Tuberkulose - John Green - E-Book

Tuberkulose E-Book

John Green

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Beschreibung

Ein mitreißendes Plädoyer von John Green für den Kampf gegen die tödlichste Infektion der Welt

Auf einer Reise nach Sierra Leone lernt Bestsellerautor John Green den jungen Henry kennen, der mit Tuberkulose im Krankenhaus liegt. Seine bewegende Krankheitsgeschichte nimmt er zum Anlass, der ältesten und tödlichsten Infektionskrankheit der Welt auf den Grund zu gehen. Er will sich nicht damit abfinden, dass jährlich 1,5 Millionen Menschen sterben, obwohl es seit langem wirksame Medikamente gegen Tuberkulose gibt. John Green fordert Lösungen für diese globale Gesundheitskrise: weltweiten Zugang zu lebensrettender Behandlung, erschwinglichere Medikamente, Aufmerksamkeit und Engagement. Sein Buch ist ein Appell, hinzusehen und zu handeln. Eine berührende, informative und dringliche Lektüre für alle, die sich für soziale Gerechtigkeit und Gesundheit einsetzen.

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Seitenzahl: 245

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das ist das Cover des Buches »Tuberkulose« von John Green

Über das Buch

Ein mitreißendes Plädoyer von John Green für den Kampf gegen die tödlichste Infektion der WeltAuf einer Reise nach Sierra Leone lernt Bestsellerautor John Green den jungen Henry kennen, der mit Tuberkulose im Krankenhaus liegt. Seine bewegende Krankheitsgeschichte nimmt er zum Anlass, der ältesten und tödlichsten Infektionskrankheit der Welt auf den Grund zu gehen. Er will sich nicht damit abfinden, dass jährlich 1,5 Millionen Menschen sterben, obwohl es seit langem wirksame Medikamente gegen Tuberkulose gibt. John Green fordert Lösungen für diese globale Gesundheitskrise: weltweiten Zugang zu lebensrettender Behandlung, erschwinglichere Medikamente, Aufmerksamkeit und Engagement. Sein Buch ist ein Appell, hinzusehen und zu handeln. Eine berührende, informative und dringliche Lektüre für alle, die sich für soziale Gerechtigkeit und Gesundheit einsetzen.

John Green

Tuberkulose

Es ist Zeit, die tödlichste Infektion der Welt zu besiegen

Aus dem Englischen von Sophie Zeitz

Hanser

Für Shreya Tripathi, Henry Reider und Tb-Fighter rund um die Welt

Vorwort

Gregory und Stokes

Der schottische Erfinder und Chemiker James Watt arbeitete um 1800 an einem neuen Projekt.

Er hatte es schon durch seine patentierte Verbesserung der Dampfmaschine zu Ruhm und Erfolg gebracht, die der industriellen Revolution auf die Sprünge half und damit die Menschheitsgeschichte in neue Bahnen lenkte. Die Dampfmaschine war die Mutter aller Errungenschaften, von der Dampflok über die Luftfahrt bis zu den AirPods, und blies außerdem über eine Billion Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre, womit sie das Klima unseres Planeten veränderte. Durch Watts Innovation war die Dampfmaschine so viel leistungsstärker, dass wir die Maßeinheit der Leistung nach ihm benannt haben. Watt steuerte zum Werkzeug- und Wissensschatz der Menschheit auch andere wichtige Erfindungen bei, zum Beispiel eine Maschine, die Skulpturen kopieren konnte, und neue Verfahren der Chlorherstellung, um Textilien zu bleichen.

Aber Watt hoffte, sein neuestes Projekt würde alle anderen in den Schatten stellen. Um die Wende zum 19. Jahrhundert setzte er alles daran, eine chemische Verbindung zu finden, um die Lungenkrankheit zu heilen, die die Ärzte Phthisis nannten.

1794 war Watts 15-jährige Tochter Jessy an Phthisis gestorben. Nun war auch sein Sohn Gregory krank und litt an den klassischen Symptomen: hartnäckiger Husten, Nachtschweiß, Fieber und der körperliche Abbau, dem die Krankheit ihren umgangssprachlichen Namen verdankte — Schwindsucht. Gregory war Anfang zwanzig, ein hervorragender Redner und offenbar phänomenal attraktiv — ein Freund beschrieb ihn als »fürwahr den schönsten Jüngling, den ich je gesehen habe«.

Im verzweifelten Versuch, Gregorys Leben zu retten, erfand James Watt ein Gerät, das Lachgas in die Lungen leitete, in der Hoffnung, dass die Veränderung der verfügbaren Sauerstoffmenge den Körper bei der Heilung unterstützen würde. Aber die Behandlung erwies sich als erfolglos. 1804 erlag Gregory der Schwindsucht nach langem Leiden im Alter von 27 Jahren.

Im Jahr 1900 hatte sich für die Phthisis ein neuer Name etabliert: Tuberkulose. In diesem Jahr kam mein Großonkel Stokes Goodrich in einer Kleinstadt im ländlichen Tennessee zur Welt. Das Holzhaus, in dem er aufwuchs, hatte mein Urgroßvater Charles erbaut, der als Landarzt Tag und Nacht durch Franklin County ritt, um Geburtshilfe zu leisten und Kranken Medizin zu geben.

Mein Großonkel Stokes war ein kränkliches Kind. Früher — und ich schätze, bis heute — führte man Krankheiten gerne auf irgendeinen Fehler, eine Schwäche oder ein Laster zurück, die man zum Sündenbock machte. Ein deutscher Arzt aus Eisenach erklärte im 18. Jahrhundert zum Beispiel, die lebensgefährliche Krankheit einer Frau sei »vom lauten Gebell eines Hundes« ausgelöst worden. Im Fall meines Großonkels Stokes gab man einem Freund der Familie die Schuld, der Stokes, als er klein war, mit Kaffee und Süßigkeiten gefüttert hatte. Wenig später erlitt Stokes »den schlimmsten Fall von Typhus, den ich je einen Menschen überleben sah«, wie mein Urgroßvater später in unserer kurzen Familienchronik festhielt.

1918 entging der 16-jährige Stokes ein weiteres Mal nur knapp dem Tod, als er sich bei der Arbeit in einer Munitionsfabrik mit der Spanischen Grippe ansteckte. Er überlebte und trat 1920 eine Stelle als Leitungsmonteur für die Alabama Power & Light Company an. Im gleichen Jahr erkrankte Stokes an mehreren Infekten, die er optimistisch für Bronchitis hielt, aber der hartnäckige Husten ging nicht weg, und als er schließlich Blut zu husten begann, ging er zum Arzt.

So beschrieb mein Urgroßvater, was dann passierte: »Stokes besuchte einen ausgezeichneten Arzt in Gadsden, Alabama, der seine Brust röntgte und Tuberkulose an der rechten Lungenspitze entdeckte. Der Röntgenassistent, der das Bild entwickelte, sagte zu mir: ›Dr. Goodrich, Ihr Sohn hat Miliartuberkulose, und ich habe noch keinen Fall gesehen, der länger als zwei Monate zu leben hat.‹«

Stokes kam sofort in ein Sanatorium in Asheville, North Carolina, eine von vielen Kurstädten in den USA, die sich zu Tuberkulosekolonien entwickelten. »Trotz der besten Pflege, die Stokes im Sanatorium erhielt, ging es mit ihm bergab, bis er am 18. Mai 1930 über den Fluss zu seinem Herrn ging.«

Mein Großonkel Stokes starb mit 29 Jahren. Ich frage mich oft, wie es für meinen Urgroßvater gewesen sein muss, der Medizin studiert hatte, Arzt war und seinen kranken Sohn trotzdem nicht retten konnte.

Die Menschen haben so viel Macht, dass wir die Nacht erleuchten können, dass wir Lebensmittel kühlen können, dass wir die Atmosphäre verlassen und die Erde im All umkreisen können. Und doch können wir die, die wir lieben, nicht vor Leid bewahren. Das ist die Geschichte der Menschheit, wie ich sie verstehe — die Geschichte eines Lebewesens, das so viel kann, nur das nicht, was es am meisten will.

Seit dem Tod von Jessy und Gregory Watts sind über 200 Jahre vergangen, und fast ein Jahrhundert seit dem Tod meines Großonkels Stokes. Trotzdem sind im Jahr 2023 über eine Million Menschen an Tuberkulose (Tb) gestorben. Tatsächlich starben 2023 mehr Menschen an Tuberkulose als an Malaria, Typhus und Krieg zusammen.

Allein in den letzten 200 Jahren hat Tuberkulose über eine Milliarde Menschenleben gefordert. In seinem Buch Tuberculosis: The Greatest Story Never Told (»Tuberkulose — die größte Geschichte, die nie erzählt wurde«) schätzt der englische Autor Frank Ryan, dass rund ein Siebtel aller Menschen, die je gelebt haben, an Tb gestorben ist. Von 2020 bis 2022 löste Covid-19 Tb als tödlichste Infektionskrankheit der Welt ab, doch 2023 hat Tb sich den Titel zurückgeholt, den sie, soweit wir wissen, seit Anfang der Menschheit gehalten hat: Mit 1.250.000 Toten pro Jahr ist Tb heute wieder unsere tödlichste Infektionskrankheit. Der entscheidende Unterschied zwischen 1804 oder 1904 und jetzt ist nur, dass Tuberkulose heute heilbar ist, und zwar schon seit Mitte der 1950er-Jahre. Wir wissen, wie wir in einer Welt ohne Tuberkulose leben könnten. Es ist unsere Entscheidung, dass wir es nicht tun.

Im Jahr 2000 hielt der ugandische Arzt, Wissenschaftler und Autor Peter Mugyenyi eine Rede, in der er die Weigerung der reichen Welt kritisierte, den Zugang zu HIV/AIDS-Medikamenten auszuweiten. Millionen von Menschen starben jedes Jahr an AIDS, obwohl die sichere und wirksame antiretrovirale Therapie ART die meisten von ihnen hätte retten können. »Wo sind die Medikamente?«, fragte Dr. Mugyenyi. »Die Medikamente sind da, wo die Krankheit nicht ist. Und wo ist die Krankheit? Die Krankheit ist da, wo die Medikamente nicht sind.«

Das Gleiche gilt für Tuberkulose. In diesem Jahr werden Tausende von Ärztinnen und Ärzten Millionen von Tb-Kranken versorgen, und wie mein Urgroßvater seinen Sohn nicht retten konnte, werden viele Patienten nicht gerettet werden können, weil das Heilmittel da ist, wo die Krankheit nicht ist, und die Krankheit da ist, wo das Heilmittel nicht ist.

In diesem Buch geht es um das Heilmittel — warum wir es erst in den 1950er-Jahren gefunden haben und warum wir zugelassen haben, dass seit seiner Entdeckung trotzdem 150 Millionen Menschen an Tuberkulose gestorben sind. Ich fing an, über Tb zu schreiben, weil ich wissen wollte, wie eine einzelne Krankheit still und leise so viel Einfluss auf die Menschheitsgeschichte haben konnte. Aber im Zuge meiner Recherchen wurde mir klar, dass Tuberkulose sowohl eine Form als auch ein Ausdruck der Ungerechtigkeit auf der Welt ist. Und mir wurde klar, dass die Art und Weise, wie wir eine Krankheit betrachten, unsere Gesellschaft und unseren Umgang mit ihr gestaltet. James Watt sah die Schwindsucht als mechanisches Versagen der Lunge, das richtige Verhältnis von Gasen aufzunehmen. Mein Urgroßvater verstand die Kränklichkeit seines Sohnes als Folge von Kaffee und Süßigkeiten in seiner Kindheit. Andere interpretierten Tb als Erbkrankheit, die nur bestimmte Persönlichkeitstypen trifft. Wieder andere dachten, die Krankheit werde von Dämonen, vergifteter Luft, einem Gottesurteil oder Whiskey verursacht. Und jede einzelne dieser Wahrnehmungen beeinflusste nicht nur, wie Menschen mit Tb lebten und daran starben, sondern auch wer mit Tb lebte und daran starb.

Heute sehen wir Tuberkulose als eine bakterielle Infektionskrankheit. Die Übertragung findet hauptsächlich durch Aerosole statt — kleinste Tröpfchen, die beim Husten, Niesen oder Sprechen von einer Person zur anderen weitergegeben werden. Jeder kann sich mit Tuberkulose anstecken — de facto sind etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Menschen infiziert. Bei den meisten Leuten ruht der Erreger, und die Krankheit bricht nie aus. Doch fünf bis zehn Prozent der Infizierten erkranken irgendwann an offener Tuberkulose. Besonders groß ist das Risiko, wenn das Immunsystem geschwächt ist, zum Beispiel durch andere Gesundheitsprobleme wie Diabetes, HIV oder Unterernährung. Von den zehn Millionen Menschen, die 2023 an offener Tb erkrankt sind, waren über fünf Millionen unterernährt. Und weil sich die Krankheit in beengten Wohn- und Arbeitsverhältnissen besonders gut ausbreitet — in Slums oder schlecht gelüfteten Fabriken —, wird Tuberkulose auch als Armutsseuche betrachtet, eine Krankheit, die den Wegen der Ungerechtigkeit und Ungleichheit folgt, die wir ihr geebnet haben.

Die Welt, die wir teilen, ist das Ergebnis aller Welten, die wir je geteilt haben. Und für mich zeigen sich, zumindest in der Geschichte und der Gegenwart der Tuberkulose, die ganze Torheit und Brillanz und Grausamkeit und Mitgefühl der Menschheit.

Meine Frau Sarah zieht mich gern damit auf, dass für mich alles mit Tuberkulose zusammenhängt und Tuberkulose mit allem zusammenhängt. Und damit hat sie recht.

Kapitel 1

Lakka

Bei meinem ersten Besuch im Lakka Government Hospital vor ein paar Jahren wollte ich eigentlich gar nicht dort sein.

Sarah und ich waren in Sierra Leone, einem Land in Westafrika mit fast neun Millionen Einwohnern, weil wir mehr über die staatliche Gesundheitsversorgung von Müttern und Neugeborenen erfahren wollten. Zu dieser Zeit hatte Sierra Leone die höchste Müttersterblichkeit der Welt — jede 17. Frau starb während der Schwangerschaft oder bei der Geburt —, und wir waren dort, um mit Menschen zu sprechen, die von der Krise betroffen waren, und ihre Geschichten aufzuschreiben.1

Wir waren also eigentlich wegen der hohen Müttersterblichkeit da, nicht wegen der Tuberkulose, und an unserem letzten Tag in Sierra Leone war ich krank und erschöpft. (Ich bin ein bisschen fragil, was meine Gesundheit angeht, und bei fast allem anderen auch.) Aber der Arzt, der mit uns reiste, bat uns, mit nach Lakka zu kommen. Er sagte, das Lakka-Hospital, das von der internationalen Non-Profit-Organisation Partners in Health unterstützt wird, liege mehr oder weniger auf dem Weg zum Flughafen, und er müsse dort ein paar Fälle mit Kollegen besprechen.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich fast nichts über Tuberkulose. Für mich war es eine Krankheit aus der Vergangenheit — ein diffuses Leiden, das depressiven Dichterinnen und Dichtern des 19. Jahrhunderts den Garaus machte, nicht Menschen aus der Gegenwart. Aber wie ein Freund einmal zu mir sagte: »Nichts ist so privilegiert wie die Annahme, die Geschichte wäre Vergangenheit.«

Als wir in Lakka ankamen, wurden wir direkt von einem kleinen Jungen begrüßt, der sich als Henry vorstellte. »Henry heißt auch mein Sohn«, entgegnete ich, und er lächelte. Die meisten Sierra-Leoner sprechen mehrere Sprachen, aber Henrys Englisch war besonders gut, vor allem für ein Kind, und so konnten wir ein Gespräch führen, das über meine paar Brocken auf Krio hinausging. Ich fragte Henry, wie es ihm ging, und er sagte: »Ich bin froh, Sir. Ich fühle mich beherzt.« Er liebte dieses Wort. Wer liebt es nicht? Beherzt heißt mutig, aber mit einem Mut, der aus dem Herzen kommt.

Mein Sohn Henry war damals neun, und dieser Henry schien ungefähr im gleichen Alter zu sein — ein kleiner Kerl mit dünnen Beinen und einem breiten, albernen Lächeln. Er trug Shorts und ein übergroßes Rugby-Hemd, das ihm fast bis zu den Knien hing. Henry hielt mich an meinem T-Shirt fest und begann, mich durch das Krankenhaus zu führen. Er zeigte mir das Labor, wo eine Technikerin durch ein Mikroskop sah. Henry durfte auch einen Blick in das Mikroskop werfen und forderte mich auf, das Gleiche zu tun, während die Labortechnikerin, eine junge Frau aus Freetown, uns erklärte, dass der Abstrich, den sie untersuchte, Tuberkuloseerreger enthielt, obwohl der Patient seit mehreren Monaten die Standardtherapie erhielt. Sie wollte mir mehr von dieser »Standardtherapie« erzählen, aber Henry zog mich am T-Shirt weiter. Er zeigte mir die Stationen — einen Komplex schlecht belüfteter Gebäude mit Krankenzimmern, die vergitterte Fenster, dünne Matratzen und keine Klos hatten. Auf den Stationen gab es keinen Strom, und es gab auch nicht durchgängig fließendes Wasser. Auf mich wirkten die Zimmer wie Gefängniszellen. Bevor Lakka ein Tuberkulosezentrum wurde, war es eine Isolationseinrichtung für Leprakranke gewesen — und genau so fühlte es sich an.

In jedem Zimmer lagen ein bis zwei Patienten auf Pritschen, meistens auf dem Rücken oder auf der Seite. Ein paar saßen vorgebeugt auf der Bettkante. Die Männer (die Frauen waren auf einer anderen Station) waren alle dünn. Manche waren so ausgezehrt, dass sie nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schienen. Als Henry und ich durch einen überdachten Gang von einem Gebäude zum anderen gingen, sahen wir einen jungen Mann, der Wasser aus einer Plastikflasche trank und gleich darauf eine Mischung aus Galle und Blut erbrach. Ich drehte mich instinktiv weg, aber Henry starrte den Mann unverwandt an.

Ich stellte mir vor, dass Henry das Kind von jemandem war, der hier arbeitete — einem Arzt, einer Ärztin oder jemandem von den Krankenhausangestellten. Alle schienen ihn zu kennen, und alle hielten bei der Arbeit inne, um ihn zu begrüßen, wuschelten ihm durchs Haar oder drückten seine Hand. Auch mich hatte Henry sofort um den Finger gewickelt — er erinnerte mich an meinen Sohn, weil er die gleiche lustige Mischung aus Schüchternheit, Überschwang und dem Wunsch nach Kontakt hatte.

Irgendwann brachte Henry mich zu dem Raum in der Nähe des Haupteingangs zurück, wo sich das Ärzteteam unterhielt, und eine der Krankenschwestern verscheuchte ihn liebevoll und lachend.

»Wer ist er?«, fragte ich.

»Henry?«, fragte sie zurück. »Unser Liebling.«

»Er ist einer der Patienten, die uns Sorgen machen«, sagte ein Arzt, der sich Dr. Micheal nannte.

»Er ist Patient hier?«, fragte ich erstaunt.

»Ja.«

»So ein lieber kleiner Junge«, sagte ich. »Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.«

Dr. Micheal erklärte mir, dass Henry kein kleiner Junge mehr war. Henry war 16. Er war nur so klein, weil er in seiner Kindheit zu wenig zu essen bekommen hatte und die Tuberkulose seinen Körper auszehrte.

»Aber es scheint ihm ganz gut zu gehen«, sagte ich. »Er hat viel Energie. Er hat mich durchs ganze Krankenhaus geführt.«

»Das liegt an den Antibiotika«, erklärte Dr. Micheal. »Aber wir wissen, dass sie nicht stark genug sind. Wir sind fast sicher, dass sie am Ende versagen, und das ist ein großes Problem.« Er kniff die Lippen zusammen und zuckte die Schulter.

Vieles von dem, was er sagte, verstand ich nicht.

Als wir zum Auto gingen, sah ich Henry wieder. Er stand am Eingang des Krankenhauses, und ich fragte, ob ich ein Foto von ihm machen dürfe. Er willigte ein, und ich knipste ein paar Bilder.

Dann gingen wir die Fotos zusammen durch. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich hinter meiner Maske lächelte. Henry trug keine Maske — seine Bakterienlast war so gering, dass er kein Infektionsrisiko darstellte. Als wir uns unterhielten, ertappte ich mich dabei, dass ich ihn jetzt anders sah als vorher, als ich ihn für den Sohn einer Krankenhauskraft gehalten hatte. Jetzt erinnerte er mich nicht mehr an meinen neunjährigen Sohn; jetzt war er ein abgemagerter junger Mann. Als er zu mir aufschaute, sah ich die gelbe Trübung im Weiß seiner Augen — eine Nebenwirkung seiner Behandlung, die die Leber schädigte. Ich sah die Schwellung an seinem Hals — wie ich später erfuhr, hatte die Tb die Lymphknoten befallen. Ich fragte ihn, ob er jeden Tag Medikamente nehmen musste.

»Ja«, sagte er. »Welche zum Schlucken. Und ich bekomme Spritzen.«

»Ist das unangenehm?«

Seine Augen wurden groß, als er nickte.

Henry erzählte mir, dass die Spritzen unter der Haut wie Feuer brannten und dass die Medikamente zahlreiche Nebenwirkungen hatten, aber die schlimmste sei der Hunger. Aktive Tuberkulose führt zu Appetitlosigkeit und Bauchschmerzen, und sobald die Therapie zu wirken beginnt und die Infektion bekämpft, kommt der Hunger zurück, was ein gutes Zeichen ist — aber nur, wenn genug zu essen da ist.

Jahre später erzählte mir eine Tb-Überlebende von dem Hunger. Ich war wieder in Lakka und saß im riesigen Schatten des alten Mangobaums, einem der wenigen schönen Orte auf dem Krankenhausgelände, das sonst nur aus rotem Staub und Gebüsch bestand. Drei lange, grob behauene Bänke wurden den ganzen Tag dem Schatten des Mangobaums hinterhergetragen. Auf der Bank gegenüber saß eine junge Frau, nennen wir sie Marie, vorgebeugt, die Ellbogen auf den Knien. Als Marie im Krankenhaus ankam, war sie so dünn, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, und auf dem Röntgenbild ihrer Brust war fast kein gesundes Lungengewebe mehr zu sehen. Sie war einen Meter sechzig groß und wog bei ihrer Einlieferung vielleicht dreißig Kilogramm.

Marie erzählte mir, dass sie Tag und Nacht von Essen träumte, seit es ihr langsam besser ging, und dass sie sogar überlegt hatte, Schlammsuppe zu machen und Stöcke zu essen. Sie stellte sich vor, wie knusprig die Stöcke wären und welche gesunden, guten Nährstoffe darin steckten. Sie konnte an nichts anderes als an Essen denken.

Fast entschuldigend sagte die Krankenschwester, die neben uns saß: »Jeder hier bekommt drei Mahlzeiten am Tag, große Mahlzeiten. Aber es reicht einfach nicht.« Es reichte lange nicht, doch die Schwester erklärte, selbst drei Mahlzeiten am Tag wären schwer zu beschaffen, weil die Verpflegung nicht als Teil der Tuberkulosetherapie galt, und deshalb war dafür kein Geld da. Manche Patienten hatten solchen Hunger, sagte sie, dass sie das Krankenhaus verließen und die Therapie abbrachen, was das Risiko erhöhte, dass die Tb-Bakterien, die sie in sich trugen, sich weiter vermehrten und gegen die Standardtherapie resistent wurden. Aber die Patienten hielten den Hunger einfach nicht aus.

In Henrys kurzen, wunderschön geschriebenen Lebenserinnerungen erwähnt auch er den Hunger häufig. Er nennt Lakka einen Ort, »an dem Hoffnung und Verzweiflung eng verflochten waren … Ich war in einer Welt gelandet, in der das Essen knapp, das Wasser rationiert und die Kleidung für die kalten Nächte ungeeignet war«.

Nach meiner ersten Begegnung mit Henry fragte ich eine der Schwestern, ob er wieder gesund würde. »Oh, wir lieben unseren Henry!«, sagte sie. Sie erzählte mir, er habe in seinem jungen Leben schon viel mitgemacht. Zum Glück, sagte sie, komme seine Mutter Isatu, die ihn über alles liebte, regelmäßig vorbei und bringe ihm, wann immer möglich, etwas zu essen mit. Die meisten Patienten in Lakka bekamen keinen Besuch. Viele waren von ihrer Familie im Stich gelassen worden, weil ein Tuberkulosefall in der Familie als große Schande galt. Aber Henry hatte Isatu.

Mir fiel auf, dass die Schwester mit keinem Wort auf meine Frage, ob er wieder gesund werde, geantwortet hatte.

»Er ist so ein fröhliches Kind«, erzählte sie. »Er heitert alle auf. Als er noch zur Schule gehen konnte, nannten ihn die anderen Kinder Pastor, weil er immer Gebete und Hilfe für sie hatte.«

Auch das war keine Antwort auf meine Frage.

»Wir kämpfen für ihn«, sagte sie zum Schluss.

Kapitel 2

Cowboys und Mörder

Als ich aus Lakka zurück nach Indianapolis kam, begann ich mich mit der Geschichte der Tuberkulose zu beschäftigen, die plötzlich überall auftauchte, in der Mode über die Weltkriege bis hin zur Geografie, und ich stellte fest, dass ich über nichts anderes mehr reden konnte. Jemand sagte etwas über New Mexico, und ich gab zurück: »Wusstest du, dass New Mexico unter anderem wegen Tuberkulose als Bundesstaat in die USA aufgenommen wurde?« Oder wenn das Gespräch auf den Ersten Weltkrieg kam: »Wusstest du, dass die Tuberkulose beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Rolle gespielt hat, wenn auch keine Hauptrolle?« Oder auf einer Halloweenparty bei unseren Nachbarn zu einem Zehnjährigen, der als Cowboy verkleidet war: »Wusstest du, dass wir den Cowboyhut der Tuberkulose verdanken?«

Was übrigens stimmt: In den 1850er-Jahren begann ein junger Mann namens John, der in New Jersey Hutmacher war, Blut zu husten. John ging zum Arzt und erfuhr, dass er Schwindsucht hatte. Nach dem Wissensstand seiner Zeit bestand Johns einzige Überlebenschance darin, in den Westen zu gehen.

Der amerikanische Westen war seit jeher ein Sehnsuchtsort, der mit Flucht, Freiheit und letzten Hoffnungen verknüpft war. »Wir alle wollen irgendwann in den Westen«, heißt es in Robert Penn Warrens Roman Das Spiel der Macht (im Original All the King’s Men, 1946), für den er den Pulitzer-Preis erhielt. »Dort gehst du hin, wenn die Erde verbrannt ist und die Kiefern näher rücken. Dort gehst du hin, wenn der Brief kommt, in dem steht: Hau ab, alles ist aufgeflogen.« Und dort gingen die Schwindsüchtigen hin, um ihr Leben zu verlängern.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert hielt man trockene Luft für die beste Schwindsuchtkur, denn die Lunge Schwindsüchtiger schien zu feucht, genau wie die stickige, schwüle Luft amerikanischer Großstädte, New York oder Baltimore zum Beispiel, wo die Schwindsucht grassierte. Also flohen die Kranken ins trockene Klima von Kalifornien, Arizona und New Mexico, dem »Land der neuen Lungen«. Wie ein Prospekt mutig versprach: »Komm in den Westen und lebe.«

Städte wie Pasadena und Colorado Springs wurden mehr oder weniger für Schwindsuchtpatienten und ihre Familien aus dem Boden gestampft. Aber es war nicht nur die Wüstenluft, der man heilende Kräfte zuschrieb. Ärzte empfahlen auch Seeluft, Bergluft, Waldluft oder italienische Luft. Auch wenn die Begründungen der jeweiligen »Reisekur« auseinandergingen, das Argument blieb dasselbe: Die Schwindsucht wütete in den großen Städten, also musste die Lösung auf dem Land liegen. (Diese Ansicht galt übrigens nicht nur in Europa und den USA. Auch der schwindsüchtige japanische Dichter Masaoka Shiki reiste in der Hoffnung auf Besserung aufs Land, genau wie der südamerikanische Revolutionär Simón Bolívar.)

John, unser Hutmacher, kam allerdings nicht bis zur Westküste, sondern nur nach St. Joseph, einem rauen Grenzstädtchen am Missouri River, das als Tor zum Wilden Westen galt. Schwer zu sagen, was an St. Josephs feuchtwarmer, drückender Luft besonders Tb-freundlich sein sollte, aber John ließ sich für eine Weile dort nieder, und — Wunder über Wunder — es ging ihm bald besser. Aus Gründen, die bis heute nicht ganz klar sind, werden etwa 20 bis 25 Prozent derer, die an offener Tuberkulose erkranken, auch ohne Behandlung wieder vollständig gesund, und zu dieser glücklichen Minderheit gehörte John.

Als er in den nächsten Jahren wieder zu Kräften kam, machte John eine Beobachtung: Die Hüte im Wilden Westen taugten nichts. Trapper und Pelzhändler europäischer Abstammung trugen gern verlauste, krempenlose Mützen aus Waschbärfell. Die Leute, die von Süden, aus Texas und Mexiko, nach Missouri kamen, bevorzugten breitkrempige Strohhüte, die sie vor Sonne schützten, aber nicht vor Regen. Und so erfand John B. Stetson, als er nach seiner Genesung in den Nordosten zurückkehrte, einfach eine neue Art von Hut, die fortan als Cowboyhut oder Stetson bekannt wurde.2

Auch die Sache mit New Mexico war kein Witz. Obwohl New Mexico seit 1848 zum Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten gehörte, waren viele weiße Amerikaner skeptisch, ob das Territorium die Rechte eines Bundesstaats verdiente. Schließlich lebten dort vor allem Indigene und Leute, deren Muttersprache Spanisch war. Und obwohl es in New Mexico bereits alle nötigen Institutionen gab, die Bevölkerung groß genug war und eine große Mehrheit den Beitritt befürwortete, lehnte der US-Kongress, der die Gesetze verabschiedete, New Mexicos Antrag, in den Staatenbund aufgenommen zu werden, immer wieder ab.

Den Politikern in New Mexico wurde klar, dass sie einen größeren Anteil weißer und englischsprachiger Einwohner brauchten, um den Kongress umzustimmen. Und so entstand die Idee, die Schwindsüchtigen aus dem Nordwesten und Süden der USA mit dem Versprechen von Wüstenluft, klarem Himmel und hochkarätiger Schwindsuchtversorgung nach New Mexico zu locken. Der Plan ging auf — bis 1910 waren zehn Prozent aller Bewohnerinnen und Bewohner New Mexicos Tuberkulosepatienten, und mit diesem neuen weißen Bevölkerungsanteil ließ sich der Kongress endlich erweichen und nahm New Mexico im Jahr 1912 als 47. Bundesstaat in die Vereinigten Staaten auf.

Löste Tuberkulose den Ersten Weltkrieg aus? Nicht direkt, aber ich würde argumentieren, dass Tb wenigstens als Nebenauslöser zu den Hauptursachen gehört — dem System der europäischen Allianzen im frühen 20. Jahrhundert, der wachsenden Militarisierung, dem Imperialismus und so weiter.

Vielleicht erinnerst du dich aus dem Geschichtsunterricht, dass der Erste Weltkrieg nach der Ermordung des österreichisch-ungarischen Erzherzogs Franz Ferdinand begann, die als das dilettantischste Attentat aller Zeiten in die Geschichte einging. Auf einer Seite hatten wir die verblüffend unfähige Entourage des Erzherzogs und auf der anderen eine Bande verblüffend unfähiger Attentäter, die zur Hälfte aus schwindsüchtigen Teenagern bestand.

Anfang 1914 planten der Erzherzog und seine Frau einen Besuch in Sarajevo, das Teil von Österreich-Ungarn war — wenn auch ein widerspenstiger Teil. Auf dem Balkan wünschten sich viele, dass ihre stiefmütterlich behandelten Regionen unabhängige Staaten wurden, und zu diesen Leuten gehörten auch die drei Belgrader Jugendlichen Nedeljko Čabrinović, Trifko Grabež und Gavrilo Princip. Alle drei waren 19 und standen in Verbindung mit der Schwarzen Hand, einer Revolutionsgruppe, die Serbien vom österreichisch-ungarischen Joch befreien wollte.

Čabrinović, Grabež und Princip waren schwer an Tuberkulose erkrankt. Sie wussten, dass sie bald sterben würden. Wie der Historiker John Simkin in der Online-Enzyklopädie Spartacus Educational schreibt: »Daher waren sie bereit, ihr Leben für ein höheres Ziel zu geben.« Als nun bekannt wurde, dass Erzherzog Franz Ferdinand, der Thronfolger von Österreich-Ungarn, durch die Straßen von Sarajevo fahren würde (und zwar in einem offenen Auto), reisten die drei Männer mit dem Plan an, den Erzherzog zu ermorden. In Sarajevo trafen sie sich mit drei Mitverschwörern, und jeder der sechs bekam eine Pistole, Handgranaten und eine Zyankali-Pille mit der Anweisung, sich das Leben zu nehmen, sobald der Erzherzog tot war.

Die Mission entwickelte sich zu einer ausgemachten Katastrophe. Drei der Männer (die drei Gesunden!) wollten oder konnten im letzten Moment nicht mehr mitmachen, aber die Jungs aus Belgrad standen zu ihrem Wort. Čabrinović bekam Franz Ferdinand auf der Paradestrecke zuerst ins Visier; er warf eine Bombe auf den erzherzoglichen Wagen, verfehlte ihn und verletzte stattdessen mehrere Insassen des nachfolgenden Autos. Dann schluckte Čabrinović die Zyankali-Kapsel, die allerdings zu wenig Zyankali enthielt, um ihn umzubringen, woraufhin er sich in den nahen Fluss warf, um sich zu ertränken, aber der Fluss war an dieser Stelle nur zwanzig Zentimeter tief, und er wurde umgehend verhaftet.

Das Auto des Erzherzogs brauste davon, und die verbliebenen Mitverschwörer gaben auf. Wahrscheinlich wäre Franz Ferdinand, nachdem er so knapp einem Mordanschlag entkommen war, besser in sein Hotel zurückgekehrt, aber ein Begleiter überredete ihn, die Spazierfahrt fortzusetzen, indem er sagte: »Oder glauben Sie vielleicht, ganz Sarajevo ist voll von Mördern?«

Minuten später bog der Fahrer, der sich nicht besonders gut auskannte, falsch ab und musste anhalten, um den Rückwärtsgang einzulegen. Und wo blieb der Wagen stehen, wenn nicht ausgerechnet vor Gavrilo Princips Nase? Princip erschoss sowohl den Erzherzog als auch seine Frau Sophie, und dann nahm er die Zyankali-Kapsel, die bei ihm natürlich genauso versagte wie bei seinem Kollegen. Er und seine Mitverschwörer wanderten ins Gefängnis. Als Teenager konnten sie nicht zum Tode verurteilt werden, aber die Regierung brauchte kein Erschießungskommando. Alle drei waren noch vor Kriegsende tot, weil alle drei an Tuberkulose starben.

Es ist faszinierend, den Spuren der Tuberkulose durch die Geschichte zu folgen, aber es wäre natürlich falsch zu behaupten, Princips Schwindsucht hätte den Ersten Weltkrieg ausgelöst, die Tuberkulose hätte New Mexico zum Bundesstaat gemacht und so weiter. Wenn man Geschichte nur aus einer Perspektive betrachtet, entsteht ein verzerrtes Bild, weil Geschichte viel zu komplex ist, um aus einem Blickwinkel alle Kräfte zu erfassen.

Außerdem ist es zwar faszinierend zu sehen, wie Tb unsere Kultur und Geschichte beeinflusst hat, aber viel wichtiger ist die Frage, wie unsere Kultur und Geschichte die Tuberkulose beeinflusst haben. Über viele Jahrhunderte hat die Krankheit von Voreingenommenheit und blinden Flecken profitiert und Wege genommen, die gesellschaftliche Ungerechtigkeiten gebahnt haben. Natürlich handelt die Tuberkulose nicht bewusst, aber seit langer Zeit nutzt sie gesellschaftliche Kräfte und Vorurteile, um sich dort auszubreiten, wo Machtstrukturen menschliches Leben entwerten — eine Erfahrung, die Henry und seine Mutter Isatu in Sierra Leone nur zu gut kennen.

Kapitel 3

Sieh dir unser Schienennetz an

Es heißt oft, Sierra Leone sei ein armes Land, aber das ist nicht der Fall. Sierra Leone ist ein extrem reiches Land mit riesigen Bodenschätzen — Erze und vor allem Diamanten, die in den Jahrhunderten des Kolonialismus so manche britische Krone schmückten. Als Sierra Leone 1961 unabhängig wurde, stellte die Umstellung der Wirtschaft weg vom Rohstoffexport eine große Herausforderung für die neue Regierung dar. Einerseits war die Infrastruktur dank der Kolonialherrschaft auf den Abbau und Export von Diamanten und Mineralien ausgerichtet, und andererseits änderte die Unabhängigkeit nichts an der Tatsache, dass sich die meisten Vermögenswerte in ausländischer Hand befanden (und bis heute dort sind). Obwohl seit der Unabhängigkeit die Wirtschaft wuchs und die Lebenserwartung stieg, blieb Sierra Leone ein extrem armes Land.