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Niemandem hat die deutsche Rockmusik mehr zu verdanken als Udo Lindenberg. Nach erfolgreichen Anfängen als Schlagzeuger startete er eine kometenhafte Karriere als Sänger und Songwriter: Das Album »Alles klar auf der Andrea Doria« (1973) brachte ihm den Durchbruch. Es folgten über 30 Platten, auf denen der Panikrocker nicht nur ein knallbuntes »Udoversum« erschafft, sondern auch gegen soziale und politische Missstände ansingt. Unermüdlich setzt er sich für Frieden, Toleranz und eine plurale Gesellschaft ein. Auch als Maler ist er erfolgreich. Udo ist eine Kultfigur, eine echte Legende. Und mit über 60 Jahren hat er mal eben locker den erfolgreichsten Teil seiner Karriere eingeleitet. Und bislang ist kein Ende in Sicht – zum Glück!
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Seitenzahl: 71
ALEXANDER KERN
– KLEINE ANEKDOTEN AUS DEM LEBEN DES PANIKROCKERS –
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Originalausgabe
3. Auflage 2023
© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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Redaktion: Silke Panten
Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch
Umschlagabbildung: picture alliance/Volker Danzer
Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-7423-1292-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0985-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0986-7
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Einleitung
Vater Gustav – Dirigent unterm Säufermond
Der Detektiv
Und ewig trommelt die Linde
Wann, wenn nicht Jazz?
Von Hamburg nach München – und retour
Pö à Pö zum Ruhm
So ’n richtig verschärftes Leben
Kein dröhner Land hier weit und breit
Lindianer und Oberindianer
Offene Straßen
Es gibt kein richtiges Leben in Flaschen
… dann war er ready fürs Comeback
Quellen
Nach sechs verheerenden Jahren des Krieges hat der Frieden noch kaum das Laufen gelernt, als Udo Gerhard Lindenberg am 17. Mai 1946 im westfälischen Städtchen Gronau, nur ein paar Kilometer entfernt von der niederländischen Grenze, das Licht der Welt erblickt. Seit 375 Tagen schweigen die deutschen Waffen, die unendliches Leid über Europa, die Welt und natürlich auch das eigene Land gebracht haben. Etwas mehr als drei Monate wird es noch dauern, ehe die preußischen Provinzen Rheinprovinz (seit Kriegsende die Verwaltungseinheit Nordrhein) und Westfalen kraft Besatzungsrechts von den Briten zum Land Nordrhein-Westfalen fusioniert werden. Mehr als drei Jahre werden noch vergehen, bis am 23. Mai 1949 die Länder der drei westlichen Besatzungsmächte die Bundesrepublik Deutschland gründen. So viel wird passieren in diesem Land. Viel konservativer Mief, gegen den Lindenberg, der Mann, der den Rock in die deutsche Sprache bringt, in unvergleichlicher Lässigkeit sein »Döb-ö-dö-bö-döp« erheben wird – sein fläzender Schlachtruf an die Waffen der Lockerheit. Viel Gutes wird geschehen; ein Aufbruch in ein neues europäisches Zeitalter steht an. Udo ist Teil einer ersten Generation, für die der Frieden ein ständiger – wenn auch kein selbstverständlicher – Begleiter wird.
Udo Lindenberg, dieser stets Filzhut tragende, lässige Vogel, der mehr Wappentier dieses Landes ist als der ewig zeternde Bundesadler, ist also älter als die BRD. Seit über 70 Jahren beäugt er die Bunte Republik Deutschland, wie er sie nennt – heute zumeist durch das sanfte Monochrom einer Sonnenbrille. Seit nahezu 50 Jahren besingt er Land und Leute. Ein Volkssänger, der auf jeden Volksbegriff pfeift. Ein »VEB«, ein volkseigener Betriebssänger, wie er sich selbst einmal bezeichnete. Udo ist einer, der Schönheit auch im Scheitern findet. Einer, dem das Schelmenstück gelingt, in seiner eigenen Kunstsprache so über die Leute und die Liebe zu singen, dass es ungekünstelt klingt, dass er sagen kann, er habe dem Volk aufs Maul geschaut. Obwohl eigentlich niemand wirklich so spricht wie er. Udo ist einer, der Grenzen niederlullen und uns auf die Barrikaden nuscheln kann. Ein zarter Rocker und ein rumpelnder Charmeur.
Udo ist das zweite von vier Kindern seiner Eltern Gustav und Hermine. Bruder Erich ist fast acht Jahre älter, vier Jahre nach Udo folgen die Zwillinge Inge und Erika. Zwischen Udo und seinem großen Bruder liegt der Zweite Weltkrieg. Gustav Lindenberg dient in Griechenland, wo Wehrmacht und SS im von den Deutschen besetzten Gebiet Massaker von unvorstellbarer Grausamkeit anrichten. Wie auch Italien und Bulgarien, die beiden anderen Besatzungsmächte, setzen die Deutschen eine griechische Regierung ein, die kollaboriert; der Krieg wird gegen die Partisanen geführt. Zwischen 70 000 und 80 000 griechische Männer, Frauen und Kinder fallen den Besatzungsmächten insgesamt zum Opfer.
Mehr als bei jedem Krieg zuvor setzen die Jahre des Zweiten Weltkriegs mit ihren weit über 60 Millionen Toten ein generationenschweres Fragezeichen hinter die ewig unbeantwortete Frage: Wozu sind Kriege da? Und wie überall auf der Welt spuckt dieser Krieg anschließend auch im westfälischen Gronau einen Haufen traumatisierter Männer aus, die einen Weg finden müssen, mit dem Erlebten und – vor allem im Falle so vieler Deutscher – den selbst begangenen Gräueltaten weiterzuleben. Gustav führt der Weg jeden Abend dorthin, wo niemand Fragen stellt, wo das Bier die Gedanken erst verwässert und schließlich fortspült, wo ihm der Suff den bleiernen Mantel seines Daseins mit jedem Glas ein Stückchen weiter von den Schultern zieht. »Zehn bis zwanzig Bier« am Abend trinkt er in seiner Stammkneipe, der »Quelle«, »dazu Schnäpse, am liebsten Doppelkorn«. So sitzt er dort mit seinen Saufkumpanen am Tresen, vereint im redseligen Schweigen über das Unaussprechliche. Er reißt schmutzige Witze und unterhält die anderen mit seiner Gabe, die verschiedensten deutschen Dialekte nachzuahmen. Manchmal kommt er dann drei Tage lang nicht nach Hause, holt sich den Schlaf, den er braucht, einfach gleich in der Kneipe.
Tagsüber führt Gustav Lindenberg den Installateursbetrieb im eigenen Haus, den er vom Vater übernehmen musste (weil der große Bruder, dem diese Rolle eigentlich zugedacht war, früh bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war). Daheim ist er ein Vater wie so viele andere vom Krieg zerstörte Männer seiner Generation: mürrisch und unnahbar, zu Willkür und Wutausbrüchen neigend, ein Despot in Pantoffeln, dessen oft pedantische Herrschaft nicht hinterfragt werden darf. Dabei ist es in Wirklichkeit seine Frau, die die Familie zusammen- und den Betrieb am Laufen hält. Ein »Ein-Personenschutzwall gegen den Irrsinn« ist Hermine, wie es in Udos offizieller Biografie heißt, die der Journalist Thomas Hüetlin aufgeschrieben hat. Udo selbst beschreibt seinen Vater später als »stille Säge«, als jemanden, der Gram und Enttäuschung ausstrahlt, »als hätte man ihm etwas ganz Schreckliches angetan«.
Natürlich ist das nicht das Leben, das Gustav sich vorgestellt hat. Konditor hatte er werden wollen oder, noch besser, Musiker. Die Kinder fürchten die Unberechenbarkeit des Vaters so sehr, wie sie sich nach ein wenig Zuneigung und Anerkennung von ihm sehnen. Aber die Momente, in denen er plötzlich gut gelaunt nach Hause kommt, sind nicht nur selten, sondern auch eher grotesk. Manchmal kommt er sternhagelvoll aus der Kneipe gewankt, lässt Hermine die Kinder aus dem Bett scheuchen, steigt auf einen Stuhl und gibt zur Musik aus dem Grammofon den Dirigenten. Zu nachtschlafender Zeit wedelt der große Lindenberg senior vor den Augen der übermüdeten, verwirrten Kinder mit einem Kochlöffel in der Luft, »mit geschlossenen Augen, zurückgekämmten Haaren« und stilecht in einen Frack gehüllt. Leidenschaftlich, keine Frage, aber doch eher »eine frackwürdige Erscheinung«, um es mit Heinz Erhardt zu sagen. Trotz aller Beschwingtheit war klar, dass Lachen verboten war, wenn Gustav auf diese Weise Verdi, Toscanini und anderen Ikonen der Musikgeschichte huldigte, befeuert von ehrfürchtiger Leidenschaft, von Schnaps und Bier.
Dieses Bild des Vaters hat sich tief in Udo eingebrannt. 1975 besingt er ihn auf seinem Album Votan Wahnwitz als »Taktstockmeister […] mit wirrem Haar, dem Herzinfarkt verdächtig nah«, dem der Satan im Nacken saß. Da ist der Vater bereits tot. 1991 schließlich widmet Udo ihm das Album Gustav, auf dem sich auch das herzzerwühlende Stück »Unterm Säufermond« findet. Auf die Melodie von Michel Legrands »The Windmills of Your Mind« singt er vom Suff wie von einer verzweifelten Liebe. Längst meint er damit nicht mehr nur den Vater, sondern auch sich selbst.
Erich, Udos großer Bruder, gilt im kleinen Gronau als sonderbar. Ständig steckt er seine Nase in Bücher, Sartre zum Beispiel, und hört den amerikanischen Jazz von Miles Davis oder Duke Ellington. Udos kleine Schwestern dagegen, die Zwillinge Inge und Erika, sind als ständiger Doppelpack schon eine kleine Sensation für sich. Udo, so sein Gefühl, findet immer eher so ein bisschen nebenbei statt. Dabei sind die Geschwister sich einig, dass er das Lieblingskind des Vaters ist. Schließlich ist er derjenige, den der Vater ab und an in die Kneipe mitnimmt, um ihn auf den Tisch zu stellen, wo der Lindenzwerg zur allgemeinen Erheiterung Gedichte rezitiert. Anschließend öffnet Udo den Reißverschluss seines Brustbeutels und lässt sich den Vortrag mit Kleingeld vergüten.