und kauzigen Typen gelten als Vorboten seiner zukünftigen Kabarettkarriere: Es sind tollpatschige Ritter von der traurigen Gestalt mit heller, seufzender Stimme, die man, einmal im Ohr, so schnell nicht wieder vergisst.13 Nicht alle Aufführungen sind erfolgreich; einige Stücke laufen nur wenige Male, andere dagegen werden um die einhundert Mal gespielt. Er hat das große Glück, mit der Crème de la crème des deutschen Schauspiels zusammenarbeiten zu können: Albert Bassermann, Tilla Durieux, Otto Gebühr, Lucie Höflich, Fritz Kortner, Ernst Lubitsch, Alexander Moissi oder Adele Sandrock, um nur einige zu nennen. Immer öfter taucht Bendows Name jetzt auch in Rezensionen auf, meist in wohlwollender Weise. Nach einer erneuten Traumulus-Inszenierung schreibt eine Berliner Zeitung: »Wilhelm Bendow, den man sonst nur in schüchternen komischen Rollen gesehen hatte, fiel als junger Zedlitz ganz besonders auf. Er behauptete sich neben Albert Bassermann in der großen dramatischen Szene und erschütterte das Publikum.«14

Schon früh bekommt Wilhelm Bendow auch Kontakt zum Film. Junge Talente, die möglichst wenig kosten, werden gesucht. Aber nach nur zwei Engagements widmet er sich wieder der Bühne und folgt 1913 zunächst einem Ruf nach Hamburg. Der »bekannte Darsteller jugendlich-schüchterner Rollen«15 wird an das Deutsche Schauspielhaus verpflichtet. Bereits in seiner ersten Spielzeit wird er in siebzehn Produktionen von besserer Statisterie bis hin zu tragenden Figuren eingesetzt. Hervorzuheben ist der Shakespeare-Zyklus mit Was Ihr wollt, König Heinrich IV., König Heinrich V., Der Widerspenstigen Zähmung und Die lustigen Weiber von Windsor; aber natürlich stehen auch viele anderen Werke auf dem Spielplan.

Anfang August 1914 erklärt das Deutsche Reich zunächst Russland, kurz darauf auch Frankreich den Krieg. Bendow wird einberufen. »Dann kam der erste Weltkrieg, den ich als Armierungssoldat die Ehre hatte mitzumachen. Viele behaupten, dass ich daran Schuld war, dass wir den Krieg verloren haben!«, schreibt er später.16 Aber er hat Glück und muss nicht die gesamte Kriegszeit dienen; bald kann er schon wieder auf der Bühne stehen. 1916 wechselt Bendow nach drei Jahren am Deutschen Schauspielhaus für die Sommer- und Winterspielzeit ans Hamburger Thalia-Theater.17 Aus der »Sommer- und Winterspielzeit« werden allerdings drei Jahre.

Hatte er bei Reinhardt überwiegend in Klassikern auf der Bühne gestanden und in den ersten Hamburger Jahren Kontakt zu moderneren Stücken gehabt, ist das Thalia-Theater auch ein Hort der leichten Muse. Hier spielt er in Lustspielen wie Der Raub der Sabinerinnen oder in Operetten wie Im Weißen Rößl; aus dem jugendlichen Liebhaber wird immer mehr ein jugendlicher Komiker, der »dem Publikum Veranlassung zu einem fröhlichen, sorgenbefreienden Lachen« gibt, aber »auch menschlich ernste Charaktere zu erfassen imstande ist.«18

Wie richtig diese Einschätzung ist, zeigen die erhaltenen Belege seines Schaffen, auch wenn sie nur einen Bruchteil davon wiedergeben können. Dafür hatte er zu viele Auftritte bei Wohltätigkeitsveranstaltungen, Bällen oder ähnlichen Gelegenheiten. Auch sind Manuskripte, Texte und Conférencen nur in Ausnahmefällen erhalten geblieben – und: Bendow hat seine Darbietungen fast immer den jeweiligen Situationen angepasst, so dass sie Unikate blieben. Zum Glück aber gibt es Zeitungsberichte, Überlieferungen von Kollegen und anderen Zeitzeugen, liebevoll in Archiven zusammengetragene Zeugnisse seines Wirkens sowie zum Teil wieder neu veröffentlichte Tonträger, die einen guten, wenn auch eben nicht umfassenden Blick auf einen heute zu Unrecht unterschätzten und fast vergessenen Ausnahmekünstler ermöglichen.

HUBERT VON MEYERINCK DER EWIGE PREUSSE

Als er 1971 stirbt, trauert das Publikum um einen der wohl meist beschäftigten deutschen Film- und Fernsehschauspieler, der als König der zweiten Garde, als »heimlicher Fürst der Filmkomparsen [und] ein Star der Anonymen«19 galt. Viele seiner Rollennamen tragen militärische Titel oder Adelsprädikate – manchmal auch beides. Viele seiner Filme, vor allem nach 1950, sind Schwänke, Schnulzen, Klamotten und ähnliche Produkte der leichten Unterhaltung. Nur die wenigsten wissen, dass mit dem Tode Hubert von Meyerincks ein Kabarettist und Erzkomödiant, aber auch ein Mephisto, ein Mackie Messer oder ein Agamemnon von der Bühne abgetreten ist.

Bei Agamemnon ist das sogar wörtlich zu nehmen, denn noch kurz vor seinem Tode glänzt Hupsi, wie ihn ausgewählte Freunde nennen dürfen, in dieser Rolle in Peter Hacks Schauspiel Die schöne Helena, einer Bearbeitung der gleichnamigen Operette von Jacques Offenbach, am Hamburger Thalia-Theater. Was für eine Entwicklung: 1932 huldigte er noch neben Theo Lingen als einer der beiden griechischen Könige namens Ajax dem Großkönig Agamemnon, dem Onkel der Titelheldin – vierzig Jahre später spielt er ihn selbst. Daher heißt es in einem Nachruf zu Recht, dass es leicht war, ihn zu unterschätzen, ihn auf die ulkige Type zu reduzieren. Denn es gab Rollen, die »die künstlerische Dimension des urkomischen Herrn von Meyerinck fast zum Erschrecken offenbarte. Wer das Glück hatte, ihn in Günter Neumanns genialischem Nachkriegskabarett ›Schwarzer Jahrmarkt‹ zu sehen, sah betroffen das Tragische und Dämonische, dessen dieser ewig krähende, strampelnde, motorisch-überdrehte Spaß-, Lärm- und Unfugmacher fähig war.«20

Hubert Georg Werner Harald von Meyerinck erblickt am 23. August 1896 in Potsdam das Licht der Welt, und der Lebensweg des neuen Erdenbürgers scheint klar vorgezeichnet: Der Sohn eines Hauptmanns im Garde-Jäger-Bataillon zu Potsdam und Enkel eines Kommandeurs der Roten Gardehusaren wird als Nachkomme einer veritablen Militärdynastie eine Karriere in der Armee anstreben. Aber es kommt natürlich anders: Zwar entwickelt sich der Filius zu einer Art ewigem Preußen, aber nicht, wie erwartet, auf dem Kasernenhof. Meyerinck wird in seiner Karriere, insbesondere nach 1945, zum perfekten Darsteller eines schnarrenden Militaristen, den er auf der Bühne und in vielen Film- und Fernsehproduktionen mit und ohne Uniform ironisch übertrieben darstellt. Aber er kann auch säuseln und kokett Süßholz raspeln. Das macht ihn zu einem vom Publikum geliebten und gefeierten, in der professionellen Wahrnehmung aber oft unterschätzten Künstler. Was gerne vergessen wird: Die Bühne ist das eigentliche Metier des Mimen mit dem glatt polierten Charakterkopf. Doch der Weg dorthin ist noch weit.

Eins vorweg: ›Hupsi‹ ist kein gewöhnlicher Spitzname, sondern Beleg für das innige Verhältnis zwischen Hubert von Meyerinck und den Menschen, die ihn so nennen durften. Meyerinck – nicht nur in dieser Frage ganz vom alten Schlage – liebt keine plumpen Vertraulichkeiten; auch wenn er, wie seine Lebens- und Bühnengeschichte eindrücklich zeigt, alle Spielarten von kokett bis exaltiert beherrscht, ist er immer ein Anhänger der guten Umgangsformen. Nur bei den allerengsten Vertrauten unter seinen Kolleginnen macht er eine Ausnahme. »Hupsi ist ein Name für ›Filmfritzen‹«, sagte einst Elsa Wagner. »Ich nenne Sie Hubert, denn ich liebe Sie.«21 Else Eckersberg nennt ihn zeitlebens ›Hubertus‹.22 Und Adele Sandrock erfindet für ihn den Kosenamen ›Knurpsi‹.23 Damit dürften sich die Ausnahmen aber schon erschöpft haben. Noch im hohen Alter reserviert er den Spitznamen für ausgewählte Menschen. Das muss auch der Schauspieler Rolf Nagel erfahren: »1966 kam ein Kollege ans Thalia-Theater, den ich auch aus vielen Filmen kannte, Herr Hubert von Meyerinck. Das ›Herr‹ ist nicht ironisch gemeint, sondern drückt meinen Respekt aus. Ein Schauspieler, komödiantisch, witzig und ernst, melancholisch und ein Muster an Pünktlichkeit, immer bestens vorbereitet, diszipliniert, angeboren formvollendet. Er wurde oft ›Hupsi‹ genannt, aber er liebte diese Vertraulichkeit nicht von jedermann. Wenn jemand zu kumpelhaft wurde, sagte er: ›Für Sie immer noch Herr von Meyerinck.‹« Ein Jahr später, kurz vor der Premiere des Theaterstücks ›Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung‹, schenkt Meyerinck ihm sein Buch ›Meine berühmten Freundinnen‹ mit der Widmung: »Lieber Rolf! Ab heute ›Dein‹ Hupsi.«24

Der Kosename leitet sich übrigens nicht, wie man glauben könnte, vom Vornamen Hubert ab, sondern ist den drahtigen Bewegungen des rastlosen Schauspielers geschuldet, der nur selten ruhig sitzen konnte.

Als Hubert von Meyerinck zur Welt kommt, ist die Monarchie noch in bester Ordnung. Es ist gerade mal vier Jahre her, dass Kaiser Wilhelm II. in einer schneidigen Rede vor dem brandenburgischen Landtag versprochen hat, sein Volk »herrlichen Tagen« entgegenzuführen. Und es wird keine vier Jahre mehr bis zum Wechsel des Jahrhunderts dauern – bis zum Beginn von etwas Neuem, etwas Großem. Auch den kleinen Hubert erwartet, ganz in der familiären

Das älteste erhaltene Foto: Hubert von Meyerinck im Alter von zwei Jahren

Tradition, eine große Zukunft: Bei seiner Taufe wird ihm der Hohenzollern-Orden Sehr edler Orden vom Weißen Hirschen Sancti Huberti seines seligen Großonkels, des kaiserlichen Oberjägermeisters Richard Hermann von Meyerinck, auf das Taufkleid gelegt. Diese Auszeichnung, ein goldener Hirsch an grünseidenem Band mit goldener Inschrift: »Vive le roi et les chasseurs« (Es lebe der König und die Jäger), wird wie fast alle persönlichen Erinnerungsstücke 1943 einem Bombenangriff auf Berlin-Charlottenburg zum Opfer fallen.

Kurz vor dem Wechsel des Jahrhunderts werden die Grundfesten der Familie von Meyerinck bis aufs Mark erschüttert. Der Vater Friedrich-Karl von Meyerinck, mit Leib und Seele Soldat, nimmt Mitte 1899 mit einem Paukenschlag seinen Abschied vom Militär. Meyerinck schreibt später, dass der Vater aus Ärger über seinen Kommandeur vor der gesamten angetretenen Front des Garde-Jäger-Bataillons mit seinem Pferde kehrtgemacht habe und davongaloppiert sei,25 tatsächlich aber hat der Vater ganz normal seinen Dienst quittiert, wie die NORDDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG vermerkt.26 Und mehr noch: Dem Hauptmann a. D. von Meyerinck wird wenige Wochen später der Rothe Adlerorden vierter Klasse verliehen.27 Nach einem Kuraufenthalt am Tegernsee, den der Keuchhusten des Sprösslings erfordert, ziehen sich die Meyerincks noch im selben Jahr auf das Familiengut Kiewitz in Posen in der Nähe der Stadt Schwerin an der Warthe zurück.

Huberts Mutter Caroline, geborene (von) Hoppenstedt,28 ist von der ebenso spontanen wie überraschenden Entscheidung ihres Mannes sehr angetan, denn sie entstammt einem freigeistigen, liberalen Haus. Ihr Vater ist Landesökonomierat Georg Wilhelm Hoppenstedt, der auf Gut Liebenburg im Kreis Goslar residiert. Ihre Jugend verbringt sie auf Gut Schladen (Kreis Wolfenbüttel), das seit 1869 zusätzlich von der Familie bewirtschaftet wird. Linne, wie sie genannt wird, wächst mit großer Abneigung gegen kriegerische Handlungen aller Art auf. Dass sie einmal einen Soldaten ehelichen würde, wurde ihr gewiss nicht in die Wiege gelegt, und so wird aus ihr auch keine klassische Soldatenfrau. Sie wird sogar einmal als junge Leutnantsgattin in Potsdam festgenommen, als sie aus ihrem Heimatgut Schladen eine Gans mitbringt, ohne Zoll zu bezahlen. Ein Unteroffizier folgt ihr, öffnet ihre Tasche, entdeckt das Tier und nimmt Caroline von Meyerinck fest. Der Arrest dauert allerdings nicht lange. Bei der Schwiegertochter eines Generals macht das sonst so strenge Militär eine Ausnahme. Sie findet es trotzdem albern: »Ich bin eine Hannoveranerin und keine Preußin«, sagt sie. Das führt zu der ersten Verstimmung zwischen den Eheleuten. Es wird nicht bei dieser einen Verstimmung bleiben.29

In jenen Jahren werden viele Ehen zwischen (oft verarmten) Offizieren und (oft wohlhabenden) adeligen Fräuleins geschlossen, an denen die Beteiligten aber häufig zerbrechen. »Die jungen Damen gingen weg wie frische Brötchen«, erinnert sich Meyerinck. »Damals kannte man sich vor der Hochzeit nicht so gut wie heute. Da verlobte man sich und wurde von der Schürze der Mutter weg geheiratet. Dann kam die Erkenntnis, und dann die Enttäuschung.«30

Die Erkenntnis heißt: Die Ehe wurde unglücklich, wie man in jenen Jahren zu sagen pflegt. Auch wenn Friedrich-Karl von Meyerinck und Caroline von Hoppenstedt aus Liebe geheiratet haben mögen, so passen sie doch nicht wirklich zueinander – »sie in ihrer äußeren und inneren Zartheit, er in seiner strahlendschönen, gewalttätigen Männlichkeit.«31 Hubert von Meyerincks Vater ist nach Aussage seines Sohnes ein schöner Mann mit stahlblauen Augen, dunklen Augenbrauen, einer leicht gebogenen, aristokratischen Nase und wissenden Lippen. Groß und stark, jähzornig und grundgut, kurz: Ein Mann im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Mutter hingegen beschreibt er als helle Erscheinung, mit blondem Haar, einer hohen, schlanken Gestalt mit zartem, feinem Gesicht und gütigen blauen Augen – eben eine Dame. »Sie war keine Schönheit wie Vater, aber sie hatte dieses gewisse je ne sais pas quoi, so daß die Leute sich nach ihr umdrehten.«32 Da hilft es auch nicht viel, dass der Vater vom Soldaten zum Gutsbesitzer umsattelt und damit die tiefste Sehnsucht der Mutter stillt. Sie, die vom Lande kam, will nichts anderes als wieder zurück aufs Land, weg von der hochmütigen Residenzstadt Potsdam, hin zum eher einfachen und selbstbestimmten Leben. Auch wenn sie im Aussehen einer Potsdamer Baronin gleicht, ist sie doch im Inneren eine freie, europäisch denkende Frau.33 Für den Sohn aber ist der Umzug auf das Gut die Erfüllung eines nie geahnten Kindheitstraumes. Bis ins hohe Alter wird sich Meyerinck an das weiße Haus mit den hohen Kastanien davor erinnern, an die hellen, lichtdurchfluteten Zimmer, an den Park mit dem kleinen, von Wasserrosen überwucherten Weiher und an die Menschen, die dort ihr Leben lebten.34 Kiewitz wird für ihn zur Heimat und wird es zeitlebens bleiben.

1902 wird Hubert von Meyerinck in der Grundschule zu Schwerin an der Warthe eingeschult. Als berühmtester Sohn der Stadt dürfte der zackige Militärmusiker Johann Gottfried Piefke (1815-1884) gelten, Komponist des Marschlieds Preußens Gloria und Namensgeber aller Vorurteile der Österreicher gegenüber den Preußen bzw. den Deutschen an sich. Es muss wie ein Treppenwitz der Geschichte anmuten, dass Meyerinck 1958 in der Militärklamotte Piefke, der Schrecken der Kompanie eine Hauptrolle spielen wird. In der Titelrolle des Films glänzt übrigens Harald Juhnke.

1908 wechselt er zur schulischen Weiter- und militärischen Vorausbildung an die preußische Kadettenanstalt Köslin. Dort bleibt er aber nicht lange, denn die Zerrüttung der elterlichen Ehe – der Vater bereut den Rückzug vom Militär, der im Affekt geschah – führt schließlich zur Scheidung am 3. Oktober 1909 und zum Verkauf des Familienguts. Aber die Trennung hat nicht nur berufliche Gründe: Im Laufe der Jahre war die Ehe für die Mutter zur Tragödie geworden; der herrischen und egoistischen Natur des Vaters hingegen war die seelische und körperliche Qual seiner Frau völlig entgangen, schreibt der Sohn. Das kann er seinem Vater lange nicht verzeihen, auch wenn er ihn, gegen seinen eigentlichen Willen, oft besuchen muss. Erst Jahre später, der Vater stirbt 1928, werden sich beide wieder näherkommen.35

Noch bevor die elterliche Ehe geschieden ist, ziehen Mutter und Sohn am 16. Juni 1909 nach Hannover, in eine »entsetzliche Villa am Rande der Stadt, gleich daneben ein Friedhof. Ich habe mich selten so gegraust wie in dieser Villa«, erinnert sich Meyerinck.36 So schlimm, wie er sie in Erinnerung hat, kann die neue Heimat aber nicht gewesen sein: Gemeldet sind sie in der Südstadt unter der Adresse Hildesheimer Straße 101,37 nicht weit entfernt vom Standort der Gilde-Brauerei. Das neue Domizil ist ein zweigeschossiger »Putzbau im Villencharakter mit großem Vor- und Hintergarten.«38 Der Friedhof, von dem Meyerinck schreibt, ist der Friedhof Engesohde – aber der liegt etliche hundert Meter entfernt.

Gegenüber dem Friedhof findet sich die Hoppenstedtstraße, an der die Bezirkssportanlage Süd und das Gelände des VfL Eintracht Hannover liegen. Die Straße wurde 1897 nach dem Hannoveraner Stadtdirektor Georg Ernst Friedrich Hoppenstedt benannt, einem Urgroßonkel von Caroline von Meyerinck.

Eine Lungenerkrankung zwingt die Mutter zu einer längeren Kur an die Riviera. Der Sohn soll in dieser Zeit nicht alleine bleiben – nach seiner Erinnerung kommt er zunächst in die Obhut eines Hannoveraner Pastors, bevor er nach Godesberg bei Bonn und auf das dortige Evangelische Pädagogium wechselt.39 Auch wenn er immer wieder behauptet, dreimal in der Untertertia, der achten Klasse, sitzengeblieben zu sein,40 ist das ins Reich der Legenden zu verweisen, denn er legt das Abitur im üblichen Alter von 18 Jahren ab.

Hubert von Meyerinck: undatiertes Foto aus Privatbesitz (aus Filmwoche« 6/1935)

Nach ihrer Rückkehr von der Riviera bezieht Caroline von Meyerinck am 1. Oktober 1910 eine kleinere Wohnung in der Gellertstraße 18, knapp drei Jahre später meldet sie sich aus Hannover mit dem Ziel Betzdorf/Sieg ab.41 Dort wird sie aber nie ansässig, sondern wechselt schon bald mit ihrem Sohn nach Berlin.

Hubert von Meyerinck (links) und Walther Buchler, Sohn der befreundeten Braunschweiger Unternehmerfamilie Buchler, 1913

Bereits zu Grundschulzeiten tritt Hubert von Meyerinck erstmals öffentlich auf. Der Schuldirektor hatte ihn auserkoren, zum Empfang des Oberpräsidenten der Provinz Posen ein Gedicht aufzusagen, in jenen Jahren natürlich ein vaterländisches Gedicht mit dem Titel Gut Zollern allwege. Tief beseelt brüllt er es fehlerfrei und ohne Stocken herunter, nur sein Vater versteckt sich ein wenig verlegen hinter dem örtlichen Kriegerdenkmal.42

Bald darauf folgt in Schwerin an der Warthe die erste Begegnung mit dem Theater. Im Hotel König von Preußen besucht Meyerinck mit seinen Eltern eine Vorstellung, von der sich vor allem ein Bild einprägt: hungrige Schauspieler, die Berge von Kaffee und Kuchen verzehren. Das Stück spielt an einer Kaffeetafel, und die Wirtsleute haben reichlich aufgetragen. Der kleine Hubert ist so tief beeindruckt, dass er auf der Rückfahrt im Einspänner kein Wort herausbekommt.43

Zu diesem Zeitpunkt ahnt niemand, dass der Besuch dieser »Schmierenvorstellung«, wie Meyerinck sie selbst nennt, das Tor zum Traumberuf geöffnet hat. Gewiss, der Sprössling kostümiert sich gerne und führt mit dem Hauspersonal kleine, selbstgeschriebene Stücke im heimischen Wohnzimmer auf, die Mutter und Vater durchaus amüsieren – aber Schauspieler? Doch nicht in einer vom Militär geprägten Familie! Und auch Caroline von Meyerinck nimmt den Berufswunsch des Sohnes lange nicht ernst. Das muss er erfahren, als er – bereits in Hannover – seiner Mutter den Claudio aus Hofmannsthals Der Tor und der Tod vorspricht und sich in bester mimischer Kunst rasend vor Ekstase auf dem Teppich wälzt. Die Mutter scheint ergriffen, bis dem Filius im höchsten Ausbruch die Hausschuhe von den Füßen gleiten. Spontan ertönt ein mahnendes »Junge, du hast ja Löcher in den Strümpfen!«44 Zutiefst beleidigt wankt der angehende Bühnenkünstler hinaus. Diese Kränkung wird später nur noch durch eine Tante übertroffen, die androht, ihn zu enterben, falls er zum Theater gehe.45 Zum Glück tut sie es aber nicht.

Die Bühne lässt auch den Gymnasiasten nicht los. Während der Schulzeit im Rheinland liest er heimlich die Zeitschrift Das Theater und bewundert die Schauspielerin Else Heims, die Ehefrau des berühmten Regisseurs und Theaterdirektors Max Reinhardt. In seinen Träumen korrespondiert er mit ihr – natürlich schickt er keinen seiner Briefe jemals ab – und kommt unausweichlich an den Punkt, an dem er in seiner Phantasie von ihr eine Einladung nach Berlin erhält. Das lässt in ihm einen Entschluss reifen: Er reißt aus, wirft seine Schülermütze in den Rhein und macht sich auf den Weg. Nach Berlin. Zum Theater. Und vor allem zu Else Heims. Aber er kommt nur bis Hannover, bis zu seiner Mutter.46 Die fällt aus allen Wolken, als der Filius vor der Tür steht. Sie durchschaut seine Schwindelei von der angeblichen Einladung nach Berlin und schickt ihn stante pede zurück. Wahrscheinlich veranlasst sie dieses Erlebnis, ihren Lebensmittelpunkt nach Betzdorf zu verlagern, um näher bei ihrem Sohn zu sein – auch wenn es statt Betzdorf dann Berlin werden wird. Später, als Meyerinck tatsächlich mit Else Heims auf der Bühne steht oder mit seiner Mutter zum Tee in ihrem Salon sitzt, verschweigt er diese Eskapade allerdings.

1914 besteht Hubert von Meyerinck sein Abitur und absolviert im Anschluss – wie für adlige junge Männer üblich – eine Offiziersvorausbildung, die mit dem Fähnrich-Examen endet. Am 29. September 1914, knapp zwei Monate nach Beginn des ersten Weltkriegs, meldet er sich freiwillig bei der Ersatz-Eskadron (Kompanie) des Leibdragoner-Regiments 20 in Karlsruhe.47 Allerdings wird er aufgrund eines Lungenleidens untauglich geschrieben und vom Militärdienst befreit, verbringt einige Zeit in Sanatorien und gilt fortan in Teilen der Familie als Drückeberger. Dass ein Meyerinck nicht in der Armee dient, zudem noch im Krieg – das ist für die soldatisch geprägte väterliche Verwandtschaft kaum vorstellbar. Dass er Schauspieler werden will und, wie sich herausstellt, auch noch homosexuell ist, passt noch weniger in die Welt der preußischen Militärdynastie. Damit beginnt eine Entfremdung, die Hubert von Meyerinck bewusst und auch durchaus selbstbestimmt betreibt, denn er empfindet weder seine sexuelle Orientierung noch seinen Berufswunsch als Makel. Schließlich kann er ja nichts für das ebenso soldatische wie archaische Weltbild seiner väterlichen Familie. Außer seiner Mutter werden es daher bis zu seinem Tode nur wenige Familienangehörige sein, denen er zugewandt bleibt. Aber jetzt endlich akzeptiert auch Caroline von Meyerinck den Berufswunsch des Sohnes; ähnlich wie bei Wilhelm Bendow ist die Einwilligung aber an eine Bedingung geknüpft: Hat er Erfolg, ist es gut – bleibt der Erfolg aus, muss er den Beruf an den Nagel hängen.48 Meyerinck ist selig, er legt einen Fleiß an den Tag, den seine Lehrer zu Schulzeiten schmerzlich vermissen mussten.

In Berlin beziehen Mutter und Sohn eine Wohnung in Charlottenburg, das damals noch eine eigenständige Stadt ist. Die Adresse Giesebrechtstraße 18 wird für mehr als ein Vierteljahrhundert seine Heimat und ein (nicht nur) in Kollegenkreisen beliebter Treffpunkt für Premierenpartys und legendäre sonntägliche Tanztees. »Dort türmten sich Kuchen und belegte Brötchen auf den Tischen, und Sekt, Wein und Schnaps flossen in Strömen«, heißt es.49

Schon bald nach der Ankunft in Berlin beginnt Meyerinck bei Rudolf Lettinger50 mit dem Schauspielunterricht. Und er schließt die ersten Bekanntschaften, zum Beispiel mit Prinz Friedrich Leopold von Preußen, dessen Vater ein Vetter des Kaisers und dessen Mutter eine Schwester der Kaiserin ist. Wo er den Prinzen kennenlernt, ist nicht überliefert, wie er in dessen Elternhaus eingeführt wird, dagegen schon: Meyerincks Cousine Elisabeth von Wätjen, die in Schloss Glienicke ein- und ausgeht, präsentiert ihren Cousin mit den Worten: »Darf ich den Königlichen Hoheiten meinen Vetter vorstellen, er sieht zwar aus wie ausgekotzt, aber er ist ein guter Junge.«51 Hubert geniert sich, die Hoheiten amüsieren sich, die Freundschaft mit dem Prinzen nimmt ihren Lauf. Leo, wie Freunde ihn nennen, liebt das Theater, richtet gerne Wohnungen ein – und die Tischdekorationen seiner Diners sind legendär. Meyerinck erinnert sich: »Er passte viel mehr in meine als in seine Welt«,52 und verklausuliert damit die Tatsache, dass Prinz Friedrich Leopold ebenfalls homosexuell ist.

Prinz Friedrich Leopold von Preußen

Leo verbringt seine Zeit zwischen Lugano und Glienicke, malt, sammelt Kunst und lebt offen mit seinem Partner zusammen. Vom Militarismus hält der Prinz ebenso wenig wie Meyerinck, er bevorzugt la dolce vita. Sein ausschweifender und verschwenderischer Lebensstil stößt nicht nur in der Familie auf Kritik; das Ministerium des königlichen Hauses betreibt ab 1917 sogar die Entmündigung, der entsprechende Beschluss wird aber 1918 wieder aufgehoben. Aber auch die Republik kann mit dem dandyhaften Lebensstil des Prinzen nicht viel anfangen.

Meyerinck begleitet ihn auf Reisen im Auto oder im Salonwagen, verbringt amüsante Abende in Leos Münchner Wohnung ebenso wie in dessen Elternhaus in Glienicke und kann auf viele Premieren mit anschließenden Diners zurückblicken.53