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Ein persönlicher Einblick in die komplizierte Beziehung zwischen Israel und dem Iran. Eine Brücke über den Hass. Ein brandaktuelles Plädoyer für Menschlichkeit und Freundschaft.
»Seit September 2022 schreibt mir ein Instagram-Follower aus Teheran. Während ich ihn anfangs aus Misstrauen ignorierte, entspinnt sich nach dem 7. Oktober 2023 ein intensiver Briefwechsel. Zwischen Tel Aviv und Teheran tauschen wir uns aus über Familie, Frieden, Freiheit und unsere alltäglichen Sorgen und Träume. Dabei vergesse ich nie, dass dieser Austausch mit mir, einer israelischen Staatsbürgerin, für ihn das Todesurteil bedeuten könnte.«
Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 wird Sohrab Shahname für die deutsch-israelische Autorin Katharina Höftmann Ciobotaru zum Vertrauten. Und das obwohl der Iran, ein Land, in dem etwa 200.000 Israelis ihre Wurzeln haben, seit der islamischen Revolution der größte Feind des jüdischen Staates ist. Ihre mutige Korrespondenz ist mal hochpolitisch, mal sehr intim—und immer berührend.
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Seitenzahl: 279
Veröffentlichungsjahr: 2025
»Seit September 2022 schreibt mir ein Instagram-Follower aus Teheran. Während ich ihn anfangs aus Misstrauen ignorierte, entspinnt sich nach dem 7. Oktober 2023 ein intensiver Briefwechsel. Zwischen Tel Aviv und Teheran tauschen wir uns aus über Familie, Frieden, Freiheit und unsere alltäglichen Sorgen und Träume. Dabei vergesse ich nie, dass dieser Austausch mit mir, einer israelischen Staatsbürgerin, für ihn das Todesurteil bedeuten könnte.«
Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 wird Sohrab Shahname für die deutsch-israelische Autorin Katharina Höftmann Ciobotaru zum Vertrauten. Und das obwohl der Iran, ein Land, in dem etwa 200.000 Israelis ihre Wurzeln haben, seit der islamischen Revolution der größte Feind des jüdischen Staates ist. Ihre mutige Korrespondenz ist mal hochpolitisch, mal sehr intim – und immer berührend.
Katharina Höftmann Ciobotaru wurde 1984 in Rostock geboren. Sie studierte Psychologie und deutsch-jüdische Geschichte in Berlin, ist Autorin und freie Journalistin und hat bereits mehrere Kriminalromane und Sachbücher veröffentlicht, darunter Guten Morgen, Tel Aviv!. Seit 2010 lebt sie mit ihrer Familie in Tel Aviv. 2021 erschien ihr Roman Alef, eine Liebesgeschichte zwischen Deutschland und Israel, über mehrere Generationen hinweg.
Sohrab Shahname wurde 1992 in Teheran geboren. Er studierte Betriebswirtschaft und arbeitete mehr als sieben Jahre lang als Fotograf für iranische Zeitungen und Nachrichtenagenturen. Dieses Buch ist seine erste Zusammenarbeit mit jemandem außerhalb des Iran. Sein Name ist ein Pseudonym.
Katharina Höftmann Ciobotaru
Sohrab Shahname
Briefe zwischen Tel Aviv und Teheran
Blessing
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Copyright © 2025 by Katharina Höftmann Ciobotaru und Sohrab Shahname
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers.
Copyright © 2025 by Karl Blessing Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Alle Rechte vorbehalten.
Coverdesign: Lübbeke Naumann Thoben
unter Verwendung von © Shira Barzilay
Redaktion: Sophie Dahmen
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-32958-7V001
www.blessing-verlag.de
Für das iranische Volk, für das israelische Volk, für den Frieden und die Freiheit.
Für Shiri, Ariel, Kfir und Yarden Bibas
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich Sohrab wirklich bemerkte. Im Herbst 2022 antwortete er mir das erste Mal auf eine Instagram-Story aus Tel Aviv: »Deine Fotos sind wirklich toll.« Kurz danach schrieb er mir wieder, »Die besten Wünsche für dich, deine Familie und deine Freunde.« Als ich etwas darüber postete, dass der iranische Präsident Ibrahim Raisi Beweise für den Holocaust fordere, antwortete Sohrab: »Der idiotischste Präsident der Welt und das idiotischste Regime. Leider leben wir unter ihrer Kontrolle.« Da wurde ich das erste Mal stutzig. Schrieb Sohrab mir tatsächlich aus dem Iran? Mir, deren Instagram-Account »gutenmorgentelaviv« hieß? Ein paar Monate später, nach einigen anderen Nachrichten, dann diese hier: Er habe sich meinen Roman Frei als eBook besorgt und lese ihn nun mithilfe eines Übersetzungsprogramms. Ich freute mich und empfahl ihm auch meinen Roman Alef, da Sohrab immer viel Interesse an meinem »Land«, so nennt er Israel, zeigte und Alef so viel deutsch-israelische Geschichte enthält. »Alef ist der erste Buchstabe im persischen Alphabet«, schrieb Sohrab zurück. Alef ist auch der erste Buchstabe im hebräischen Alphabet, dachte ich überrascht und antwortete nicht.
Teheran ist 1919 Kilometer von Tel Aviv entfernt und damit deutlich näher als Berlin oder London. Einem »Fan« aus Berlin oder London hätte ich sicher sofort geantwortet. Aber dieser Typ aus dem Iran, mit seinem merkwürdig formellen, fast altmodischen Englisch, der kam mir suspekt vor. Umso mehr, als ich begriff, dass Sohrab kein Exiliraner ist, sondern immer noch, während er mir schrieb, in Teheran lebte. Zwischen uns mochten »nur« 1919 Kilometer liegen, aber in Wirklichkeit lebten Sohrab und ich an den zwei Polen der aktuellen politischen Weltgeschichte. Israel hat viele Feinde. Aber nur einen wie den Iran. Ein Land, in dem etwa 200 000 Israelis ihre Wurzeln haben und das trotzdem seit der Islamischen Revolution zum größten Feind des jüdischen Staats wurde. Hatte Israel den Iran im Krieg gegen den Irak in den 80er-Jahren noch logistisch unterstützt, nahmen die freundlichen Beziehungen ein brutales Ende, als der Ayatollah Khomeini 1979 im Iran den Dschihad und einen islamischen Gottesstaat ausrief und kurz danach den Präsidenten der Jüdischen Gesellschaft Teherans, Habib Elghanian, von einem Erschießungskommando ermorden ließ. Von nun an galt Israel als »Krebsgeschwür«, das entfernt werden müsse. Auch die Nachfolger Khomeinis stimmen voll und ganz in diese Rhetorik ein. Aber der iranische Hass auf Israel beschränkt sich nicht auf Hassreden, seit vielen Jahren schon führt der Iran einen Stellvertreterkrieg gegen den jüdischen Staat. Wenn man in Israel über Palästinenser spricht, ja selbst über den Libanon, dann sind das unsere Nachbarn, die uns immer wieder angreifen. Es geht um Land. Es geht um Jahrzehnte von Tausenden kleinen und großen Wunden, die man einander zugefügt hat. Und ja, es geht auch um Weltbilder, um den Kampf gegen Extremisten. Aber immerhin mit Menschen, die man schon mal irgendwie gesehen hat. Wenn man hingegen über den Iran spricht, dann ist das Gefühl viel abstrakter. Der Iran wirkt auch deshalb auf viele Israelis so bedrohlich, weil man nicht recht versteht, wie ein Regime, mit dem man nicht einmal eine Grenze teilt, so sehr auf die Vernichtung hinarbeiten kann, wie der Iran es bei Israel tut. Dass Sohrab mir freundlich aus Teheran schrieb, kam mir aber nicht deshalb suspekt vor, weil ich glaubte, dass uns alle Iraner hassen, sondern eher deshalb, weil ich nicht fassen konnte, dass jemand ein solches Risiko einging. Allein Israel online zu unterstützen, ist im Iran ein Verbrechen. Geschweige denn, Kontakt zu einer israelischen Staatsbürgerin zu haben. Erst im Dezember wurden drei Männer und eine Frau wegen »Kollaborationen mit dem zionistischen Regime« gehängt. Aber da war er. Sohrab aus Teheran. Und er schrieb mir, Katharina aus Tel Aviv.
Nachdem ich seit Juli 2022 nichts mehr von Sohrab gehört hatte, erreichte mich Anfang November 2023 folgende Nachricht von ihm: »An diesen Tagen denke ich immer an dich und deine Familie. Passt auf euch auf. Ich wollte nur sagen, dass ich nicht euer Feind und dass ich im Herzen bei euch bin. Es tut mir leid, was passiert ist. Und es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, um diese Nachricht zu schicken.« Ich las sie mehrere Male. Selbst viele meiner deutschen Freunde hatten es nach dem 7. Oktober 2023 nicht geschafft, mir so eine empathische Nachricht zu schicken. Ein Freund, mit dem ich noch im Sommer auf einer griechischen Insel gefeiert hatte, bombardierte mich nach dem Hamas-Angriff sogar mit beleidigenden Droh-Nachrichten, die mich einige schlaflose Nächte kosteten. Aber die meisten waren einfach nur still. Einen Monat nach dem schlimmsten Massaker, das Juden seit dem Holocaust erlebt hatten, fühlte ich mich als Deutsch-Israelin von vielen deutschen Bekannten alleingelassen. Und hier war Sohrab. Anfang 30. Iraner. Und er schrieb mir die mitfühlende Nachricht, die so wenig andere geschickt hatten. Ich begriff, dass Sohrab und ich im Prinzip mit dem gleichen Feind kämpften. Er mit der Angst vor dem iranischen Terrorregime, das sein eigenes Volk unterdrückt und seit Dezember 2023 Regimekritiker und Freiheitskämpfer mehr denn je hinrichten lässt. Und ich mit der Angst vor dem unfassbaren Terror der Hamas, der ohne das iranische Regime so nicht möglich wäre. Während fast alle Bewegungen, mit denen ich mich in den letzten Jahren solidarisiert hatte, von MeToo über LGBTQIA+ bis Black Lives Matter, nach dem 7. Oktober schwiegen oder sich sogar gegen Israel wandten, waren die Vertreterinnen und Vertreter der iranischen Women Life Freedom-Bewegung die Ersten, die an unserer Seite standen. Sie und die Exil-Jesidinnen – die wenigen aktivistischen Gruppen, die wohl wirklich aus eigener schmerzhafter Erfahrung verstehen, was der Dschihad für unsere Welt bedeutet.
»Mein Herz ist auch gebrochen, mein Herz ist mit dir und deinem Land. Hier versuchen die Medien, unsere Hirne zu bombardieren, aber deine Stories zeigen mir die Wahrheit. Ich hoffe, dass alles besser wird«, antwortet mir Sohrab, als ich bei Instagram über die Gräueltaten des 7. Oktobers schreibe. Oft reagiert er auch, wenn ich Bilder und Geschichten der Menschen poste, die immer noch in den Händen der Terroristen in Gaza sind. Eines Tages frage ich ihn, ob er vielleicht auf E-Mails wechseln möchte, und er sagt sofort Ja.*
Jetzt beginnt unser Austausch erst richtig.
* Wir schreiben uns auf Englisch, für das Buch übersetze ich unsere Briefe ins Deutsche.
Tel Aviv, 24. Januar 2024
Hallo lieber Freund,
da sind wir also. Hier, in meinem und bald auch in deinem E-Mail-Posteingang. Ich hier in Tel Aviv. Du knapp 2000 Kilometer entfernt in Teheran. Ich habe heute nach deiner ersten Nachricht an mich auf Instagram gesucht, am 14. September 2022 hast du mir zum ersten Mal geschrieben. Wie hast du mich da überhaupt gefunden?
Am Anfang habe ich nicht kapiert, dass du tatsächlich im Iran lebst. Ich dachte, du müsstest im Exil sein, um mir zu schreiben. Denn immerhin lautet mein Accountname »Gutenmorgentelaviv«, und in meiner Bio steht klar und deutlich, dass ich neben deutsch auch israelisch bin. Um ehrlich zu sein, war ich geschockt. Nicht, weil ich dachte, dass alle Iraner uns hassen, das dachte ich nie, das wäre ja viel zu einfach, nein, ich war geschockt, weil sich unsere Länder so furchtbar getrennt und weit voneinander entfernt anfühlen und das plötzlich nicht mehr waren.
Ich freue mich sehr, dass wir uns nun hier schreiben. Danke, dass du mir vertraust. Ganz ehrlich gesagt, ich habe so unendlich viele Fragen. Aber ich werde heute mit einer einfachen Frage anfangen: Was ist dein Lieblingsort in Teheran und warum?
Alles Liebe,
Nina
(so nennen mich meine Freunde)
Teheran, 24. Januar 2024
Hallo meine liebe Freundin,
ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich dich durch die Instagram-Seite der Künstlerin »Koketit«** gefunden habe, ich liebe ihre Arbeit und folge ihr schon lange. Eines Tages hat sie etwas über dein Buch in ihrer Story gepostet. Alef oder Frei. Ich bin mir nicht mehr sicher. Und ich bin auch nicht sicher, welches der Bücher mich zuerst interessiert hat. Alef ist der erste Buchstabe des persischen Alphabets, und bei Frei erinnere ich mich, dass es mich wegen des erotischen, künstlerischen Covers ansprach.
Durch diesen Post bin ich auf deine Seite gekommen und habe angefangen, dir zu folgen. Bis zum 22. Dezember 2023. Als drei Freunde von mir (keine engen Freunde, aber trotzdem) in Teheran verhaftet wurden, bekam ich es mit der Angst zu tun. Also schränkte ich meine Verbindungen ein und entfolgte dir (und das tut mir jetzt leid). Aber ich habe trotzdem fast täglich deine Posts und Stories angesehen. Ich hatte immer den Wunsch, Freunde in Israel zu haben. Wir teilen in gewisser Weise ein Schicksal. Als ich ein Kind war, zwang das Regime uns, in der Schule jeden Tag »Nieder mit Israel« zu sagen, aber ich fragte mich immer, warum ich einer Nation mit so viel Hass begegnen sollte. Ich erinnere mich daran, dass ich morgens, wenn sie »Nieder mit Israel« skandierten, schwieg, und wenn die Schulleiterin mich ansah, bewegte ich nur meine Lippen, ohne zu sprechen! Ich wollte mich dem Hass nicht anschließen.
Ich glaube nicht, dass wir Feinde sind. Und deswegen habe ich dir immer wieder geschrieben.
Nach jeder Nachricht muss ich diese löschen. Ich kann also nicht wie du in unseren alten Nachrichten nachlesen. Was ich sehr schade finde.
Aber nun endlich zu deiner Frage zu meinem Lieblingsort in Teheran.
Teheran ist eine große, überfüllte Stadt mit sehr hoher Luftverschmutzung. Aber trotzdem kann man hier einige Lieblingsplätze haben. Wo ich am liebsten in Teheran bin, hängt von der Situation und meiner Stimmung ab, aber ich habe drei Orte für dich ausgewählt:
Ein Mann, der seinen Hut verloren hat!
Wenn ich dem Trubel der Stadt entfliehen möchte, ist der historische Tughrul-Turm eine fantastische Wahl. Er befindet sich im Südosten, einem ruhigen Ort. Der Turm wurde im 12. Jahrhundert (vor 900 Jahren) erbaut und sieht aus wie ein Mann, der seinen Hut verloren hat!
Er hatte nämlich früher eine Kuppel, die wahrscheinlich durch ein Erdbeben zerstört wurde (Teheran ist immer in Gefahr, durch ein Erdbeben zerstört zu werden) und die nun fehlt.
Ich liebe diesen Ort, weil ich denke, dass er ein Spiegel der Stadt ist. Er hat einen Teil von sich selbst verloren, genau wie Teheran! Teheran war früher sehr schön, voller Gärten und schöner Häuser, aber in den letzten 50 Jahren, vor allem in den letzten 20 Jahren, verwandelte die Stadt sich in einen Dschungel aus Wohnblöcken in schlechtem Zustand, die alle gleich aussehen.
Ein Fluss des Lebens
Ein weiterer Lieblingsort von mir befindet sich im Norden der Stadt. Um dorthin zu gelangen, muss ich zur tiefsten U-Bahn-Station der Stadt gehen (70 Meter unter der Erde). Wenn man von dort wieder an die Oberfläche gelangt, kann man direkt meinen Lieblingsort sehen: den Tajrish-Basar.
Im Gegensatz zu dem ersten Lieblingsplatz, von dem ich dir schrieb, ist dieser hier immer voller Menschen. Wenn mir das Leben langweilig wird, kann der Tajrish-Basar meine Seele zurücksetzen und neu starten. Der Basar ist eine lange und enge Gasse. Oder anders ausgedrückt, er ist wie ein langer Fluss des Lebens. Voll von allem! Kleidung, Lebensmittel, Gewürze, einfach allem, was mit dem Leben zu tun hat!
Die längste Straße, ein Ort für alle meine Stimmungen
Neben dem Tajrish-Basar befindet sich ein Platz, und westlich davon beginnt die längste Straße der Stadt. Das ist ein Ort, den ich liebe, egal, wie meine Laune ist. Die Straße heißt Valiasr-Straße, vor der Revolution war sie auch als Pahlavi-Allee bekannt. Sie war einst von Platanen-Bäumen gesäumt. Jetzt hat sie die meisten Bäume verloren, aber im nördlichen Teil zwischen Parkway und Tajrish kann man sich immer noch an den hohen Platanen mit ihren weitverzweigten Ästen erfreuen. Nach 19 Kilometern erreicht die Allee den Bahnhof. Die längste Straße ist voll von nostalgischen Orten. Einige von ihnen, wie das Radio-City-Kino, waren das Herzstück der Modernisierung Teherans in den 60er- und 70er-Jahren. Leider sind sie heute verlassen oder stehen kurz vor dem Abriss.
Nun, meine liebe Freundin, jetzt habe ich über meine drei Lieblingsorte in Teheran geschrieben. Was ist mit dir? Ich würde gerne wissen, was deine Lieblingsorte in Tel Aviv sind. Ist Tel Aviv eine große Stadt? Gibt es dort viele Busse und U-Bahnen?
Ich freue mich darauf, deinen nächsten Brief zu lesen.
Meine besten Wünsche,
Sohrab
** »Koketit« ist die Künstlerin Shira Barzilay, die für die Romane Alef und Frei sowie für den vorliegenden Briefwechsel die Buchcover gestaltet hat.
Tel Aviv, 26. Januar 2024
Sohrab,
ich habe jeden der Orte gegoogelt, die du so schön und detailliert beschrieben hast, habe mir Fotos und historische Hintergrundinformationen angesehen. Und dabei kam mir ein Gedanke: Alle Informationen stehen zur Verfügung in der Welt, man kann alles googeln (und glaub mir, ich google buchstäblich alles, jede Frage, auf die ich keine Antwort habe – so wie ich mich jetzt frage: Kann man Google im Iran benutzen? Die Antwort ist unklar – kann man?), und trotzdem hätte ich nie von dem Turm gewusst, der wie ein Mann ohne Hut aussieht, oder von dem Basar, der dem in der Altstadt von Jerusalem so ähnlich sieht. Oder von der längsten Allee im Nahen Osten (kleiner sarkastischer Witz am Rande: Ich glaube, die längste Straße im Nahen Osten ist der Weg zum Frieden ;)), denn ich wüsste nicht einmal, wonach ich suchen sollte. Das belegt meines Erachtens Folgendes: Egal, wie ausgeklügelt unsere technischen Mittel auch sein mögen, die KIs, die Googles und die Chatsysteme – nichts geht über den Menschen. Vor allem, wenn es um das Erzählen von Geschichten geht. Und es gibt wenig, was mich mehr begeistern kann als eine gute Geschichte. Du hast mir gleich drei erzählt, und dafür bin ich dir sehr dankbar.
Wir Menschen erzählen einander Geschichten, seit es uns gibt. Durch Geschichten lernen wir, sehen die Welt und fühlen, was in ihr passiert. Durch Geschichten stellen wir eine Verbindung zueinander her, zeigen einander, wer wir sind. Ganz gleich, an welchem Ort oder zu welcher Zeit man lebt: Es war immer so und wird immer so sein, dass wir Menschen durch das Erzählen ein Miteinander erschaffen. Durch das Teilen von Gefühlen, Geheimnissen, Ängsten und Erfahrungen. Ich habe diese Woche meinem Freund, meiner Mutter und meiner besten Freundin von dir und unseren Briefen erzählt, und dann habe ich mir gedacht, dass du wahrscheinlich niemandem davon erzählen kannst. Und das hat mich irgendwie traurig gemacht. Denn das ist es, was Kriege und Hass den Menschen essentiell rauben: zu teilen. Miteinander zu sein. Menschlich zu sein.
Ich denke in diesen Tagen viel über den Krieg nach. Ich habe hier in Israel schon einige Kriege miterlebt, aber zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass der aktuelle Krieg ein Teil von mir geworden ist. Gestern war ich bei einer Physiotherapeutin. Sie ist auch Deutsche, wir sind seit vielen Jahren befreundet, und ich habe ihr gesagt, dass mir seit einer Woche der ganze Körper wehtut. Als ob ich eine Entzündung in meinen Muskeln hätte. Oder vielleicht eine Grippe. Aber es stellte sich heraus, dass ich wohl einfach nur »7. Oktober« habe. Sie erzählte mir, dass ganz viele ihrer Patienten mit den gleichen Symptomen zu ihr kämen, und erklärte mir dann, dass es im Grunde meine Faszien seien, die vor lauter Erschöpfung aufgegeben haben. Ich wusste natürlich nicht, was Faszien sind. Sie fuhr fort, dass es sich dabei um die Bindegewebsschicht handelt, die einzelne Muskeln, Muskelgruppen, Organe und ganze Körperabschnitte in uns umhüllt oder zusammenhält. Es ist wohl der Ort, an dem der Körper emotionalen Stress und Traumata speichert, mit denen er nicht richtig umgehen kann (meine Physiotherapeutin sagte dazu: »Wir sind jetzt seit drei Monaten im Kampf-oder-Flucht-Modus!«). Aber wenn es zu viel wird, fangen die Faszien an zu spannen, und der Körper beginnt zu schmerzen. Das ist der Punkt, an dem ich jetzt offenbar bin. Mein Körper sagt, es reicht, setz dich mit dem Stress und den Schmerzen auseinander und pack nicht einfach alles in meinen Gewebeschubladen weg!
Aber weißt du, das Problem ist, ich kann nicht einmal eine simple Atemübung machen. Denn jedes Mal, wenn ich versuche, mich auf meinen Atem zu konzentrieren, fühlt es sich an, als würde ich eine Panikattacke bekommen. In mir steckt einfach so viel Schmerz und Angst seit dem 7. Oktober. Zu viel, um sie zu bewältigen. Ach, es tut mir leid, wir wollten über Orte schreiben, die wir in unseren Städten lieben, und schau nur, wohin ich uns geführt habe.
Ich mache es kurz (das ist eine Lüge, ich mache es fast nie kurz ;)). Meine drei Lieblingsorte in Tel Aviv, übrigens eine kleine Stadt im Vergleich zu Teheran oder auch Berlin, meiner früheren Heimat: Tel Aviv hat nur 436 000 Einwohner und ist eine relativ neue Stadt, sie wurde erst 1909 gegründet, also gibt es im Grunde keine wirklich alten, historischen Orte hier:
Das Meer: Ich bin am Meer geboren. Ich will am Meer leben. Und ich werde am Meer sterben. Klingt dramatisch, ist aber so. Ich liebe das Meer. Ich schaue es gerne an, wenn es wild und stürmisch ist, und tauche gerne ein, wenn es warm und ruhig ist (ich habe auch nichts gegen ein paar Wellen, in die ich mich Hals über Kopf werfen kann). Das Meer schenkt mir Ruhe und erinnert mich immer daran, wer ich bin. Meine Geburtsstadt Rostock in Deutschland liegt auch am Meer. Meine Eltern erzählen mir immer, wie sie mich mit drei Monaten zum ersten Mal an den Strand mitgenommen haben, und ich habe das Gleiche mit meinen Söhnen in Israel gemacht. Es gibt unendlich viele Plätze am Strand und am Meer in Tel Aviv, die ich mag. Manche, weil man von dort die Wellen beobachten kann, das sind die Stellen, an denen man auf den Felsen direkt über dem Meer sitzen kann und im Grunde das Gefühl hat, im Meer zu sitzen. Andere Orte wegen der Menschen, die sich dort befinden – so gibt es an der Strandpromenade mehrere Orte mit Outdoor-Fitness-Geräten. Meine Kinder spielen dort gerne, und ich finde es schön, dort zu sitzen und die Leute zu beobachten. Morgens sind es meist Rentner, abends junge Sportfreaks, tagsüber ein bisschen von allem, die dort mit dem Meer im Hintergrund trainieren. Manche Orte am Meer wiederum liebe ich, weil man von dort aus die ganze Stadt sehen kann, so wie die Stelle am Ende des Ben-Gurion-Boulevards, von der man ganz Tel Aviv und in der Ferne die Altstadt von Jaffa überblickt.
Meine Wohnung: Hier liebe, lebe und arbeite ich. Ich liebe es, zu Hause zu sein. Ich liebe es, durch meine Wohnung zu laufen und mich darüber zu freuen, dass ich dieses Zuhause erschaffen habe. Ich zahle die Miete, habe die Möbel gekauft, die Kunst an den Wänden ausgesucht, und selbst die Kinder, die darin leben, sind in mir gewachsen. Ich liebe es, wenn es im Haus laut und lebendig ist, und ich liebe es, wenn es so ruhig ist, dass ich mich hinsetzen oder hinlegen und schreiben kann (so wie jetzt gerade. Die Kinder sind bei ihrem Vater, und mein Freund schläft noch). Außerdem habe ich die schönste Aussicht auf Tel Aviv, mehrmals am Tag gehe ich auf meine Terrasse und schaue auf diese verrückte, magische Stadt. Auf meiner Terrasse bin ich bei mir selbst und doch ganz in diesen Ort eingetaucht.
Jedes gute Restaurant: Tel Aviv ist für sein unfassbar gutes Essen bekannt. Wir haben so viele tolle Restaurants. Aber es ist nicht nur das Essen, es ist die Atmosphäre. Die Israelis lieben das Leben so sehr. Und sie machen jeden Ort so laut und fröhlich. Du findest in der ganzen Stadt nicht ein einziges ruhiges Restaurant! Und ich probiere gerne neue Restaurants aus, genauso, wie ich gerne in die zurückkehre, von denen ich weiß, dass sie toll sind. Mein Ex-Mann hasste es, in Restaurants zu gehen, und das hat mich immer gestört. Jetzt habe ich einen Freund, der jeden Tag zum Mittag- oder Abendessen ausgehen könnte – genau wie ich. Das einzige Problem: Es ist so unfassbar teuer. Aber das ist eine andere Geschichte.
Meine Frage für den nächsten Brief: Wen liebst du in deiner Familie am meisten und warum? (Kann auch ein Familienmitglied sein, das bereits gestorben ist.)
Ich sende dir die besten Wünsche, pass auf dich auf, mein Freund.
Deine Nina
Teheran, 26. Januar 2024
Hallo meine liebe Freundin, hallo aus Teheran an einem Freitag, es ist eigentlich noch Winter, aber das Wetter fühlt sich schon an wie Frühling!
Wie interessant die Worte, die ich von dir über das Meer gelesen habe, doch sind – ich liebe es auch. Wir haben zwei Meere im Iran. Khazar (oder Kaspisches Meer) im Norden und den Persischen Golf im Süden. Als Teenager habe ich einige Jahre in der Nähe des Persischen Golfs gelebt. Das Meer war mein Ruhepol, vor allem wenn ich Panikattacken hatte. Meine erste bekam ich, als ich die Aufnahmeprüfung für die Uni absolvierte. Seitdem quäle ich mich immer wieder damit herum.
Du hast absolut recht, die längste Straße im Nahen Osten ist der Weg zum Frieden. Wie schön könnte er sein. Stell dir vor, es gäbe diesen Hass zwischen unseren Ländern nicht, und alles wäre normal. Stell dir vor, ich könnte meiner Mutter sagen: »Ich habe eine tolle israelische Freundin gefunden, und wir schreiben uns Briefe.« Stell dir das nur mal vor … (Im Hintergrund erklingt gerade Mozarts 23. Klavierkonzert, und während ich über diesen Traum schreibe, steigen mir Tränen in die Augen.)
Ich gehe auch gerne in Restaurants und natürlich in Cafés. Früher, als noch nicht alles so teuer war, bin ich alle zwei oder drei Tage ins Café gegangen. Früher bin ich auch viel gereist, aber im Moment habe ich für nichts Geld.
Zu deiner Frage, wen ich in meiner Familie am meisten liebe: den Mann meiner Cousine. Er war ein säkularer Mann, der in seinen 20ern und 30ern in Deutschland lebte und einige Jahre dort arbeitete. Er ist 2013 verstorben. Unsere Beziehung hatte viele Höhen und Tiefen. Hier sind zwei Seiten davon:
Jemand, der mich traumatisiert hat:
Ich war das einzige Kind meiner Eltern. Sie haben mich nicht gewollt! Der Iran-Irak-Krieg ging 1988 zu Ende, und einige Jahre später wurde ich geboren. Meine Mutter war immer angespannt, und ich glaube, das kam durch die vorherige Kriegssituation in Teheran. In den letzten Kriegsjahren wurde Teheran mit vielen Raketen beschossen.
Das Haus meiner älteren Cousine war der einzige glückliche Ort für mich als Kind. Aber es gab auch dort ein großes Problem: einen alkoholkranken Mann, der unendlich wütend auf mich zu sein schien. Er schrie mich immer an. Er war sehr streng und verbot mir ständig zu sprechen. Dadurch habe ich viele Jahre lang das Vertrauen verloren, überhaupt mal etwas zu sagen.
Jemand, der meinen Lebensweg geprägt hat:
In meinem Leben fehlte mir damals jemand, der mir Orientierung geben konnte. Meine Eltern trennten sich, als ich noch keine 15 Jahre alt war, und es gab niemanden, der wirklich an meiner Seite stand. Meine Mutter arbeitete ständig, und ich war meistens allein zu Hause. Eines Tages gingen wir zu meiner Cousine, und ihr Mann war plötzlich nicht mehr böse zu mir. Er war freundlich, wie ausgewechselt! Statt mich anzuschreien, schenkte er mir an diesem Tag ein Buch. Das war der Beginn eines neuen Weges in meinem Leben. Er hatte ein altes Bücherregal mit vielen wertvollen Büchern. Ich glaube, er hatte sie von einem Freund gekauft. Bis zu seinem Tod schenkte er mir noch einige andere Bücher, und diese Bücher zeigten mir endlich einen Weg auf: Ja, Worte waren wie Lichter in meinen dunklen Tagen. Egal, welche Bücher, egal, woher. Ob auf Persisch, Englisch, Deutsch, Französisch, dank Google Translate las ich alles – durch die Worte entfloh ich meiner Einsamkeit und begann, die Welt zu entdecken.
Ja, meine liebe Freundin, jetzt kennst du diese Geschichte aus meinem Leben.
Und was den Anfang deines Briefes angeht: Google ist im Iran zugänglich. Allerdings sind einige Dienste wie YouTube verboten, aber es gibt ja VPNs***. :)
Ich freue mich darauf, mehr von dir über dein liebstes Familienmitglied zu lesen.
Herzliche Grüße an dich, meine liebe Freundin.
Dein Freund Sohrab
PS: Ich kann absolut verstehen, was du seit dem 7. Oktober durchmachst. Ich habe auch öfter Panikattacken aufgrund der vielen schlimmen Situationen hier, besonders in den letzten drei Jahren (vor allem während Covid). Unser Leben ist sehr kurz, und es ist nicht fair, dass wir so viel Terror erleben müssen. Manchmal möchte ich einfach nur allem Schrecken entfliehen und in eine endlose Umarmung laufen. Am liebsten am Meeresstrand!
*** Durch eine VPN-Verbindung wird der Datenverkehr im Internet verschleiert und vor dem Zugriff von außen geschützt. Man täuscht damit quasi vor, von einem anderen Land aus zu surfen.
Tel Aviv, 29. Januar 2024
Hallo mein lieber Freund,
ich habe deinen letzten Brief so gerne gelesen!
Schon seit meiner Kindheit habe ich mich für andere Welten interessiert. Wenn meine Kinder mich fragen, welche Superkraft ich gerne hätte, sage ich immer, ich möchte unsichtbar sein und alle Sprachen der Welt sprechen. Auf diese Weise könnte ich wie eine Fliege an der Wand in den Häusern der Menschen sitzen und ihr Leben beobachten – wenn du mir also von deinem Land, deiner Stadt, deiner Familie erzählst, werde ich zu dieser Fliege. Denn es ist eine Welt, die ich überhaupt nicht kenne. Und ich bin mir nicht sicher, dass ich sie jemals sehen werde.
Du hast über den Ehemann deiner Cousine geschrieben, und ganz ehrlich, er erinnert mich an meinen Vater. Auch er hat zwei Seiten, und er hat mich sehr geprägt. Er glaubt an mich wie kein anderer. Aber unser Verhältnis ist oft auch ganz schön kompliziert. Was mich daran erinnert, dass ich ihn anrufen wollte. Bin gleich wieder da.
So, da bin ich wieder.
Ich habe meinen Eltern immer sehr nahegestanden. Und das tue ich auch heute noch. Aber ich habe auch eine Tante, die ich sehr gerne habe. Nach dem 7. Oktober sind wir in Deutschland gewesen, wo meine Eltern leben, aber ich konnte mir nicht vorstellen, direkt zu ihnen zu fahren. Denn mein Vater kann sehr, wie soll ich sagen, intensiv sein, und nach dem 7. Oktober (den er in Israel erlebt hat) umso mehr. Ich hatte das Gefühl, nicht die Kraft für die Auseinandersetzungen mit ihm zu haben. Also bin ich stattdessen mit meinem Freund und den Kindern zu meiner Tante und meinem Onkel gefahren. Und obwohl es so schön bei ihnen war, weil sie so warmherzig, nett, lustig und voller Leichtigkeit sind, wurde mir auch etwas klar: Mein Elternhaus hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Bei uns zu Hause wurde ständig über Politik, Geschichte, über die Gesellschaft, in der wir leben, über das, was wir sind, diskutiert. Na ja, diskutiert … gestritten trifft es besser. Und gerade weil ich mich mit meinem Vater ständig über diese Dinge gestritten habe, ist aus mir ein Mensch geworden, der immer alles hinterfragt und wissen will. Seine hohen Ansprüche haben mir keine andere Wahl gelassen, als selbst extrem ehrgeizig zu sein, und ich denke, das ist nicht immer schlecht.
Übrigens kann ich sehr gut nachempfinden, was du über Worte gesagt hast: dass du mit ihrer Hilfe deine Einsamkeit überwinden kannst. Ich fühlte mich als Teenager auch sehr einsam und begann, Gedichte zu schreiben. Und bis heute ist das Schreiben meine beste Therapie. Egal, wie einsam ich mich fühle, Worte sind immer meine Freunde und mein Trost.
Apropos Schreiben. Ich arbeite derzeit an vielen Projekten gleichzeitig, und das wird mir ein bisschen zu viel. Ich versuche, mich mehr auf meinen neuen Roman zu konzentrieren, aber es ist so schwierig, die innere Ruhe zum Schreiben zu finden. Vor allem seit dem 7. Oktober fühle ich mich oft wie gelähmt. Mich in die Fiktion eines Romans zu flüchten, während um mich herum so ein brutaler, vernichtender Krieg herrscht, scheint mir unmöglich.
Du hast mir erzählt, dass du früher Pressefotograf warst, aber die staatliche Agentur verlassen hast. Was tust du jetzt? Und was wäre dein Traumjob?
Außerdem würde ich gerne wissen, ob du jemals den Iran verlassen hast. Und wohin du reisen möchtest und warum.
Ich warte ungeduldig auf den Sommer. Ich möchte zurück auf eine griechische Insel und all unseren Kummer hier hinter mir lassen.
So viel für heute, alles Liebe.
Deine Nina
Teheran, 30. Januar 2024
Hallo meine liebe Nina,
dein Brief hat mich glücklich gemacht. Er zeigt mir, dass ich nicht allein auf der Welt bin. Es war sehr interessant für mich, dass dich der Mann meiner Cousine an deinen Vater erinnert hat. Und auch was du über das Schreiben gesagt hast, empfinde ich ganz genauso.
Während des Studiums wollte ich immer Fotograf oder Journalist werden – obwohl mein Studium weder auf das eine noch auf das andere ausgerichtet war. Ich habe nämlich Betriebswirtschaftslehre studiert – aber meine wahre Leidenschaft waren Nachrichten. Insbesondere Zeitungen haben mich immer interessiert. Ihre Form, ihre Themen, sogar der Geruch ihres Papiers! Aber vielleicht entstammte dieses Interesse mehr noch dem Miterleben eines sehr wichtigen Ereignisses in meinem Land. Während der Grünen Welle (das waren die Proteste nach den manipulierten Wahlen 2009) war ich noch sehr jung. Als die Proteste anfingen, verfolgte ich die Nachrichten nonstop. Es war eine Zeit der Hoffnung. Ich habe damals gedacht, es könnte sich wirklich etwas ändern. Aber 14 Jahre später muss ich einsehen, dass ich mich geirrt habe. Als ich schließlich die Atmosphäre in den Zeitungen im Iran kennenlernte, als freier Fotograf für Zeitungen und Agenturen arbeitete (iranische Agenturen und Zeitungen stellen einen in der Regel nur ein, wenn man ihnen gegenüber sehr loyal ist oder innerhalb von Knebelverträgen arbeitet), stellte ich fest, wie furchtbar diese Arbeit war. Sie verwandelte mich in eine Maschine ohne jegliche Kreativität. Es gibt dort viel zu viele Leute, die ihren Verstand verkauft haben und professionelle Lügner geworden sind. Also habe ich mich mehr und mehr von diesem Traum entfernt. Irgendwann konnte ich mich nicht mehr selbst belügen, und einige Wochen nach einem persönlichen Schicksalsschlag, als ich die dunkelsten Tage meines Lebens erlebte, kündigte ich schließlich. Und ich bin immer noch stolz darauf, diese wichtige Entscheidung getroffen zu haben. Wenn ich in einem freien Land geboren wäre, würde ich mich definitiv für den Journalismus entscheiden. Aber hier ist es nur Zeitverschwendung für sehr wenig Lohn.
Es ist jetzt 12 Uhr mittags, und letzte Nacht war ich bis 3 Uhr morgens wach, weil ich so viel zu tun hatte. Das Problem ist: Ich arbeite hart und habe trotzdem kein Geld. Mein Durchschnittslohn beträgt 150 bis 180 Dollar****, aber dieser Lohn ist aufgebraucht, bevor der Monat endet. Sollte ich es schaffen, den Iran eines Tages zu verlassen, will ich von der Geschichte der Beziehungen zwischen dem Iran und anderen Ländern berichten, besonders in den letzten 50 Jahren. Aber ehrlich gesagt würde ich »jede« Arbeit machen, die ich machen muss, um meinen Horizont zu erweitern.