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Eine Bilderbuchstadt. Eine Mordserie. Und der Killer ist zurück.
Ellery kennt die dunkle Vergangenheit der Kleinstadt Echo Ridge nur allzu gut. Erst verschwand dort ihre Tante spurlos, dann wurde vor fünf Jahren die Homecoming Queen der Highschool ermordet. Der »Murderland-Killer« machte landesweit Schlagzeilen. Ausgerechnet dorthin zieht Ellery nun mit ihrem Zwillingsbruder. Zu einer Großmutter, die fast eine Fremde für sie ist. Als aus dem Nichts Morddrohungen gegen die zukünftige Homecoming Queen zirkulieren, ermittelt Ellery auf eigene Faust. Dabei lernt sie Malcolm kennen, den jüngeren Bruder des Hauptverdächtigen. Dann verschwindet wieder ein Mädchen und plötzlich steht jeder unter Verdacht …
Atemlos und raffiniert sind die Thriller von Karen M. McManus, die weltweit die Fans begeistern. Mit meisterhaft geplotteten Wendungen und einnehmenden, komplexen Figuren garantieren ihre Bücher eine Suchtgefahr, der man sich nicht entziehen kann.
Karen M. McManus bei cbj & cbt:
One Of Us Is Lying
Two Can Keep A Secret
One Of Us Is Next
The Cousins
You will be the death of me
Nothing more to tell
One of us is back
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Seitenzahl: 492
Karen M. McManus
TWO CAN KEEP
A SECRET
Aus dem Amerikanischen
von Anja Galić
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Copyright © 2019 by Karen M. McManus
Published by Arrangement with Karen M. McManus
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»Two Can Keep A Secret« bei Delacorte Press,
an imprint of Random House Children’s Books, New York.
© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Anja Galić
Lektorat: Katarina Ganslandt
Umschlaggestaltung: © Suse Kopp, Hamburg,
unter Verwendung mehrerer Motive von
Gettyimages (Pando Hall, Orbon Alija, CoffeeAndMilk)
he • Herstellung: AJ
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-20772-4V002
www.cbj-verlag.de
Für Gabriela, Carolina und Erik
1
Wäre ich abergläubisch, würde ich das jetzt für ein ganz schlechtes Omen halten.
Auf dem Gepäckförderband fährt nur noch ein einsamer Koffer im Kreis herum. Er leuchtet pink, ist mit Hello-Kitty-Aufklebern übersät und gehört definitiv nicht mir.
Mein Bruder Ezra stützt sich auf den ausziehbaren Griff seines eigenen überdimensionierten Koffers und schaut zu, wie er zum vierten Mal an uns vorübergleitet. Eben herrschte noch dichtes Gedränge um das Förderband, jetzt ist außer uns nur noch ein Paar übrig geblieben, das darüber streitet, wessen Aufgabe es gewesen war, den Mietwagen zu organisieren. »Warum nimmst du nicht einfach den da?«, fragt Ezra. »Von den Leuten, die mit uns geflogen sind, scheint ihn niemand zu vermissen, und ich wette, da sind ein paar interessante Klamotten drin. Ich tippe mal auf jede Menge süße Pünktchen. Und Glitzer.« Sein Handy verkündet den Eingang einer Nachricht. »Nana wartet draußen.«
»Ich fasse es nicht«, stöhne ich und kicke mit der Spitze meines Sneakers gegen die Metallverkleidung des Gepäckförderbands. »Wo ist mein verdammter Koffer? Da steckt mein ganzes Leben drin.«
Das ist leicht übertrieben. Streng genommen wurde der größte Teil meines Lebens, das bis vor etwa acht Stunden hauptsächlich in La Puente, Kalifornien, stattgefunden hat, schon letzte Woche in ein paar Umzugskisten nach Vermont geschickt, nur der Rest befindet sich in dem Koffer.
»Wir sollten irgendwo melden, dass dein Gepäck nicht da ist.« Ezra schaut sich in der Halle um und fährt sich durch die kurz geschorenen Haare. Früher hatte er genau wie ich dichte schwarze Locken, die ihm ständig in die Augen fielen. Im Sommer hat er sie sich dann radikal abschneiden lassen und ich habe mich immer noch nicht an den neuen Look gewöhnt. Er kippt seinen Koffer auf die Rollen und läuft zum Informationsschalter. »Ich frag mal da drüben.«
Der schlaksige Typ hinter dem Schalter sieht aus, als würde er noch auf die Highschool gehen. Seine Wangen und seine Kinnpartie sind mit rot entzündeten Pickeln übersät. Auf dem goldenen Namensschild, das schief an seiner blauen Weste befestigt ist, steht »Andy«. Andys schmale Lippen zucken, als ich ihm von meinem verschollenen Gepäck erzähle. Er reckt den Kopf in Richtung des Hello-Kitty-Koffers, der immer noch seine Runden auf dem Gepäckförderband dreht. »Flug Nummer 5624 aus Los Angeles? Mit Zwischenstopp in Charlotte?« Ich nicke. »Und der da hinten ist ganz sicher nicht deiner?«
»Ganz sicher.«
»Ärgerlich. Aber er wird wieder auftauchen. Du musst nur das hier ausfüllen.« Er zieht eine Schublade auf, holt ein Formular heraus und schiebt es mir über die Theke zu. »Hier muss irgendwo ein Stift sein«, murmelt er und wühlt etwas lustlos durch einen Stapel Unterlagen.
»Ich hab selbst einen.« Ich öffne den Reißverschluss an der vorderen Tasche meines Rucksacks und nehme ein zerfleddertes Buch heraus, das ich auf die Theke lege, bevor ich nach dem Stift krame. Ezra zieht die Brauen hoch.
»Echt jetzt, Ellery?«, sagt er. »Du hast Kaltblütig im Handgepäck dabeigehabt? Warum hast du es nicht mit unseren ganzen anderen Büchern in die Umzugskisten gepackt?«
»Weil es wertvoll ist?«, gebe ich zurück.
Ezra verdreht die Augen. »Du weißt doch, dass das nicht die echte Unterschrift von Truman Capote ist. Sadie hat sich reinlegen lassen.«
»Ja, ja«, murmle ich. »Was zählt, ist der gute Wille.« Unsere Mutter hat vor vier Jahren bei eBay eine »signierte« Erstausgabe für mich ersteigert, um zu feiern, dass sie eine Rolle als Leiche Nr. 2 in einer Folge von Law&Order ergattert hatte. Ezra bekam ein von Sid Vicious signiertes Album der Sex Pistols – wahrscheinlich ebenfalls eine Fälschung. Stattdessen hätte sie sich lieber ein Auto mit zuverlässigen Bremsen kaufen sollen, aber langfristige Planung hat noch nie zu Sadies Stärken gehört. »Außerdem dachte ich, es passt als Reiselektüre für jemanden, der nach Murderland unterwegs ist …« Endlich finde ich den Stift und trage meinen Namen in das Formular ein.
»Ach, ihr wollt nach Echo Ridge?«, fragt Andy. Ich halte beim zweiten C in meinem Nachnamen inne. »Murderland heißt der Park aber schon lange nicht mehr. Außerdem seid ihr ein bisschen zu früh dran. Im Moment ist er noch geschlossen.«
»Ich weiß. Ich meinte auch gar nicht den Freizeitpark, sondern die …« Ich schlucke das Wort Stadt hinunter und stecke mein Buch in meinen Rucksack zurück. »Egal«, sage ich und konzentriere mich wieder auf das Formular. »Wie lange dauert es normalerweise, bis man sein Gepäck wiederbekommt?«
»In der Regel nicht länger als einen Tag.« Andys Blick wandert zwischen Ezra und mir hin und her. »Ihr seht euch total ähnlich. Seid ihr Zwillinge?«
Ich fülle weiter das Formular aus, aber Ezra ist wie immer höflich und antwortet. »Sind wir.«
»Ich hätte auch fast einen Zwilling gehabt«, sagt Andy. »Aber das zweite Baby ist vom Uterus meiner Mutter absorbiert worden.« Ezra gibt ein kleines überraschtes Schnauben von sich und ich verkneife mir ein Lachen. So was passiert meinem Bruder ständig; die Leute plaudern ihm gegenüber die seltsamsten Dinge aus. Wir sind uns beide wie aus dem Gesicht geschnitten, aber es ist vor allem seins, das anscheinend grenzenloses Vertrauen weckt. »Wäre bestimmt cool gewesen, einen Zwillingsbruder zu haben. Man kann so tun, als wäre man der andere und Leute reinlegen.« Als ich aufschaue, sehe ich, dass Andy uns mit zusammengekniffenen Augen mustert. »Aber bei euch beiden würde das nicht funktionieren. Ihr seid nicht die richtige Sorte Zwillinge.«
»Definitiv nicht.« Ezra lächelt gezwungen.
Ich beeile mich, das Formular auszufüllen, und schiebe es Andy hin, der das obere Blatt abzieht und mir den gelben Durchschlag reicht. »Wie geht es jetzt weiter?«, frage ich. »Meldet sich jemand bei mir?«
»Yep.« Andy nickt. »Wenn du bis morgen nichts gehört hast, kannst du die unten stehende Nummer anrufen. Viel Spaß in Echo Ridge.«
Ezra atmet geräuschvoll aus, als wir auf die Drehtür zusteuern, und ich grinse ihn über die Schulter an. »Du lernst aber auch immer die nettesten Leute kennen.«
»Ich muss die ganze Zeit an dieses Wort denken«, sagt er schaudernd. »Absorbiert. Wie soll das überhaupt gehen? Ist er … Nein. Ich will mir das gar nicht ausmalen. Aber ganz schön heftig, oder? Für immer damit leben zu müssen, dass man selbst der Zwilling hätte sein können, der Pech gehabt hat.«
Wir schieben uns durch die Tür nach draußen. Die nach Abgasen riechende, schwüle Luft, die uns empfängt, überrascht mich. Es ist zwar erst Ende August, aber ich hatte erwartet, dass es in Vermont viel kühler wäre als in Kalifornien. Ich streiche mir die feuchten Haare aus dem Nacken, während Ezra durch sein Handy scrollt. »Nana schreibt, dass sie noch eine Runde dreht, weil sie keine Lust hat, auf den Parkplatz zu fahren.«
Ich ziehe die Brauen hoch. »Nana schreibt beim Fahren Textnachrichten?«
»Sieht ganz so aus.«
Ich habe meine Großmutter zwar nicht mehr live erlebt, seit sie uns vor zehn Jahren einmal in Kalifornien besucht hat, aber irgendwie passt das nicht zu der Frau, an die ich mich erinnere.
Nachdem wir ein paar Minuten in der drückenden Hitze gewartet haben, kommt neben uns ein dunkelgrüner Subaru-Kombi zum Stehen, das Beifahrerfenster fährt herunter, und Nana steckt den Kopf heraus. Eigentlich sieht sie genauso aus wie auf Skype, nur ihre vollen grauen Haare wirken, als wäre sie frisch beim Friseur gewesen. »Na los, rein mit euch«, ruft sie und wirft dem Verkehrspolizisten, der ein paar Meter weiter steht, einen kurzen Blick zu. »Man darf hier nicht länger als eine Minute parken.« Ihr Kopf verschwindet wieder im Wagen und Ezra verstaut eilig sein Gepäck im Kofferraum.
Als wir hinten einsteigen, drehen sich Nana und eine Frau, die am Steuer sitzt, zu uns um. »Ellery, Ezra, das ist Melanie Kilduff«, erklärt Nana. »Sie wohnt mit ihrer Familie ein paar Häuser weiter. Ich sehe in der Dämmerung nicht mehr so gut, deswegen war Melanie so nett, mich zu fahren. Vielleicht habt ihr ihren Namen schon einmal von eurer Mutter gehört. Melanie war Sadies Babysitter, als sie noch klein war.«
Ezra und ich schauen uns mit großen Augen an. Und ob wir ihren Namen schon mal gehört haben.
Sadie ist mit achtzehn aus Echo Ridge fortgezogen und nur zweimal dorthin zurückgekehrt. Das erste Mal ein Jahr vor unserer Geburt zum Begräbnis unseres Großvaters, der an einem Herzinfarkt gestorben ist. Und das zweite Mal vor fünf Jahren, als Melanies Tochter beerdigt wurde.
Ezra und ich haben uns damals zu Hause die Sondersendung von Dateline mit dem Titel »Mord in Murderland« angeschaut, während eine Nachbarin auf uns aufpasste. Die Geschichte von Lacey Kilduff, der wunderschönen blonden Homecoming Queen aus der Heimatstadt meiner Mutter, die erwürgt in einem Halloween-Freizeitpark aufgefunden worden war, faszinierte mich. Der Betreiber des Freizeitparks hat den Namen – wie Flughafen-Andy ganz richtig bemerkt hatte – ein paar Monate später von Murderland in Fright Farm geändert. Ich bin mir nicht sicher, ob der Mordfall dieselbe landesweite Aufmerksamkeit erregt hätte, wenn der Park einen weniger treffenden Namen gehabt hätte.
Oder wenn Lacey nicht schon das zweite bildhübsche Mädchen aus Echo Ridge – und sogar aus derselben Straße – gewesen wäre, das auf so tragische Weise Schlagzeilen machte.
Wir löcherten Sadie mit Fragen, als sie von Laceys Beerdigung zurückkam, aber sie weigerte sich, darüber zu reden. »Ich will es einfach nur vergessen«, sagte sie jedes Mal, wenn wir davon anfingen. Exakt dasselbe hat sie auch immer über Echo Ridge gesagt.
Dass wir jetzt trotzdem hier gelandet sind, nennt man wohl Ironie des Schicksals.
»Freut mich«, sagt Ezra zu Melanie. Ich kann nichts sagen, weil ich es irgendwie geschafft habe, mich an meiner eigenen Spucke zu verschlucken. Mein Bruder klopft mir härter als nötig auf den Rücken. Melanie ist eine leicht verblühte Schönheit mit hellblonden, zu einem französischen Zopf geflochtenen Haaren, blaugrauen Augen und Sommersprossen auf der Nase. Sie schenkt uns ein entwaffnendes Lächeln, das ihre etwas zu weit auseinanderstehenden Schneidezähne enthüllt. »Gleichfalls. Tut mir leid, dass ihr warten musstet, aber wir haben lieber noch eine Runde gedreht, statt einen Strafzettel zu riskieren. Wie war euer Flug?«
Bevor Ezra antworten kann, hämmert jemand so laut auf das Dach des Kombis, dass Nana sich erschrocken in ihrem Sitz aufrichtet. »Hier ist Parken verboten«, ruft der Verkehrspolizist.
»In Burlington haben sie wirklich keinerlei Manieren!«, keucht Nana entrüstet. Sie lässt ihr Fenster hoch und Melanie fädelt sich hinter einem Taxi in den Verkehr ein.
Während ich mich anschnalle, starre ich auf Melanies Hinterkopf. Ich habe nicht damit gerechnet, sie auf diese Weise kennenzulernen. Mir war natürlich klar, dass ich ihr früher oder später begegnen würde, schließlich sind sie und Nana Nachbarinnen, aber ich dachte, wir würden uns eher mal beim Müllraustragen zuwinken, statt direkt nach unserer Landung in Vermont eine Stunde lang gemeinsam in einem Auto zu sitzen.
»Es hat mir so leidgetan, als ich das mit eurer Mutter gehört habe«, sagt Melanie, die jetzt vom Flughafengelände auf einen schmalen Zubringer fährt, der von etlichen grünen Verkehrsschildern gesäumt ist. Mittlerweile ist es schon kurz vor zehn, und in den Häusern, die vor uns in Sichtweite auftauchen, brennt bereits Licht. »Aber ich bin froh, dass sie die Hilfe bekommt, die sie braucht. Sadie ist eine starke Frau. Ich bin mir sicher, dass ihr bald wieder zu ihr zurückkehren könnt, trotzdem hoffe ich natürlich, dass ihr euch in Echo Ridge wohl fühlen werdet. Es ist eine hübsche kleine Stadt. Nora kann es kaum erwarten, euch alles zu zeigen.«
Wow.Melanie beherrscht die Kunst der Diplomatie. Man muss das Gespräch nicht mit Tut mir echt leid, dass eure Mutter total zugedröhnt mit ihrem Wagen in die Auslage eines Juweliergeschäfts gekracht ist und deswegen jetzt für vier Monate in einer Entzugsklinik verbringen wird eröffnen. Man kann die Ungeheuerlichkeit, von der jeder der Beteiligten weiß, auch einfach elegant umschiffen und zu unverfänglicheren Themen überleiten.
Willkommen in Echo Ridge.
• • • •
Schon nach ein paar Kilometern auf dem Highway döse ich ein und schrecke hoch, als lautes Knallen ertönt. Es klingt, als würde der Kombi aus sämtlichen Richtungen mit Steinen beworfen werden. Ich schaue Ezra an, der genauso verwirrt wirkt. Nana dreht sich in ihrem Sitz zu uns und ruft über das Dröhnen hinweg: »Hagel. Nichts Ungewöhnliches für diese Jahreszeit. So große Hagelkörner wie jetzt sieht man allerdings selten.«
»Besser, wir fahren rechts ran und warten, bis es vorbei ist.« Melanie lenkt den Wagen an den Straßenrand und stellt den Motor ab. Es hagelt mit unverminderter Heftigkeit weiter, und ich denke mitleidig, dass ihr Wagen nachher bestimmt von Hunderten kleinen Dellen übersät ist. Als ein besonders großes Hagelkorn mitten auf die Windschutzscheibe knallt, zucken wir alle gleichzeitig zusammen.
»Wie kann es jetzt hageln?«, frage ich. »In Burlington war es doch noch total heiß.«
»Hagelkörner entstehen in den niedrigeren Schichten von Gewitterwolken.« Nana zeigt zum Himmel. »Da oben herrschen Temperaturen von unter null. Aber sind sie erst mal unten, schmelzen sie recht schnell.«
Zum ersten Mal an diesem Abend kommt etwas Leben in ihre Stimme. Ihr Tonfall ist zwar nicht unbedingt der einer warmherzigen Großmutter, aber ich bin mir auch nicht sicher, ob sie überhaupt dazu in der Lage ist, so etwas wie Warmherzigkeit auszustrahlen. Nana war Lehrerin und scheint sich in dieser Rolle eindeutig wohler zu fühlen als in der des gerichtlich bestellten Vormunds ihrer Enkelkinder. Nicht dass ich ihr einen Vorwurf mache. Während Sadie ihre vom Gericht angeordnete, viermonatige Entziehungskur absolviert, hat sie uns genauso am Hals wie wir sie. Der Richter bestand darauf, dass sich ein leibliches Familienmitglied um uns kümmern muss, was unsere Möglichkeiten extrem einschränkte. Unser Vater ist ein One-Night-Stand gewesen, ein Stuntman – das hat er zumindest in den sage und schreibe zwei Stunden behauptet, die er und Sadie miteinander verbrachten, nachdem sie sich in einem Club in L.A. kennengelernt hatten. Wir haben weder Tanten noch Onkel oder Cousins. Außer Nana gibt es niemanden, der uns hätte aufnehmen können.
Nachdem wir ein paar Minuten schweigend dagesessen und zugeschaut haben, wie die Hagelkörner von der Motorhaube abprallen, lässt das Unwetter allmählich nach, bis es schließlich ganz aufhört. Als Melanie den Wagen wieder anlässt und weiterfährt, werfe ich einen Blick auf die Uhr. Es ist kurz vor elf; ich habe fast eine Stunde geschlafen. Ich stupse Ezra an. »Wir müssten bald da sein, oder?«, frage ich.
»Kann jedenfalls nicht mehr lange dauern.« Ezra senkt die Stimme. »Hier ist freitagabends anscheinend die Hölle los. Seit Kilometern kein einziges beleuchtetes Gebäude.«
Es ist stockdunkel draußen. Selbst nachdem ich mir ein paarmal die Augen gerieben habe, kann ich durch das Fenster nichts weiter erkennen als die verschwommenen Schatten von Bäumen. Ich kann es kaum erwarten, endlich den Ort zu sehen, von dem Sadie so dringend fortwollte. »Es hat sich angefühlt, als würde man in einer Postkarte leben«, hat sie immer gesagt. »Eine hübsch eingerahmte glänzende Oberfläche. Die Leute in Echo Ridge haben mir immer das Gefühl gegeben, als würde man im Nichts verschwinden, wenn man sich über die Grenze hinauswagt.«
Der Gurt gräbt sich in meinen Hals, als der Wagen über eine Unebenheit fährt und ich kurz zur Seite geworfen werde. Ezra gähnt so herzhaft, dass seine Kiefergelenke knacken. Bestimmt hat er sich verpflichtet gefühlt, wach zu bleiben und sich zu unterhalten, als ich eingeschlafen bin, dabei haben wir beide schon seit Tagen kaum ein Auge zugemacht.
»Gleich sind wir da.« Nanas Stimme lässt uns beide zusammenfahren. »Das Ortsschild von Echo Ridge, an dem wir gerade vorbeigefahren sind, ist so schlecht beleuchtet, dass ihr es wahrscheinlich nicht gesehen habt.«
Sie hat recht. Ich habe es tatsächlich nicht gesehen, obwohl ich mir vorgenommen hatte, danach Ausschau zu halten. Dieses Schild gehört zu den wenigen Dingen, über die Sadie im Zusammenhang mit Echo Ridge gesprochen hat, meistens wenn sie schon ein paar Gläser Wein intus hatte. »Unter dem Ortsnamen steht die Zahl der Einwohner: 4935. Und an dieser Zahl hat sich in den ganzen achtzehn Jahren, die ich dort gelebt habe, nie was geändert«, sagte sie jedes Mal sarkastisch. »Anscheinend muss immer erst einer gehen, bevor ein anderer reingelassen wird.«
»Gleich kommt die Unterführung, Melanie.« In Nanas Stimme liegt ein warnender Unterton.
»Ich weiß«, sagt Melanie. Die Straße macht eine scharfe Biegung, als wir unter einer grauen Steinbrücke hindurchfahren, die vollkommen unbeleuchtet ist. Melanie drosselt das Tempo und schaltet das Fernlicht ein.
»Nana ist die nervigste Beifahrerin, die es gibt«, flüstert Ezra. »Sei froh, dass du den größten Teil der Fahrt verschlafen hast.«
»Dabei fährt Melanie doch total vorsichtig«, flüstere ich zurück.
»Nana ist jedes Tempo zu schnell, es sei denn man steht an einer roten Ampel.«
Ich pruste leise in mich hinein, als unsere Großmutter plötzlich in einem so autoritären Tonfall »Stopp!« ruft, dass Ezra und ich ertappt zusammenzucken. Einen winzigen Moment lang bin ich davon überzeugt, dass sie ein übernatürlich gutes Gehör besitzt und unsere abfälligen Bemerkungen aufgeschnappt hat. Melanie tritt auf die Bremse, und der Wagen kommt so abrupt zum Stehen, dass ich in meinen Gurt nach vorn geschleudert werde.
»Was ist passiert?«, rufen Ezra und ich gleichzeitig, aber Melanie und Nana haben bereits hektisch ihre Gurte gelöst und sind ausgestiegen. Wir schauen uns verwundert an, dann schnallen wir uns ebenfalls ab und folgen ihnen. Den großen Pfützen aus halb geschmolzenen Hagelkörnern ausweichend bahne ich mir einen Weg zu meiner Großmutter. Nana steht vor Melanies Kombi und heftet den Blick auf die Stelle der Fahrbahn, die in das gleißende Licht der Scheinwerfer getaucht ist.
Im Lichtkegel liegt reglos eine Gestalt. Blutüberströmt, den Kopf in einem grotesk unnatürlichen Winkel zur Seite geneigt, die Augen weit geöffnet und ins Nichts starrend.
2
Ich werde von der Sonne geweckt, die unbarmherzig durch die eindeutig nicht aufgrund ihrer raumverdunkelnden Eigenschaften erworbenen Vorhänge knallt. Trotzdem bleibe ich unter der gehäkelten Überdecke und dem blütenweichen Laken liegen, bis es leise an meiner Tür klopft.
»Ja?« Ich setze mich auf und streiche mir die verstrubbelten Locken aus dem Gesicht, als Ezra hereinkommt. Der silberne Wecker auf meinem Nachttisch zeigt an, dass es zehn Minuten vor zehn ist, aber da meine innere Uhr noch nach Westküstenzeit tickt, habe ich gefühlt noch nicht einmal annähernd genügend Schlaf bekommen.
»Hey«, sagt Ezra. »Nana hat mich gebeten, dich zu wecken. Gleich kommt einer von der Polizei. Er will mit uns über gestern Abend sprechen.«
Gestern Abend. Wir sind bei dem Mann geblieben und kauerten neben ihm zwischen dunklen Blutlachen auf der Straße, bis ein Rettungswagen kam. Zuerst kostete es mich Überwindung, ihm ins Gesicht zu sehen, aber dann konnte ich den Blick nicht mehr von ihm abwenden. Er war so jung. Höchstens Anfang dreißig, in Outdoorklamotten und Sneakers. Melanie, die Krankenschwester ist, versuchte ihn wiederzubeleben, bis die Sanitäter eintrafen, aber es wirkte verzweifelt. Eher so, als würde sie auf ein Wunder hoffen, als wirklich daran zu glauben, dass ihre Bemühungen irgendetwas bringen könnten. Als wir später wieder in Nanas Wagen saßen, sagte sie uns, dass er schon tot gewesen sein muss, bevor wir dort ankamen.
»Jason Bowman.« Ihre Stimme hat gezittert. »Er ist … er war Lehrer für Naturwissenschaften an der Echo Ridge High. Hat auch die Schulband geleitet. Jason war unglaublich beliebt bei den Schülern. Ihr hättet ihn nächste Woche kennengelernt … kennenlernen sollen.«
Ezra, der schon fertig angezogen ist und vom Duschen noch feuchte Haare hat, wirft eine kleine Plastikverpackung aufs Bett und holt mich ins Hier und Jetzt zurück. »Außerdem soll ich dir das hier geben.«
Auf der noch ungeöffneten Verpackung prangen das Hanes-Logo und die Abbildung einer lächelnden blonden Frau in einem Sport-BH und einer Unterhose, deren Bund bis in die Taille reicht. »Oh nein«, stöhne ich.
»Oh doch. Omaschlüpfer im wahrsten Sinne des Wortes. Nana sagt, sie hätte sie aus Versehen ein paar Nummern zu klein gekauft und vergessen, sie umzutauschen. Jetzt gehören sie dir.«
»Fantastisch«, brumme ich und schwinge die Beine aus dem Bett. Ich trage das T-Shirt, das ich gestern unter meinem Sweater anhatte, und dazu eine hochgekrempelte Jogginghose von Ezra. Als feststand, dass wir nach Echo Ridge ziehen würden, habe ich meinen Kleiderschrank ausgemistet und gnadenlos alles aussortiert, was ich in den letzten Monaten nicht getragen hatte. Am Ende hatte ich meine Garderobe so weit reduziert, dass bis auf ein paar Winterjacken und Schuhe, die letzte Woche mit unseren anderen Sachen verschickt worden sind, alles in einen einzigen Koffer passte. Zu dem Zeitpunkt fühlte es sich so an, als hätte ich wenigstens in einem kleinen Bereich meines Lebens Ordnung geschaffen.
Blöd nur, dass ich jetzt deswegen nichts zum Anziehen habe.
Ich nehme mein Handy vom Nachttisch, um zu schauen, ob sich schon jemand wegen meines verloren gegangenen Gepäcks gemeldet hat. Keine Nachricht. »Warum bist du schon so früh auf?«
Ezra zuckt mit den Achseln. »So früh ist es gar nicht. Ich hab schon einen Spaziergang gemacht und mich ein bisschen in der Gegend umgeschaut. Es ist hübsch hier. Sehr grün. Ich hab ein paar Insta-Stories gepostet. Und eine Playlist zusammengestellt.«
Ich verschränke die Arme. »Noch eine melancholische Michael-Playlist?«
»Nein«, gibt Ezra zurück. »Ein musikalischer Tribut an den Nordosten. Du wärst überrascht, wie viele Songs es gibt, in deren Titel ein Bundesstaat aus New England vorkommt.«
»Hm.« Ezras Freund Michael hat zwei Wochen vor unserem Umzug nach Vermont mit ihm Schluss gemacht – sozusagen als Präventivmaßnahme, weil er der Meinung ist, dass »Fernbeziehungen nie funktionieren«. Ezra versucht sich nicht anmerken zu lassen, wie tief ihn das getroffen hat, aber die Playlisten, die er seitdem zusammengestellt hat, sind ziemlich emo.
»Tu nicht so, als würdest du über allem stehen.« Ezras Blick wandert zu meinem Bücherregal, in dem sich Kaltblütig ordentlich neben die gesammelten Werke von Ann Rule, Fatal Vision, Mitternacht im Garten von Gut und Böse und all meine anderen True-Crime-Bücher reiht. Das ist das Einzige, was ich gestern Abend noch aus den Kisten geholt habe, die übereinandergestapelt in einer Ecke meines Zimmers standen. »Jeder hat seine eigene Art, mit etwas fertigzuwerden.«
Nachdem er in sein Zimmer zurückgekehrt ist, schaue ich mich in meinem eigenen um, das für die nächsten vier Monate mein Zuhause sein wird, auch wenn es mir noch total fremd ist. Als wir gestern hier ankamen, verkündete Nana, dass ich in Sadies altem Zimmer schlafen würde. Gespannt und gleichzeitig nervös trat ich durch die Tür und fragte mich, ob ich darin irgendeine Art von Echo meiner Mutter finden würde. Aber es ist ein ganz gewöhnliches Gästezimmer, ohne jede persönliche Note. Die Möbel sind aus dunklem Holz, die Wände eierschalenfarben, und es riecht leicht nach Zitronenmöbelpolitur und Zedernholz. Das einzige Zugeständnis an Gemütlichkeit sind die Spitzenvorhänge, ein karierter Webteppich und ein gerahmtes Bild von einem Leuchtturm. Als ich versuche, mir Sadie in diesem Zimmer vorzustellen – wie sie sich vor dem blinden Spiegel über der Kommode die Haare macht oder an dem altmodischen Schreibtisch über ihren Hausaufgaben sitzt –, bleibt es vor meinem geistigen Auge leer.
In Ezras Zimmer dasselbe. Nichts deutet darauf hin, dass dort auch mal ein junges Mädchen gelebt hat.
Ich setze mich neben meine Umzugskisten auf den Boden, ziehe eine davon zu mir heran und stöbere darin, bis ich die in Luftpolsterfolie eingewickelten, gerahmten Fotos gefunden habe. Das erste, das ich auspacke, wurde letztes Jahr aufgenommen und zeigt Ezra und mich auf dem Santa Monica Pier mit einem perfekten Sonnenuntergang im Hintergrund. Die Kulisse ist traumhaft, aber ich bin nicht besonders vorteilhaft getroffen. Ich war noch nicht so weit, als der Auslöser gedrückt wurde, und mein angespannter Gesichtsausdruck passt überhaupt nicht zu Ezras breitem Grinsen. Ich habe es trotzdem behalten, weil es mich an ein anderes Foto erinnert.
Dieses andere Foto ist das nächste, das ich aus der Folie wickle – grobkörniger und viel älter, von zwei identisch aussehenden Mädchen mit den gleichen langen Locken wie ich und dem typischen Grunge-Look der Neunzigerjahre. Eine von ihnen lächelt strahlend, die andere sieht ernst aus. Meine Mutter und ihre Zwillingsschwester Sarah. Sie waren damals siebzehn und in der zwölften Klasse der Echo Ridge High, wo Ezra und ich demnächst auch hingehen werden. Ein paar Wochen nachdem dieses Foto aufgenommen wurde, verschwand Sarah.
Das ist jetzt dreiundzwanzig Jahre her, und niemand weiß, was damals mit ihr passiert ist. Oder genauer gesagt – falls es irgendjemand weiß, schweigt er darüber.
Als ich die beiden Fotos nebeneinander auf das Bücherregal stelle, denke ich an das, was Ezra gestern Abend am Flughafen gesagt hat, nachdem Andy ihm die Geschichte seines verhinderten Bruders aufgedrängt hatte. Ganz schön heftig, oder? Für immer damit leben zu müssen, dass man selbst der Zwilling hätte sein können, der Pech gehabt hat.
Sadie hat noch nie gern über Sarah gesprochen, egal wie hartnäckig ich sie nach ihr ausgequetscht habe. Es gibt bei uns zu Hause auch keine Fotos von ihr; das hier habe ich mir heimlich aus dem Internet heruntergeladen. Mein Tick für True Crime hat erst so richtig mit Laceys Tod angefangen. Aber ich bin schon sehr früh – eigentlich schon seit ich alt genug war, um zu verstehen, was mit Sarah passiert ist – von der Geschichte um ihr Verschwinden regelrecht besessen gewesen. Dass der eigene Zwilling plötzlich weg ist und nie wieder auftaucht, war in meiner Vorstellung das Schlimmste, was einem Menschen zustoßen konnte.
Sadies Lächeln auf dem Foto ist genauso strahlend wie das von Ezra. Sie war damals der Star an ihrer Schule – die gefeierte Homecoming Queen, genau wie Lacey ein paar Jahre später. Sie träumt bis heute davon, ein Star zu werden. Vielleicht hätte sie mehr als nur Statistenrollen ergattert, wenn sie ihre Schwester an ihrer Seite gehabt hätte, die sie anspornt. Ich weiß es nicht. Aber ich bin mir absolut sicher, dass sie die Lücke, die Sarahs Verschwinden damals gerissen hat, bis heute schmerzhaft spürt. Dass sie sich seitdem nie mehr vollständig gefühlt hat. Wenn man zusammen mit einem anderen Menschen auf die Welt gekommen ist, gehört dieser Mensch so sehr zu einem wie der eigene Herzschlag.
Es gibt diverse Gründe, warum meine Mutter tablettensüchtig wurde – ein verspannter Nacken, eine schwierige Trennung, eine Rolle, die sie mal wieder nicht bekam, der Umzug in das schäbigste Apartment, in dem wir je gewohnt haben, und das auch noch ausgerechnet an ihrem vierzigsten Geburtstag –, aber ich glaube, dass alles mit dem Verlust des Mädchens mit dem ernsten Gesicht auf dem Foto begonnen hat.
Als es an der Tür klingelt, lasse ich vor Schreck fast den Rahmen fallen. Ich habe den Polizisten, der vorbeikommen wollte, völlig vergessen und fange eilig an, mich halbwegs vorzeigbar zu machen. Aber ein Blick in den Spiegel über der Kommode lässt mich erstarren. Meine Haare bauschen sich wie eine Perücke um meinen Kopf, und ich habe nichts hier, um sie zu bändigen, weil sich meine ganzen Anti-Frizz-Produkte in dem verloren gegangenen Koffer befinden. Schnell fasse ich meine Locken zu einem Pferdeschwanz zusammen und drehe ihn so lang um sich selbst, bis ich ihn ohne Haargummi zu einem Dutt schlingen kann. Das war einer der ersten Haartricks, die Sadie mir beigebracht hat. Als Kind stand ich im Badezimmer vor dem Doppelwaschbecken und schaute ihr zu, wie sie es machte, um die schnellen, geschickten Bewegungen ihrer Hände nachzuahmen.
Meine Augen brennen, als Nana einen Moment später von unten ruft. »Ellery? Ezra? Ryan ist da.«
Ezra ist schon im Flur, als ich aus meinem Zimmer komme, und ich folge ihm die Treppe hinunter in Nanas Küche. Dort dreht uns ein dunkelhaariger Mann in einer blauen Uniform den Rücken zu und nimmt gerade eine Tasse Kaffee von Nana entgegen. In ihrer Khakihose, den Clogs und der kastenförmig geschnittenen gestreiften Bluse sieht sie aus, als wäre sie einem Outdoor-Katalog entstiegen.
»Vielleicht unternimmt die Stadtverwaltung ja jetzt endlich mal etwas gegen diese unbeleuchtete Brückenunterführung«, sagt Nana, bevor sie über der Schulter des Officers meinen Blick auffängt. »Da seid ihr ja. Ryan, das sind mein Enkel und meine Enkelin. Ezra, Ellery, das ist Officer Ryan Rodriguez. Ich kenne Ryan schon, seit er ein kleiner Junge war. Er wohnt in unserer Straße und ist vorbeigekommen, um uns ein paar Fragen zu gestern Abend zu stellen.«
Er dreht sich zu uns um, und sein Lächeln erstarrt zu einer Grimasse, als ihm die Kaffeetasse aus der Hand fällt und auf dem Boden zerspringt. Im ersten Moment rührt sich keiner von uns, dann greife ich hektisch nach der Küchenrolle, und Ezra sammelt die dickwandigen Scherben der Keramiktasse von Nanas schwarz-weißen Küchenfliesen auf.
»Das tut mir so leid«, entschuldigt sich Officer Rodriguez immer wieder. Er ist sehr jung – höchstens fünf Jahre älter als ich – und wirkt, als wäre er sich selbst nicht so ganz sicher, ob er überhaupt schon erwachsen ist. »Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Die Tasse werde ich natürlich ersetzen.«
»Jetzt übertreib mal nicht, Ryan«, winkt Nana ab. »Die Tassen kosten zwei Dollar das Stück bei Dalton’s. Setz dich, ich bringe dir eine neue. Und ihr setzt euch auch, Kinder. Auf dem Tisch steht Orangensaft, wenn ihr welchen wollt.«
Wir setzen uns alle um den Küchentisch, der ordentlich mit drei Tischsets, Besteck und Gläsern gedeckt ist. Officer Rodriguez zieht einen kleinen Block aus seiner Brusttasche und blättert stirnrunzelnd darin. Er sieht immer noch beschämt aus, obwohl er gerade kein Porzellan zerschlägt. »Danke, dass ihr euch die Zeit nehmt, mir ein paar Fragen zu beantworten. Ich bin eben bei den Kilduffs gewesen. Melanie hat mir berichtet, was gestern Abend in der Unterführung auf der Fulkerson Street passiert ist. Leider deutet alles auf Fahrerflucht hin.« Nana reicht ihm eine neue Tasse Kaffee, bevor sie sich neben Ezra setzt. Officer Rodriguez nimmt vorsichtig einen Schluck. »Vielen Dank, Mrs Corcoran. Okay, fangen wir an. Es wäre hilfreich, wenn ihr mir jeweils genau erzählt, woran ihr euch erinnern könnt, egal wie unwichtig es euch erscheint.«
Ich setze mich unwillkürlich aufrechter hin und Ezra verdreht die Augen. Er weiß genau, was gerade in meinem Kopf vorgeht. Auch wenn das, was letzte Nacht passiert ist, ganz schrecklich ist, löst die Tatsache, dass wir aktiv an einer echten polizeilichen Ermittlung beteiligt sind, ein aufgeregtes Kribbeln in mir aus. Auf so einen Moment warte ich schon mein halbes Leben.
Leider habe ich so gut wie nichts beizutragen, weil ich mich abgesehen davon, dass Melanie versucht hat, Mr Bowman wiederzubeleben, an kaum etwas erinnere. Ezra geht es nicht viel anders. Nana ist die Einzige, der ein paar kleine Details aufgefallen sind, zum Beispiel, dass Mr Bowman einen Regenschirm und eine Frischhaltedose mithatte, die neben ihm auf dem Pflaster lagen. Ryan Rodriguez ist als Ermittlungsbeamter eine Enttäuschung. Er stellt immer wieder dieselben Fragen, kippt beinahe seine noch fast volle Kaffeetasse um und verhaspelt sich ständig, wenn er Melanies Namen sagt. Bis er sich schließlich von uns verabschiedet und Nana ihn zur Tür begleitet, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass er dringend noch ein paar Jahre Ausbildung nötig hat, bevor er wieder allein auf Verbrecherjagd geschickt werden sollte.
»Diese Befragung war irgendwie ziemlich planlos«, sage ich, als Nana in die Küche zurückkommt. »Wird der Typ hier im Ort als Polizist überhaupt ernst genommen?«
Meine Großmutter holt eine Pfanne aus dem Schrank neben dem Herd und stellt sie auf eine der vorderen Flammen. »Ryan ist ein sehr fähiger Polizist«, entgegnet sie, geht zum Kühlschrank, holt Butter heraus und stellt sie auf die Arbeitsplatte. Mit einem Messer teilt sie ein großes Stück ab und gibt es in die Pfanne. »Er ist im Moment vielleicht ein bisschen durch den Wind. Sein Vater ist vor ein paar Monaten gestorben. Krebs. Sie standen sich sehr nahe. Letztes Jahr hat er schon seine Mutter verloren. Die Familie hat also einiges durchgemacht. Ryan ist der jüngste und der einzige, der noch zu Hause wohnte. Jetzt muss es dort ziemlich still sein.«
»Er hat noch bei seinen Eltern gewohnt?«, fragt Ezra. »Wie alt ist er denn?« Meinem Bruder sind erwachsene Menschen, die noch zu Hause leben, suspekt. Er gehört genau wie Sadie zu denen, für die klar ist, dass man zu Hause auszieht, sobald die Tinte auf dem Schulabgangszeugnis getrocknet ist. Sein Zehn-Jahres-Plan sieht so aus, dass er sich einen Job bei einem Radiosender suchen und so lange nebenbei als DJ arbeiten wird, bis er genügend Erfahrungen gesammelt hat, um eine eigene Sendung zu bekommen. Wenn ich mir vorstelle, dass mein Bruder mich eines Tages zurücklassen wird, um sein eigenes Leben zu leben – wie auch immer das dann aussehen wird –, muss ich immer gegen eine leichte Panik ankämpfen.
»Ich glaube, er ist zweiundzwanzig«, beantwortet Nana seine Frage. »Oder dreiundzwanzig? Jedenfalls haben die Kinder während des Studiums alle zu Hause gewohnt. Ryan ist auch danach noch geblieben, weil sein Vater dann krank wurde.« Während Ezra schuldbewusst die Schultern hochzieht, horche ich auf.
»Dreiundzwanzig?«, sage ich. »Ist er im selben Jahrgang wie Lacey Kilduff gewesen?«
»Ich glaube schon.« Nana schlägt Eier in die mittlerweile heiße Pfanne.
Ich würde sie gern etwas fragen, zögere aber. Im Grunde kenne ich meine Großmutter kaum. Wir haben während unserer unregelmäßigen und immer ziemlich verkrampften Skype-Gespräche nie über meine verschwundene Tante geredet, ich habe also keine Ahnung, ob sie die Erinnerung an Laceys Tod wegen dem, was mit Sarah passiert ist, vielleicht besonders hart trifft. Wahrscheinlich sollte ich besser den Mund halten, aber …
»Waren die beiden befreundet?«, platze ich heraus. Ezra verzieht das Gesicht, als wolle er sagen Geht das wieder los.
»Das weiß ich nicht. Natürlich kannten sie sich. Ryan ist hier in der Straße aufgewachsen und als Schüler haben beide auf der … Fright Farm gejobbt. Das Zögern in ihrer Stimme ist so winzig, dass es mir beinahe entgeht. »Wie die meisten jungen Leute aus dem Ort.«
»Wann macht der Park eigentlich wieder auf?« Ezra wirft mir einen Blick zu, als würde er mir mit seiner Frage einen Gefallen tun, aber die Mühe hätte er sich sparen können. Sobald feststand, dass wir nach Echo Ridge ziehen würden, habe ich mir die Daten auf der Internetseite des Freizeitparks angeschaut.
»Nächstes Wochenende. Am Montag darauf habt ihr euren ersten Schultag hier«, sagt Nana. In Echo Ridge fängt die Schule nach den Sommerferien erst total spät wieder an, was ein Pluspunkt ist. In La Puente mussten wir immer schon direkt nach dem Labor Day antreten und der war vor zwei Wochen. Nana deutet mit dem Pfannenwender zum Küchenfenster über der Spüle, durch das man auf den Wald hinter ihrem Haus blickt. »Ihr werdet es mitbekommen, wenn es losgeht. Der Park ist nur zehn Minuten zu Fuß durch den Wald entfernt.«
»Echt?« Ezra zieht verblüfft die Brauen hoch. Ich sehe sicher genauso fassungslos aus wie er, aber bei mir hat es einen anderen Grund. Ich bin entsetzt darüber, wie schlecht er sich vorbereitet hat. »Dann leben die Kilduffs also immer noch in unmittelbarer Nähe zu dem Ort, an dem ihre Tochter … wo jemand sie … ähm …« Er verstummt, als Nana sich umdreht und jedem von uns einen Teller mit einem riesigen, fluffigen Omelett hinstellt. Ezra und ich tauschen einen überraschten Blick. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir je etwas anderes als Kaffee zum Frühstück bekommen haben. Aber es duftet so köstlich, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft und mein Magen knurrt. Seit den drei Müsliriegeln gestern Abend im Flugzeug habe ich nichts mehr gegessen.
»Tja.« Nana setzt sich zwischen uns und schenkt sich ein Glas Orangensaft aus dem Keramikkrug ein, der auf dem Tisch steht. Ein Krug. Kein Tetra Pak. Ich denke einen Moment darüber nach, warum jemand sich die Mühe macht, Saft aus einem Tetra Pak in einen Krug umzufüllen, bevor ich einen Schluck trinke und feststelle, dass er frisch gepresst ist. Unglaublich, dass sie und Sadie Mutter und Tochter sein sollen. »Es ist ihr Zuhause. Die beiden jüngeren Mädchen haben hier in der Nachbarschaft viele Freunde.«
»Wie alt sind sie?«, frage ich. Melanie war nicht nur Sadies Lieblingsbabysitterin; auch auf der Highschool hat sie meine Mutter unter ihre Fittiche genommen – sie war so ziemlich der einzige Mensch aus Echo Ridge, über den Sadie je gesprochen hat. Trotzdem weiß ich so gut wie nichts über sie – außer, dass ihre älteste Tochter ermordet wurde.
»Caroline ist zwölf und Julia sechs«, antwortet Nana. »Der Altersunterschied zwischen den beiden ist recht groß, genau wie schon der zwischen Lacey und Caroline. Melanie hatte Probleme, schwanger zu werden. Aber ich schätze, das hatte auch etwas Gutes. Die zwei waren noch klein, als das mit Lacey passierte. Dass sie sich um die beiden kümmern und für sie da sein mussten, war vielleicht das Einzige, was Melanie und Dan geholfen hat, diese schreckliche Zeit durchzustehen.«
Ezra schneidet ein Stück von seinem dampfenden Omelett ab. »Und die Polizei hatte nie einen Verdacht, wer Laceys Mörder gewesen sein könnte?«, fragt er.
»Nein«, sagt Nana im selben Moment, in dem ich sage: »Ihr Freund.«
Nana nimmt einen Schluck von ihrem Orangensaft. »Das dachten zu der Zeit viele. Denken es heute noch. Aber Declan Kelly stand offiziell nie unter Verdacht. Er wurde befragt, das ja. Mehrmals. Aber er ist nie in Polizeigewahrsam gewesen.«
»Wohnt er noch hier?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. »Er ist sofort nach seinem Abschluss aus Echo Ridge weggezogen. Das war mit Sicherheit das Beste für alle Beteiligten. Für seine Familie ist die Situation extrem belastend gewesen. Sein Vater ist kurz nach ihm weggezogen. Ich dachte immer, die Mutter und der Bruder würden auch nicht bleiben, aber … für sie haben sich die Dinge anders entwickelt.«
Ich habe mir eben die Gabel zum Mund geführt und halte mitten in der Bewegung inne. »Bruder?« Ich hatte nicht gewusst, dass Laceys Freund einen Bruder hatte; in den Nachrichten wurde damals kaum etwas über ihr Umfeld berichtet.
»Ja. Declan hat einen jüngeren Bruder, Malcolm. Ungefähr in eurem Alter«, sagt Nana. »Ich kenne ihn nicht besonders gut, aber er scheint zurückhaltender zu sein. Stolziert nicht durch die Stadt, als würde sie ihm gehören, wie sein Bruder früher.«
Ich spähe zu meiner Großmutter rüber, die nachdenklich einen Bissen von ihrem Omelett kaut, und wünschte, ich könnte sie besser einschätzen. Es würde mich interessieren, ob der Fall Lacey und der Fall Sarah in ihren Gedanken genauso miteinander verknüpft sind wie in meinen. Sarahs Verschwinden liegt jetzt schon so lange zurück; fast ein Vierteljahrhundert ohne Antworten. Laceys Eltern müssen mit einer anderen Art Ungewissheit fertigwerden – sie wissen zwar, was wann passiert ist und wie, aber das wer oder warum kennen sie nicht. »Glaubst du, dass es Declan Kelly war?«, frage ich.
Nana zieht die Brauen zusammen, als wäre ihr die ganze Unterhaltung plötzlich unangenehm. »Das habe ich nicht gesagt. Es hat nie irgendwelche eindeutigen Beweise gegen ihn gegeben.«
Ich greife nach dem Salzstreuer und spreche nicht aus, was ich denke. Das mag ja sein, aber wenn mich all die Jahre, in denen ich jetzt schon Bücher über wahre Verbrechen lese und Dateline schaue, eines gelehrt haben, dann das: Es ist immer der Freund oder Ehepartner des Opfers gewesen.
3
Mein Hemd ist ganz steif. Zu viel Wäschestärke. Es knistert förmlich, als ich die Arme anwinkle, um mir die Krawatte umzulegen. Ich beobachte meine Hände im Spiegel, die erfolglos versuchen, einen ordentlichen Knoten zu binden, und gebe es auf, als er zumindest die richtige Größe hat. Der Spiegel sieht antik und teuer aus, wie alles bei den Nilssons. Er wirft das Bild eines Raums zurück, in das mein altes Zimmer dreimal hineinpassen würde. Und mindestens eine Hälfte von Declans Apartment.
Und, wie lebt es sich in der Villa so?, hat mich mein Bruder gestern Abend gefragt, während Mom im Bad war und er den letzten Rest seiner Geburtstagstorte vom Teller kratzte. Sie hatte ihm einen Bund bunter Helium-Luftballons mitgebracht, die Declan in der engen Kochnische, die er Küche nennt, ständig gegen den Kopf stießen.
Beschissen, sagte ich. Das ist die Wahrheit. Andererseits lebt es sich hier auch nicht beschissener als da, wo ich die letzten fünf Jahre meines Lebens verbracht habe. Den Großteil dieser fünf Jahre hat Declan vier Stunden von uns entfernt in New Hampshire gewohnt, wo ihm unsere Tante eine Souterrainwohnung vermietet.
Es klopft energisch an meiner Zimmertür, und die Angeln quietschen, als meine Stiefschwester, ohne eine Antwort abzuwarten, den Kopf reinstreckt. »Fertig?«, fragt sie.
»Yep.« Ich nehme das dunkelblaue Jackett vom Bett und schlüpfe hinein. Katrin legt stirnrunzelnd den Kopf schräg, sodass ihre weißblonden Haare über eine Schulter nach vorn fallen. Ich kenne diesen Blick. Er bedeutet: Irgendwas stimmt nicht mit dir, und gleich sag ich dir auch, was es ist und was man dagegen tun kann. Ich bekomme diesen Blick jetzt schon seit Monaten praktisch täglich zu sehen.
»Deine Krawatte sitzt schief«, sagt sie prompt und kommt mit klackernden Absätzen und ausgestreckten Armen auf mich zu. Während sie an dem Knoten herumnestelt, entsteht zwischen ihren Brauen eine steile Falte, die wieder verschwindet, als sie einen Schritt zurücktritt, um ihr Werk zu begutachten. »So«, sagt sie zufrieden und tätschelt mir die Schulter. »Viel besser.« Dann lässt sie die Hand an meiner Brust hinunterwandern und pflückt mit hellrosa lackierten Fingernägeln einen Fussel von meinem Jackett. »Du kannst ja richtig cool aussehen, Mal. Wer hätte das gedacht?«
Sie bestimmt nicht. Katrin Nilsson hat kaum je ein Wort mit mir gewechselt, bis ihr Vater und meine Mutter letzten Winter ein Paar wurden. Sie ist der Star der Echo Ridge High, und ich bin der Nerd aus der Schulband mit der übel beleumdeten Familie. Aber da wir jetzt unter einem Dach leben, kann Katrin meine Existenz nicht länger leugnen. Sie hat ihre eigene Art gefunden, damit umzugehen, soll heißen, dass sie mich je nach Laune entweder wie ein Projekt oder wie ein lästiges Übel behandelt.
»Okay, dann los«, sagt sie und zupft mich leicht am Ärmel. Ihr enges schwarzes Kleid betont ihre Kurven, reicht aber züchtig bis zu ihren Knien. Es würde fast spießig aussehen, wenn sie nicht Schuhe mit hohen, spitzen Absätzen tragen würde, die einen praktisch dazu zwingen, den Blick auf ihre Beine zu richten. So wie ich es jetzt tue. Meine neue Stiefschwester ist vielleicht eine Nervensäge, aber sie ist unwiderlegbar eine heiße Nervensäge.
Ich folge ihr den Flur entlang zu dem großen, galerieartigen Treppenabsatz, von dem aus man in die riesige Eingangshalle hinunterschaut. Meine Mutter und Peter warten unten schon auf uns. Wie immer, wenn sie so dicht nebeneinanderstehen, senke ich den Blick, weil sich seine Hände dann meistens an Stellen befinden, wo ich sie lieber nicht sehen will. Selbst Katrin und der Footballstar, mit dem sie zusammen ist, sind in puncto öffentliche Liebesbekundungen deutlich zurückhaltender als die beiden.
Aber Mom ist glücklich, und ich schätze, das ist was Gutes.
Peter schaut zu uns hoch und hört auf, meine Mutter zu betatschen. »Gut seht ihr beiden aus!«, ruft er, als wir die Treppe herunterkommen. Sein Anzug ist dunkelblau wie meiner, sitzt aber wie angegossen, weil maßgeschneidert. Peter erinnert mich immer an die weltmännischen Typen in den Anzeigen für Luxusuhren in der GQ – markante Züge, durchdringender Blick, gewellte blonde Haare, die von genau der richtigen Menge Grau durchzogen sind, um distinguiert zu wirken. Als sich herumsprach, dass zwischen ihm und Mom etwas lief, haben sich garantiert alle gefragt, was ein Mann wie er bloß an ihr findet. Als er sie dann auch noch heiratete, war die Fassungslosigkeit perfekt.
Er hat sie und ihren Sohn gerettet. So denken alle hier. Der charmante Anwalt Peter Nilsson, Inhaber der einzigen Kanzlei der Stadt und extrem wohlhabend, hat uns mit einer geschmackvollen Hochzeitszeremonie am Echo Ridge Lake von Ausgestoßenen zu Angehörigen des Establishments gemacht. Also ja, vielleicht hat er uns wirklich gerettet. Die Leute gehen meiner Mutter seitdem nicht mehr aus dem Weg oder zerreißen sich hinter ihrem Rücken das Maul über sie. Sie ist mittlerweile festes Mitglied des Garden Clubs, wird in Schulausschüsse berufen, ist selbstverständlich Gast der Benefizgala heute Abend und nimmt an all den ganzen anderen dämlichen gesellschaftlichen Veranstaltungen teil, die in dieser Stadt stattfinden. Alles dank Peter.
Aber das bedeutet nicht, dass ich ihn mögen muss.
»Schön, dass du wieder da bist, Malcolm«, sagt er und schafft es fast, das so klingen zu lassen, als würde er es ernst meinen. Mom und ich haben letzte Woche Verwandte in New Hampshire besucht und auf der Rückfahrt bei Declan haltgemacht. Peter und Katrin sind nicht mitgekommen. Zum einen, weil er arbeiten musste, zum anderen, weil keiner der beiden bereit ist, Echo Ridge zu verlassen, um irgendwohin zu fahren, wo es keinen Zimmerservice und keinen Wellnessbereich gibt.
»Hast du mal mit Mr Coates gesprochen, während wir weg waren?«, frage ich.
Peter bläht kaum merklich die Nasenflügel. Es ist das Äußerste an Unmutsbekundung, das er je zu erkennen gibt. »Am Freitag war ich mit ihm essen, ja. Er ist noch dabei, die Agentur in Gang zu bringen, aber er lädt Declan gern zu einem Gespräch ein, sobald er wieder etwas mehr Luft hat. Ich bleibe auf jeden Fall an ihm dran.«
Ben Coates ist Bürgermeister von Echo Ridge gewesen, bevor er nach Burlington gezogen ist, um dort eine PR-Agentur aufzubauen, mit der er Politiker im Wahlkampf unterstützen will. Declan ist zwar noch ein paar – okay, ziemlich viele – Prüfungen davon entfernt, sein Studium in Politikwissenschaft an einem Community College zu beenden, aber er hofft trotzdem auf ein Empfehlungsschreiben. Das ist das Einzige, worum er Peter je gebeten hat. Oder besser gesagt – Mom hat ihn darum gebeten. Declan und Peter haben nämlich praktisch keinen Kontakt.
Mom schaut mit einem strahlenden Lächeln zu Peter auf und ich schiebe meine zynischen Gedanken beiseite. Katrin tritt auf Mom zu und streicht über ihre Kette, die aus mehreren umeinandergewundenen Glasperlensträngen besteht. »Wie hübsch!«, sagt sie. »Und so erfrischend unkonventionell. Im Gegensatz zu den ganzen klassischen Perlenketten, die wir heute Abend zu sehen bekommen werden.«
Moms Lächeln verblasst. »Oh, ich … Eine klassische Perlenkette habe ich natürlich auch«, sagt sie nervös und sieht Peter an. »Soll ich lieber …«
»Aber nein«, sagt er schnell. »Du siehst wunderschön aus.«
Manchmal könnte ich Katrin echt umbringen. Nicht wortwörtlich natürlich. Angesichts unserer Familiengeschichte habe ich das Gefühl, solche Aussagen immer sofort richtigstellen zu müssen, selbst wenn ich sie nur denke. Ich verstehe einfach nicht, warum sie ständig gegen Mom sticheln muss. Es ist nicht so, als wäre meine Mutter für die Trennung ihrer Eltern verantwortlich. Sie ist Peters dritte Frau. Lange bevor die beiden sich überhaupt begegnet sind, hat sich Katrins Mutter in einen anderen Mann verliebt und ist ihm nach Paris gefolgt.
Außerdem muss Katrin doch klar sein, wie nervös Mom wegen heute Abend ist. Wir sind noch nie auf einer Benefizgala der Lacey-Kilduff-Memorial-Studienstiftung gewesen. Was vor allem daran liegt, dass wir nie eingeladen worden sind.
Oder willkommen gewesen wären.
Peters Nasenflügel blähen sich erneut. »Wir sollten langsam los, wenn wir nicht zu spät kommen wollen.«
Er hält uns die Tür auf und drückt auf einen Knopf an seinem exklusiven Autoschlüssel. Eine Sekunde später kommt sein schwarzer Range Rover im Schritttempo in die Einfahrt gerollt und Katrin und ich steigen hinten ein. Meine Mutter nimmt auf dem Beifahrersitz Platz, macht das Radio an und schaltet von den Top-40-Charts, die Katrin gern in voller Lautstärke hört, zum Nachrichtensender NPR. Peter steigt als Letzter in den Wagen, schnallt sich an und legt den Gang ein.
Die gewundene Auffahrt der Nilssons nimmt den größten Teil der Wegstrecke ein. Nachdem wir zum Tor hinausgefahren sind, müssen wir nur noch zweimal abbiegen und sind schon im Stadtzentrum. Oder dem, was man in Echo Ridge unter Stadtzentrum versteht – eine Reihe roter Backsteingebäude mit weiß lackierten Fensterläden und Dachgauben entlang der Manchester Street, die von altmodischen, schmiedeeisernen Straßenlaternen gesäumt ist. Hier ist nie viel los, aber an einem Mittwochabend der letzten Ferienwoche ist es besonders tot. Die eine Hälfte der Einwohner ist noch im Sommerurlaub, die andere nimmt an der Benefizgala im Kulturzentrum teil, in dem alle wichtigen Veranstaltungen der Stadt ausgerichtet werden. Wenn sie nicht in der Villa der Nilssons stattfinden.
Bei uns zu Hause. Ich werde mich nie daran gewöhnen.
Peter stellt den Wagen in der Manchester Street ab und wir steigen aus und überqueren die Straße. Nach ein paar Metern kommen wir an dem blau gestrichenen viktorianischen Gebäude vorbei, in dem sich O’Neill’s Beerdigungsinstitut befindet. Katrin seufzt schwer. »Zu schade, dass du Mr Bowmans Trauerfeier verpasst hast«, sagt sie. »Sie war wirklich schön. Der Schulchor hat To Stir With Love gesungen und alle waren total ergriffen.«
Mein Magen verkrampft sich. Mr Bowman war mein Lieblingslehrer. Er war mit Abstand der beste von allen. Ich mochte seine unaufgeregte Art, außerdem hatte er die Gabe, zu spüren, was das besondere Talent eines Schülers war, und denjenigen darin zu bestärken. Nachdem Declan weggezogen war und Dad sich aus dem Staub gemacht hatte, wusste ich nicht, wohin mit der ganzen Wut, die sich in mir aufgestaut hatte. Mr Bowman hat mich damals auf die Idee gebracht, es mit Schlagzeugspielen zu versuchen. Der Gedanke, dass ihn jemand überfahren und dann sterbend mitten auf der Straße hat liegen lassen, ist unerträglich.
»Was hat er während des Hagelsturms überhaupt da draußen gemacht?«, frage ich, weil es leichter ist, sich auf eine Nebensächlichkeit zu konzentrieren, als weiter über das Unfassbare nachzudenken.
»Er hatte eine leere Frischhaltedose dabei«, sagt Peter. »Einer seiner Kollegen hat auf der Beerdigung die Vermutung geäußert, dass er Hagelkörner für ein Unterrichtsprojekt über den Klimawandel sammeln wollte. Ob es wirklich so war, werden wir wohl nie erfahren.«
Mir geht es gleich noch schlechter, weil ich es mir jetzt bildlich vorstellen kann: Mr Bowman, wie er spätabends voller Begeisterung mit seinem Regenschirm und einem Plastikbehälter aus dem Haus ging, um Wissenschaft greifbar zu machen. Das war genau sein Ding.
Zwei Straßen weiter heißt uns eine große, golden eingefasste Tafel vor dem Kulturzentrum willkommen. Das rote Backsteingebäude mit dem Uhrenturm und den breiten Treppenstufen, die zu einem kunstvoll geschnitzten hölzernen Eingangsportal führen, ist das imposanteste Bauwerk der Straße. Ich strecke die Hand nach dem Türknauf aus, aber Peter ist schneller. Wie immer. Keine Chance, sich neben diesem Typen als Gentleman zu beweisen. Mom schenkt ihm ein dankbares Lächeln, als er ihr galant den Vortritt lässt.
Im Foyer werden wir von einer jungen Frau in Empfang genommen, die uns durch einen Gang zu einem Saal führt, in dem festlich eingedeckte runde Tische aufgebaut sind. Ein paar Gäste haben bereits Platz genommen, aber die meisten stehen noch in kleinen Grüppchen zusammen und unterhalten sich. Als die ersten sich umdrehen und uns erkennen, setzt so eine Art Dominoeffekt ein, bis sich schließlich alle die Hälse nach uns verrenken.
Das ist der Moment, auf den ganz Echo Ridge gewartet hat: Zum ersten Mal seit fünf Jahren tauchen die Kellys auf einer Veranstaltung zu Ehren von Lacey Kilduff auf.
Zu Ehren des Mädchens, von dem die meisten Leute in der Stadt heute noch glauben, dass sie von meinem Bruder ermordet wurde.
»Ah! Da ist Theo. Ich geh mal rüber zu ihm.« Katrin bahnt sich durch die Menge einen Weg zu ihrem Freund. So viel zum Thema Familiensolidarität. Meine Mutter befeuchtet sich nervös die Lippen. Peter hält ihr den Arm hin, damit sie sich bei ihm unterhaken kann, und setzt ein strahlendes Lächeln auf. Eine Sekunde lang finde ich ihn beinahe sympathisch.
Declan und Lacey haben sich in den Wochen vor ihrem Tod ständig gestritten. Das war ungewöhnlich. Bis dahin war ihre Beziehung total harmonisch gewesen. Declan kann zwar ein arrogantes Arschloch sein, aber Lacey gegenüber hat er diese Seite nie gezeigt. Plötzlich fingen sie an, Türen zu knallen, Verabredungen abzusagen und sich online zu bekriegen. Declans letzter, wütender Kommentar auf Laceys Instagram-Profil ging wochenlang über alle Nachrichtensender, nachdem ihre Leiche gefunden worden war.
Ich bin so was von fertig mit dir. Wenn du wüsstest, wie verflucht fertig ich mit dir bin.
Es ist viel zu still geworden unter den Gästen im Saal des Kulturzentrums. Sogar Peters Lächeln ist jetzt eine Spur zu verkrampft. Ehrlich gesagt hätte ich seinen Teflonpanzer robuster eingeschätzt. Als ich kurz davor bin, aus lauter Verzweiflung irgendetwas zu sagen oder zu tun – egal was –, nur um die Anspannung zu lösen, weht plötzlich eine herzliche Stimme in unsere Richtung. »Ach! Hallo, Peter. Und Alicia und Malcolm, wie schön! Ich freue mich, dass ihr auch hier seid.«
Die Stimme gehört Laceys Mutter, Melanie Kilduff, die mit offenem Lächeln auf uns zukommt. Sie umarmt zuerst meine Mutter, dann mich, und als sie sich von mir löst, starrt niemand mehr zu uns rüber.
»Danke«, sage ich leise. Ich weiß nicht, was Melanie in Bezug auf Declan denkt; sie hat nie mit uns darüber gesprochen. Aber nach Laceys Tod, als es sich anfühlte, als würde die ganze Welt uns hassen, blieb Melanie uns gegenüber weiterhin freundlich. Ein simples Danke genügt deshalb eigentlich nicht, aber Melanie streicht mir über den Arm, als fände sie jede Art von Dankbarkeit völlig unnötig, bevor sie sich Mom und Peter zuwendet.
»Nehmt doch bitte Platz, ganz egal, wo ihr sitzen möchtet«, sagt sie und zeigt zu den Tischen. »Gleich wird der erste Gang aufgetragen.«
Sie kehrt zu einem Tisch zurück, an dem ihre Familie, ihre Nachbarin und ein Mädchen und ein Typ in meinem Alter sitzen, die ich hier noch nie gesehen habe. Das ist so ungewöhnlich, dass ich den Hals recke, um einen besseren Blick auf sie zu haben. Der Junge dreht mir halb den Rücken zu, aber das Mädchen ist nicht zu übersehen. Sie hat wilde dunkle Locken und trägt ein komisches Blümchenkleid, das aussieht, als würde es aus dem Kleiderschrank ihrer Großmutter stammen. Vielleicht ist es ein Vintage-Teil, keine Ahnung. Katrin würde lieber sterben, als so etwas anzuziehen. Als das Mädchen meinen Blick auffängt, schaue ich hastig weg. Wenn es etwas gibt, das ich in den letzten fünf Jahren als Declans Bruder gelernt habe, dann das: Von einem Kelly-Jungen wird kein Mädchen gern angestarrt.
Peter steuert auf den vorderen Teil des Saals zu, aber in diesem Moment kommt Katrin und fasst ihn am Arm. »Können wir an Theos Tisch sitzen, Dad? Da ist noch jede Menge Platz.« Als er zögert – Peter führt lieber, als geführt zu werden –, schaltet sie in den Schmeichelmodus. »Bitte, bitte! Ich hab ihn die ganze Woche nicht gesehen und seine Eltern würden gern über die Sache mit den neuen Ampeln mit dir sprechen.«
Kluger Schachzug. Peter liebt tiefschürfende Diskussionen über irgendwelchen Beschlüsse des Gemeinderats, die jeden anderen zu Tode langweilen würden. Er lächelt nachsichtig und ändert seinen Kurs.
Katrins Freund Theo sitzt allein mit seinen Eltern an dem Tisch für zehn Personen, als wir dort ankommen. Ich kenne ihn seit dem Kindergarten, aber er schaut wie immer durch mich hindurch und winkt jemandem hinter mir zu. »Yo, Kyle! Hier drüben.«
Oh Mann.
Theos bester Kumpel Kyle setzt sich zwischen ihn und meine Mutter, und der Stuhl neben mir ächzt, als ein schwergewichtiger Mann mit grau meliertem blondem Igelschnitt darauf Platz nimmt. Chad McNulty, Kyles Vater und leitender Ermittler in Laceys Mordfall. Als wäre dieser Abend für uns nicht schon schwierig genug. Meine Mutter bekommt diesen angststarren Blick, den sie in seiner Gegenwart immer kriegt, und Peter sieht Theo, der mal wieder nichts mitbekommt, mit geblähten Nasenflügeln an.
»Na, Malcolm.« Officer McNulty faltet seine Serviette auf und breitet sie in seinem Schoß aus, ohne mich anzuschauen. »Schöne Ferien gehabt?«
»Sehr schön. Danke«, murmle ich und nehme einen großen Schluck Wasser.
Officer McNulty hat meinen Bruder nie leiden können. Declan war drei Monate mit seiner Tochter Liz zusammen und hat sie dann für Lacey verlassen, was Liz so aus der Bahn geworfen hat, dass sie danach sogar eine Weile in der Schule fehlte. Im Gegenzug hat sich Kyle mir gegenüber immer wie ein Arschloch benommen. Eine übliche Kleinstadt-Fehde, die allerdings richtig unangenehm wurde, als man Declan inoffiziell zum Mordverdächtigen erklärte.
Das Abendessen beginnt und Teller mit Salat werden aufgetragen. Als Melanie kurz darauf an das Rednerpult auf der Bühne im vorderen Bereich des Saals tritt, spannt Officer McNulty die Kaumuskeln an. »Diese Frau ist ein Paradebeispiel für innere Stärke und Unerschütterlichkeit«, sagt er in einem Tonfall, als wollte er mich warnen, bloß nicht auf die Idee zu kommen, das Gegenteil zu behaupten.
»Vielen Dank, dass Sie heute Abend alle hier sind«, sagt Melanie ins Mikrofon. »Es bedeutet Dan, Caroline, Julia und mir unglaublich viel, zu sehen, wie viele Unterstützer die Lacey-Kilduff-Memorial-Studienstiftung mittlerweile hat.«
Den Rest ihrer Rede blende ich aus. Nicht weil sie mich nicht interessieren würde, sondern weil es zu hart ist, ihr zuzuhören. Dadurch dass wir all die Jahre nie zu solchen Veranstaltungen eingeladen wurden, hatte ich keine Gelegenheit, mir einen Schutzpanzer zuzulegen. Nachdem Melanie ihre Rede beendet hat, stellt sie eine Studentin der University of Vermont vor, die das erste Stipendium der Stiftung erhalten hat. Das Mädchen spricht über ihren Traum, Ärztin zu werden, während unsere leeren Salatteller durch den Hauptgang ersetzt werden. Als sie fertig ist, applaudieren alle und wenden ihre Aufmerksamkeit dem Essen zu. Ich stochere in meinem trockenen Hühnchen, während Peter über Ampelanlagen monologisiert. Ob es noch zu früh für eine Pinkelpause ist?
»Es ist immer heikel, zu versuchen, den Erfordernissen einer modernen Verkehrsführung gerecht zu werden, ohne die Ästhetik des Stadtbilds zu gefährden«, doziert er.
Nope. Es ist nicht zu früh. Ich stehe auf, lege meine Serviette auf den Stuhl und verziehe mich.
Nachdem ich mir die Hände so lange gewaschen habe, dass sie zu schrumpeln anfangen, verlasse ich die Herrentoilette wieder und bleibe unschlüssig in dem Gang zwischen Festsaal und Foyer stehen. Bei der Vorstellung, an den Tisch zurückzukehren, bekomme ich Kopfschmerzen. Niemand wird mich vermissen, wenn ich noch ein paar Minuten länger wegbleibe.
Ich schlage den Kragen meines Jacketts hoch, drücke die schwere Tür auf und trete in die Dunkelheit hinaus. Es ist immer noch schwül, aber wenigstens nicht so stickig wie drinnen. An Abenden wie diesem habe ich immer das Gefühl, keine Luft zu bekommen, als wäre all das, was mein Bruder – tatsächlich und angeblich – getan hat, als ich zwölf war, auf mich übertragen worden und würde auf meinen Schultern lasten, seit er nicht mehr da ist. Ich war Declan KellysBruder, bevor ich die Chance hatte, jemand anderes zu werden, und manchmal fühlt es sich so an, als ob ich niemals mehr sein werde.