Tuchscherer AG - Jürgen Gebhardt - E-Book

Tuchscherer AG E-Book

Jürgen Gebhardt

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Beschreibung

Zu Beginn seines achten Lebensjahrzehnts hatte sich Arthur R. Tuchscherer III. immer öfter wie ein alter Kater gefühlt, der das Nachlassen seiner Kräfte spürt und zunehmend Raufereien aus dem Weg geht. Doch seit seinem Wechsel vom Chefsessel des Unternehmens in den Aufsichtsrat wird er von Ängsten verfolgt, sein Lebenswerk würde durch die Handlungen der neuen Managergeneration zerstört. "Die haben zu viel unternehmerische Freiheiten. Sind nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Und das auf meine Kosten", stößt er verächtlich hervor. "Mit mir nicht. Ihr werdet mich noch kennenlernen." Dr. Andreas Anders, CEO Tuchscherer AG, hat viel erreicht. Er könnte zufrieden sein, aber doch liegen so viel Ereignisse vor ihm, die seine Laune im Jahresverlauf empfindlich stören werden: Der jährliche, mehrtägige Management-Workshop. Das Sommerfest, bei dem in der Vergangenheit oft wichtige personelle Maßnahmen verkündet wurden. Quälende Aufsichtsratssitzungen und schließlich das "Get Together" auf dem Rasen der Tuchscherer-Villa, dem er bereits heute mit Bauchgrummeln entgegensieht. Nach diesen Ereignissen wird nichts mehr sein, wie es gewesen ist.

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Über den Autor

JÜRGEN GEBHARDT ist 1957 in Koblenz geboren, lebt seit der Jahrtausendwende im Westerwald. Schreibt Kurzgeschichten, Themen sind die Skurrilität des Alltags. Die Natur, die Heimat und die Menschen. Das Leben an sich in allen seinen Eigenarten. Erfüllte und unerfüllte Wünsche, Träume und Sehnsüchte. Die Liebe, die Vergänglichkeit und der Tod.

Hat in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht.

Tuchscherer AG ist seine erste Veröffentlichung zum Thema Berufsleben.

JÜRGEN GEBHARDT

ist Mitglied der

Autorengruppe Brückenschreiber Koblenz.

www.brueckenschreiber-koblenz.de

[email protected]

www.facebook.com/BrueckenschreiberKoblenz

TUCHSCHERER AG

Bürogeschichten

Zu Beginn seines achten Lebensjahrzehnts hatte sich Arthur R. Tuchscherer III. immer öfter wie ein alter Kater gefühlt, der das Nachlassen seiner Kräfte spürt und zunehmend Raufereien aus dem Weg geht.

Doch seit seinem Wechsel vom Chefsessel des Unternehmens in den Aufsichtsrat wird er von Ängsten verfolgt, sein Lebenswerk würde durch die Handlungen der neuen Managergeneration zerstört.

„Die haben zu viel unternehmerische Freiheiten. Sind nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Und das auf meine Kosten“, stößt er verächtlich hervor. „Mit mir nicht. Ihr werdet mich noch kennenlernen.“

Dr. Andreas Anders, CEO Tuchscherer AG, hat viel erreicht. Sein Vertrag befindet sich in der Mitte der Laufzeit und die Geschäftsentwicklung lässt auch in diesem Jahr auf einen sechsstelligen Bonus hoffen.

Er könnte zufrieden sein, aber doch liegen so viel Ereignisse vor ihm, die seine Laune im Jahresverlauf empfindlich stören werden:

Der jährliche, mehrtägige Management-Workshop. Das Sommerfest, bei dem in der Vergangenheit oft wichtige personelle Maßnahmen verkündet wurden. Quälende Aufsichtsratssitzungen und schließlich das „Get Together“ auf dem Rasen der Tuchscherer-Villa, dem er bereits heute mit Bauchgrummeln entgegensieht.

Nach diesen Ereignissen wird nichts mehr sein, wie es gewesen ist.

Tuchscherer AG ist nirgendwo. Und doch überall …

Die ohne Verwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) geschriebenen 22 Kurzgeschichten sind in sich abgeschlossen.

Sie sind jedoch in einer zeitlichen Abfolge gereiht und sollten idealerweise in der vorliegenden Reihenfolge gelesen werden.

Inhalt

Der Alte ist noch da

Übermorgen um halb elf

Perspektivwechsel

Hier ist ihr Weckruf

Eine letzte Mail

Weihnachtsgrüße

Der fünfte apokalyptische Reiter

Einmal gut gelebt

Nur für den Fall, dass …

Die Identitätskrise

Berufliche Privateinladung

Bring den Hund zum Bellen

Zumindest für ein halbes Jahr

Versuch, mehr zu verdienen

Immer wieder dieser alte Trick

Get Together

Du kannst nicht immer bekommen was du willst

Sittlers Kalkül

Die Vorstellung nach der Vorstellung

Die Sache mit den Überstunden

It´s big big business

Rentnertreff

Zeitleiste

Organigramm Tuchscherer AG

Personenverzeichnis Tuchscherer AG

Quellenangabe

Der Alte ist noch da

»Es wird immer behauptet, dass der Aufsichtsrat in vielen Unternehmen den Vorstand nicht genügend kontrolliert. Nicht mit mir, meine Herren. Bei mir könnt ihr nicht machen, was ihr wollt. Ihr werdet mich noch kennenlernen!« (Arthur R. Tuchscherer III., Aufsichtsratsvorsitzender der Tuchscherer AG)

Tatsächlich!

Das ist doch …

Hektisch dreht er an dem geriffelten Rädchen, wischt noch einmal mit dem Taschentuch über die beiden Linsen. Die eben noch verschwommenen Konturen gewinnen mehr und mehr an Schärfe. Gesichter sind nun identifizierbar.

Aha, das habe ich mir doch gedacht. Sokolow! Natürlich wieder Sokolow! Bei dem brauche ich noch nicht einmal das Gesicht zu sehen, den kann ich allein schon an seiner massigen Statur erkennen. Der Kerl ist natürlich überall dabei. Ich glaube, der ist hinterlistig! Jetzt mal gucken, wer die beiden anderen sind. Hoffentlich kann ich das auch erkennen, denkt er.

Behutsam dreht er wieder am Rädchen des Fernglases, vor und zurück, bis er es ausreichend scharf eingestellt hat. Wer steht dort neben Sokolow? Ach ja: Hentschel. Na, das passt ja. Sokolow und Hentschel. Die beiden hängen doch ständig zusammen.

Dr. Hentschel, wie immer im grauen Jackett mit unifarbener Krawatte, steht neben Sokolow. Der redet intensiv auf ihn ein. Immer wieder führt Hentschel seine Hand zum Mund. Der großgewachsene Mann zieht nervös an einer Zigarette. Er tritt von einem Bein auf das andere, so als wolle er die kühle Nachmittagsluft abschütteln.

Und wer ist der Dritte? Na ja, das dürfte eigentlich keine Überraschung sein. Ich glaube, ich weiß, wer noch dabei ist.

Arthur R. Tuchscherer lehnt sich weit nach rechts, legt seine Ellenbogen auf der Holzbrüstung ab, um an Stabilität zu gewinnen.

»Oh, ja, jetzt sehe ich es scharf. Das ist Scott. Dale Scott. Zweifelsfrei. Sokolow, Hentschel und Scott. Konspiratives Treffen! Sind sie also wieder einmal zusammen, die drei Musketiere. Königsmörder«, brummelt er vor sich hin.

Seit er im Frühjahr in einer mondlosen Nacht in stundenlanger Schwerstarbeit eigenhändig zwei Bäume im Hang fällte, genießt er im Spätherbst, wenn die Laubbäume ihr Blätterdach abgeworfen haben, einen ungehinderten, freien Blick auf den Eingangsbereich des Verwaltungsgebäudes der Fabrik. Auf den Turm, wie er von den Mitarbeitern genannt wird. Ein zeitgemäßes, zweckmäßiges Gebäude. Zwölf Etagen. Ein modernes Hochhaus mit symmetrisch verteilten Fenstern, die oberste Etage als Staffelgeschoß mit umlaufender Dachterrasse ausgeführt. Davor ein großzügiger Vorplatz, den er als eine seiner letzten Amtshandlungen als geschäftsführender Eigentümer anlegen ließ. Moderne, zurückhaltende Architektur; eine ebene Fläche aus dunklem Stein, hier und da durchbrochen von niedrig gehaltenen Zierbäumen und Sitzbänken. Holz auf Stein. Eine Idee seines Architektenbüros, um Leichtigkeit, Offenheit und Weltgewandtheit des Unternehmens zu betonen.

Nachts brennt sich das Logo dreihundert Meter Luftlinie durch den Laubwald hoch bis zu seinem Sitzplatz hin. In der Ferne leuchten diffus die Oberlichter der Fabrikationshalle, in denen die Mitarbeiter in Spät- und Nachtschicht ihrer Arbeit nachgehen.

Arthur R. Tuchscherer III. hat an diesem kühlen Herbstnachmittag seinen Beobachtungsposten im Pavillon bezogen, der zwischen streng formal geschnittenen Hecken und Büschen wie ein überdimensionaler weißer Pilzkopf am äußersten Ende des weitläufigen Grundstücks steht. Kühl bläst der Wind durch den hölzernen Pavillon, dringt durch die gefütterte Jacke mit den Karomustern und Lederschutz an den Ärmeln. Über seinen Beinen liegt eine Decke aus Schaffell. Das Fernglas im Anschlag, zwischen zwei auf der Brüstung stehenden Topfpflanzen versteckt, beobachtet er den Eingangsbereich des Gebäudes. Wie ein Jäger, immer darauf bedacht, den Feldstecher beim Atmen so ruhig wie möglich zu halten, um nicht das Geringste zu verpassen.

Seit Stunden sitzt er hier oben. Sobald sich etwas vor dem Gebäude am Fuße des Hügels bewegt, blickt er wieder durch das Fernglas.

Sokolow, Dr. Hentschel und Scott sind in ein lebhaftes Gespräch verwickelt. Sie gestikulieren. Immer wieder blicken sie sich um, als fürchteten sie, beobachtet zu werden.

»Die führen doch irgendetwas im Schilde. Ein schlechtes Gewissen scheinen sie jedenfalls zu haben, so wie sie sich immer wieder umblicken. Jetzt würde ich gerne Lippen lesen können«, flüstert er vor sich hin. Ich müsste mal Unterricht nehmen. Was gäbe ich darum, verstehen zu können, was die da unten zu besprechen haben. Oder ich müsste ein Richtmikrofon haben, das wäre sogar noch besser. Ja, das wäre vielleicht die Lösung. Obwohl das durch den Straßenverkehr vor dem Fabrikgelände eventuell nichts bringen würde, sinniert er gedankenverloren weiter.

Seit er nach der Umwandlung des Familienunternehmens vom Chefsessel in den Vorsitz des Aufsichtsrats gewechselt ist, erlaubt er sich mehrmals pro Woche den Luxus eines freien Nachmittags.

Oft spielt er eine Runde Golf, trifft Mitglieder des Rotary-Clubs oder verbringt seine Zeit in einem der Museen der Stadt. An anderen Tagen gönnt er sich einen ausgedehnten Aufenthalt in einem der Cafés der Umgebung oder macht einen längeren Spaziergang. Nicht, ohne stets sein Moleskine mitzuführen. Sein Notizbuch, in das er neben Beobachtungen wie heute auch Notizen für seine Memoiren einträgt, die er seinen Nachkommen eines Tages hinterlassen möchte. Die Ideen dafür hat er bereits alle im Kopf. Er muss sie nur noch niederschreiben, sobald er Zeit dafür findet. Schreiben kann nicht so schwer sein; wie alles andere dürfte ihm auch das gelingen, wenn er erstmal den Anfang finden würde. Dessen ist er sich sicher.

Zu Beginn seines achten Lebensjahrzehnts hatte er ausgiebig darüber nachgedacht, wie er seinen Austritt aus der Unternehmensführung gestalten könnte. Die Tragik seines Lebens war, dass sich niemand aus seiner Familie als Nachfolger anbot.

»Wenn doch eines der Kinder nur einen kleinen Teil des Talents und der Brillanz besitzen würde, die mich immer ausgezeichnet haben«, hatte er des Öfteren in nachdenklicher Stimmung an besinnlichen Abenden vor dem prasselnden Kaminfeuer zu seiner Frau gesagt, wenn er über die Situation des Unternehmens nachdachte oder ganz allgemein über sein Leben philosophierte.

Aber nein, die Kinder sind unwillig, untalentiert, desinteressiert und undankbar. Alle! Nur das schöne Leben wollen sie genießen.

Andrea Roberta, seine älteste Tochter, führt bereits seit Jahrzehnten ein – wie sie es nennt – alternatives Leben in einer Höhle im Valle Gran Rey auf La Gomera, dem Zufluchtsort der Blumenkinder von einst.

»Papa, bleib mir vom Leib mit deinem Manchester-Kapitalismus. Der Sinn des Lebens ist doch, glücklich zu werden. Sonne, Liebe und täglich etwas zum Essen und Trinken, was brauche ich mehr?«, sagte sie bei den wenigen Familientreffen in den letzten Jahrzehnten immer wieder. »Ich steige nicht aus dem Leben aus, das ihr kennt, ich steige in mein eigenes, selbstverantwortliches Leben ein.« Das war ihr Mantra, das sie jedoch nicht daran hinderte, alljährlich seinen üppigen Scheck anzunehmen, den er ihr, vielleicht aus irgendeinem Schuldgefühl heraus, regelmäßig zu Weihnachten zuschickte. Den sie selbstverständlich immer wieder gerne annahm, um eine Auszeit aus ihrem Höhlenleben zu nehmen und mit ihrem jeweiligen Lebensabschnittspartner ein paar Wochen in standesgemäßen Hotels in europäischen Metropolen wie Barcelona, Paris, Wien oder Mailand zu verbringen.

Annegret Rebecca, die zweite Tochter, war mit einem New Yorker Börsenmakler verheiratet, lebte mit ihrer Familie in einer Penthouse-Wohnung mit Blick auf den Central Park und hegte kein Interesse, jemals wieder in die Heimat zurückzukommen.

Die brauchen mich nicht, an der Börse verdientes Geld scheint wohl sauberer als das Geld zu sein, das man durch ehrliche, harte und aufopferungsvolle Arbeit im Familienbetrieb verdienen kann, dachte er oft verbittert.

Sein jüngster Spross, Sohn Arthur Richard Tuchscherer IV., den er verhätschelt und immer als seinen legitimen Nachfolger betrachtet hatte, wurde von allen in der Stadt spöttisch nur Rolex-Archie genannt. Schweren Herzens hatte er ihn enterbt und verstoßen, nachdem dieser bereits im Alter von einundzwanzig Jahren über einen Anwalt versucht hatte, sich seinen Erbanteil auszahlen zu lassen. Dass ihm das zum Teil auch gelungen war, saß wie ein Stachel tief in Tuchscherers Seele. Nein, an ihn mochte er nicht mehr denken und schon gar nicht, wenn es darum ging, sein Unternehmen in seriöse Hände zu legen.

»Irgendwann wird das aktive Berufsleben vorbei sein, und wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, dann muss es schnell gehen«, hatte Arthur R. Tuchscherer III. immer gesagt.

Er mochte sich keinen zähen Übergang vorstellen, keinen quälenden, schmerzhaften Verlust seiner Macht, kein Hoffentlich-ist-der-Alte-bald-weg-Getuschel hinter seinem Rücken. Nein, er wollte aufrecht sein Haus verlassen, das war sein Ziel, immer schon. Jahrzehntelang hatte er sich als die kraftvolle Lokomotive des Unternehmens gesehen, ein nie ermüdendes eisernes Schlachtross. Aufrecht hatte er im Wind gestanden, bereit alle Unbill von seinen Mitarbeitern abzuwenden. Trotzdem hatte auch an ihm der Zahn der Zeit unaufhaltsam genagt. In den vergangenen Jahren fühlte er sich immer öfter wie ein alter Kater, der das Nachlassen der Kräfte spürt und Raufereien besser aus dem Weg ging. Immer öfter befürchtete er, von den Jungen hintergangen und verdrängt zu werden.

Er!

Arthur Richard Tuchscherer III.!

Im eigenen Haus!

Nach reiflichen Überlegungen – ein äußerst schmerzlicher Prozess – hatte er sich dazu entschlossen, das Unternehmen auf neue Füße zu stellen und fortan die Geschicke vom Aufsichtsrat aus zu überwachen. Natürlich als Vorsitzender.

Im Ende liegt auch immer ein neuer Anfang. Er sehnte sich nach bleibendem Einfluss ohne die Mühsal des beschwerlichen Tagesgeschäfts.

Aber kein Weg durfte an ihm vorbeiführen, dies würde seine neue Maxime sein.

In der PROFESSIONAL LEADERSHIP hatte er unlängst einen Bericht gelesen. Darin stand, die Aufsichtsräte in Deutschland kämen zumeist ihren Pflichten nicht im ausreichenden Maß nach und ließen den Vorständen zu sehr freie Hand. Aber nicht bei ihm!

Die Vorstände meinen immer, sie könnten alles und dabei auf die Expertise eines erfahrenen Unternehmers verzichten, der das Geschäft noch von der Pike auf gelernt und jahrzehntelang die Geschicke des Unternehmens geleitet hat, dachte er bitter. Kämpferisch hatte er sich geschworen: Da täuschen sie sich bei mir!

Er wirft einen letzten Blick durch das Fernglas. Dann faltet er die Decke zusammen, legt beides zusammen in den Schrank, nimmt sich Thermoskanne und Becher und macht sich auf den Weg zu seiner Villa.

»Keine Aufsicht. Zu viele unternehmerische Freiheiten. Nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Wollen sich nur die Taschen vollmachen. Natürlich auf meine Kosten!«, stößt er verächtlich aus.

»Na wartet! Mit mir nicht. Ihr werdet mich alle noch kennenlernen.

Auch ihr drei da unten!«

Übermorgen um halb elf

»Bestimmt geht es um etwas ganz Großes. Immer, wenn man zu Müller-Briner muss, geht es um etwas ganz Großes!« (Werner Werlinger, Inlandsverkauf Nord/Nordost)

»Das könnte der Durchbruch sein. Spät, aber nicht zu spät!«

Strahlend drückt Werner Werlinger seiner Frau einen überdimensionierten Blumenstrauß in die Arme. Eine Geste, die er selbst jahrelang immer als Sentimentalität abgetan hat. Auch an Valentins- oder Geburtstagen war er in dieser Hinsicht nie wankelmütig geworden.

Heute aber ist ein besonderer Anlass. Heute muss es sein!

»Mü-Bri hat mich zu sich bestellt. Für übermorgen, um halb elf.«

»Mü-Bri?« Beate starrt auf den Strauß in ihren Armen. In Gedanken geht sie den Vasenbestand durch. Hoffentlich hat sie eine Vase, in der der Strauß optimal zur Geltung kommen kann. Beiläufig wiederholt sie: »Mü-Bri? Wer ist das? Kenne ich die oder den?«

»Mü-Bri wird sie von uns allen genannt. In Wirklichkeit heißt sie Dr. Rita Müller-Briner. Von der habe ich dir sicherlich schon mal erzählt. Die sitzt ganz oben. Auf der 11. Die ist CHRO, Chief Human Resources Officer.«

»Ach, du immer mit deinen komischen Ausdrücken. Chief Dingsda, wie war das nochmal?«

»Chief Human Resources Officer. Personalchefin halt«, antwortet Werlinger. Ungeduld liegt in seiner Stimme. »Personalvorständin, um genau zu sein. Frau Dr. Rita Müller-Briner. Höher geht´s nicht, wenn es um wichtige Personalentscheidungen geht.«

»Ach so, Müller-Briner«, sagt Beate Werlinger, wobei sie die Worte Müller-Briner bewusst gedehnt ausspricht. Ironie liegt in ihrer Stimme. »Ja, von der hast du schon mal erzählt. Ich glaube, jetzt erinnere ich mich.«

Liebevoll ordnet Beate die Blumen in der Vase. Früher war sie Floristin gewesen, hatte sich dann aber ganz auf Haushalt und Kindererziehung konzentriert, während ihr Mann ausgezogen war, Karriere zu machen. Man muss dem Mann den Rücken freihalten, irgendwann wird sich das schon auszahlen. Das war ihre Überzeugung; andere nannten das eine überholte, konservative Einstellung.

Einen Wintergarten müssten wir haben, hatte sie oft gedacht, den würde ich in ein Blumenparadies verwandeln. Aber das war finanziell nie drin gewesen. Werner verdient als Leiter des Inlandvertrieb Nord/Nordost zwar ordentlich, aber zur Erfüllung solcher Sonderwünsche, wie Werner den Wintergarten immer bezeichnete, hatte es trotzdem nie gereicht. Wenn er National oder International Sales Manager werden würde, ja dann, dann wäre die Realisierung ihres Wunsches kein Problem, hatte Werner mehrfach gesagt und sie dabei angesehen, als müsse er ein Geheimnis für sich behalten.

»Und, Werner, was ist denn nun mit Mü-Bri?«, fragt Beate. Sie blickt ihren Mann erwartungsvoll an.

»Tja, Schatz, das ist so: Wenn Mü-Bri herself mich schon kommen lässt, dann geht es bestimmt um etwas ganz Großes.«

»Wieso?«

»Weil, ja weil, Frau Dr. Müller-Briner kümmert sich nicht um die kleinen Personalangelegenheiten. Sie dreht das ganz große Rad, hat immer das große Ganze im Blick: Personal Development, Karriereplanung, Potentials, solche Sachen eben.«

»Potentials«, sagt Beate betont spöttisch und verzieht ihr Gesicht zu einer Grimasse. Sie zuckt mit den Schultern und trägt den Strauß ins Esszimmer, wo sie die Vase auf der Anrichte platziert.

»Bestimmt geht es um den International Global Sales Manager. Die Stelle ist vakant«, ruft Werlinger ihr hinterher. Die Krawatte baumelt jetzt locker um seinen Hals, in der Hand hält er ein Glas. Bernsteinfarbene Flüssigkeit, Carlos Primero. Doppelt. Nur für besondere Anlässe.

Vielleicht ist das der späte Karriereschub für mich. Wenn das so kommen sollte, können wir den Wintergarten sofort bestellen und vom Delta zum alten Gehalt locker in drei, vier Jahren bezahlen, denkt er und nimmt einen tiefen Schluck.

Zwei Tage später steht Werner Werlinger vor den silber-glänzenden Türen und beobachtet die Anzeigen, die den jeweiligen Etagenstandort der Aufzüge mit roten Leuchtdioden ankündigen. Hoch auf die 11. Zu Mü-Bri. Für einen Moment hat er überlegt, die Treppe zu nehmen, fürchtete dann aber, verschwitzt und mit rotem Kopf oben anzukommen, was Frau Dr. Müller-Briner ihm als Aufgeregtheit hätte auslegen können.

Auch ist Werlinger zu früh dran, gut fünfzehn Minuten, um genau zu sein. Doch besser zu früh als zu spät, nichts hasst die Müller-Briner so sehr wie Unpünktlichkeit. Werlinger beschließt deshalb, zeitig hochzufahren und die Minuten bis Punkt halb elf auf der Toilette zu verbringen, dann das Vorzimmer auf die Minute pünktlich – just in time – zu betreten, mit ruhigem Puls und souveränem Auftreten, frisch gekämmt.

Er ist erleichtert darüber, dass während der Fahrt niemand zusteigt und nicht sieht, dass er hoch auf die 11 will. Hoch auf die Etage mit den hellen, weichen Teppichen, dahin, wo die Leitung der Human Resources beheimatet ist. Zu Müller-Briner, der Königsmacherin, wie sie im Haus auch genannt wird. Nein, das würde wahrscheinlich zu viele Gerüchte auslösen und wahrscheinlich würde jeder ahnen, dass für Werlinger eine Beförderung ansteht und er wohl die letzte Zeit in seiner Funktion als Leiter des Inlandverkauf Nord/ Nordost tätig gewesen ist. Nein, allzu gerne wird er die Neuigkeit über seine Beförderung zu einem selbst gewählten Zeitpunkt vor seinen überraschten Kollegen verkünden. Vielleicht wird er sie beim Stand-up-Meeting am Freitag mit ein paar Häppchen und einem Gläschen Sekt überraschen. Die werden staunen!

Frau Müller-Briner ist nicht nur entscheidungsfreudig, sie ist auch bekannt dafür, schnell auf den Punkt zu kommen. Ihre Zeit ist kostbar und so drängt sie auf eine schnelle Einigung. Man einigt sich nach einem kurzen Gespräch über die Konditionen. Kaum fünfzehn Minuten, nachdem er ihr Büro betreten hatte, zieht Werlinger die Tür des Vorzimmers hinter sich zu. Wie er absolut richtig vermutete, bekleidet er ab sofort eine neue Position.

Ein paar Minuten später verlässt er die Zentrale der Tuchscherer AG. Seinen Firmenwagen lässt er stehen.

Vor dem Werksgelände steigt er in den Bus, um nach Hause zu fahren. Unterwegs besorgt er sich bei einem Zwischenstopp ein paar Prospekte für den Wintergarten und vereinbart einen Beratungstermin bei sich zu Hause.

Übermorgen um halb elf wird der Außendienstler ihn besuchen. Dann wird er zuhause sein, ab sofort hat er viel Zeit.

Den Wintergarten wird er bald bestellen, er wird ihn direkt von seiner Abfindung bezahlen, die hoch genug ist, um nicht noch einen zusätzlichen Kredit aufnehmen zu müssen. Beate wird sich freuen, denkt Werlinger säuerlich, als er aus dem Bus aussteigt, um die letzten Meter zu Fuß nach Hause zu gehen.

Perspektivwechsel

»It´s a fucking good adventure!

Ganz nach meinem Geschmack, ich liebe Herausforderungen.« (Dale Scott, Leiter Marketing/Vertrieb Tuchscherer AG)

»Verdammt nochmal.«

Alexander Sokolow flucht laut vor sich hin. »Verdammt, was ist das für ein verfluchter Mist?! Jetzt habe ich auch noch Wasser im Schuh. Das ist doch alles nicht mehr wahr hier.«

Sokolow bildet das Ende der kleinen Kolonne, die sich wie eine erschöpfte Nordpolexpedition auf schmalen Pfaden durch den nächtlichen Mischwald kämpft. Der korpulente Riese hinkt der Truppe gut zehn Meter hinterher und versucht, stolpernd Anschluss zu halten. »It´s a fucking good adventure!«

Dale Scott hat sich direkt hinter dem Guide eingereiht, der als Ortskundiger den anderen Teilnehmern den Weg weist. Seine Kopflampe wirft einen schmalen Strahl voraus, gerade genug, um auf dem Boden liegende Hindernisse erkennen und die Gruppe warnen zu können.

Scott hatte bereits Tage vorher von dem bevorstehenden Ereignis geschwärmt. Endlich mal Abwechslung vom tristen Büroalltag! Er war absolut heiß darauf gewesen, mit Bekleidung ausgestattet zu werden, die der Kluft von Fabrikarbeitern Mitte des 19. Jahrhunderts nachempfunden war und mit der nun alle ausgestattet sind. In den kommenden Monaten wird er immer wieder schwärmerisch über dieses Erlebnis berichten, dabei aber selbstverständlich vergessen zu erwähnen, dass die Bekleidung zwar optisch wie aus einem vergangenen Jahrhundert erschien, jedoch aus modernsten Materialien hergestellt und nicht vergleichbar mit der Ursprungsbekleidung ist. Gore Tex anstatt Leinen, moderne Funktionsschuhe statt alter, ausgetretener Leder-Schnürschuhe. Egal, Scott liebt das Gefühl, mehr als eineinhalb Jahrhunderte zurückversetzt zu werden. Für den drahtigen Sportler ist es ein Abenteuer, nicht so mühsam wie für die meisten seiner Kollegen der Gruppe.

Der silbern glänzende Mond bricht durch die aufgerissene Wolkendecke. Die Gruppe kämpft sich einen gewundenen, halb zugewachsenen Pfad hinauf. An dieser Stelle ist der Wald so dicht, dass sie nur mühsam den Weg erkennen können. Längst sind die Gespräche verstummt, die Teilnehmer von der ungewohnten Anstrengung müde und wortkarg. Äste knacken unter ihren Tritten, aus dem Gehölz neben dem Weg hören sie bedrohliche Geräusche. Mit einem Mal erhebt sich die mächtige Schildmauer einer mittelalterlichen Burgruine vor ihnen. Burg Benkenstein! Sie ist das sehnsüchtig erwartete Zeichen, dass sie den höchsten Punkt des Weges bald erreicht haben, danach wird es in Serpentinen immer nur bergab gehen. Die Totenstille, nur durch ihre Schritte und ihr stoßweises Keuchen untermalt, wird durch den Ruf eines Waldkäuzchens zerrissen. Sokolow bemüht sich, zur Gruppe aufzuschließen. Immer wieder blickt der kräftige Mann ängstlich hinter sich. Hatte er eben nicht etwas gehört? Werden sie etwa verfolgt? Sieht er da nicht gerade ein Gesicht hinter dem Baum verschwinden? Sind sie etwa in Gefahr? Womöglich in Lebensgefahr?

Vor ihm geht Dr. Hentschel, unmittelbar hinter Gerald Fastenecker, dem Chef der Internal Services, der