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Sofia erfüllt sich ihren langersehnten Traum: eine Reise nach Rom. Dort lernt sie den charmanten Bildhauer Adriano kennen, der ihr nicht nur den Kopf verdreht, sondern auch ihrem verstorbenen Freund Noah zum Verwechseln ähnlich sieht. Während ihres Urlaubs in der ewigen Stadt begegnet Sofia dem charmanten Bildhauer Adriano. Er zeigt ihre sein Rom und führt sie zu romantischen Plätzen und durch Ruinen längst vergangener Tage. Die beiden kommen sich näher, aber sein ständiges plötzliches Verschwinden und die Ähnlichkeit zu ihrem verstorbenen Freund Noah stellen Sofia vor ein Rätsel. Als auch noch unerwartet Adrianos Vater auf der Bildfläche erscheint, ist das Chaos perfekt. Wird Sofia nun endlich herausfinden, was Adriano zu verbergen versucht?
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… über uns die Dächer von Rom
Jani Friese
Für Sonja
»Noah«, flüsterte ich in die Dunkelheit hinein, während mir Tränen über die Wangen strömten. Etwa zwei Jahre waren nun vergangen, seitdem ich zum letzten Mal in sein aschfahles, lebloses Gesicht geblickt und mit den Fingerspitzen seine kalte Haut berührt hatte. Seither begegneten wir uns in vielen Nächten in meinen Träumen. Die Träume endeten immer gleich. Ich hielt Noah an den Händen, während er am Abhang eines Felsens hing. Sosehr ich mich auch anstrengte, meine Kraft reichte nicht aus, um ihn hochzuziehen. Auf seinem Gesicht zeichnete sich keine Angst ab, ganz im Gegenteil, er lächelte und flüsterte mir zu, ich solle ihn loslassen, es sei okay, doch ich konnte nicht. Ich wusste, käme ich seinem Wunsch nach, würde ich ihn nie wiedersehen. Also hielt ich ihn krampfhaft fest, bis ich tränenüberströmt allein in meinem Bett erwachte.
Noah und ich hatten uns vor vielen Jahren auf Sardinien kennengelernt. Ich war neunzehn gewesen. Wir hatten beide als Animateure in einem Hotel nahe dem Meer gearbeitet. Nur zu gut erinnerte ich mich an den Augenblick, als meine Freundin Luisa, deren Idee es gewesen war, vor dem Ernst des Lebens noch etwas zu erleben, die Tür zu unserem Apartment geöffnet hatte. Ein junger Mann mit braunen Augen und dunklen Locken, die wild von seinem Kopf abstanden, lächelte uns an. Er war groß und trug ein weißes T-Shirt mit dem Logo des Hotels. Dazu eine kurze Jeans und Flipflops. Ich war sofort hin und weg von seiner Ausstrahlung, hätte aber zu dem Zeitpunkt nie gedacht, dass er meine erste wirkliche Liebe werden würde.
Das Team der Animateure in unserem Hotel war eine lustige Truppe, bunt durchmischt, aus verschiedenen Ländern. Ich hatte mich schnell an meine neue Umgebung und die Leute gewöhnt. Mir entging nicht, dass Noah mir immer wieder Blicke zuwarf und meine Nähe suchte. Luisa ebenfalls nicht, sodass sie mich deswegen ständig aufzog. Noah war heiß begehrt bei den Mädchen und bei den weiblichen Gästen. Seine charmante und liebenswerte Art hatte nicht nur mich in ihren Bann gezogen. Es wurde getuschelt, dass er hier noch nie eine Freundin gehabt hätte, nicht einmal einen ernst zu nehmenden Flirt.
Eines Abends fragte er mich dann nach der Show, ob ich ihn an den Strand begleiten würde. Wenn ich heute daran dachte, schloss ich die Augen und versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, wie warm sich der Sand unter meinen Füßen angefühlt hatte und wie erfüllt die Luft vom Duft des Meeres gewesen war. Wie die Sterne über uns gefunkelt hatten, während die Wasseroberfläche im Schein des Mondes fast silbern schimmerte. Ich erinnerte mich an unsere Gespräche und daran, wie er mich dabei angesehen und mir Komplimente gemacht hatte. Nicht zuletzt an den ersten Kuss, der alles verändert hatte. Schon damals wusste ich, dass dies etwas Ernstes zwischen uns werden würde. Noah und ich verbrachten eine sehr romantische und harmonische Zeit auf Sardinien. Manchmal gab es Tage, da wollte er alleine sein, um nachzudenken. Ich ließ ihn gehen, obwohl ich mich fragte, warum er seine Gedanken nicht mit mir teilte. Sein Gemütszustand wechselte ständig zwischen extrem gut drauf und stundenlang grübelnd.
Das Jahr verging schnell. Dann musste ich auch schon zurück nach Münster und Noah nach Heidelberg, um dort sein Medizinstudium zu beginnen. Wir wollten alles dafür tun, zusammenzubleiben, besuchten uns gegenseitig und verbrachten einen Teil der Semesterferien miteinander.
Eines Tages jedoch rief mich seine Mutter Marita völlig aufgelöst an, um mir zu sagen, dass Noah beim Klettern in Österreich abgestürzt sei und schwer verletzt im Krankenhaus im Koma liege. Am Abend zuvor hatte er mir noch erzählt, dass er mit den Jungs am nächsten Tag auf den Gipfel wollte. Noah liebte das Klettern und fuhr daher jedes Jahr in den Semesterferien mit seinen Kumpels für eine Woche in die Berge.
Ich konnte kaum klar denken, dennoch schaffte ich es irgendwie, alles für meine Reise nach Österreich zu organisieren und meine Eltern, Luisa und Olli anzurufen, um ihnen zu erzählen, was passiert war. Sie hatten Noah von Anfang an gemocht. Besonders mit meinem Bruder Olli hatte er sich gut verstanden, obwohl die beiden ziemlich gegensätzlich waren. Schockiert darüber, was mit Noah geschehen war, versuchte er mich zu trösten und bot mir sofort an, mich zum Flughafen zu begleiten. Während der Fahrt brachte ich kaum ein Wort über meine Lippen, immerzu musste ich an Noah und unser gemeinsames Jahr auf Sardinien denken. Da uns in Deutschland viele Kilometer trennten, hatten wir seitdem nur noch wenig Zeit miteinander verbringen können, stattdessen telefonierten wir oft oder skypten stundenlang. Es war schwierig, aber ich vertraute ihm und er mir.
Nach unserem Studium wollten wir durch die Welt reisen und dann zusammenziehen. Wir hatten so viele Pläne. Ich fragte mich voller Angst, was passieren würde, wenn er nicht mehr aufwachen und mir nie wieder in die Augen sehen würde.
»Sofia!« Marita fiel mir weinend um den Hals. Sofort schossen auch mir Tränen in die Augen. Tröstend legte ich meine Arme um ihre Taille und drückte sie fest an mich. Sie war frühmorgens in Salzburg gelandet. Wir hatten uns vor dem Krankenhaus verabredet. Die Sonne stand bereits tief, als ich den Weg zum Haupteingang einschlug und sie dort traf. Marita war völlig aufgelöst. Ich sah ihr an, wie niedergeschlagen und kraftlos sie war.
»Sofia, er wird wahrscheinlich … nicht … wieder wach werden«, stotterte sie und hatte sichtlich Mühe, weiterzusprechen. »Die Ärzte meinen, seine Verletzungen am Kopf sind zu schwer. Er hat eine große Blutung, die man nicht stillen kann. Was sollen wir denn nun machen? Ich brauche ihn doch.«
Sie weinte bitterlich. Ich versuchte, meine Gefühle beiseitezuschieben, um nicht zusammenzubrechen. Ich wollte für uns beide stark sein. Wenn Noah nur einen Vater gehabt hätte, der jetzt für ihn und seine Mutter da sein könnte … Aber der war nicht Teil von Noahs Leben. Marita hatte ihrem Sohn, als er alt genug war, erklärt, dass er das Ergebnis einer einmaligen Nacht mit einem Unbekannten war, der ihr damit das größte Geschenk gemacht hätte, das es gab, nämlich ihn, Noah. Heiraten war für Marita nie infrage gekommen, eine feste Beziehung wollte sie ebenfalls nicht. In der jetzigen Situation hätte sie allerdings dringend jemanden gebraucht. Ich wusste nicht, ob ich wirklich stark genug sein würde, ihr Halt zu geben, wo ich ihn doch ebenso benötigte. Es war schwer, für uns beide.
Sie erzählte mir, dass Noahs Freunde am Vormittag kurz vor dem Abflug vorbeigekommen waren. Sie hatten berichtet, dass sich auf einem schmalen Weg, der hinunter ins Tal führte, mit einem Mal unter seinen Füßen Steine gelöst hätten und er dadurch einen Abhang heruntergerutscht sei. Am Ende war er mit dem Kopf an einen Felsen geschlagen. Er hatte noch kurz mit ihnen gesprochen, war dann jedoch bewusstlos geworden. Bis die Rettungskräfte kamen, hatte es wohl einige Zeit gedauert, außerdem gab es Schwierigkeiten, ihn in dem unwegsamen Gelände zu bergen.
»Die Jungs stehen noch immer unter Schock und machen sich Vorwürfe, aber sie können ja nichts dafür«, schluchzte Marita und wischte sich die Tränen fort.
»Keiner kann etwas dafür«, versuchte ich sie zu trösten und sah sie traurig an. »Ich würde jetzt gerne zu ihm gehen. Bringst du mich hin?«
Sie nickte und ging durch die große Glastür, die sich automatisch vor ihr geöffnet hatte. In der Eingangshalle empfing mich bereits dieser typische Krankenhausgeruch. Mir wurde ein wenig übel, aber ich wehrte mich gegen das Gefühl, indem ich durch den Mund weiteratmete. Vor der Tür mit der Aufschrift Neurologische Intensivstation blieben wir stehen. Marita betätigte den Knopf der Gegensprechanlage.
»Ja, bitte?«, ertönte eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher.
»Ich bin die Mutter von Noah Decker. Können wir zu ihm?«, fragte Marita und schluckte schwer. Einen Moment später öffnete sich die große Tür der Intensivstation, und ein Mann mit weißem Kittel kam heraus. Er wirkte ernst, als er sich als Stationsarzt vorstellte. Er bat uns, ihm zu folgen. Der Raum, in den er uns führte, war freundlich und hell eingerichtet. Auf einem kleinen Tisch standen zwei Flaschen Wasser und Gläser. An den Wänden hingen Bilder mit großen gelben und orangefarbenen Blumen. Er zeigte auf die Sitzgarnitur in der Ecke und forderte uns auf, Platz zu nehmen.
Marita und ich krampften beide die Hände zusammen, aus Angst vor dem, was uns der Arzt gleich sagen würde.
»Wir haben die restlichen Untersuchungen Ihres Sohnes abgeschlossen, Frau Decker. Es tut mir wahnsinnig leid, aber wir sind zu dem Ergebnis gekommen …«
Er stockte kurz und sah uns mitleidig an. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, und während er weiterredete, blieb die Welt für einen Moment stehen. Ich starrte den Arzt mit offenem Mund an und wollte nicht wahrhaben, was er uns da gerade begreiflich zu machen versuchte.
»… dass Ihr Sohn hirntot ist. Bei dem Sturz wurden mehrere Blutgefäße in seinem Gehirn verletzt, sodass es zu einer massiven Blutung kam. Aufgrund der langen Transportdauer und des Ausmaßes der Verletzung war es uns nicht möglich, zu operieren. Es tut mir sehr leid.«
»Aber … wie kann das sein, man muss doch irgendetwas tun können?«, stotterte Marita und sah den Arzt mit großen Augen an.
»Nein, leider nicht. Die Blutung drückt aufs Gehirn. Dadurch wurden lebensnotwendige Areale unwiderruflich geschädigt. Ihr Sohn wird im Augenblick nur durch die Maschinen am Leben gehalten.«
Ich saß da wie erstarrt und beobachtete Marita, die noch immer nicht verstehen wollte, dass Noah nie wieder wach werden würde. Mir ging es genauso. Es kam mir alles vor wie in einem schlechten Film. Ich konnte nicht klar denken. Meine Ohren hatten gehört, was der Arzt gesagt hatte, aber mein Kopf ließ nicht zu, dass ich es glaubte.
»Frau Decker, es gibt noch etwas, das ich mit Ihnen besprechen muss. Das mag auf Sie jetzt sicher gefühlskalt wirken, aber ich bin Arzt und habe diesen Beruf gewählt, um den Menschen zu helfen. Ihrem Sohn kann ich nicht mehr helfen, was mir sehr leidtut, aber es gibt viele andere kranke Menschen, die noch eine Überlebenschance haben. In der Brieftasche von Noah haben wir einen Organspendeausweis gefunden, zusammen mit einem Dokument, das ihn als Medizinstudenten ausweist. Ich nehme an, er hat sich nach bestem Wissen und Gewissen für eine Organspende entschieden.«
Marita sah ihn an, während mir klar wurde, worauf der Arzt hinauswollte.
»Das … das weiß ich gar nicht. Er hat nie etwas darüber gesagt.« Sie schaute hilfesuchend zu mir.
»Ich wusste es auch nicht, Marita«, erklärte ich mit leiser Stimme.
»Und … und was bedeutet das jetzt?«, fragte sie verängstigt, während sie ihre Hände so sehr zusammenkrampfte, dass sich die Haut um ihre Fingerknöchel weiß verfärbte. Ich legte meine Hand auf die ihre, um beruhigend auf sie einzuwirken, obwohl ich innerlich selbst zu zerbrechen drohte. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, als der Arzt uns erklärte, dass er Noahs Wunsch, seine Organe zu spenden, gerne nachkommen würde. Aber dafür bräuchte er ihr Einverständnis. Marita weinte bitterlich. Ich nahm sie in den Arm und spürte meine eigenen Tränen, die mir wie kleine Rinnsale über die Wangen liefen.
»Ich lasse Sie jetzt für einen Moment alleine und komme gleich wieder. Bitte bedenken Sie in Ihrer Trauer, dass es die Entscheidung Ihres Sohnes war, diesen Schritt zu gehen.«
Kurz strich er Marita über die Schulter und verließ dann den Raum.
Es brauchte eine ganze Weile, bis wir uns beruhigt hatten und reden konnten. Bislang war ich noch nie mit dem Thema Organspende in Kontakt gekommen, Marita ebenso wenig. Wenn Noah diesen Ausweis jedoch bei sich getragen hatte, dann hatte er sich auf jeden Fall sehr bewusst dazu entschlossen. So eine Entscheidung hätte er nie auf die leichte Schulter genommen. Trotzdem war die Vorstellung einer Organentnahme grausam, mal ganz abgesehen von den widersprüchlichen Berichten über Organspende allgemein.
»Ich weiß nicht …« Marita wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen fort. »Ich will das nicht bestimmen … Er ist doch mein Sohn, Sofia. Ich habe ihm das Leben geschenkt, da kann ich es ihm doch jetzt nicht nehmen.« Die Verzweiflung in ihrer Stimme brach mir fast das Herz.
Die Tür öffnete sich wieder. Der Arzt kam zurück, ebenso die Realität dessen, was er uns eben gesagt hatte. Er hielt Unterlagen in der Hand und setzte sich neben uns. Sein Auftreten war freundlich und verständnisvoll. Seine Stimme klang weich, während er uns die CT-Bilder erklärte, auf denen selbst ein Laie deutlich erkennen konnte, wie ausgeprägt die Blutung in Noahs Gehirn war. Noch einmal erzählte er uns in Ruhe, welche Folgen diese Blutung hatte: Noah würde nie wieder selbstständig atmen, sprechen, denken oder sich bewegen können. Die lebensnotwendigen Organe würden bald versagen, und auch ohne Organentnahme würde er sterben.
Der Doktor erklärte uns weiter, dass zwei voneinander unabhängige Fachärzte Noah noch einmal untersuchen müssten, wie es gesetzlich festgelegt sei. Hierbei würden erneut die Hirnströme gemessen, das Schmerzempfinden und die Reflexe getestet, ebenso, ob er selbstständig atmete. Erst nach der Auswertung all dieser Ergebnisse und weiterer Blutwerte könne man entscheiden, ob er als Organspender überhaupt infrage käme.
Er nahm sich sehr viel Zeit, uns das alles zu erläutern. Es kam mir vor, als ginge es gar nicht um Noah, sondern um irgendeinen anderen Menschen. Mein Kopf verdrängte die Wahrheit, um dem Schmerz nicht noch mehr Raum zu geben. Marita hatte sich etwas gefangen und bat um ein wenig Bedenkzeit.
»Aber natürlich. Ich kann mir vorstellen, wie schwer das alles für Sie sein muss, Frau Decker. In einem Moment wie diesem, da Sie voller Trauer um Ihren Sohn sind, ist es schwierig, das Unbegreifliche zu begreifen und auch noch Entscheidungen zu fällen. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, was Ihr Sohn gewollt hat. Er hat durch seinen Entschluss zum Medizinstudium bewiesen, dass er den Menschen helfen wollte. Deswegen hat er auch für einen solchen Fall wie diesen seine Wahl getroffen. Sie müssen diese Last nicht selbst tragen. Gehen Sie jetzt zu ihm und versuchen Sie das Ganze erst einmal zu verdauen. Ich komme später wieder zu Ihnen.«
Wie benommen standen wir auf und folgten ihm auf die Intensivstation. Als sich die große Tür automatisch mit einem lauten Geräusch öffnete, wurde mir mit einem Mal schmerzlich bewusst, dass ich Noah gleich zum letzten Mal sehen würde.
Mir stockte der Atem, als ich ihn dort liegen sah, angeschlossen an unzählige Schläuche und Kabel, während eine Maschine Luft in seine Lungen pustete, sodass sich sein Brustkorb regelmäßig hob und senkte. Er war blass und hatte die Augen geschlossen. Der Beatmungsschlauch in seinem Mund war mit einem Pflaster befestigt, ebenso der Schlauch, der in seine Nase führte. Marita ging langsam zu ihm und nahm seine Hand. Sie sprach beruhigend auf ihn ein, so als wäre er ein kleines Kind, das sich fürchtete. Es zerriss mir fast das Herz, während ich, wie gelähmt von all den Eindrücken, auf den Monitor starrte. So verstrich der Abend. Zwischenzeitlich wurden wir immer wieder für Untersuchungen nach draußen geschickt.
Wir entschieden uns dafür, vorerst nicht von seiner Seite zu weichen. Irgendwann spät in der Nacht, ich war wohl ein wenig eingenickt, erwachte ich durch Maritas Schluchzen. Ich beobachtete sie, wie sie weinend immer wieder Noahs Wange streichelte und ihm erzählte, dass er das Beste in ihrem Leben gewesen sei. Wie sehr sie ihn liebe und dass er immer in ihrem Herzen sein würde.
Es klang nach Abschied.
Verzweifelt nahm ich Noahs kalte Hand in meine und sah sie an.
»Marita, was redest du da? Du willst ihn doch nicht etwa aufgeben, oder?« Mein Herz klopfte wie wild, ich hatte Angst vor ihrer Antwort. Unsere Blicke trafen sich, und ich erkannte, wie entschlossen und gleichzeitig gebrochen sie war.
»Sofia, ich gebe ihn nicht auf, ich lasse ihm seinen Willen.« Sie schluchzte erneut auf und erhob sich. Ich folgte ihr zu dem Tisch in der hinteren Ecke des Zimmers.
»Ich bin seine Mutter – wie könnte ich da diesen letzten Wunsch nicht respektieren?«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. »Er wird nie wieder wach werden, du hast doch die Ärzte gehört. Die Verletzung ist zu schwer, er wird so oder so sterben. Noah hat Medizin studiert, wollte den Menschen helfen – ich muss einfach seinem Wunsch nachkommen, verstehst du?«
Mein Herz krampfte sich schmerzlich zusammen. Nein, ich verstand ihre Entscheidung nicht. Wie konnte sie nur? Man würde Noahs Organe herausnehmen, seine wundervollen braunen Augen, die mich immer so liebevoll angeblickt hatten. Alles in mir bäumte sich dagegen auf. Ich versuchte Marita mit all meiner Überzeugungskraft dazu zu bewegen, es nicht zu tun, ihm noch eine Chance zu geben. Was, wenn sie sich irrten und er doch nicht hirntot war? Ich bebte am ganzen Körper und weinte bitterlich. Als Marita ihre Arme tröstend um meine Schultern legte und mich fest an sich drückte, begriff ich, dass sie ihre Wahl getroffen hatte.
»Was ist Liebe? Liebe ist Leidenschaft, Hingabe, Verlangen. Das Gefühl, ohne den anderen nicht sein zu können. Jede Minute des Lebens mit ihm verbringen zu wollen und sich der Hoffnung hinzugeben, dass er dich ebenso sehr will wie du ihn. Die Liebe raubt uns den Verstand, zumindest für eine Weile. Sie hebt uns empor, lässt uns fliegen, und auch wenn wir Gefahr laufen zu fallen, zählen doch nur die Augenblicke des vollkommenen Glücks.«
»Wow, Theresa, das hast du wunderschön ausgedrückt, richtig poetisch. Ich bin begeistert, ihr nicht auch?«, fragte ich in die Runde. Bevor sich jedoch einer von meinen Schülern melden konnte, läutete die Glocke, die bekundete, dass die Unterrichtsstunde beendet war.
»Schöne Ferien allesamt, wir sehen uns in sechs Wochen«, rief ich, während alle bereits ihre Sachen zusammenpackten. Einige Schülerinnen und Schüler wünschten mir ebenfalls einen schönen Urlaub. Ehe ich mich's versah, war der Klassenraum wie leergefegt. Ich raffte ein paar Unterlagen zusammen und legte sie in meinen geflochtenen Korb, den ich vor wenigen Wochen auf einem Markt gekauft hatte. Im Anschluss putzte ich lächelnd die Tafel. Ich liebte meinen Job, auch wenn meine Schüler mich nur allzu oft zur Weißglut trieben. Manchmal stellte ich mir die Frage, ob ich mit sechzehn ebenso gewesen war. Das lag schon eine Weile zurück, genau erinnerte ich mich nicht daran, aber ich wusste noch, dass einige Mitschüler, im Gegensatz zu mir, den Lehrern immer wieder ein paar Streiche gespielt hatten.
Jetzt stand ich mit fünfundzwanzig auf der anderen Seite des Lehrerpultes und unterrichtete Deutsch, Englisch sowie Kunst. Sprachen begeisterten mich, ganz besonders Italienisch, seitdem ich vor meinem Studium für ein Jahr auf Sardinien gearbeitet hatte. Im Gegensatz zu meinem zwei Jahre älteren Bruder Olli war ich eher zurückhaltend. Früher hatte er alles ausprobiert und immer wieder die Regeln unserer Eltern missachtet. Er brachte sie an den Rand der Verzweiflung. Ich hingegen hatte zu ihm aufgesehen und ihn regelrecht bewundert. Mit seinen verschlissenen Jeans, der alten braunen Lederjacke und den langen Haaren hatte er vielen Mädchen das Herz gebrochen. Eines Tages war er dabei erwischt worden, wie er eine Schachtel Zigaretten mitgehen lassen wollte. Niemand hätte zu dem Zeitpunkt gedacht, dass er einmal Anwalt werden würde. Dieses Ereignis war wohl der Grund dafür gewesen, dass er sich heimlich, ohne meine Eltern zu informieren, um einen Studienplatz an der Uni beworben hatte. Ich würde vermutlich nie den Moment vergessen, als er ihnen die Zusage der Uni Münster zum Jurastudium präsentiert hatte. Der Blick der beiden war hollywoodreif gewesen.
Ich fand es immer bewundernswert, dass er genau wusste, was er wollte. Wir verstanden uns sehr gut, und zu meiner Freude wohnte er während des Studiums weiterhin zu Hause. Ich hatte mich schon lange dafür entschieden, Lehrerin zu werden, wie meine Eltern. Da ich jedoch zwei Semester Wartezeit zu überbrücken hatte, überredete mich meine Freundin Luisa, in der Zwischenzeit als Animateurin im Süden zu arbeiten. Im Gegensatz zu ihr, die offen und lustig war und mit jedem klarkam, gehörte ich nicht unbedingt zu der Sorte Mensch, die für so einen Job geboren war. Leute zu animieren und auf sie zuzugehen, lag mir nicht sonderlich. Meine Eltern wussten das. Sie fielen aus allen Wolken, als ich ihnen von der Idee erzählte, und versuchten daher, mir mein Vorhaben auszureden. Olli hingegen bestärkte mich und trug letztendlich dazu bei, dass ich ein paar Monate später mit Luisa zusammen im Flugzeug auf dem Weg nach Sardinien saß. Ohne ihn wäre alles ganz anders gekommen.
Die Zeit in Sardinien prägte mich nachhaltig. Die italienische Sprache faszinierte mich von Anfang an, sodass ich auch nach meiner Rückkehr immer wieder Sprachkurse belegte. Nach einer Weile war ich so gut, dass ich neben dem Studium selbst an der Volkshochschule Italienisch unterrichtete. Ich liebte die Sprache und nahm mir vor, eines Tages noch mal nach Italien zu reisen. Leider hatte ich es in all den Jahren aufgrund des Lernpensums und der Unikurse nicht geschafft. Irgendetwas war immer dazwischengekommen.
Jetzt aber war es endlich so weit, diese Sommerferien würde ich nach Rom reisen, in die Stadt meiner Träume. Während des Studiums hatte ich viel über Kunstgeschichte, berühmte italienische Maler und Bildhauer gelernt. Heute gab es solche außergewöhnlichen Künstler wie Bernini, Rafael, Michelangelo und Leonardo da Vinci leider nicht mehr. Rom war voll von ihren Kunstwerken, und ich konnte es kaum erwarten, sie mit eigenen Augen zu sehen.
Ich hatte mir für fünf Wochen ein Zimmer in einer kleinen Pension in Trastevere, einem Viertel nahe des Flusses Tiber, gemietet. Es lag etwas abseits vom Zentrum, daher war es bezahlbar. Dies würde das erste Mal sein, dass ich alleine in den Urlaub fuhr. Meine Eltern sorgten sich wie immer, aber das kannte ich ja bereits. Olli freute sich für mich und meinte, ich solle mir einen heißen Italiener schnappen und das Leben genießen.
»Vielleicht komme ich mal auf eine Spritztour vorbei, Sofia, um nach dem Rechten zu sehen«, prophezeite er mir und grinste. Ich glaubte nicht, dass er es tun würde, aber bei ihm wusste man nie.
Meine Freundin Luisa hatte im letzten Jahr geheiratet und war nun schwanger. Sie und André, ihr Mann, hatten gerade ihr neues Haus bezogen. Ich beneidete sie auf eine gewisse Art, und wenn ich die beiden heimlich beobachtete, kam Traurigkeit in mir hoch. Vor einiger Zeit hatte auch ich an Heirat, Kinder und ein Haus gedacht, doch dann …
Trotzdem gönnte ich ihnen ihr Glück von Herzen. Ein Jahr nach Sardinien waren sie sich auf einer Feier begegnet – wie doch die Zeit verging. Luisa hatte eine Ausbildung zur Arzthelferin gemacht, während ich studierte. Wir trafen uns weiterhin regelmäßig, und als ich ihr von meinem Vorhaben erzählte, nach Rom zu reisen, lächelte sie schelmisch.
»Was denn, traust du mir das etwa nicht zu?«
»Doch, natürlich, ich freue mich für dich, Sofia. Da wolltest du doch immer schon hin. Das wird aufregend – und so viele gutaussehende Italiener …« Sie klimperte mit den Wimpern. »Ach, wie gerne würde ich dich begleiten. Was hätten wir Spaß. Denen würden wir so richtig den Kopf verdrehen, oder?«
Ich lachte und guckte demonstrativ auf ihren Bauch. Luisa legte ihre Hand darauf und grinste.
»Nun schau nicht so. Natürlich nur, wenn ich nicht vergeben wäre und nicht dieses kleine Glück in mir tragen würde. Man kann nicht alles haben, aber träumen ist doch nicht verboten.«
Sie zwinkerte mir zu. »Bitte versprich mir, dass du dich amüsierst. Diese Römer sollen ja zum Niederknien schön sein, habe ich mir sagen lassen. Also nichts wie hin! Ein bisschen beneide ich dich ja. Wenn ich mir das so vorstelle, wir beide auf Männerfang … Ähm, ja, lang ist das her. Erzähl das aber bloß nicht André, der lässt sich sonst scheiden.«
Sie lachte laut auf.
»Keine Sorge, Luisa, ich schweige wie ein Grab.«
»Ich möchte tägliche Berichterstattung, hörst du? Und denk immer daran: Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.« Sie verzog verschwörerisch ihr Gesicht. »Nein, im Ernst, Sofia, du bist viel zu lange Single«, fügte sie dann in ernsterem Ton hinzu. »Es wird Zeit, dass du dich wieder für die Männerwelt öffnest. Du kannst nicht für immer allein bleiben. Gib den Jungs da draußen eine Chance.«
Ich senkte den Blick. »Mache ich doch.«
Luisa stemmte die Hände in ihre rundlichen Hüften. »Lügst du etwa deine beste Freundin an? Du hast ein imaginäres Schild um den Hals, auf dem mit großen Leuchtbuchstaben steht: ›Bleibt mir vom Leib, ich beiße.‹«
Verdammt, sie kannte mich so gut, ihr konnte ich nichts vormachen. »Ja, du hast ja recht irgendwie, aber …«
»Nichts aber! Also, versprich mir, offen zu sein und dich zu amüsieren, okay?« Ihr Blick war stechend und erlaubte keine Widerrede.
Ich nickte resigniert. »Ich verspreche es.«
Zwei Tage später landete ich auf dem Flughafen Fiumicino in Rom. Ich war endlich hier. Es herrschte reges Treiben, so wie auf allen Flughäfen. Mein Herz klopfte schneller, als meine Ohren die italienische Sprache vernahmen und ich fast alles verstand, was gesprochen wurde.
Anfangs hatte ich überlegt, mir eines der Touristentickets zu kaufen. Es gab verschiedene Möglichkeiten, um relativ preiswert die Sehenswürdigkeiten zu erkunden und sich durch die Stadt zu bewegen. Der Roma Pass gehörte wohl zu den beliebtesten, galt aber leider nur für zweiundsiebzig Stunden und kam somit für mich nicht infrage. Außerdem wollte ich keinesfalls von einem Höhepunkt zum nächsten hetzen, sondern mir Zeit lassen, alles ganz intensiv in mich aufzunehmen. Ich kaufte daher eine Monatsfahrkarte für alle öffentlichen Verkehrsmittel, das erschien mir deutlich sinnvoller.
Mit meinem großen Koffer, den ich hinter mir herzog, lief ich durch die Gänge des Flughafens, bis ich die Wegweiser zu den Zügen entdeckte, die ins Zentrum von Rom fuhren. Ich bemerkte jetzt schon die Wärme, die draußen herrschte. Es war erst elf Uhr vormittags, aber die Sonne brannte bereits vom Himmel. Die meisten Römer verließen, wenn möglich, im Hochsommer die Stadt. Sie flohen vor der Hitze und fuhren zur Küste. Nur die Touristen, so wie ich, wagten es, Rom zu dieser Jahreszeit zu besuchen.
Ich hatte mir vorgenommen, morgens zeitig aufzustehen und spätestens mittags wieder zur Pension zurückzukehren. Zum Glück hatte meine Unterkunft eine Dachterrasse mit Pool, den man bei den Höchsttemperaturen zur Abkühlung nutzen konnte. Abgesehen davon war der Ausblick auf die Stadt und den Tiber, laut Aussage der Bewertungen der Gäste, atemberaubend. Die fünf Wochen kosteten mich ein kleines Vermögen, aber ich gönnte mir den Luxus. Dafür hatte ich schließlich neben dem Studium in der Volkshochschule gearbeitet und gespart. Jetzt wollte ich einfach nur genießen.
Zu meiner Freude erwischte ich einen Fensterplatz im Zug und hatte somit die Möglichkeit, mir bereits während der Fahrt einen Eindruck von den Vororten Roms zu machen. Der Anblick erwies sich als weniger spektakulär als erwartet. Teilweise fuhren wir an verfallenen Häusern, verdreckten Straßen und Fabriken vorbei, dann an Hochhäusern, deren Fenster oder Balkone teils durch Markisen vor der Sonne geschützt waren. Je weiter wir uns dem Zentrum näherten, desto interessanter wurde es. Ein Mix aus alter und neuer Architektur rauschte an uns vorbei.
Nachdem der Zug im Bahnhof eingerollt und ich ausgestiegen war, sah ich mich mit großen Augen um. Hier ging es zu wie in einem Bienenstock. Menschen verschiedenster Nationen standen am Bahnsteig und warteten darauf, einsteigen zu können. Ich zog den Griff aus meinem Koffer und kämpfte mich durch die Menge. Der Bahnhof beherbergte unzählige Geschäfte und Snackbars. Fast schon eine kleine Einkaufsmeile für sich. Es gab Kleidung, Schuhe, Lederwaren, Brillen und, nicht zu vergessen, Souvenirläden. Ich bekam vor lauter Staunen kaum den Mund zu, so etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen.
Mit einem Zettel in der Hand, auf dem ich die Adresse meiner Pension und die nächstgelegene Haltestelle genau notiert hatte, machte ich mich auf die Suche nach dem Bus, der mich nach Trastevere bringen sollte. Draußen erfasste mich augenblicklich die Hitze, und obwohl ich ein T-Shirt trug, brach mir der Schweiß aus. Offenbar hatte ich die Kraft der Sonne unterschätzt. Ich sah mich um und entdeckte schließlich die Haltestellen der Busse. Zum Glück fand ich den richtigen sofort und erhaschte noch einen Platz, bevor der Fahrer die Türen schloss. Ich hielt meine Fahrkarte vor ein kleines Kästchen, um sie zu entwerten. Der Bus setzte sich in Bewegung, während ich mit großen Augen aus dem Fenster schaute.
Noch immer konnte ich es nicht fassen: Ich fuhr tatsächlich mitten durch Rom. Bei dem Anblick einiger berühmter Sehenswürdigkeiten klopfte mein Herz schneller. Meine Aufregung darüber, diese Stadt zu erkunden, wuchs stetig an. Ich konnte es kaum erwarten, durch die alten Gassen zu schlendern und mir all die Gebäude anzusehen, die bereits seit Jahrhunderten hier standen. Rom war wohl einer der geschichtsträchtigsten Orte dieser Welt. Wer hatte nicht in der Schule gelernt, dass Rom eine Weltmacht gewesen war und wir den Römern einiges verdankten – mal ganz abgesehen von typisch italienischen Köstlichkeiten wie Pizza, Nudeln und Cappuccino?
Der Bus hatte zu meiner Erleichterung eine Klimaanlage, sodass ich die Fahrt genießen konnte, ohne dass alles an mir klebte. Etwa zwanzig Minuten später erreichten wir Trastevere, was so viel wie ›Jenseits des Tiber‹ bedeutete, also das Stadtviertel auf der anderen Seite des Tiber. Ursprünglich hatten hier die Familien niedrigeren Standes wie Fischer, Bootsleute und Handwerker gelebt. Heute jedoch gehörte Trastevere zu einem der beliebtesten Viertel. Besonders am Abend tummelten sich die Touristen in den vielen gemütlichen Restaurants.
Die Haltestelle befand sich an der Ponte Sisto, einer Brücke, die über den Tiber führte. Von hier aus waren es laut meinen Notizen nur wenige Schritte bis zu meiner Pension. Ich entschied mich jedoch, einen kurzen Augenblick im Schatten der riesigen Platanen zu verweilen, deren Äste teilweise bis in den Tiber reichten. Eine Mauer trennte die Straße vom abfallenden Ufer des Flusses, der sich durch das alte Rom schlängelte. Ich atmete tief ein und nahm den Duft der Stadt in mich auf. Von hier aus hatte ich einen wunderbaren Blick auf die kleine Insel Isola Tiberina, die direkt im Flussbett lag und über zwei Brücken erreichbar war. Darauf befand sich eines der ältesten noch in Betrieb befindlichen Krankenhäuser Roms. Ebenso eine Kirche und ein paar kleine Lokale.
Früher hatte die Insel mit ihren Brücken als strategisch wichtiger Punkt gedient, da sie die Überquerung des Flusses erleichterte. Ich hatte außerdem gelesen, dass sie einer alten Sage zufolge Heilkräfte besaß und deshalb früher eine bekannte Pilgerstätte gewesen war. Kranke Sklaven wurden von ihren Herren dorthin gebracht und, falls sie gesundeten, freigelassen.
So viel Geschichte steckte in dieser Stadt, dass ich mir einen umfangreichen Reiseführer gekauft hatte, um alles nachzulesen.
Mit neugierigen Blicken lief ich eine enge Kopfsteinpflastergasse entlang und bewunderte die windschiefen Häuser, deren rostrote und gelbliche Fassaden in der Sonne leuchteten. Teilweise waren hoch oben zwischen den Hauswänden Wäscheleinen gespannt, auf denen Kleidung hing, die sanft im Wind hin und her wehte. Aus einem der Fenster drang der laute Streit eines Pärchens. Ich blieb kurz stehen, lauschte ihren Worten und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Soviel ich verstand, ging es darum, dass der Mann offenbar etwas zu sehr mit der Freundin seiner Frau geflirtet hatte. Plötzlich flogen Kleidungsstücke aus dem besagten Fenster und landeten direkt vor meinen Füßen. Ich sprang zur Seite, um dem fliegenden Schuh auszuweichen, der mich sonst sicher am Kopf getroffen hätte. Temperamentvoll, das traf eindeutig auf die Italiener zu. Schnell lief ich weiter die Straße hinauf, hier wurde mir zu scharf geschossen. Ehe ich mich versah, hatte ich mein Ziel erreicht.
Direkt neben dem Haus, in dem sich die Pension befand, standen ein paar Tische mit blau karierten Tischdecken und Teelichthaltern aus buntem Glas. Es war bereits gedeckt, und aus dem Inneren des Restaurants kam mir der Duft von Tomaten und mediterranen Gewürzen entgegen, auf den mein Magen augenblicklich mit Grummeln reagierte. Ein wenig musste er sich noch gedulden, aber später würde ich hier auf jeden Fall etwas essen.
Ich zog den Koffer hinter mir her und blieb bewundernd vor der Pension stehen. Genau wie auf den Bildern, was für ein herrlicher Anblick. Ich schaffte es kaum, meine Begeisterung zu zügeln. Am liebsten hätte ich Luftsprünge gemacht, aber ich wollte nicht, dass meine Vermieterin dachte, sie hätte eine Verrückte einquartiert. Dies würde also für ein paar Wochen mein Zuhause sein. Der Blick nach oben offenbarte braune Holzfenster, um die wilder Wein rankte. Auf dem Dach im dritten Stock entdeckte ich eine niedrige Mauer aus Sandstein, über die eine Pergola aus Holz ragte. Weinranken schlängelten sich darum herum. Dahinter lag vermutlich die Dachterrasse mit dem Pool, der sicher schon auf mich wartete. Um zum offiziellen Eingang zu gelangen, musste ich einen Torbogen durchqueren, der zwischen der Pension und dem Nebengebäude lag. Davor entdeckte ich ein Schild mit der Aufschrift: La piccola pensione del vino.
Ein Lächeln huschte über mein verschwitztes Gesicht. Ich hatte die Unterkunft anfänglich nach dem Namen ausgesucht und mir erst danach die Bilder und Beschreibung angesehen. Eindeutig eine perfekte Wahl, ich war mit mir zufrieden.
Der Torbogen führte mich in einen bezaubernden Innenhof, der mit kleinen viereckigen Steinen gepflastert war. In der Mitte ragte ein Baum hoch empor und spendete angenehmen Schatten. Darunter standen drei runde Tische, an denen jeweils zwei Personen gemütlich etwas trinken konnten. Auch hier wucherte an den Hauswänden der Wein, an dessen Reben bereits grüne Trauben hingen. Augenscheinlich stellten die Besitzer der Pension tatsächlich Wein daraus her. Nicht viel, aber für ein paar Flaschen würde es bestimmt reichen.
Große Terrakottakübel mit Rosmarin, Oleander und anderen Pflanzen standen bei den Wänden und machten aus dem Innenhof eine wunderschöne mediterrane Oase. Neben dem Eingang zur Pension plätscherte ein Steinbrunnen mit einer weißen Frauenskulptur aus der Antike. Sie hielt einen Krug in den Händen, woraus das Wasser in den Brunnen zurückfloss. Wie idyllisch und romantisch es doch hier war. Ein perfektes Nest für frisch verliebte Paare.
Ich verdrängte den Gedanken, ließ den zauberhaften Innenhof hinter mir und betrat die Pension. Das Licht, das durch die große Glastür fiel, erhellte den Eingangsbereich. Der cremefarbene Marmorboden strahlte eine gewisse Kühle aus, was eine Wohltat war bei den Temperaturen, die draußen herrschten. Ich blickte mich um und bewunderte den bunten Mahagonitisch, der in der Nische neben dem Eingang einen schönen Platz gefunden hatte. An der Wand dahinter hingen fünf Schlüssel mit Messinganhängern, auf denen die jeweilige Zimmernummer stand. Drei Haken waren frei, also hatte die Pension vermutlich acht Zimmer. Auf der Tischplatte lag ein dickes in Leder gebundenes Buch, daneben ein sehr eleganter Füllfederhalter. Ich nahm an, dass es sich um das Gästebuch handelte. Anscheinend wurden die Namen noch per Hand notiert. Das gefiel mir, es hatte etwas Nostalgisches und Besonderes.
Als ich Schritte hinter mir hörte, blickte ich mich um und sah in das lächelnde Gesicht einer Frau mittleren Alters. Sie war sehr elegant gekleidet mit einem dunkelblauen Rock und einer weißen klassischen Kurzarmbluse. Darüber trug sie eine Kette mit einem Medaillon und dazu hohe dunkelblaue Pumps. Schnellen Schrittes kam sie auf mich zu und sprühte regelrecht vor Lebensfreude. Sie hatte dunkles, welliges Haar, das ihr bis zur Schulter fiel. Obwohl sie sich geschminkt und roten Lippenstift aufgelegt hatte, wirkte sie natürlich.
»Benvenuti, Signorina«, begrüßte sie mich freundlich und wechselte dann ins Englische. »Ich bin Donatella Venice, aber bitte sagen Sie Donna zu mir, das bin ich gewohnt.«
»Grazie, SignoraDonna, ich freue mich, hier zu sein«, erwiderte ich in fließendem Italienisch.
Sie zog die Augenbrauen hoch und schwenkte sofort wieder um ins Italienische. »Oh, wie ich höre, sprechen Sie ausgezeichnet meine Sprache. Sind Sie Signorina Sofia König aus Deutschland?«
»Ja, das bin ich«, erwiderte ich und beobachtete, wie sie einen Schlüssel ihres Bundes, den sie in der Hand hielt, in das Schloss der Schublade des Mahagonitisches steckte und umdrehte. Nachdem sie die Lade aufgezogen hatte, nahm sie einen Laptop heraus und klappte ihn auf. Also doch nicht ganz ohne moderne Technik, das hätte mich auch gewundert. Anscheinend verriet ihr mein Gesichtsausdruck, was ich dachte, denn sie sah mich an und lachte kurz auf.
»Haben Sie etwa geglaubt, wir wären so unmodern, dass es hier keinen PC gäbe? Ich meine, aufgrund des Buches, das hier liegt?«
Ich zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen.
»Nun ja, das könnte man tatsächlich denken«, sagte sie. »Die Angewohnheit habe ich von meinen Eltern übernommen, als sie mir die Pension überließen. Wissen Sie, ich liebe diese alten dicken Bücher mit den Namen der Gäste darin. Es hat etwas Nostalgisches, finden Sie nicht? Wir haben jedes der Gästebücher aufbewahrt und lagern sie in unserem kleinen Archiv – seit 1935, denn in dem Jahr haben meine Großeltern diese Pension eröffnet.«
»Wow, wie beeindruckend, also wurde sie von der einen Generation zur nächsten übergeben?«
»So ist es, und meine Tochter wird sie weiterführen. Im Moment lebt sie mit Mann und zwei Kindern in Florenz, aber wenn ich nicht mehr kann, macht sie weiter. Bis dahin fließt jedoch noch viel Wasser durch den Tiber.«
Sie lachte und fragte nach meinem Ausweis. Nachdem sie alles eingegeben hatte, schlug sie das Buch auf und nahm den Füllfederhalter. Die Seite, wo sie den letzten Gast eingetragen hatte, war markiert durch ein grünes Seidenband, das in der Mitte des Buches lag. Donna setzte die Feder an und schrieb schwungvoll das Datum und meinen Namen hinein. Dann drehte sie das aufgeschlagene Buch zu mir, sodass ich unterschreiben konnte. Wie exakt und graziös ihre Handschrift war, ein richtiger Hingucker, im Gegensatz zu meiner, die alles andere als schön war. Bei den Berichtigungen der Klassenarbeiten meiner Schüler musste ich mich immer anstrengen, lesbare Kommentare zu schreiben, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich schob das Buch wieder zu ihr hinüber. Sie nahm den Schlüssel mit der Nummer acht vom Haken und gab ihn mir.
»So, Signorina König, dies ist mein schönstes Zimmer. Es liegt ganz oben mit Zugang zur Dachterrasse. Von dort aus haben Sie einen bezaubernden Blick über Rom. Ich hoffe, es gefällt Ihnen. Kommen Sie, ich bringe Sie hinauf.«
Ich folgte ihr zum Aufzug. Er war klein, und es passten keinesfalls mehr als drei Leute hinein, ohne Gepäck. Mit uns und dem Koffer wurde es schon recht eng. Ich gehörte nicht zu den Menschen, die gerne in diese Dinger einstiegen, aber aufgrund meines schweren Koffers machte ich eine Ausnahme. Die Aufzugtür öffnete sich wenig später wieder, und ich trat hinaus. Gegenüber führte eine Treppe hinunter, und der Fußboden war wie im Eingangsbereich aus Marmor. Ich folgte Donna durch den hellen Flur mit weiß verputzten Wänden, an denen gemalte Bilder von Rom hingen. Der Künstler schien ein gutes Auge für diese Stadt zu haben.
Donna blieb vor der Tür am Ende des Flures stehen und öffnete sie. Bereits der erste Blick hinein machte mich sprachlos. Es stimmte absolut mit der Beschreibung des Reiseanbieters überein. Heller Marmorfußboden, dunkle Mahagonimöbel und eine Glastür, die nach draußen auf die Terrasse führte.
»Signorina König, ich hoffe, Ihnen gefällt das Zimmer. Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
Sie ging hinein, und ich folgte ihr.
»Hier befindet sich das Bad«, sie zeigte auf eine geöffnete Tür, »und dort drüben die Terrasse.« Mit Schwung drückte sie den Hebel der Glastür hinunter und schob sie zur Seite. Ein leichter Windhauch bewegte die luftig-weißen Vorhänge davor.
»Kommen Sie, es ist wundervoll hier draußen«, forderte sie mich auf und trat ins Freie. Ich ging ihr nach und staunte nicht schlecht.
»Und, ist das nicht bellissimo, Signorina König? Hier können Sie entspannen und sich in unserem Pool abkühlen. Oder am Abend ein Glas unseres vorzüglichen Weines trinken und ein Buch lesen, wonach auch immer Ihnen ist. Sollten Sie etwas benötigen oder Fragen haben, ich bin für Sie da. Ach ja, Frühstück gibt es von sieben bis zehn Uhr. Das Essen im Lokal nebenan ist übrigens hervorragend, kann ich nur empfehlen. Sagen Sie dem Kellner, dass Sie hier wohnen, dann bekommen Sie Rabatt. Jetzt lasse ich Sie aber erst mal alleine. Wir sehen uns sicher später.«
Sie lächelte, drehte sich um und verließ die Terrasse. Ich bewunderte die großen blühenden Pflanzen und den Pool, an dem Liegestühle aufgestellt waren. Vier kleine runde Tische mit Korbstühlen standen unter weißen Sonnenschirmen. Noch ein weiteres Zimmer hatte einen Zugang zur Dachterrasse, und eine Wendeltreppe führte an der Seite ein Stockwerk tiefer. Ich kam mir vor wie in einem Traum. Begeistert trat ich an die Balustrade und sah hinauf zu der mit Wein bewachsenen Pergola, die ich bereits von der Straße aus entdeckt hatte. Sie spendete Schatten, der bei der starken Sonne eine wahre Wohltat war.
Dann wanderten meine Blicke über die Stadt, und die Aussicht raubte mir tatsächlich den Atem. Rom, endlich! Mein Herz hüpfte vor Aufregung, und ich war gespannt darauf, was ich in den folgenden Wochen erleben würde. Von hier aus konnte man einen Teil des Petersdoms und den Tiber mit der kleinen Insel darin sehen. Hinter mir ragte der Hügel von Trastevere empor. Am liebsten hätte ich mich sofort auf den Weg gemacht, um die Stadt zu erkunden, doch das musste bis morgen warten. Zuerst den Koffer auspacken, dann eine erfrischende Dusche und etwas essen. Heute würde ich früh schlafen gehen, die Reise und die Hitze forderten ihren Tribut.
Zurück in meinem Zimmer sah ich mich um. Es war recht groß und hell. In dem Doppelbett hatte ich genügend Platz, mich richtig auszustrecken und zu relaxen. An der gegenüberliegenden Wand standen zwei Sessel und dazwischen ein Holztischchen. Darüber hing ein Gemälde von der Engelsbrücke, die über den Tiber führte. Auch hier hatte der Maler, wie bei den Bildern im Flur, sehr detailliert gearbeitet. Sein Stil gefiel mir.
Ich schnappte mir den Koffer und hievte ihn aufs Bett. Der Schrank war so groß, dass ich noch mehr Kleidung hätte mitnehmen können. Nachdem ich mich in dem ebenso geschmackvoll eingerichteten Bad erfrischt und ein dünnes Sommerkleid angezogen hatte, rief ich meine Eltern an, um ihnen mitzuteilen, dass ich gut angekommen sei. Olli und Luisa schickte ich eine Nachricht. Mit den beiden würde ich nachher telefonieren.
Gut gelaunt und mit knurrendem Magen fand ich mich wenig später vor der Speisekarte des kleinen Restaurants wieder, die vor dem Lokal auf einem erhöhten, hübsch verzierten Eisengestell ausgestellt lag. Die Sonne senkte sich bereits und tauchte den Himmel in ein sanftes Rot.
Vertieft in die Betrachtung der Gerichte, die hier angeboten wurden, bemerkte ich nicht, dass sich jemand zu mir gesellte. Erst als eine dunkle Stimme mich auf Englisch ansprach, zuckte ich kurz erschrocken zusammen und sah auf.
»Entschuldigen Sie, bella Signorina, ich wollte Sie nicht erschrecken. Bitte kommen Sie, ich habe einen schönen Platz in der Ecke dort drüben für Sie.«
Der Kellner, ein kleiner Mann mittleren Alters mit freundlichem Gesicht, zeigte zu einem Tisch, der neben der Hecke stand, die das Restaurant von meiner Pension trennte. Ich folgte ihm, setzte mich auf den Stuhl, den er mir zur Seite zog, und schmunzelte. Die Italiener, charmant und immer sehr zuvorkommend, genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte.
»Mein Name ist Paolo, Signorina. Ich werde Ihnen jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Also, was darf ich Ihnen bringen?«
»Bitte ein Glas Rotwein della Casa und einen kleinen gemischten Salat. Als Hauptspeise Cannelloni mit Ricotta und Spinat. Grazie, Paolo«, bedankte ich mich auf Italienisch, schließlich wollte ich die Sprache sprechen, die ich so lange gelernt hatte. Er lächelte.
»Signorina, Sie sprechen meine Sprache, bellissimo. Möchten Sie auf Ihre Begleitung warten, oder soll ich sofort die Vorspeise bringen?«
»Ich esse allein.« Es war mir ein wenig unangenehm, zugeben zu müssen, dass ich mit niemandem verabredet war, aber das entsprach nun mal den Tatsachen. Paolo zog die Augenbrauen hoch und sah mich überrascht an.
»Ganz allein, Signorina?«, fragte er und strahlte, als ich zustimmend nickte. »Ah, das wird nicht lange so bleiben. Roma ist die Stadt der Verliebten, und glauben Sie mir, wir Italiener sind die besten Liebhaber der Welt.« Er grinste breit.
»Davon habe ich auch schon gehört – und die besten Köche«, ließ ich noch mit einfließen, um vom Thema abzulenken.
»Sì, sì, deshalb werde ich sofort Ihre Bestellung weitergeben an Giuseppe. Er ist der beste Koch, den es in Rom gibt.«
Ich lachte kurz auf. »Das dachte ich mir. Daher bin ich gespannt, wie es schmecken wird.«
»Eine Frage noch, Signorina. Sie sprechen sehr gut Italienisch, sind Sie schon länger in Rom? Woher kommen Sie?«
»Aus Deutschland. Ich bin erst heute hier angekommen und wohne gleich nebenan bei Signora Donna. Ihre Sprache ist wundervoll, aus diesem Grund habe ich vor ein paar Jahren bei einem längeren Aufenthalt auf Sardinien damit begonnen, sie zu lernen.«
»Fantastico, Sie sprechen wirklich gut. Benvenuta in Rom und eine tolle Zeit hier. Falls Sie Tipps oder einen Stadtführer benötigen, kann ich Ihnen gern helfen.«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Vielen Dank, Paolo, vielleicht komme ich darauf zurück, sehr freundlich von Ihnen.«
Er nickte und eilte hinein, um meine Bestellung weiterzugeben. Einige Tische waren bereits besetzt, die meisten mit Paaren, die Händchen hielten und plauderten. Wenig später kam Paolo zurück, um den Wein zu bringen. Er goss ihn aus einer Glaskaraffe in das langstielige Rotweinglas.
»Salute, Signorina, der Salat kommt sofort.«
Ich schwenkte den rubinroten Wein in seinem bauchigen Glas und nahm einen Schluck davon. Kurz schloss ich die Augen und ließ die Geschmacksknospen meiner Zunge über seine Aromen urteilen. Ein besonderer Tropfen, ganz eindeutig. Ich war keine richtige Weinkennerin, aber ich liebte guten Rotwein. Diese Vorliebe teilte ich mit meinen Eltern, die mir beigebracht hatten, worauf man achten musste und wie man ihn verkostete.