Über Sehnsucht, Träume und Geschichten - Philipp Blom - E-Book

Über Sehnsucht, Träume und Geschichten E-Book

Philipp Blom

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Beschreibung

Ohne Geschichten kann der Mensch nicht leben. Sobald wir auch nur ein wenig sprechen können, wollen wir erzählen. Jahre später, als Erwachsene, brauchen wir noch mehr Geschichten: Um das Chaos, das uns umgibt, zu strukturieren, um hinter unserer Existenz einen Sinn zu finden, um unsere Sehnsüchte und Träume zu artikulieren. Der Historiker, Leser und begnadete Erzähler Philipp Blom erforscht die manchmal hilfreiche, manchmal bedrohliche Kraft der Geschichten, die unser Leben bestimmen.

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Philipp Blom

Über Sehnsucht,Träume und Geschichten

Ein Jahr in LA

Zuerst ist es eine unendliche Straßenwüste mit Hausnummern, die in die Zehntausende gehen, ein staubiges Computerspiel namens Highway, in dem es darum geht, trotz rechts überholender Geländewagen die richtige Ausfahrt zu erwischen, die richtige der drei oder vier ineinander verschlungenen Ebenen aus Beton und Asphalt. Man braucht ein Auto in Los Angeles. Sonst wartet man in der Hitze manchmal stundenlang auf überfüllte Busse, sonst dauert jeder Weg einen halben Tag. Nur die Armen und einsame Exzentriker haben kein Auto hier. An den Bushaltestellen stehen stoische Pendler, viele mit Kopfhörern in ihren eigenen Soundtrack versunken. Die wenigsten von ihnen sind weiß.

Auf dem Wilshire Boulevard ziehen die Fassaden von Geschäften vorbei, ohne erkennbare Logik zusammengewürfelt: Haustierbedarf, eine Bank, ein Beerdigungsinstitut in dezenten Farben, Sportartikel, Bier und Spirituosen, ein chinesischer Arzt, ein mexikanisches Restaurant – »The best Tacos in Town« blinkt es in rotem Neon.

Die Straßen sind voll, wie jeden Tag. Stoßstange an Stoßstange. In den wohlhabenden Vororten wuchern individuelle Träume, Filmsets des bürgerlichen Glücks. Jedes Haus hier ist in seinem eigenen Stil gebaut: hispanisch, kolonial und säulenbewehrt, ultramodern, Märchenschloss mit Türmchen, modernistisch; jedes auf seinem eigenen Stück Land, umgeben von intensivem Grün, die meisten aus Spanplatten zusammengeschraubt und dann verputzt. Es wirkt auf meine europäischen Augen, als würden sich hier die Kulissenbauer der Traumfabrik ein Taschengeld verdienen; der architektonische Ausdruck der individuellen Freiheit. Die Grundstückspreise sind so hoch, dass es üblich ist, sich irgendein Haus zu kaufen, es abzureißen und auf dem Grund ein neues zu bauen. Auf den Baustellen verwandeln sich leichte Lattengerüste in Holzschuppen und dann in Gutshäuser in Miniatur. Freiheit kostet. Wer hier lebt, hat es geschafft, wenn auch nie ganz, wenn auch nie endgültig. In den Tälern außerhalb der Stadt bellen nachts die Kojoten.

In Beverly Hills, in Brentwood, in North Hollywood und nördlich in Palm Springs sitzt das eigentliche Geld. Es lebt verborgen hinter sechs Meter hohen Hecken und Warnschildern – armed response – hier wird scharf geschossen. Pickup-Trucks mit mexikanischen Gärtnern und die stillen, enormen Limousinen der Eigentümer passieren automatische Eisentore, die sich lautlos hinter ihnen schließen.

Los Angeles ist viele Städte: fünfzig mal fünfzig Kilometer streckt es sich am Ozean entlang, eine Unendlichkeit mit plötzlichen Kontrasten. Von einer Straße zur nächsten wird aus einer teuren Gegend eine Problemzone. In Venice sind die Hipster eingezogen und haben die alten Hippies fast völlig verdrängt. Sie sind mehr am Ball, kennen sich mit Geld aus, zahlen Hypotheken. Sie sind Grafik-Designer oder machen irgendwas mit Kommunikation, sie bauen Websites, produzieren Garagenbands oder verkaufen den ultimativen Espresso. Kaum ein junger Mann, der sich ohne die obligatorischen Accessoires auf die Straße wagt: Vollbart, Mütze oder schmalkrempiger Hut, Vintage-Brille, Kinderwagen.

An der Strandpromenade mit ihren Marihuana-Läden (nur für Kunden mit medizinischem Attest), den Jahrmarktsbuden und Hamburger-Restaurants drängeln sich Familien, durchtrainierte Surfer, versprengte Hipster, Touristen, Obdachlose. Es ist wie ein ständiges Volksfest: etwas schmierig, etwas abgerissen, sehr bunt. The Green Doctor bietet Blitz-Diagnosen für Besucher an, die einen legalen Joint kaufen wollen.

Es ist nicht weit von Venice nach Downtown, aber es ist eine andere Welt. Die Wolkenkratzer hier wirken etwas unbeholfen, ein aggressiv glitzerndes Häuflein, verloren in der Stadt, als wäre ein Stück Manhattan abgebrochen und (auf welchem Weg?) bis nach hier getrieben. Einige der Gebäude beherbergen noch immer riesige Art-déco-Kinopaläste aus Hollywoods goldener Zeit. Die meisten von ihnen sind stillgelegt und öffnen nur zu besonderen Gelegenheiten, einige haben längst die Mieter gewechselt, und so werden in den Palästen vergangener Zeiten heute Billigklamotten vertickt.

Buchstäblich im Schatten dieser riesigen Türme liegt eine andere Welt. Wer abends in Downtown eine falsche Abzweigung nimmt, findet sich in einem Paralleluniversum wieder. Überall stehen Menschengruppen, Männer in schmutzigen T-Shirts, die meisten von ihnen Schwarze oder Latinos. Manche von ihnen schieben Einkaufswagen, die ihre weltlichen Güter enthalten, manche haben irgendwelche wertlosen Dinge auf dem Gehsteig ausgelegt und hoffen, ein paar Dollar zu verdienen. Mehrere Menschen haben augenscheinlich psychische Probleme, reden laut in die Luft hinein, blicken wirr in die Gegend, überqueren langsam und wie ferngesteuert die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten. Ein Mann trägt einen dicken Wollpullover und eine schwarze Wollmütze, um die er Aluminiumfolie gewickelt hat, wohl um kosmische Strahlen abzuwehren oder Geheimdienste, die seine Gedanken lesen wollen.

Auf einem Pappkarton an einer Straßenecke setzen Männer Dollars darauf, unter welchem von drei Plastikbechern sich der Ball befindet, den ein Latino rasend schnell manipuliert. Seit dem Mittelalter sind Leute so abgezockt worden. Sie stehen apathisch da, haben keinen Spaß an diesem Spiel. Nur manchmal zuckt mitten in der Gewissheit, dass sie verlieren werden, ein Funken Hoffnung auf, und sie setzen noch mal fünf Dollar. Die Zeit wird hier abgespult. Wer hier gelandet ist, wird nie mehr auf die Füße kommen. Die Straßen sind ruhig – hier hat niemand ein Auto. Die Kinder, die hier wohnen, bekommen in der Schule zu essen.

Dieses trostlose Inferno gehört nicht zum Mythos einer Metropole, die weiterhin Menschen anzieht. Der wichtigste Grund dafür liegt in den Hügeln, am Sunset Boulevard in Hollywood. Hier erzählt sich die westliche Menschheit ihre wichtigsten Geschichten, hier schafft sie die Ikonen ihrer Generation, hier bündelt sie die Träume und Ängste von Millionen, erzählt von überwundenen Schwierigkeiten und überlebten Katastrophen, von Menschen, die das Schicksal herausfordern und dabei siegen.

Hunderttausende sind hier, weil sie es auch schaffen wollen, ins Film-Business, das hier nur »the industry« genannt wird. Jeder Bartender und jede Kellnerin ist scheinbar eigentlich ein Schauspieler, eine Drehbuchautorin, ein Fotograf, eine Schriftstellerin. Jeder will irgendwas, will irgendwo hin, ist auf dem Weg. Der Traum von der großen Chance mag für die meisten illusorisch sein – tot ist er deswegen noch lange nicht. Eine ungeheure Energie liegt in der Luft. »The Industry« winkt und lockt und schafft immer neue Hoffnungen. Hoffnung ist hier die wichtigste natürliche Ressource.

Ein Jahr lang habe ich in Los Angeles gelebt, umgeben von dieser Hoffnung und von ihren Spätfolgen, ihren tückischen Verwandlungen im Laufe der Jahre, wenn der Erfolg ausbleibt: zuerst der hektische Versuch, jung zu bleiben, mit allen Mitteln, dann unterdrückte Hysterie, der Rückzug in Resignation oder Bitterkeit oder selige Verleugnung aller Tatsachen. Es ist nicht leicht, auf Dauer mit der Last der welkenden Hoffnung zu leben. Es ist anstrengend, die Fiktion der Hoffnung gegen die Realität zu verteidigen, weil ohne sie alles umsonst gewesen wäre.