Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten - Bernhard von Mutius - E-Book

Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten E-Book

Bernhard von Mutius

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Beschreibung

Wenn Pläne nicht mehr funktionieren  - Der Zukunftsdenker von Mutius erkundet unsere Resilienz in unsicheren Zeiten - Inspirationen für alle, die keine einfachen Ratschläge wollen, sondern Anstöße zum Nachdenken Neue Normalität, Instabilität und Ungewissheit: Covid hat nicht nur Lieferketten durchbrochen, sondern massiv die Art verändert, wie wir zusammenarbeiten. Kaum haben wir uns darauf eingestellt, werden wir mit einer Situation konfrontiert, die die meisten von uns nicht kannten. Krieg in Europa und eine neue Krise, die von uns noch viel fordern wird. Wir spüren: Radikale Innovationen, Nachhaltigkeit, und ein neuer Umgang mit unseren Energien werden zu Lebensnotwendigkeiten. Aber wie steht es um unsere inneren Ressourcen? Was brauchen wir, um das Kommende zu meistern? Lebenskunst ist die Kunst, die wir am nötigsten haben, wenn uns nicht danach zumute ist. Bernhard von Mutius denkt in diesen schwierigen Zeiten bekannte Thesen aus der Persönlichkeitsentwicklung nicht nur weiter, sondern gibt ihnen eine neue, innovative Wendung. Aus dem Zeitmanagement kennen Sie die Kategorien der Wichtigkeit und der Dringlichkeit; von Mutius plädiert für ein drittes Kriterium, das uns hilft: "Die Dinge gut machen". Dabei folgt der Autor den Pfaden von Stephen R. Covey und nimmt es sich heraus, unbekannte Abzweigungen zu nehmen und unzugängliche Pfade einzuschlagen, um uns so neue Blicke auf bewährte Konzepte zu ermöglichen: 7 Wege der Lebenskunst in dieser Zeit. Change und Nachhaltigkeit nach innen gewendet.  Von Mutius beschreibt eine Lebenskunst, die der Improvisation, der Abweichung nahesteht. Die skizzierte Lebenskunst ist kreativ, aber auch pragmatisch, sie ist mutig, und dabei auch leise. Sie weiß mit wenig umzugehen und stellt sich die Frage danach, wie sie gut mit diesem wenigen umgehen könnte. Der Konjunktiv ist hier wichtig, denn das Buch bewegt sich fernab von klassischer Ratgeber- und Managementliteratur, sondern nimmt den Leser als gleichwertigen Dialogpartner mit auf eine Reise. Gemeinsam mit dem Leser erkundet der Autor die Schauplätze unseres Wirkens, observiert und analysiert die Problematiken, aber auch die Möglichkeiten und das Potenzial, das sich hinter all diesen neuen Abzweigungen verbergen kann. Ein sehr persönliches Buch, das inspiriert.

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BERNHARD VON MUTIUS

Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten

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Auf etwaige Änderungen zu einem späteren Zeitpunkt hat der Verlag keinen Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

© 2023 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2023 erschienenen Buchtitel "Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten." von Bernhard von Mutius ©2023 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-144-2

ISBN epub: 978-3-96740-250-6

Lektorat: Anke Schild, Hamburg

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

Autorenfotos: Richard Pichler, Rainer Petek

Grafiken: Matthias Boie

Satz: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de

Copyright © 2023 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

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Inhalt

Zum Einstieg: Was war noch mal der Plan?

Erster Teil: Habe Mut!

Zweiter Teil: Finde Sinn!

Weg 1: Ja zum Leben. Trotz alledem

Weg 2: Sinn. Und Eigensinn. Finde dein Metier

Weg 3: Leichtigkeit. Sprezzatura als Lebenshaltung

Dritter Teil: Baue Brücken! Verwandle Energien!

Weg 4: Energien verwandeln. Nachhaltig zirkulär

Weg 5: Brücken bauen. Zuhörend und kooperativ

Weg 6: Gestalten. Schön einfach

Vierter Teil: Fange an!

Weg 7: Mit Freundlichkeit und kleinen Dingen

Literaturhinweise

Über den Autor

»Wenn der Brunnenausgetrocknet ist,erkennen wir den Wertdes Wassers.«

Benjamin Franklin

Zum Einstieg: Was war noch mal der Plan?

Lebenskunst ist die Kunst, die wir am nötigsten haben, wenn uns nicht danach zumute ist. Dies nur am Rande. Sie ist, wie alle Kunst, etwas, das uns irritiert, berührt und manchmal glücklich stimmt. Für kleine Augenblicke. Wie das Lachen. Wie das Singen. Oder wie das Spielen. Wie das gute Gespräch. Wie das Lieben. Wie das Grün nach dem Winter. Oder wie das Essen mit Freunden. Sie ist natürlich auch all das.

Kann man sie lehren? Ich weiß es nicht. Können wir sie lernen? Davon bin ich überzeugt. Aber nicht auf der Schulbank. Nicht im Hörsaal. Eher zwischendurch. Sie unterbricht Gewohnheiten. Manchmal auch das Unheil.

Lebenskunst ist nicht das Licht am Ende des Tunnels, auf das alle sehnlichst warten. Sie ist das Licht im Tunnel. Das Licht, das wir selbst anzünden, wenn es ziemlich düster ist. Manchmal entsteht daraus eine Erfindung. Eine Beleuchtung oder eine neue Wärmequelle. Manchmal auch einfach nur eine willkommene Pause. Ein heller Augenblick, der Erleichterung bringt. Und niemand weiß, woher.

Denn Lebenskunst lässt sich nicht genau planen. Wer dies versucht, wird sie verlieren, noch ehe sie sich bemerkbar machen kann. Lebenskunst ist das Nichtplanbare, für das wir eine Disposition entwickeln können. Sie ist die Nichtroutine, die wir üben können. Sie ist das Vertrauen, Lösungen und Auswege zu finden, wenn alles versperrt zu sein scheint. Sie ist die Schwester der Freiheit. Sie ist die Geschichte in der Geschichte, mit der etwas anfängt. Sie zeigt sich in dem Moment, wenn gerade alle besonders angestrengt, erschöpft, müde, erregt, zornig oder mutlos sind und jemand sagt: Ich kenne da eine Geschichte.

Es war einer dieser verhangenen Märztage. In einem griechischen Lokal in Potsdam. Ich saß mit einem befreundeten Innovationsforscher zusammen. Mit Martin von der D-School. Wir sprachen über Lernen, Bildung, Kompetenzen, Zukunft. Über die Fähigkeiten, die wir in dieser Zeit brauchen. Die vor allem junge Menschen brauchen, die eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren; Fähigkeiten, die ihnen eine lebenswerte Zukunft ermöglichen sollen. Die aber auch ältere brauchen, die weiter lernen wollen, um besser mit den schnellen, oft disruptiven Entwicklungen umgehen zu können. Fachliche Fähigkeiten, naturwissenschaftliche Fähigkeiten, technologische Kompetenzen, Data Literacy. Ebenso soziale Kompetenzen, Kooperationsfähigkeit, Kreativität, die Fähigkeit, agil zu arbeiten, komplex, vernetzt und disruptiv zu denken.

Ja, das war alles richtig und wichtig. Und schnell aufgezählt. Was aber ist mit den Fähigkeiten und Tätigkeiten wie Musik, Literatur, Philosophie, die nicht so relevant für den Arbeitsmarkt sind? Heute könnten wir auch sagen: Streetart, Breakdance, Longboarden auf dem Asphalt. Wir sprachen auch darüber. Sind die auch wichtig? Was ist mit dem Tanzen? Oder mit der Leichtigkeit, mit der »Sprezzatura«, die eine so wichtige Rolle im Libro del Cortegiano von Castiglione spielt? Ein Buch aus der späten Renaissance, das einmal so etwas wie ein Standardwerk war, wenn es um Fähigkeiten, Eigenschaften und Tugenden ging, die Frauen und Männer erwerben sollten, die eine Führungsposition in der Gesellschaft übernehmen wollten. War davon noch irgendetwas relevant? Oder vielleicht jetzt gerade wieder? Auf die Frage »Was versuchen Sie als Nächstes?« antwortete Greta Thunberg: »Tanzen vielleicht. Im Winter.« Irgendwann sprachen wir auch über Lebenskunst. (Nicht einfach Überleben, sondern Über-Lebenskunst.) Martin meinte, davon würde er gerne mehr erfahren. In den nächsten Tagen dachte ich darüber nach.

Währenddessen überschlugen sich die Ereignisse. Die Medien meldeten an mehreren Tagen nacheinander die höchsten Sieben-Tage-Inzidenzen seit Beginn der Coronapandemie. Gerade war in Austin die South by Southwest Conference (SXSW 2022) eröffnet worden, die wieder die wichtigsten globalen Trends der Tech-Branche präsentierte. Metaverse, künstliche Intelligenz, die Blockchain-Technologie mit ihren NFTs, die neuesten Streamingdienste. Die Futorologin Amy Webb von der NYU Stern School of Business stellte ihren neuesten Tech Trends Report vor. Sie sprach darüber, dass die Gesellschaft es bis 2027 vielleicht schaffen könnte, KI für sinnvolle Zwecke zu nutzen und die permanente Überwachung durch Herzfrequenzmessgeräte zu verhindern. Chance: 20 Prozent.

Kurz zuvor hatte Putin seinen Truppen den Befehl gegeben, in die Ukraine einzumarschieren. Die ersten Bilder des Krieges gingen um die Welt. Natürlich sprachen wir auch über diese verstörenden Nachrichten. Doch wir versuchten, ihnen nicht zu viel Raum in unserem Kopf zu geben. Dabei wussten wir bereits, zumindest vermuteten wir es: Dieser Krieg wird länger dauern. Er wird sehr viel Leid und Zerstörung bringen. Er zerstört Mensch und Natur. Er ist eine große Disruption. Viel mächtiger als alles, was wir uns bislang in unserer Nähe vorstellen konnten.

Die Jahreszeiten kamen und gingen, längst waren in vielen Organisationen Taskforces gebildet worden, um Energiepreise und weitere Lieferengpässe abzufedern, die frühere »Arabian-American Oil Company« war an Apple als wertvollstes Unternehmen der Welt vorbeigezogen, die Inflation war zwischenzeitlich in die Höhe geschnellt. Niemandem war so recht klar, was wohl als Nächstes kommen würde und womit halbwegs vernünftig zu planen wäre. Eine mögliche Rezession? Eine weitere militärische Eskalation? Was passiert gerade irgendwo im südchinesischen Meer? Welche Entwicklung nehmen die sich überlagernden Konflikte – die äußeren und inneren? Wir wissen es nicht.

Viele Menschen waren besorgt, die Verunsicherung war so groß wie die Hitzeperioden der vergangenen Jahre. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping hatte auf dem letzten Parteitag von »globalen Veränderungen« gesprochen, »wie sie in einem Jahrhundert nicht gesehen worden sind«, und die Delegierten darauf eingeschworen, sich »auf die schlimmsten Fälle vorzubereiten«. Ob er dabei auch den Klimawandel und die kommenden Wetterextreme meinte, war nicht eindeutig herauszuhören.

Und trotzdem Lebenskunst? Oder gerade deswegen? Und wenn ja, wie? Wie könnte das gehen? Was könnte damit gemeint sein?

Vorweg: Nein, ich würde nicht behaupten, dass ich es in der Lebenskunst zu einer besonderen Meisterschaft gebracht hätte. Dazu habe ich zu viele Schläge und zu viel Scheitern erlebt. Ich gehöre nicht zu den Helden, die immer siegen. Die in der Schule nur Einsen schreiben, die stets überzeugt sind, dass ihnen niemand widerstehen kann. Die bei jeder Geldanlage eine sichere Hand beweisen und die immer Bescheid wissen. Oder wussten. Jedenfalls bis vor Kurzem.

Es gibt eine Geschichte über die Kunst des Geigespielens, die ich sehr mag. Auch weil sie eine Geschichte über das Leben und das Lernen ist. Und eine Geschichte, die Armin Müller-Stahl einmal erzählt hat, der ursprünglich Violine und Musikwissenschaft studierte und professioneller Geiger werden wollte. Sein Professor am Berliner Konservatorium brachte ihm bei, besonders auf die rechte Hand zu achten und den Bogen richtig zu gebrauchen. Das hieß für den Geigenprofessor, den ganzen Bogen zu nutzen. Das schärfte er ihm ein. Immer wieder, ganz gleich, ob er Bach oder Brahms spielte. Wahre Musik erfordere den ganzen Bogen.

Eines Tages besuchte Bruno Walter das Konservatorium, einer der größten Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Müller-Stahl durfte als Erster vorspielen. Ein wenig aufgeregt und sehr konzentriert, achtete er besonders auf die rechte Hand und den ganzen Bogen. Nach einigen Takten unterbrach Bruno Walter das Spiel und fragte freundlich: »Warum benutzen Sie den ganzen Bogen? Nur das obere Drittel. Versuchen Sie es.« Armin Müller-Stahl versuchte es. Es klang nicht überzeugend. Bis Bruno Walter sagte: »Ohne Druck, leicht, gehaucht. Die Sonate hat ein Geheimnis.«

Ein Geheimnis? Er setzte die Violine ab. Das leuchtete ihm ein. Als er wieder ansetzte, entdeckte er das Stück neu. Und von dem Moment an klang sein Spiel anders. Wie konnte so ein Wunder geschehen?

Es gibt die Lebenskunst des ganzen Bogens. Weitergegeben von Lehrern, die sich ganz sicher sind. Die alles wissen und dir stets erklären, warum der ganze Bogen richtig ist, welches Stück auch immer du spielst.

Und es gibt die Lebenskunst des Neu-Beginnens, des Hinhörens auf das gerade zu Spielende. Die Kunst, das Leben als Geheimnis wahrzunehmen. Nur von dieser Lebenskunst kann ich sprechen und will ich sprechen.

Es ist eine Kunst jenseits der eindeutigen Gewissheiten. In einer Zeit schwindender Gewissheiten. Sie stellt sich und die Lehrmeinungen infrage. Sie sagt: Erst wenn wir zugeben, nicht mehr weiterzuwissen, finden wir vielleicht weiter.

Diese Lebenskunst entsteht nicht, wenn draußen die Sonne scheint, wenn alles reibungslos läuft und alle brav mitlaufen. Sie hat mehr mit Disruption zu tun als mit Konvention.

Sie entsteht in den Hinterhöfen und Kellern des ordentlichen Lebens. Manchmal im Spiel. Sie behauptet sich abseits der gebahnten Wege, im Wildwasser, im Gebirge, nicht in Klassenzimmern oder im Rampenlicht.

Sie ist der Blues, der vom unvorstellbar großen Leid weiß, auch wenn er leicht und elegant daherkommt. Sie ist Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Sarah Vaughan.

Sie ist die Synkope, die Improvisation, die Abweichung, nicht der Schlager, der ständig wiederholt wird.

Sie ist nicht laut. Sie drängt sich nicht vor. Sie ersetzt nicht die grundlegende Versorgung mit dem Lebensnotwendigen, die Lebensrettung, die Hilfsbereitschaft oder die Solidarität. Sie tritt hinter alldem zurück.

Sie wirkt eher im Verborgenen. Im Innern. Sie sagt Ja zum Leben. Trotz alledem. Und zwar zu unserem eigenen Leben.

Sie ist voller Hochachtung für die Regel. Sie sagt: Kenne die Regel. Erforsche sie. Verstehe sie. Lerne sie. Und erkenne die kleinen Momente, in denen etwas Neues entsteht, eine Abzweigung, eine Abweichung. Sei bereit für die Abweichung. Sie birgt ein Geheimnis, das du entdecken kannst. Du kannst alles noch so gut planen. Wenn du nicht offen bist für das Geheimnis, bleibst du ein Zögling, ein Nachahmer dein Leben lang. Und wenn dich etwas Überraschendes trifft, wirst du unangemessen, manchmal zu starr, manchmal zu emotional, dann überreizt, zunehmend erschöpft und irgendwann überfordert reagieren. Gerade in Zeiten großer Disruption.

Disruptionen sind nicht harmlos. Sie sind massive Störungen unserer normalen Welt.

Sie haben die Eigenschaft, dass wir sie uns trotz vieler wissenschaftlicher Forschungen und praxisorientierten Ratgeber vorher nicht haben vorstellen können. Wir hatten keine Ahnung, was passiert, wenn sie auftreten.

Der Krieg ist die größte anzunehmende Disruption. Auf kurze Sicht. Er wetteifert mit der Klimakatastrophe um diesen Platz, die langfristig vermutlich noch um einiges zerstörerischer wirken wird. Im Unterschied zu ihr lässt er sich überhaupt nicht berechnen. Wir können weder seinen Verlauf noch seine verheerenden Auswirkungen kalkulieren. Er ist ein Chamäleon, wie Carl von Clausewitz sagte, ein Monstrum, das keinen Bereich verschont. Und keinen Menschen, mag er auch noch so fokussiert und innerlich abgehärtet sein, unberührt lässt. Er hinterlässt Spuren. Auch wenn die Menschen nach Jahren wieder auf ihn zurückschauen.

Manche krisenhaften Ereignisse der letzten Zeit haben zunächst nichts mit unserem Leben in der Familie, in Vereinen oder mit Freunden, nichts mit Märkten oder Business zu tun. Da passiert etwas, das scheint anfangs ganz weit weg. Geografisch, emotional, gesellschaftlich. Gleichwohl mit Auswirkungen für alle Systeme, Institutionen, Unternehmen. Und vor allem für die Menschen. Für jeden von uns.

Manchmal trifft uns das bekannte Wort: »Life is what happens to you while you’re busy making other plans.« Aber nun trifft es uns anders, unvermittelt, hart, brutal. In einer Weise, die alles auf den Kopf stellt. Jetzt spüren wir, was wir vorher nicht wahrnehmen wollten: Das Leid, die Schmerzen und die Not gehören zum Leben. Auch wenn wir das alles nicht geplant hatten. Es kommt irgendwie gerade vieles anders.

Die Kunst des Lebens wäre keine, wenn sie dies ausklammerte. Vielmehr: Es ist gerade ein Kennzeichen dieser Kunst, dass sie uns hilft, sich damit auseinanderzusetzen. Auch wenn sie nicht immer eingreifen möchte. So wie die Kunst selbst und die Künstler, sofern sie nicht nur billige Clips und Sonnenuntergänge verkaufen wollen.

In Zeiten existenzieller Krisen habe ich manchmal intuitiv zu kleineren Schriften oder Briefen von Hermann Hesse gegriffen. Hesse hat über 35 000 Briefe geschrieben. Meistens Antwortbriefe an wildfremde Menschen, die ihn um einen Rat gebeten hatten. Ich spürte, dass hier jemand gerade selbst durch eine Krise gegangen war. Dass in dieser Krise Weltbilder zusammengebrochen waren. Zum Beispiel bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Oder nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen 1939.

Hermann Hesse konnte so vielen Menschen in der ganzen Welt etwas mitgeben, weil er es selbst erlebt hatte. Das ist etwas, das mich bis heute immer wieder beschäftigt: Nur wer selbst tief empfunden oder gelitten hat, wird anderen eine Hilfe sein und einen guten Rat für das Leben geben können. Sofern man das überhaupt kann. Das hat sicher mit dem zu tun, was ich eingangs sagte.

Wenn jemand nach dem Ende seines Psychologiestudiums Seminare für Resilienz und Leadership anbietet, kann ich das respektieren. Aber ich würde eine Trainerin oder einen Coach vorziehen, die bzw. der selbst schon ein paarmal tüchtig gescheitert, richtig auf die Nase gefallen ist.

Und wenn ich an Hermann Hesse denke: Manchmal hat es mir in meinem Leben geholfen, seine farbenfrohen Bilder anzuschauen. Oder, von ihm angeregt, selbst wieder zum Malblock und zum Pinsel zu greifen. Dabei rauszugehen aus den eigenen vier Wänden. Mit einem Rucksack und einem Klappstuhl, den man überall leicht aufklappen, mit dem man irgendwo in der Landschaft leicht beginnen kann. Zumindest innerlich. Oder gar nichts mitnehmen, einfach anfangen, neu zu sehen.

Deshalb auch geht es in diesem Buch um Lebenskunst. Nicht um Lebensplanung oder Lebensversicherung. Auch nicht um Überlebenstechniken in der Wildnis, auf der Flucht. Nicht um körperliches Ausdauertraining oder um Kampfsport. Aber natürlich um Bewegung. Um körperliche und geistige. Beide sind ungemein wichtig. Sie helfen uns, nicht nur zu überleben, sondern zu leben. Bewegung macht beweglich, wie die Trainer und Lebensmutmacher Beatrice und Martin Lieb es mal genannt haben.

Ja, Mut. Zunächst ist alles Mut, Wagnis, Anfangen. Das ist das Entscheidende. Das ist oft die Kunst in der Kunst. Doch zugleich ist alles Balance, rechtes Maß, innere Harmonie. Das spüren wir nach einer Weile. Leider oft erst dann, wenn wir zu lange einseitig tätig waren oder gelebt haben. Dann gilt es, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Auch das kann eine Kunst sein.

Es geht überhaupt oft um Balance: den eigenen Weg der Entfaltung finden, sich selbst finden. Zugleich die eigene Rolle in der Gemeinschaft und Gesellschaft finden. Sich an die Regeln dieser Gesellschaft und an die Erfordernisse ihrer Veränderung anpassen und zugleich sich nicht anpassen, sondern den Eigensinn stärken. Das gehört zu den Paradoxien der Lebenskunst.

Sie ist die lebensbejahende, freundliche Seite eines realistischen, aufgeklärten Denkens dieser Zeit.

Sie ist die Tugend, die aus der Not eine macht. Immer wieder.

Sie ist die Kunst, in schwierigen Zeiten Leichtigkeit zu vermitteln. Von innen nach außen.

Sie glaubt an einen Sinn, an ein »Warum« und ein »Wozu« jenseits des bloßen Funktionierens. Und sie glaubt, dass dieser nur individuell gefunden werden kann.

Sie glaubt daran, dass Nachhaltigkeit ein Lebensprinzip ist, das verbindet. Dich und den anderen. Den guten Augenblick jetzt und mögliche gute Augenblicke morgen und übermorgen.

Darüber möchte ich sprechen.

Ich möchte meine Beobachtungen und Erfahrungen teilen. Meine sehr persönlichen, manchmal privaten. Dies ist vielleicht mein bisher persönlichstes Buch. Zugleich ist es eine Erkundung eines vielschichtigen Geländes. Mit einer komplexen Geschichte.

Ich möchte die Leserin und den Leser auf eine Erkundungstour einladen.

Dabei werde ich über sieben Wege sprechen. Und über ein paar Voraussetzungen, Basics, Grundhaltungen, die uns helfen, die Wege zu meistern. Alte und neue Paradigmen. Everything is just for a while.

Wir werden von innen nach außen vorgehen. Beginnend mit den privaten Wegen, mit der individuellen Entwicklung. Darauf aufbauend Wege des beruflichen, öffentlichen Wirkens, der Gestaltung, des Bauens, des Brückenbauens, der Umwandlung von Energien. Was ich für wesentliche Aspekte der Lebenskunst halte.

Das Gelände, das wir durchstreifen, ist ebenso wie das Thema nicht durch exakte wissenschaftliche Feldeinteilungen markiert. Unterscheidungen werden wir während der Untersuchung des Geländes treffen. Beim gemeinsamen Herausfinden im Gespräch. Mit Bezug auf manches, was schon vorgedacht wurde. Gelegentliche Tiefenbohrungen werden nötig sein. Vor allem wird es wie bei Innovationen auf achtsame Grenzüberschreitungen und Kombinationen ankommen.

In erster Annäherung will ich zur vorläufigen, ungefähren Kennzeichnung des Geländes ein Quadrat skizzieren. Ich nenne es das magische Viereck der Lebenskunst. Mit diesen Eckpunkten:

Der Lebensmut. Den brauchen wir, um etwas zu wagen, zu riskieren. Ohne vorher zu wissen, ob es gelingt. Gerade wenn die Lage nicht so gemütlich ist. Wir setzen einfach den ersten Schritt ins Ungewisse. Wir zaudern nicht.

Der Lebenssinn. Das ist das, was uns tief im Innern bewegt, also motiviert und manchmal dauerhaft trägt. Gerade wenn die Strapazen sehr groß werden. Dies hat etwas mit Geduld, mit Zähigkeit und mit recht verstandener Nachhaltigkeit zu tun.

Die Disziplin und Kunst, Brücken zu bauen. In der beruflichen Arbeit, in der unternehmerischen Gestaltung, im öffentlichen Raum. Verknüpft mit der Fähigkeit zur Kooperation und zum Zuhören. So entdecken wir den Kern von Nachhaltigkeit.

Das Anfangen. Der letzte Teil verbindet das Ende mit dem Anfang. Mit ganz einfachen, freundlichen Schritten im Alltag. Was jeder von uns tun kann. Oder schon längst tut.

Denn natürlich dreht sich bei uns vieles, manchmal fast alles um die Bewältigung des Alltages. Gerade in dieser Zeit. Um Gewohnheiten, um wiederholbare Prozesse, um oft technologiegestützte Routinen, um tradierte Arbeitsweisen und neue flexible Arbeitsformen. Im Homeoffice oder am normalen Arbeitsplatz, allein oder im Team. Dabei haben die genannten Eckpunkte einen wesentlichen Einfluss darauf, wie wir diesen Alltag, wie wir unser Leben und die beruflichen Anforderungen meistern, wenn die neue Normalität, die längst zu einer Nichtnormalität geworden ist, in gehäufter Form auftritt. Mit welcher Grundhaltung, mit welcher Einstellung und mit welchen Vorstellungen. Sie beeinflussen das, was wir manchmal Mindset nennen, manchmal auch Culture. Sie haben eine große Sogwirkung. Sie können Orientierung und Halt bieten. Nicht immer, aber sehr oft. Gerade wenn die Welt um uns herum so brüchig und unsicher geworden ist, dass der Ausdruck VUCA fast schon ein wenig harmlos anmutet.

Das heißt auch: Wir können nicht sagen, ob manches Ereignis, über das wir jetzt sprechen, möglicherweise in naher Zukunft von den Entwicklungen überholt wird. Es geht uns heute oft wie den Fischern, die nicht mehr sicher sein können, ob der See, auf den sie blicken und auf den schon ihre Väter und Großväter hinausgefahren sind, morgen noch existieren wird. Oder es ergeht uns wie den Anwohnern eines alten Industriegebiets, die erleben, wie immer mehr neue Leute beginnen, das gesamte Areal mit ihren praktischen Ideen, Innovationslaboren und Projekten mit neuer Energie zu beleben und zu verwandeln.

Lebenskunst ist die Überzeugung und die Fähigkeit, den Augenblick zu nutzen. Und daraus etwas zu machen, was vorher nicht denkbar war. Aus wenig mehr zu machen. Etwas gut zu machen, auch wenn das gar nicht gefordert ist. Dies ist der schöpferische Moment. In unternehmerischer Sprache die Opportunity. Manchmal das Momentum. Es ist das Aufforsten nach den Stürmen. Oder in den Stürmen. Es ist die innere Haltung der Resilienz. Es ist die Liebe oder die liebevolle Zuneigung, wie die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk sagt. Es ist die Lebensfreude, der Eigensinn, der Widerspruchsgeist, die Freundlichkeit.

Während ich das schreibe, gehen mir Bilder durch den Kopf. Sie illustrieren die Spannweite der Lebenskunst. Auch die Widersprüche. Sie finden sich wieder in allen Etappen der vor uns liegenden Erkundungsreise. Von manchen Aspekten habe ich erst in den letzten Wochen und Monaten erfahren. Als ich in Gesprächen mit Freunden und in Begegnungen mit Fremden vieles noch einmal neu sehen lernte.

Lebenskunst ist wie Freestyle im Windkanal.

Die Flieger sagen sich: Du überwindest deine Angst. Du trainierst ohne Unterlass. Du nutzt Forschung und Wissenschaft. Du wagst neue Choreografien. Du erlebst Blockaden. Du beginnst zu zweifeln. Irgendwann kommt jemand und sagt: »Lass dich vom Wind tragen. Du bist schön, wenn du fliegst.« So die französische Freestylerin Laurie Lubbe.

Leben ist nicht fliegen.

Schon gar nicht hoch. Da ist über weite Strecken nichts als grauer Alltag. Da musst du durch. Durch dich selbst. Du bist nun »Brachland«, wie Marco von Münchhausen es einmal genannt hat. Manchmal genügt es, »mit kleiner Energie zu leben«, wie die Atemtherapeutin Angelika, meine Schwester, dazu sagt. Das ist auch eine Kunst.

Lebenskunst ist transformativ.

Sie wandelt Energien um. Sie versorgt uns mit erneuerbaren immateriellen Energien. Und sie erzeugt sie. Manchmal. Wie die Fotosynthese in der Natur. Oder wie die Fotovoltaik plus Brennstoffzelle in unseren Häusern, Büros, Fabriken und Kommunen der nahen Zukunft. Wenn wir denn wirklich autark sein wollen. Wenn wir anfangen wollen mit dem Erneuern. Wir sparen nicht nur etwas ein, sondern es wächst etwas. Wir schaffen etwas gemeinsam.

»Never Gonna Give You Up«, heißt es in einem alten Song, der auf geheimnisvolle Weise wieder überall präsent ist, ein Scherz im Internet, eigentlich ein Zitat von Churchill, das manchen in dieser Zeit wie eine persönliche Botschaft erscheint. Warum eigentlich nicht?

Starten wir. In vier Etappen.

Erster Teil: Habe Mut!

Lektionen. Kellerdisziplinen und ordentliche Fächer. Prinzipien.

Paradigmenwechsel. Wenn Pläne nicht mehr funktionieren.

Grundhaltungen und Quellen der Lebenskunst. Der innere Magnet.

Zweiter Teil: Finde Sinn!

Sich selbst entwickeln.

Weg 1: Ja zum Leben. Trotz alledem. Die Kraft der Vorstellung.

Die Enttäuschung und die Fähigkeit, sich neu zu erfinden.

Weg 2: Sinn. Und Eigensinn. Finde dein Metier. Kreativität zulassen.

Ungewissheit und Balance.

Weg 3: Leichtigkeit. Sprezzatura als Lebenshaltung.

Der leere Raum und das »Third-Box-Thinking«.

Dritter Teil: Baue Brücken! Verwandle Energien!

Selbst machen. Unternehmerisch. Gemeinschaftlich. Gestalten.

Weg 4: Energien verwandeln. Nachhaltig zirkulär.

Weg 5: Brücken bauen. Zuhörend und kooperativ.

Weg 6: Gestalten. Schön einfach.

Vierter Teil: Fange an!

Weg 7: Mit Freundlichkeit und kleinen Dingen. Ins Gelingen verliebt sein.

Alltägliche Gelegenheiten in der Praxis.

Schreibweisen

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit habe ich in der Regel das generische Maskulinum verwendet. Beispielsweise »der Realist«. Ich meine aber immer und durchgehend alle Geschlechter im Sinne der Gleichbehandlung. Die verkürzte Sprachform hat ausschließlich redaktionelle Gründe. Ab und an habe ich situativ die Schreibweise geändert. Meine Sympathie gilt dem Gedanken der Vielfalt unterschiedlicher Geschlechter, Kulturen und Meinungen.

Lektionen. Kellerdisziplinen undordentliche Fächer.

Prinzipien. Paradigmenwechsel.Wenn Pläne nicht mehr funktionieren.

Grundhaltungen und Quellen derLebenskunst. Der innere Magnet.

Erster Teil

HABEMUT!

»I have never tried that before –so I think I should definitelybe able to do it.«

Pippi Langstrumpf

Es gibt eine Szene in dem Film Mona Lisas Lächeln mit Julia Roberts. Sie spielt die angehende Kunstlehrerin Katherine Watson. Ihre erste Vorlesung am Wellesley College wird für sie gleich zu ihrer ersten Lehrstunde. Die Studentinnen geben auf alle ihre Fragen wie aus der Pistole geschossen Antwort. Als hätten sie sich vorher abgesprochen, es der neuen Dozentin zu zeigen. Mit einem triumphierenden, schnippischen, teilweise eiskalten Lächeln. Sie haben sich gut vorbereitet. Sie kennen die Fragen und Antworten des Lehrbuches auswendig. Und mit jeder ihrer Antworten sinkt die Lehrerin mehr in sich zusammen. Alles scheint vergebens. Ihr Plan ist nicht aufgegangen. Sie fühlt sich niedergeschlagen.

In der nächsten Vorlesung dreht sie die Dinge. Sie stellt Fragen zu einem Kunstwerk, das kaum jemand kennt. Und Fragen zur Kunst und zum Leben, die in keinem Lehrbuch vermerkt sind. Sie setzt sich nach hinten ins Auditorium und lässt den jungen Damen den Vortritt. Sie können nun über Fragen nachdenken, darüber miteinander sprechen, selbst Fragen stellen. Wenn sie es wollen. Wenn nicht, können sie es auch bleiben lassen. Zumindest einige der Studentinnen spüren auf einmal, welche Kraft die Kunst, das Fragen und das Miteinander-ins-Gespräch-Kommen haben können. Hat nicht manches mit ihrem eigenen Leben zu tun? Hat es nicht mit ihrer eigenen Sehweise zu tun? Mit der Bereitschaft, die Kunst und sich selbst noch einmal neu anzusehen?

Kunst kann verändern. Manchmal. Zumindest konnte sie es. Nicht geplant. Nicht groß. Nicht gesellschaftlich. Viel zufälliger, beiläufiger, kleiner.

Kellerkinder

Eines der ersten Male, als ich dies halb bewusst, halb unbewusst erfahren habe, war in meiner Bonner Schulzeit. Im staatlichen Beethoven-Gymnasium gab es einen Lehrer, der anders war als die anderen. Und der aus irgendwelchen Gründen eine gewisse Narrenfreiheit genoss. Es war der Kunstlehrer Günther Scholl, der sich im Keller des Schulgebäudes ein kleines eigenes Reich erschaffen hatte. Wenn Kunstunterricht war, verließen wir die normalen Klassenzimmer in der »Oberstadt« und wurden zu Kellerkindern. Hier unten war wirklich alles ganz anders. Gab es eben noch oben ein strenges Reglement mit klaren, peniblen, blitzsauberen Vorschriften, was die Schüler zu tun hatten und was nicht, war auf einmal das Gegenteil der Fall. Günther Scholl, der ein paar Jahr zuvor noch mit Günter Grass gejazzt hatte und mit Joseph Beuys befreundet war (der später den Kunstkeller von Scholl die »Organ-Station« taufte), gab uns die Freiheit, zu malen oder zu gestalten, was und wie wir wollten. Oft wurde dabei eine Geschichte vorgelesen. Oder eine Platte aufgelegt. Günther Scholl im Rollkragenpullover, eine Zigarette, eine Roth-Händle im Mundwinkel, spielte manchmal auch selbst auf dem Banjo.

Einige Mitschüler, die eben noch eifrig und pflichtbewusst dem Unterricht gefolgt waren, fühlten sich nun irgendwie komisch, wussten nicht so recht, was sie mit sich selbst anfangen sollten. Für mich waren diese Stunden da unten Momente der Irritation, der Konzentration und der Befreiung. Ich empfand das wie Philosophie. Oder wie Sport. Ich begann zu malen, fing an, neu zu sehen, und lernte verschiedene Techniken kennen. Irgendwann wagte ich es, die Gestaltung der Schülerzeitung zu übernehmen, und versuchte mich dabei in unterschiedlichen Spielarten: modernes Zeitschriftendesign, surreale Zeichnungen, Gedichte und Collagen – oder was ich dafür hielt. Günther Scholl war dabei ein genauer und strenger Lehrer. Er ließ vieles nicht durchgehen, regte mich an, etwas auszuprobieren, und brachte mir sehr viel bei. Darunter die ersten Schritte in einem ganz anderen Fach: der Pantomime. Das verzauberte mich. Ich bekam die Möglichkeit, meine Gedanken und Gefühle, mein Erstaunen und meine Zweifel auszudrücken, ohne sie in Worte fassen zu müssen. Ich hatte natürlich Marcel Marceau gesehen, den Film Der Tramp von Charlie Chaplin und vor allem meinen Lieblingsfilm: Kinder des Olymp. Das war »poetische Wahrheit«, wie Michael Köhlmeier es in seinem Roman Zwei Herren am Strand genannt hat, Friedrich Schiller zitierend. Doch das alles wusste ich damals nicht. Ich hatte davon keine Ahnung. Oder doch: Ich hatte eine Ahnung. Einige Ahnungen.

Roboter und Ingenieur

Irgendwann habe ich mich getraut, mit einer eigenen Pantomime aufzutreten. Ich weiß nicht mehr, wie oft mir dabei Günther Scholl geholfen hat. Aber nun stand ich allein da oben. Auf der Bühne in der Aula des Beethoven-Gymnasiums. Es wurde ein Erfolg. Ich war ein wenig stolz. Der Bonner General-Anzeiger brachte ein Foto und einen Artikel mit der Überschrift »Auf den Spuren von Marcel Marceau«. Das ist nicht der Rede wert. Ich erzähle die Geschichte aus einem anderen Grund – wegen der Ahnung, die ich damals hatte: Die kleine Pantomime, die ich mir ausgedacht hatte, trug den Titel »Der Roboter und der Ingenieur«.

Der Ingenieur brachte dem Roboter vieles bei: Bewegungen, Sinnesregungen, Emotionen, Gedanken, Wissen. Sehr viel Wissen. Nur eines gelang ihm nicht. Was war das? Darüber später mehr.

Fragen

Es war klar, dass die Erfahrungen im Keller für mich ebenso wichtig waren wie die im normalen Lehrgebäude und in den »ordentlichen« Fächern. Auch wenn ich noch nicht wusste, was diese Kombination zu bedeuten hatte.

Was konnte daraus werden? Was würde daraus werden? War das ein Muster für Späteres? Würde das tragen?

Waren in diesen Erfahrungen Lebensprinzipien verborgen, die ich erst später verstehen würde? Etwa das Prinzip, aus Routinen auszubrechen, nicht einem vorgegebenen Plan zu folgen, sondern divers zu denken, die Seiten und Perspektiven wechseln zu können?

Zum Beispiel als ich viel später begann, eine etwas ungewöhnliche Zukunftsakademie zu konzipieren. Auf der Schweizer Seite des Bodensees. In denen Führungskräfte disziplinübergreifend Komplexität und Vernetzung besser verstehen und einüben konnten. Zusammen mit hervorragenden Forschern, Experten und Coaches aus verschiedenen Fächern. Eine einwöchige Entdeckungsreise von der Mathematik bis zur Musik, von der theoretischen Physik bis zur praktischen, bildhaften Kommunikation. »Hirngerecht«, hätte Vera F. Birkenbihl wohl dazu gesagt, wenn sie es noch erlebt hätte.

Ich bin wieder darauf gestoßen, als ich vor Kurzem ein Interview mit Simone Menne las. In dem sie erzählte, wie wichtig das Ausbrechen aus den Planungsroutinen für sie in ihrer Karriere war. Etwa als sie als junge Managerin nach Lagos beordert wurde. Und dort sehr viel über Kreativität lernen konnte. »Ich musste einerseits Diesel für den Generator besorgen und Kerosin einkaufen, andererseits traf ich Minister und den Präsidenten. Es macht einen selbstbewusst und agil, wenn man komplexe, aber auch praktische Sachen pragmatisch regeln muss.« Und auf die Frage, ob sie dort das Improvisieren gelernt habe, antwortete sie: Nein. Das habe sie bereits in der Schule gelernt. So habe sie beispielsweise im Lateinunterricht ihre guten Vokabelkenntnisse versucht zu ergänzen mit improvisierten Geschichten über Zusammenhänge und mit einem bildhaften Verstehen der Grammatik, die ihr eigentlich nicht so sehr lag.

Deshalb habe sie auch später in ihrer Arbeit als Managerin immer mit Mindmaps gearbeitet. Das war mir sofort aufgefallen. Sie war gemeinsam mit Bettina Volkens eine der beiden Vorständinnen im Lufthansa-Konzern. Beide gehörten in diesem Gremium sicher zu den Kreativeren. Mit einem offenen Sinn für neue, ungewohnte Methoden der Veränderung, wie ich in mehreren Workshops in Seeheim erfahren konnte, die ich für die Vorstände entwickelte.

Aufbauende Prinzipien

Irgendwann habe ich das Buch von Stephen R. Covey in die Hand bekommen. Die 7 Wege zur Effektivität. Es hat mich sehr beeindruckt. Wie viele andere auch.

Beeindruckt haben mich insbesondere die von ihm formulierten Prinzipien, die überall gültig sind und einem wirklich effektiven Handeln zugrunde liegen. Ich kann ihnen beinahe zu hundert Prozent folgen. Und ich tue es auch. Hier in diesem Buch. Dazu gehört vor allem dieses: »Von innen nach außen!«

Nur so lässt sich Lebenskunst verstehen: Zuerst kommt die innere Entwicklung, dann die äußere, das Wirken nach außen, die Performance. Natürlich im Wechselspiel. Nicht als Schema, sondern als Entwicklung. Zuerst kommt unser eigenes, privates Leben. Das, was uns im Innern bewegt, kreativ werden lässt, schöpferisch nach neuen Lösungen suchen lässt. Daran anschließend gehen wir weiter zu unserem beruflichen und öffentlichen Leben. Und fragen, wie Lebenskunst hier gestaltend und vielleicht nachhaltig wirksam sein kann. Genauso werden wir in den folgenden Etappen vorgehen.