Über Grenzen - Margot Flügel-Anhalt - E-Book

Über Grenzen E-Book

Margot Flügel-Anhalt

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Beschreibung

Mit den E-Books der DuMont Welt - Menschen – Reisen sparen Sie Gewicht im Reisegepäck und können viele praktische Zusatzfunktionen nutzen!

Das E-Book basiert auf: 1. Auflage 2019, Dumont Reiseverlag

Solotour statt Kaffeefahrt. Mit 64 Jahren steigt Margot Flügel-Anhalt zum ersten Mal in ihrem Leben auf ein Motorrad und wagt das ganz große Abenteuer: Von ihrem kleinen Dorf in Nordhessen aus bricht sie auf zum Ziel ihrer Träume: dem Pamir Highway in Zentralasien. 117 Tage und 18.046 Kilometer lang ist sie unterwegs, durch 18 Länder – mit 11 Pferdestärken. Technische Pannen, schwere Stürze, totale Erschöpfung – mit den Herausforderungen wächst auch die Hilfsbereitschaft der fremden Menschen am Wegesrand, die ihre Reise am Ende so unvergesslich machen.

Tipp: Setzen Sie Ihre persönlichen Lesezeichen an den interessanten Stellen und machen Sie sich Notizen… und durchsuchen Sie das E-Book mit der praktischen Volltextsuche!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 192

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Margot Flügel-Anhalt mit Titus Arnu

Freiheit kennt kein Alter

Wie ich mit 64 Jahren zum ersten Mal auf ein Motorrad stieg und um die halbe Welt fuhr

Alle Schilderungen in diesem e-Book basieren auf subjektiven Erinnerungen. Die Dialoge geben nicht wortwörtlich, sondern sinngemäß vergangene Gespräche wieder. Die meisten Namen und die Merkmale einzelner Personen wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert.

1. Auflage 2019

© 2019 DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten.

Text: Margot Flügel-Anhalt und Titus Arnu

Gestaltung, Satz und Produktion: Sieveking · Agentur für Kommunikation, München

Layoutkonzept: Katrin Kleinschrot, Stuttgart

Karte und Illustrationen: Diana Köhne, Hamm

Fotos: streetsfilm, Kassel, und Margot Flügel-Anhalt

Ebook: Produktentwicklung, -management: Maren Jüngling, Sarah Müller, Sonja Stein

Technische Umsetzung: Integra, India

eISBN 978-3-6164-9115-8

www.dumontreise.de

Für meine geliebte Mutter, die mir die Freiheit ließ, zu werden, was ich bin.

Die Kette ist wieder aufgezogen – kein Problem für meinen kirgisischen Helfer

INHALT

Karte

Prolog

DEUTSCHLAND

POLEN & UKRAINE

RUSSLAND

KASACHSTAN

KIRGISTAN

TADSCHIKISTAN

USBEKISTAN & TURKMENISTAN

IRAN

TÜRKEI

BULGARIEN, MONTENEGRO & KROATIEN

DEUTSCHLAND

Über Grenzen

Dank

Die Autoren

Von einer, die fährt, und einem, der filmt

Karte

Grafik herunterladen

PROLOG

PAMIR HIGHWAY

Juli 2018

Alles dreht durch! Die Räder meines Motorrads drehen durch. Das Wetter dreht durch. Und ich drehe auch langsam durch. Seit Stunden quäle ich mich durch tiefen roten Matsch, der von einer dünnen Schneeschicht bedeckt ist. Meine Hose, meine Jacke und mein Helm sind überzogen von rötlichem Schlamm, der langsam gefriert. Meine Hände fühlen sich taub an. Die Temperaturen liegen unter dem Nullpunkt. Ab und zu halte ich an und fasse mit den Handschuhen an den Motor. Das wärmt die Finger. Aber stehen bleiben ist keine Option. Wenn ich zu langsam werde, bleibe ich stecken.

Ich befinde mich in gut 4000 Meter Höhe am Kyzyl-Art-Pass, einem besonders unwegsamen Teilstück des Pamir Highway, einer der abenteuerlichsten Straßen der Welt. Die schlecht ausgebaute Bergstrecke führt an der Grenze zu Tadschikistan über einen 4300 Meter hohen Pass, von dort aus geht es in die autonome Provinz Berg-Badachschan, eine Gegend, in die man laut Auswärtigem Amt auf gar keinen Fall reisen sollte. Terrorgefahr. Drogenbanden. Erdbeben. Schlammlawinen. Minenfelder. Das sind nur einige der Gefahren, mit denen es Reisende dort zu tun bekommen können.

Der Übergang von Kirgistan nach Tadschikistan ist wenig befahren, und jetzt weiß ich auch, warum. Das ist keine gut ausgebaute Panoramastraße wie in den Alpen, es ist ein Albtraum. Besonders bei Bedingungen wie diesen. Schwere Regen- und Schneeschauer gehen seit Tagen über den Bergen nieder, sie verwandeln die Staubpiste in eine rötliche Schlammhölle. Auch mit einem Geländewagen wäre das eine Herausforderung, aber ich sitze auf einem Motorrad. Besser gesagt: auf einer Art Moped.

Meine Honda XR 125 L hat nur elf PS, sie wiegt 130 Kilo, dazu kommen gut 60 Kilo Gepäck und Ausrüstung. Ich selbst wiege 58 Kilo. Wenn das Motorrad wegrutscht, lande ich im Matsch und habe kaum eine Chance, mein Gefährt alleine aufzurichten. Ich habe Angst vor dem nächsten Sturz. Was ist, wenn am Moped etwas kaputtgeht und sich nicht mehr reparieren lässt? Wenn ich mich übel verletze? Ich bin nämlich nicht mehr die Jüngste. Dann wäre meine Reise, von der ich so lange geträumt habe, wahrscheinlich vorbei.

Mitten im Nichts kommt mir ein Motorradfahrer entgegen. Er taucht wie ein Geist aus dem Schneesturm auf. Die Gestalt wischt sich den Schneematsch vom Visier, mustert mich und ruft verwundert: „A woman? Oh! Good luck!“ Wie man an den verschmierten und verbeulten Metallboxen an seinem Motorrad erkennen kann, ist er mehrmals gestürzt mit seiner vollgepackten schweren Maschine. Mir ergeht es nicht besser. Je weiter sich die Straße den Berg hinaufwindet, desto schwieriger wird es. Die Sicht ist miserabel. Ich fahre mit geöffnetem Visier, weil ich sonst kaum genügend Luft kriege in dieser Höhe. Wind und Schneefall nehmen zu. Der Vergasermotor meiner Honda mutiert langsam zum Versagermotor. Er wird wegen der dünnen Luft immer langsamer. Am Rand der Schlammpiste komme ich etwas besser voran, aber dort ist der Abgrund gefährlich nahe. Dreimal kippe ich um. Dreimal steige ich fluchend wieder auf und beiße die Zähne zusammen. Wenn sie nur nicht so klappern würden wegen der Kälte!

Zweifel nagen an mir. Warum tue ich mir das an? Hätte ich wie andere Seniorinnen meinen Ruhestand nicht schön gemütlich mit Stricken, Nordic Walking und Kaffeekränzchen verbringen können? Aber nein, ich wollte ja unbedingt auf diesem Motorrad von Hessen an den Hindukusch tuckern. Auf einem Minimotorrad, über das andere Motorradfahrer nur Witze machen. Und das, obwohl ich praktisch keine Erfahrung habe mit Motorrädern. Ich habe nicht mal einen Motorradführerschein. Mein alter grauer Lappen, ausgestellt am 16. März 1972 vom Landratsamt Tuttlingen, berechtigt mich dazu, „Verbrennungsmaschinen der Klasse drei“ zu fahren, das heißt auch Motorräder bis zu 125 Kubikzentimeter. Einfach so. Einfach so? Das kann hier am Kyzyl-Art-Pass eigentlich nicht gut gehen. Habe ich einen Riesenfehler gemacht, oder war das eine der besten Entscheidungen meines Lebens? Das wird sich wahrscheinlich hinter der nächsten Kehre entscheiden.

Die dritte Panne

Die zweite Panne

Die erste Panne

Der Tag der Abreise

Die Vorbereitungen

Deutschland

DEUTSCHLAND

April 2018//Thurnhosbach

Was treibt mich dazu, ausgerechnet nach Tadschikistan aufzubrechen? Neugier? Leichtsinn? Langeweile? Diese Abenteuerlust, dieses drängende Fernweh scheint mir angeboren zu sein. Ich bin schon immer gerne aufgebrochen. Die Sehnsucht nach der unbekannten Ferne überkommt mich plötzlich, unerwartet. Ein Geruch kann sie auslösen, das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos, das Bellen eines Hundes in der Nacht. Wenn ich die Augen schließe und überlege, wann ich zum ersten Mal dieses Fernweh gespürt habe, denke ich zurück an meine Kindheit – und erinnere mich daran, wie wir mal losgefahren sind zu einem Ausflug an den Bodensee. Ich fühlte mich, als würde ich zu einer Expedition rund um die Welt aufbrechen.

Es war ein Sonntagvormittag mitten im Sommer. Der Freund meiner Mutter hatte uns eingeladen, mit seinem Mercedes an den Bodensee zu fahren, eine halbe Stunde entfernt von Tuttlingen, wo ich aufgewachsen bin. Diese Aufregung! Meine Mutter packte Essen, Trinken und eine große Decke für uns ein, wir Kinder klemmten uns auf die Rückbank, meine Mutter saß auf dem Beifahrersitz. Wir fuhren los. Es war einer dieser unbestimmten, grenzenlosen Vormittage, an denen ein leichter Dunst über den Wiesen und Wäldern liegt, eine heimliche Ahnung von Abenteuer in der schon warmen, würzigen Luft. Ich sog die Eindrücke ein und dachte an Weltreisen, fremde Kontinente, wilde Abenteuer. Mir war ein bisschen übel auf der Rückbank des Benz, aber das zählte nicht. Wir waren unterwegs.

Das Umherschweifen, Vagabundieren ist mir geblieben, weit über die Tage der Kindheit hinaus, die ich auf den Wiesen, Feldern und in den tiefen Wäldern am Rande der Schwäbischen Alb und an der Donau verbracht habe. Im Augenblick des Losgehens bin ich eine andere. Kann mich jeden Augenblick neu erfinden. Im Alltag zu Hause ziehe ich mich gerne in mein Inneres zurück, aber sobald ich in der Fremde bin, gehe ich völlig entspannt und offen auf Menschen zu. Zu riechen, zu hören, zu schmecken, zu fühlen und zu sehen, wie Menschen woanders leben, die Bedingungen kennenzulernen, unter denen sie ihr Leben gestalten, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, zuzuhören, zu lachen, auch miteinander zu schweigen, das treibt mich an. Bergketten im Dunst am Horizont, der weite Blick über ein Meer, eine Landstraße, die im Wald verschwindet … eine ungeahnte Leichtigkeit, ein unbestimmtes Glücksgefühl überkommt mich bei solchen Anblicken.

Ich habe 17 Jahre lang in Berlin gelebt, obwohl ich eigentlich ein Landmensch bin. 1993 bin ich mit meiner Familie nach Nordhessen gezogen, meine erwachsenen Söhne Philip und Imo kommen mich immer gerne dort besuchen. Jeden Morgen laufe ich barfuß durch die taubedeckte Wiese den Berg hinter meinem Haus hoch. Ich füttere die Katzen des halben Dorfes, von meiner Terrasse aus kann ich den Rehen am Waldrand beim Äsen zuschauen. Freiwillig werde ich nie mehr in eine Großstadt ziehen. Große Menschenansammlungen, Verkehr und Lärm ertrage ich inzwischen nur noch schwer.

58 Einwohner, Felder, Hügel, Wald, Windräder, Fachwerkhäuser, Bauernhöfe, eine kleine Kirche – Thurnhosbach wirkt beschaulich, und das Leben in diesem stillen Winkel Nordhessens, im ehemaligen Zonenrandgebiet an der Grenze zu Thüringen, ist tatsächlich sehr angenehm. Ich fühle mich wohl hier, ich mag die Menschen hier, bin verwurzelt in meinem Leben, habe viele ehrenamtliche Aufgaben übernommen, treibe Sport, bin Mitglied in verschiedenen Vereinen und seit einigen Jahren auch Ortsvorsteherin unseres Dorfes. Trotzdem zieht es mich immer wieder weg. Besonders jetzt, am Ende meiner Berufslaufbahn.

Schon als Kind bin ich immer gerne aufgebrochen, bin alleine durch den Wald und über Wiesen gelaufen. Als Jugendliche bin ich mit dem Fahrrad durch die Schweiz gefahren. Ich glaube, das ist für mich eine Grundhaltung im Leben. Ich will über den nächsten Berg gehen, um zu sehen, was dort passiert. Seit 2008 bin ich immer wieder auf Fernwanderwegen in Europa unterwegs gewesen – auf dem Jakobsweg nach Spanien, über die Alpen, auf dem E3 in Richtung Istanbul. Immer in Etappen, denn während meiner Berufstätigkeit im Rathaus in Eschwege konnte ich immer nur drei bis maximal sechs Wochen am Stück Urlaub nehmen.

Ich habe als Sozialpädagogin im öffentlichen Dienst gearbeitet, habe meinen Job geliebt, aber kurz vor meiner Pensionierung wurde mein Freiheitsbedürfnis immer stärker. Ich wollte endlich mal lange unterwegs sein, ohne nach kurzer Zeit wieder an den Schreibtisch zurückkehren zu müssen. Deshalb habe ich mich entschieden, Altersteilzeit zu beantragen, früher auszuscheiden aus dem öffentlichen Dienst – zugunsten meiner Freiheit. Ich will nicht stricken und backen, ich will Abenteuer erleben. Schließlich bin ich erst 64, und Freiheit kennt kein Alter.

An meinen letzten Arbeitstag erinnere ich mich nicht besonders gerne. Ich bin nicht so der Typ für großartige Abschiedspartys. Also gingen Bürgermeister, Vorgesetzter und Kolleginnen und Kollegen bald nach der offiziellen Verabschiedung nach Hause. Dann saß ich noch lange mit den Putzfrauen zusammen und fing endlich an, mich wohlzufühlen. Als kommunale Frauenbeauftragte hatte ich immer wieder mit ihren Beschwerden und Problemen zu tun gehabt. Wir kannten uns. So wurde es doch noch ein friedlicher Nachmittag.

Doch die Schwerfälligkeit einer alten Bürokratie, die Langatmigkeit von Prozessen war in all den Jahren so erdrückend und belastend für mich geworden, dass ich keinen Tag länger mehr dort sein wollte.

Als ich den Rathausschlüssel in den Briefkasten warf, war mein 24 Jahre währender Dienst zu Ende. Ich war platt. Fertig. Wochenlang wie gelähmt. Erst als ich mich zwang, die Vorbereitungen für die geplante Reise aufzunehmen, erholte ich mich von den anstrengenden letzten Wochen im Amt.

Im Basislager, so bezeichne ich mein Haus und den großen Garten im Nordhessischen Bergland, bereite ich mich nun auf die Reise vor. Auf dem großen runden Tisch im Wohnzimmer liegen alle Dinge, die ich mitnehmen möchte. Ich gehe alles durch, was noch erledigt werden muss.

Die tägliche Post, die in meinem Briefkasten landet, die Termine, die ich als rechtliche Betreuerin noch immer wahrnehme trotz „Altersteilzeitfreizeitphase“ (ja, so steht’s im Gesetz), die Ehrenämter … all das werde ich nicht vermissen.

Im Garten wachsen überwiegend Kräuter, die nehmen mir die lange Zeit der Abwesenheit nicht übel. Die Himbeeren werde ich in diesem Jahr nicht reifen sehen und ernten können. Hier noch den Weg zum Gießen für die liebe Nachbarin freischneiden. Dort noch üppig wuchernde Stauden zusammenbinden. Mehr ist nicht zu tun. Die Dorfkatzen, die täglich bei mir vorbeikommen, um sich eine Ration Futter für den Tag abzuholen, werde ich sehr vermissen. Mein weißes, frisch bezogenes Bett im stillen Schlafzimmer wird mir fehlen. Und das saubere Wasser, das ich direkt aus dem Wasserhahn trinken kann. Ich kenne die Quelle, aus der wir unser Wasser beziehen. Sie liegt direkt hinterm Dorf am Berghang.

Das Aufbrechen ist für mich leichter möglich, weil ich alleine lebe. Ich war zweimal verheiratet. Habe meine große Liebe getroffen. Mein erster Ehemann ist einige Jahre nach unserer Scheidung an der Krankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) gestorben, einer nicht heilbaren, degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems. Meine große Liebe starb an Herzkammerflimmern. Nach dem plötzlichen Tod trauerte ich. Jahr um Jahr. Ich begann, auf dem Jakobsweg zu pilgern. Von Eisenach nach Santiago de Compostela. In mehreren Etappen, da ich noch tief im Berufsleben steckte. Manchmal habe ich den Weg vor meinen Füßen nicht gesehen vor Tränen. Unterwegs konnte ich meinen Gefühlen ungehinderten Lauf lassen. Einmal, als ich wieder durch ein Jammertal wanderte, hörte ich eine Stimme. „Was weinst du nur so furchtbar?“, säuselte es schräg über mir in den Baumkronen. „Du gehst nicht allein.“ War das der Wind, den ich gehört hatte? War ich bereits so dehydriert, dass ich Wahnvorstellungen hatte? Dann plötzlich konnte ich fühlen, was die Stimme mir gesagt hatte. Ich bin nicht allein. Ich bin aufgehoben. Von diesem Augenblick an wurde meine Trauer erträglich. Die Tränen versiegten nach und nach.

Im Sommer 2017 wollte ich dann mit einem Muli nach Osten ziehen. Die Idee zu dieser Wanderung war mir bei einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn in die Mongolei gekommen. Ich stellte mir vor, wie ich mit einem beladenen Maultier durch die sibirische Steppe ziehen würde. Doch woher sollte ich so ein Lasttier nehmen? Ich erkundigte mich bei der Bundeswehr, Abteilung Tragtierwesen. An das kuriose Telefonat erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen:

„Sie wollen was?“

„Ich möchte bitte jemanden sprechen, der für pensionierte Mulis zuständig ist.“

„Pensionierte Mulis? Sie sind hier bei der Bundeswehr in Bad Reichenhall gelandet, bei den Gebirgsjägern.“

„Genau. Sie haben doch Mulis? Maultiere. Sie wissen schon.“

„Moment, dafür bin ich nicht zuständig. Ich verbinde Sie mit der Abteilung Tragtierwesen.“

Ein Knacken in der Leitung. Es hört sich an, als würde ein Muli Haselnüsse zertreten.

„Mulis im Ruhestand? Dazu darf ich nichts sagen.“

Offenbar ist die Ruhestandsregelung für Maultiere im Dienst der Bundeswehr ein hochsensibles Thema. Militärisches Geheimnis und so. Mein nächster Gesprächspartner kann oder will mir auch nicht weiterhelfen. Er sei nicht befugt, etwas über die Pensionierung von Mulis zu sagen.

Schließlich habe ich einen Oberfeldwebel am Apparat, der offenkundig auch Oberbefehlshaber aller diensthabenden und pensionierten Militärmulis Deutschlands ist. Ich versuche, ihm mein Anliegen näherzubringen. Es klingt, zugegeben, leicht übergeschnappt.

„Ich würde gerne ein bei der Bundeswehr ausgebildetes und außer Dienst gestelltes Muli übernehmen. Adoptieren oder abkaufen, egal.“

„Darf ich fragen, wozu?“

„Ich möchte mit ihm durch Russland wandern.“

Stille am anderen Ende der Leitung. Ich befürchte, der Oberfeldwebel legt einfach auf, weil er das Ganze für einen Telefonstreich hält. Eine Seniorin marschiert mit einem Seniorenmuli durch Russland? Das klingt wie ein sehr schlechter Witz. Nach versteckter Kamera. Doch der Mann legt nicht auf. Er lacht auch nicht. Er sagt ganz ernst:

„Es tut mir wahnsinnig leid, aber wenn bei uns Maultiere aus dem Dienst ausscheiden, wandern sie nirgendwo mehr hin. Dann sind sie wirklich müde und haben ihren Ruhestand verdient.“

„Ach.“

Damit war der Plan mit dem Maultier gestorben.

Die Idee, ein Motorrad als Muliersatz zu nehmen, kam dann von meinem Sohn Philip. Er arbeitet in der Hotelbranche und lebt alle paar Jahre woanders, zurzeit in Bangkok. Er ist ein Motorradfan und besitzt mehrere große, sehr schnelle Maschinen.

Es ist eine bizarre Vorstellung für mich: ich auf einem Motorrad?

„Ich habe doch gar keinen Führerschein!“

„Doch, mit deinem alten Lappen darfst du eine 125er fahren.“

Ich bin äußerst skeptisch, denn ich weiß, wie gefährlich es ist, mit dem Motorrad unterwegs zu sein. Philip hat mehrere schwere Unfälle hinter sich, unverschuldet, und fährt für meinen Geschmack oft wahnsinnig schnell. Viel zu schnell! Der Horror für eine Mutter. Und jetzt soll ich selbst auf so ein Ding steigen? „Ich habe doch null Ahnung und bin noch nie selbst gefahren!“

Philip bestellt einfach ohne weitere Diskussion eine Honda XR 125 L für mich, für 1800 Euro. 11 PS, Höchstgeschwindigkeit 100 Stundenkilometer. Ich habe sie vorher nicht angeschaut oder ausprobiert, ein Lieferdienst bringt sie einfach vorbei. Mein erster Gedanke: „Oh Gott, das wird nie was mit mir und diesem Ding!“

Ich fahre mit dem Motorrad einmal auf dem Hof vor unserem Haus im Kreis – und falle sofort um. Um nicht zu verunglücken, nehme ich ein paar Fahrstunden, allerdings ohne die Prüfung zu machen. Irgendwann wagt der Fahrlehrer sich in den Verkehr mit mir. Den halte ich erfolgreich auf. Ich übe und übe: Gefahrenbremsungen, Kurven, immer wieder die steile Einfahrt vor dem Haus hoch und runter. Die Honda XR 125 L hat grobe Stollenreifen, eine Sitzhöhe von 83 Zentimetern, einen breiten Lenker und einen großen Federweg, sodass man aufrecht sitzt und durch Schlaglöcher fahren kann, ohne gleich Probleme zu kriegen. Eigentlich ist sie ein paar Zentimeter zu hoch für mich, ich komme kaum auf den Boden mit dem Fuß. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase ist die Maschine mir dann doch sehr sympathisch geworden, gerade weil sie so einfach, leicht und technisch überschaubar wirkt.

Nach zehn Fahrstunden scheine ich ausreichend Fahrpraxis zu haben, ergänze diese durch Alleinfahrten im Hessischen Bergland und unternehme die erste große Tour gemeinsam mit meinem Sohn nach Schottland. Ich bin nun 4000 Kilometer mit der Enduro gefahren – und entscheide mich, gen Osten aufzubrechen. Nicht nach Thüringen. Sehr, sehr weit nach Osten.

Mai 2018

Ich träume schon länger vom Pamir Highway. Diese Piste scheint für Fernreisende gemacht zu sein, die sich von nichts abschrecken lassen. Sie führt von Osch in Kirgistan über 728 Kilometer durch das Pamir-Gebirge bis nach Khorugh in der tadschikischen Region Berg-Badachschan. Es ist eine wilde, abenteuerliche, manchmal auch gefährliche Gegend – und so atemberaubend schön, dass es sich meiner Meinung nach lohnt, ein gewisses Risiko einzugehen und Entbehrungen auf mich zu nehmen.

Ich sehne mich danach, die eisigen Gipfel des Hindukusch mit eigenen Augen zu sehen, die sich auf der afghanischen Seite des Wakhan-Korridors bis auf 7708 Meter Höhe in die klare Luft erheben. Draußen sein, im Gebirge, weit weg von all den Annehmlichkeiten eines westeuropäischen Lebens – das ist ein Herzenswunsch von mir. Ich will auf dem Boden schlafen, auf Decken, die im Schnee gereinigt werden. Die Menschen, die dort leben, kennenlernen. Den Geistern wiederbegegnen, die ich in den Bergen des Terelsch-Nationalparks in der Mongolei getroffen habe, wo ich vor einigen Jahren mal war. Beim Blick auf die Landkarte höre ich bereits die Wolga rauschen, die ich bei der Reise durch Russland überqueren will. Ich spreche die exotischen Namen der Flüsse aus, an denen meine Route vorbeiführt: Syrdarja, ein Fluss bei Qysylorda in Kasachstan. Amudarja, der durch Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan fließt. Früher mündete der Amudarja in den Aralsee, heute versickert er in den Wüsten. Wie faszinierend sie klingen, diese Namen: nach Ferne, nach Abenteuer, nach Freiheit …

Es ist, zugegeben, ein leicht wahnsinniger Plan: mit der kleinen Enduro als Fahranfängerin nach Zentralasien. Auf einer der schwierigsten Straßen der Welt, durch Krisenregionen, über mehr als 4000 Meter hohe Pässe. Alleine. Als Frau. Einige Bedenkenträger rümpfen die Nase. Und ich frage mich irgendwann selbst: Bist du eigentlich völlig verrückt geworden? Mallorca wäre doch auch okay. Ja, eine schöne Insel! Doch ich will etwas anderes. Ich suche die Herausforderung. Ich will mich spüren. Und kurz vor der Abfahrt stellt sich das Gefühl, wirklich zu leben, mit einer solchen Wucht ein, dass es mich umhaut. Dafür ist mir jeder Aufbruch recht.

Wochen- und monatelang habe ich geplant und organisiert. Ich habe in Internetforen recherchiert, Reiseführer studiert, Karten gekauft, Navigationsprogramme auf mein Handy geladen. Dann stand die Route fest: über Polen, die Ukraine, Russland und Kasachstan zum Pamir Highway, der zweithöchsten Fernstraße der Welt. Mit insgesamt 1252 Kilometern schafft der Pamir Highway eine Verbindung zwischen der kirgisischen Stadt Osch und Duschanbe, der Hauptstadt Tadschikistans. Er überquert auf seinem höchsten Punkt den 4655 Meter hohen Ak-Baital-Pass. Weiter will ich über die autonome Provinz Berg-Badachschan, Usbekistan, Turkmenistan, Iran, Türkei und dann wieder zurück nach Europa.

In den Nächten vor der Abfahrt liege ich wach. Ich mache mir Sorgen. Werde ich jemanden finden, der mir einen Reifen wechseln kann, wenn der Schlauch platt ist? Wird mir jemand dabei helfen, den Reifen auf die Felge zu ziehen? Werde ich das richtige Material und Werkzeug zum Beheben von Pannen dabeihaben? Werde ich nachts einen sicheren Platz zum Schlafen finden? Wird der unkoordinierte Verkehr in den Ländern, durch die ich reise, mir Schwierigkeiten bereiten? Werden die politischen Konflikte in diesen Ländern Einfluss haben auf mein Vorankommen? Wird die Visumagentur in Berlin alle Visa ordnungsgemäß und fristgerecht in meinen Pass bekommen, wenn sie noch nicht einmal wissen, dass Turkmenistan erst dann sein Visum erteilt, wenn das iranische bereits im Pass ist, weil der Iran in diesem Falle mein Zielland ist? Wie wird es sich anfühlen, in den kasachischen Weiten nachts in meinem Zelt zu liegen, dem Wind draußen zuzuhören und das Heulen der Wölfe zu erahnen?

Meine Ausrüstung liegt neben den Packtaschen bereit, immer wieder habe ich Dinge aussortiert, auf die ich verzichten kann. Insgesamt kommen 60 Kilo an Zeug zusammen, das ist etwas mehr, als ich selbst wiege. Die Liste ist lang: Benzinkocher, Kochgeschirr, Zelt, Schlafsack, Ersatzschläuche, Werkzeug, Kleidung sowohl für 40 Grad im Iran als auch für Minusgrade in den Bergen Tadschikistans, Karten, Reiseführer und so weiter. Dazu kommen noch zehn Kilo an Kameraequipment, Akkus und Kabeln. Denn ich habe vor, unterwegs viel zu filmen und zu fotografieren. Das habe ich Johannes und Paul versprochen.

Johannes Meier ist evangelischer Pfarrer, er war von 2007 bis 2015 Gemeindepfarrer in Sontra und Thurnhosbach. Nun hat er einen anderen Job bei der Kirche in Kassel, arbeitet auch als Autor und Filmemacher, und als er von meinem Plan hört, überredet er mich, mit ihm zusammen einen Dokumentarfilm über die Reise zu machen. Johannes und Paul Hartmann kenne ich vom „Jungen Theater“ in Eschwege, dort habe ich öfter mal in Stücken mitgespielt und führe Regie. Die beiden wollen nach Tadschikistan und Iran kommen und mich eine Zeit lang begleiten. Den Rest der Zeit filme ich selbst mit dem Handy und der GoPro. Ich werde beinahe vier Monate unterwegs sein, so viel Zeit haben die beiden selbstverständlich nicht.

Motorradbasteln ist eigentlich nicht mein Hobby. Deshalb suche ich im Vorfeld der Reise noch Rat bei Fritz, einem Freund, der Motorradfahrer ist:

„Kannst du mir kurzfristig beibringen, wie man einen Ölwechsel macht und eine Zündkerze am Motorrad wechselt?“

„Äh, warum?“

„Ich habe jetzt ein Motorrad und will damit nach Zentralasien fahren. Allein.“

Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung.

„Okay … wann soll’s denn losgehen?“

„Ungefähr übermorgen.“

Wieder ein paar Schocksekunden lang Pause. Wahrscheinlich denkt er, die Alte ist jetzt total übergeschnappt.

„Tut mir leid, die nächsten Tage habe ich keine Zeit.“

Gut, dann lese ich halt das Handbuch der Honda durch. Da steht eigentlich alles drin, was bei der Wartung wichtig ist. Das kann ja wohl nicht so schwer sein, oder? Zur Sicherheit besorge ich mir noch zwei Ersatzbremshebel, weil ich in entsprechenden Foren gelesen habe, dass die Hebel bei Stürzen schnell mal abbrechen.

Alle notwendigen Impfungen habe ich rechtzeitig auffrischen lassen: Hepatitis, Tollwut, Typhus, Tetanus.

Für das Motorrad habe ich bereits alle notwendigen Papiere, zusammengefasst im „Carnet de Passage“, einem Heft mit 24 Seiten, das ich für die Einreise in den Iran brauche. Dieses dicke gelbe Heft darf ich nie verlieren. Nur wenn ich dieses Heft mit dem Motorrad zusammen wieder nach Deutschland zurückbringe, habe ich den Beweis, dass die Maschine unterwegs nicht verkauft worden ist. Und nur dann gibt es die Kaution zurück – happige 3000 Euro habe ich dafür hinterlegt.