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Für Lisa Bohnacker ist Bäuerin der schönste Beruf der Welt. Natürlich bedeutet dieses Leben viel Arbeit, nur wenig Freizeit und den Verzicht auf Urlaub. Dennoch bewältigt die gestandene Bäuerin jede Aufgabe, die ihr das Leben bereitet. Vom Einstieg des Jüngsten in die Marktwirtschaft über den Bau eines Golfplatzes bis hin zur verführerischen Nachbarin, die Lisas Mann Walter schöne Augen macht - langweilig wird Lisa nie. Dabei gelingt es ihr mit Humor und einer guten Prise Selbstironie die kleinen und großen Herausforderungen des Alltags zu meistern.
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Veröffentlichungsjahr: 2015
LESEPROBE zuVollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2013
© 2014 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com
Titelfoto: © Bundesarchiv, Bild 183-26433-0002 / Fotograf: BiscanSatz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth
eISBN 978-3-475-54376-0 (epub)
Anna-Maria Rupp
Un-erhörte Stoßseufzer einer Bäuerin
Für Lisa Bohnacker ist Bäuerin der schönste Beruf der Welt. Natürlich bedeutet dieses Leben viel Arbeit, nur wenig Freizeit und den Verzicht auf Urlaub. Dennoch bewältigt die gestandene Bäuerin jede Aufgabe, die ihr das Leben bereitet. Vom Einstieg des Jüngsten in die Marktwirtschaft über den Bau eines Golfplatzes bis hin zur verführerischen Nachbarin, die Lisas Mann Walter schöne Augen macht – langweilig wird Lisa nie. Dabei gelingt es ihr mit Humor und einer guten Prise Selbstironie die kleinen und großen Herausforderungen des Alltags zu meistern.
And I think to myself what a wonderful world … klang es aus dem Radio. Das Lied gefiel mir. Ich schaltete das Gerät etwas lauter und summte leise mit. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte meine Hochstimmung: Nicht eine Wolke trübte den Himmel. Die Luft war frisch und klar, prickelnd wie Sekt.
Ich hatte ein richtig gutes Gefühl, als ich im Hauseingang stand und die schon warme Morgensonne auf meiner Haut spürte. Ein sanfter Wind spielte mit meinem Haar. Der betörende Duft von Apfelblüten wehte mir entgegen. Kein Zweifel, es roch nach Frühling.
Auch Walter, mein Mann, schien den Frühling zu spüren. Voller Schwung öffnete er das schwere Scheunentor. Kurz darauf hörte ich, wie er den Motor des großen Traktors anließ. Mir zuwinkend und eine fröhliches Liedchen pfeifend fuhr Walter zum Hof hinaus in den sonnigen Morgen.
Unser Hund Phylax sprang laut bellend noch ein paar Meter hinter ihm her, trottete auf meinen Pfiff aber pflichtbewusst zurück. Schwanzwedelnd drängte er sich an mich. Sah mit seinen großen, schwarzbraunen Augen zu mir auf. Wer kann diesen bettelnden Hundeaugen schon widerstehen? Wie gewünscht kraulte ich ihm den dicken, schwarzen Pelz.
Das Vieh war gefuttert, die Milch versorgt und der Morgen viel zu schön, um gleich wieder an die Arbeit zu gehen, fand ich. Ein paar Minuten Pause, warum nicht?
»Phylax komm!«, rief ich, und schon sprang er in großen Sätzen vor mir her über den Hof zur Straße hinaus.
Gleich hinter der Scheune mit dem tief heruntergezogenen Dach beginnen die Obstwiesen. Wie riesige Blumensträuße standen die üppig weißrosa blühenden Apfelbäume im satten Grün, dazwischen leuchtendgelber Löwenzahn.
Mein Blick schweifte über die weitgeschwungenen Felder und Wiesen, die sich wie lange grüne und braune Handtücher über die Hochfläche verteilten. Sie zogen sich bis zu den ausgedehnten Laubwäldern hin, die in der Ferne den Horizont begrenzten. Malen sollte man können, dachte ich und bedauerte, dass weder die Zeit noch die Begabung dazu ausreichten.
Aber Prachttag hin oder her, die Arbeit erledigte sich leider nicht von selbst. Also marschierten Phylax und ich wohl oder übel zurück ins Haus. Dort in der Küche erwartete mich das gewohnte Chaos. Unter dem Tisch angelte ich einen Hausschuh hervor, hängte das Handtuch, das auf dem Stuhl lag, an den Haken, räumte zwei liegengebliebene Schulbücher weg und sammelte die verschiedenen Teile der Zeitung zusammen, die kreuz und quer herumlagen. Ordnung? Fehlanzeige!
Es ist stets dasselbe. Kurz vor sieben das Finale furioso. Der Schulbus wartet nicht auf Langschläfer. Im Sturmschritt verlassen Moggi und Uli das Haus.
Die Tür fliegt krachend zu, so dass Phylax erschreckt zusammenzuckt und unsere Katze Susula, die Schöne, sich unter der Bank verkriecht. Drei Minuten später der nächste Knall. Im gestreckten Galopp, mit dem Brot in der Hand, spurtet Carlos zum Hof hinaus. Das ewige Zeitunglesen. Es ist ein Kreuz mit ihm!
Längst habe ich mir abgewöhnt, mich aufzuregen. Es bringt nichts. Absolut nichts! Sämtliche Versuche – und es waren nicht wenige –, meinen drei Schlawinern wenigstens ein klitzekleines Maß an Ordnung beizubringen, sind kläglich gescheitert. Zumindest kurz vor sieben. Aber trotzdem: Noch ist Preußen nicht verloren. Noch nicht!
Während mir solche Gedanken im Kopf herumschwirrten, nahm ich mechanisch das Vesperbrot von der Kommode im Flur und trug es in die Küche. Natürlich von Uli, von wem denn sonst? Kommt abends nicht bei Zeit ins Bett und kriegt morgens die Augen nicht auf. Träumt dafür in den Tag hinein.
Verhungern wird er jedenfalls nicht, dachte ich bar jeden Mitgefühls. Für seine dreizehn Jahre ist unser Jüngster ganz gut gepolstert. Im Gegensatz zu Carlos, dem Ältesten, der mit seinen neunzehn Jahren etwas Speck auf den Rippen gut vertragen könnte. Aber wann hat der schon Zeit zum Essen? Immer auf dem Sprung. Den Kopf voller dummer Ideen. Ob er jemals aus dem Flegelalter hinauswächst? Ich bezweifle es.
Und Moggi, die Einzige?
»Du siehst aus wie das blühende Leben«, stellte erst am Sonntag Oma Päule fest. Aber Moggi war alles andere als entzückt über dieses wohlgemeinte Kompliment. Blühendes Leben war nicht gefragt. Bleich und spindeldürr, das allein zählte. Ein frommer Wunsch, auch wenn Moggi sich noch so sehr in Selbstbeherrschung übte. Nur den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.
Ach, wie gut ich Moggi verstehen konnte! Erging es mir im aufregenden Alter von fast sechzehn Jahren doch kein Haar anders. Joghurt mit Zitrone schlürfte ich bis zum Erbrechen. Und was hat’s gebracht? Dreimal darf man raten.
Über ihren Spitznamen ist Moggi alles andere als glücklich.
»Was für ein süßes Moggele!« rief die Nachbarin entzückt aus, als ich ihr meine winzig kleine Monika zum ersten Mal vorführte. Der Ausspruch, oft zitiert, blieb hängen. Immerhin: aus Moggele – so heißen bei uns die kleinen Kälbchen – wurde Moggi. Von daher gesehen kann Monika mit ihrem Spitznamen schon fast wieder zufrieden sein.
Himmel, wie die Zeit vergeht! Die Waschmaschine hat längst ausgeschleudert. Die Setzlinge müssen in die Sonne gestellt werden. Die Betten sind noch nicht gemacht und überhaupt, was koche ich heut’?
Nicht umsonst bezeichnet Moggi ihr Zimmer unter dem Dach als ihr Himmelreich. Direkt vom Bett aus kann sie die Wolken betrachten, die am Himmel vorüberziehen. Dünne Schleierwolken, hohe Wolkentürme oder tiefhängende graue Wolkenfetzen. Ich schaue gerne aus dem Dachfenster. Von hier aus hat man einen Blick wie von einem Aussichtsturm. Was für ein schönes Land, denke ich, und welch ein Glück, dass unser Hof Bürgermeister Schäfferles Verschönerungsplänen nicht im Wege steht. Außer ein paar Feldscheunen wurde hier nichts gebaut, die Neubaugebiete liegen hauptsächlich im Westen und Süden des Ortes.
Auch wenn er es nicht zugibt, Walter ist stolz auf seinen Hof. Seit mehr als einhundertfünfzig Jahren steht er breit und behäbig an der Straße, die nach Langenbuch führt.
Früher waren Wohnhaus, Scheuer und Stall alle unter einem Dach, aber inzwischen stehen Stall und Scheuer getrennt gegenüber dem Wohnhaus. Aus der ehemaligen Scheuer wurde eine Garage. Weiter hinten, den Feldern zu, ragen drei große Silos in die Höhe.
Der Haupteingang zum Haus liegt an der Straßenseite. Dort steht ein alter Futtertrog, mit Blumen bepflanzt. Weinreben ranken bis zu den Fenstern im ersten Stock empor. Kurz, es ist ein Bauernhaus, wie man es sich vorstellt.
»Mir gefällt die schlichte selbstverständliche Schönheit dieses alten Hauses. Es lässt im Innern eine bäuerliche Behaglichkeit vermuten«, sagte vor kurzem ein Wanderer in schönstem Hochdeutsch zu mir, als er ein Foto von unserem Haus machte.
Der wichtigste Eingang aber befindet sich an der Rückseite des Hauses. Von dort aus gelangt man über den Hof in den Stall und die Scheune. Zweiundsiebzig lebendige Wesen tummeln sich im Haus und Hof, Carlos’ Miniaturzoo nicht mitgerechnet. Zieht man uns fünf Bohnackers ab, verbleiben unterm Strich noch siebenunddreißig Milchkühe, sechzehn Stück Jungvieh, zwölf Kälble, Susula, die schwarze Katze mit den weißen Pfoten, und nicht zu vergessen Phylax, unser treuer Wächter.
Die Tiere wollen versorgt sein, werktags wie sonntags. Neben hunderttausend nicht wahrnehmbaren, aber notwendigen anderen Kleinigkeiten, ist dies hauptsächlich meine Aufgabe. Auch wenn Walter kräftig mithilft, von einem Sieben-Stunden-Tag und einem freien Wochenende kann keine Rede sein. Aber das ist schließlich nichts Neues. Ich wusste, was mich erwartete, als ich Walter vor dreiundzwanzig Jahren heiratete.
Ackern und Rackern gehören seit urdenklichen Zeiten zusammen, quasi als Erblast von Adam und Eva. Sie haben uns die piesackenden Dornen und Disteln eingebrockt. Ja, ich habe sogar den begründeten Verdacht, dass es mit den Dornen und Disteln erst so richtig losgeht, auch wenn diese heute nicht ohne weiteres als solche zu erkennen sind. Darum Holzauge sei wachsam!
Unser Hof ist jedoch beileibe nicht der größte am Ort. Georg Mühlhäuser und vor allem Frieder Beißwenger haben weit mehr Felder und Tiere als wir. Und wenn Beißwengers Luisle stirbt, sie ist immerhin schon dreiundachtzig, dann erbt der Frieder von seiner ledigen Tante noch etliche Bauplätze dazu, getreu dem Sprichwort: Der Teufel scheißt immer dahin, wo schon gedüngt ist.
Oma Päule ist bestimmt nicht neidisch, aber diese Tatsache ärgert sie, denn mit Frieder Beißwengers Vater hat sie, auch nach Jahrzehnten noch, ein Hühnchen zu rupfen. Er war nämlich schuld daran, dass damals, während des tausendjährigen Reiches, mein Vater in den letzten Kriegsmonaten noch eingezogen wurde. Das hatte er davon, dass er nicht in der Partei war und nicht versuchte, die Funktionäre mit Lebensmitteln kräftig zu schmieren, wie Frieder Beißwengers Vater es so meisterlich verstand. Natürlich mit Erfolg. Außerdem war dieser in angeblich wichtiger Funktion unabkömmlich. Oma Päule dagegen konnte sehen, wie sie mit der Landwirtschaft alleine zurande kam. Aber Schwamm drüber, auch wenn Vater wegen einer Kriegsverletzung viel zu früh sterben musste.
Und Walter? Nun, wie soll ich sein etwas gespanntes Verhältnis zu Beißwengers Frieder erklären? Sicher, es trifft zu, dass mich Frieder, als ich noch nicht fest mit Walter ging, gern gesehen und seine Sprüche geklopft hat. Aber Frieder schwätzt, im Gegensatz zu Walter, viel, bis der Tag zu Ende ist. Das darf man nicht ernst nehmen. Jedenfalls ist es absoluter Quatsch, dass Walter meint, auch heute noch auf Frieder eifersüchtig sein zu müssen. Aber das kann ich Walter hundertmal klarmachen, in diesem Punkt ist er stur wie ein Panzer. Außerdem kann er Klugscheißer und Angeber, und das ist Frieder in Walters Augen, nicht ausstehen. Ich seh’s weniger streng. Manchmal übertreibt Walter, nichts zu machen, ich weiß.
Doch zurück zu Haus und Hof. Unsere Felder liegen hauptsächlich im Osten, deshalb haben wir wenig Aussicht, dass sie bald Bauland werden.
»Besser Kleingeld als kein Geld«, versuchte ich Walter zu trösten, als im letzten Jahr die Ernte weit hinter den Erwartungen zurückblieb und das Wenige auch noch schlechter als bisher bezahlt wurde. »Kannst du mir vielleicht sagen, wie ich mit Kleingeld den Stall erweitern soll? Ganz zu schweigen von einer größeren Milchküche mit Milchtank, die, wie du weißt, ebenfalls dringend gebaut werden muss.«
»Ach, Walter«, antwortete ich, »das Leben ist viel zu kurz, um ständig an die Kosten zu denken.«
»Du hast vielleicht Nerven«, sagte Walter und schaute mich an, als sei ich nicht recht bei Trost.
Oh, ich weiß wohl, gegen eine reiche Erbtante hätte er absolut nichts einzuwenden, ja sie wäre hochwillkommen, aber leider ist die einzige noch lebende Tante arm wie eine Kirchenmaus. Ihr Obstgütle liegt weit vom Schuss, draußen am Waldrand. Es bringt nichts ein, macht nur Mühe und Arbeit. Nach den Gesetzen der Marktwirtschaft wäre es besser, die Apfel auf den Bäumen hängen zu lassen, als sie zu ernten und für einen Spottpreis als Mostobst zu verkaufen. Aber in Krettenstetten gelten nicht nur die Gesetze der Marktwirtschaft, Gott sei Dank, denn sonst müssten von den weniger als elf – von ehemals 123 – verbliebenen Landwirten, bis auf vier, alle das Handtuch werfen.
Carlos meinte, es wäre gut, dass Walter nicht wüsste, was in Brüssel alles ausgeheckt werde, sonst würde er nicht mehr fröhlich pfeifend seinen Stall misten. Es sei doch seltsam, dass Erzeuger immer weniger verdienten, während an der Landwirtschaft immer mehr verdient werde.
»Wie dem auch sei, ich bin gern Bauer und ich bleibe Bauer. Basta!« Damit beendet Walter meistens die erregten Diskussionen mit seinem Ältesten. Immerhin, dieses Jahr standen die Karten nicht schlecht. Der Regen brachte die ersehnte Feuchtigkeit. Das Korn hatte gut angeschoben. In der Hoffnung auf anständige Preise hatte Walter vor allem auf Raps und Weizen gesetzt. Frei nach der Devise: Bangemachen gilt nicht.
So, jetzt wissen wir’s, und seit Mittwoch ist es amtlich. Jeder konnte schwarz auf weiß – oder vielmehr schwarz auf hellblau – lesen, was für ein liebenswerter, fröhlicher und aufgeweckter Ort Krettenstetten doch ist. Und vor allem wie wichtig, diesen ländlichen, erholsamen Ort endlich einmal kennenzulernen.
So jedenfalls stand es im Werbeprospekt der Gemeinde, der bei der Bürgerversammlung vorgestellt wurde. Jeder bekam ein Exemplar in die Hand gedrückt. Auch Walter und ich saßen unter den interessierten Zuhörern. Schließlich geht uns Krettenstetten auch was an, oder etwa nicht?
Selbst Tussi, meine Freundin, saß mit am Tisch. Wie flott sie wieder aussah in ihrer weißen Bluse und der pinkfarbenen Hose.
Mit den kurz geschnittenen, blonden Haaren, die so widerspenstig in die Höhe stehen, und den munteren blauen Augen sieht man ihr die sechsundvierzig Jahre nicht an, was man von mir nicht unbedingt behaupten kann. Ganz zu schweigen von meinem Aufzug, obwohl ich auch nicht gerade wie der letzte Dorftrampel daherkomme. Aber was soll’s, Hauptsache, wir zwei verstehen uns, und das tun wir, und zwar seit unserer Kindergartenzeit. Das mach’ uns erst einer nach.
Tussi, auf den schauerlichen Namen Thusnelda getauft, kam allein. Ihr Mann, Richter bei der Jugendkammer Ulm, hatte sich zu Hause hinter einem Aktenberg verschanzt, froh, ungestört arbeiten zu können.
Eine Bürgerversammlung findet auch in Krettenstetten nicht alle Tage statt, kein Wunder, dass die Turn- und Festhalle gestopft voll war.
»Eine zeitgemäße Repräsentation von Krettenstetten war längst überfällig«, betonte voll Stolz Bürgermeister Schäfferle in seiner Ansprache. Dem Anlass entsprechend hatte er sich besonders feingemacht und zum ersten Mal eine Fliege umgebunden. »Marke jung und dynamisch«, frotzelte Walter neben mir.
Herr Läpple, seit zwanzig Jahren im Gemeinderat und Inhaber einer kleinen Maschinenfabrik, hielt, das war bekannt, nicht allzu viel von modischem Firlefanz.
»So an Krampf«, bruddelte er vor sich hin, »früher hat’s a Krawättle doa.«
Aber den meisten der Anwesenden gefiel nicht nur die flotte Fliege am Hals von Bürgermeister Schäfferle, sondern vor allem der neue Prospekt, der von hinten bis vorne fleißig studiert wurde.
WETTEN, SIE MÖGEN KRETTENSTETTEN stand unübersehbar auf der ersten Seite des Faltblattes. Auf der Rückseite wurde nicht nur Natur pur, sondern waschechte, gesunde Mistkratzer und originale Bauerngärten versprochen. Ich überlegte laut, welche Gärten im Ort wohl damit gemeint sein konnten.
»Alles eine Frage der Verpackung!« zischelte Walter mit einer Stimme, die nicht unbedingt auf Zustimmung schließen ließ. Er hat heut anscheinend seinen kritischen Tag, dachte ich und verschluckte vorsichtshalber meine Antwort.
Als ich mich aber ein bisschen umsah und am unteren Ende des langen Tisches, direkt vor dem Rednerpult, Frieder Beißwenger sitzen sah, ahnte ich, welche Laus Walter über die Leber gelaufen war. Und als Frieder Beißwenger, vor Selbstzufriedenheit strahlend wie ein polierter Melkeimer, gar sein Glas erhob und ein Prosit auf die neue Zeit im allgemeinen und im besonderen auf Krettenstetten anbrachte, knurrte Walter noch eine Spur grantiger als zuvor: »Der hat mir grad no g’fehlt!«
Immerhin: Auf Glanzpapier und in Farbe lernte ich unser Dorf von einer ganz anderen Seite kennen. Kleines Hinterhof-Idyll oder Zwischen Hecken und Zäunen – so oder ähnlich lauteten die Beschreibungen unter den farbenfrohen Fotos. Kein Zweifel: Krettenstetten konnte sich sehen lassen. Und erst der Text!
Vergessen Sie die Hektik des Alltags, stand unter einer besonders gelungenen Landschaftsaufnahme. Und weiter unten, … Breite, ausladende Buchen sorgen mit ihrem Schatten dafür, dass es dem Wanderer im Sommer nicht zu heiß wird. Aus der weitgeschwungenen Landschaft ragen hier und da niedrige Kuppen hervor. Kleine Täler durchziehen die ebenmäßige Fläche. Eingebettet zwischen Felder und Wiesen erkennt man im sommerlichen Dunst die verstreut liegenden Dörfer. Wären nicht die sich immer weiter ins Land hineinschiebenden Neubaugebiete, könnte man glauben, die Zeit wäre hier spurlos vorübergegangen … usw. und so fort.
Wohl wahr, dachte ich, die Zeit war keineswegs spurlos an Krettenstetten vorübergegangen. Dafür sorgt schon unser rühriger Bürgermeister. Keine Mühe ist ihm zu viel, wenn es darum geht, Krettenstetten aus dem Dornröschenschlaf zu wecken. Früher, als Autos eine Seltenheit waren, verirrten sich nur wenige Wanderer in das verschlafene Dorf am Albrand. Das jedenfalls erzählt Oma Päule, meine Mutter und siebenundsiebzig Jahre jung. Aber auch ich erinnere mich noch ganz genau, dass wir Kinder ungestört auf der Straße spielen konnten. Das war einmal.
Heute liegt Krettenstetten längst nicht mehr hinter Pfui-Teufel, sondern mitten im Fadenkreuz der Autofahrer.
Der Hirschwirt, auch nicht gerade auf den Kopf gefallen, erkannte die Zeichen der Zeit. Er sorgte vor. »A Biergarte bei ons uff dr Schwäbische Alb? Des darf net wohr sei!« hieß es im Dorf, als er daran ging, seinen Obst- und Gemüsegarten hinter dem Haus in eine Gartenwirtschaft umzuwandeln.
»Jetzt fehlt bloß no das weißblaue Tischtuch«, spotteten die einen, während die andern sich bereits darauf freuten, dass man nun endlich auch in Krettenstetten sein Bier oder seinen Most im Freien trinken konnte.
Aber nicht nur hinter dem Haus, auch vorne, beim
Eingang an der Straße, gab es beim »Hirsch« Veränderungen.
Pünktlich zu Beginn der warmen Jahreszeit leuchteten gelbe Sonnenschirme wie riesige Sonnenblumen die Straße entlang. Kleine runde Tischchen mit weißen Stühlen und gelbweiß gestreiften Polstern standen einladend im Hof. Ein neues, natürlich größeres und schöneres Aushängeschild wurde über dem Eingang angebracht. Golden strahlte ein prächtiger Hirsch samt vielen Schnörkeln von oben herab. Ein wahres Schmuckstück. Die Krettenstettner staunten nicht schlecht. Der Hirschwirt, das war ein Kerl!
Und so saßen an warmen Sommertagen keineswegs nur Auswärtige im Grasgarten unter Apfel- und Zwetschgenbäumen. Von wegen! Auch Einheimische, einschließlich Carlos mit seinen Freunden, ließen sich’s dort wohlsein.
Wurstplatte um Wurstplatte, Schnitzel um Schnitzel wurden ins Freie getragen, ganz zu schweigen von den vielen Gläsern Bier, Most oder den Viertele. Keine Frage, die Rechnung des Wirts war aufgegangen.
Im Ort hatte sich aber noch weit mehr verändert. Unmerklich zuerst, dann immer sichtbarer und schneller. Das aufwendig renovierte Rathaus zum Beispiel mit seinem alten Zierfachwerk war genauso wenig zu übersehen wie die neue Turn- und Festhalle mitten im Neubaugebiet. Ja selbst die über fünfhundert Jahre alte Kirche mit dem trutzigen Turm hatte einen neuen Anstrich verpasst bekommen. Die Kirchturmspitze mit dem frisch vergoldeten Hahn leuchtete weit ins Land hinein.
Ein Geschäftshaus nach dem andern entlang der Hauptstraße wurde modernisiert. Neben so viel Glanz duckten sich die restlichen kleinen alten Häuschen, die dort standen, immer mehr in sich zusammen. Es kam mir vor, als wüssten sie, was bereits beschlossen war oder vielmehr vom Gemeinderat noch beschlossen werden sollte.
»Man muss mit der Zeit gehen, sonst geht die Zeit an einem vorbei«, tönte gerade Bürgermeister Schäfferle vom Rednerpult und sprach damit all denen aus dem Herzen, denen es mit dem Fortschritt nicht schnell genug gehen konnte. Der Architekt blies ins gleiche Horn.
Ein freundlicher, ein fröhlicher Ort sollte Krettenstetten werden, versicherte er, als er zum ersten Mal den Bürgern seine Pläne erläuterte.
Ein Rathausplatz mit einem Brunnen davor, wie früher, sei geplant. Dazu Bäume und ein paar Bänke zum Ausruhen. Wir werden schließlich alle einmal älter, scherzte er. Und im Sommer sollten Blumen und nochmals Blumen Farbe ins Dorf bringen. Walter gab mir einen Stoß, dass ich erschrocken zusammenfuhr.
»Dem könnet anscheinend d’Bäum net schnell g’nug in de Himmel wachse«, meinte er mit einem Gesicht, als hätte er Reißnägel verschluckt.
»Jetzt sei net so langweilig, seh’s halt au positiv«, versuchte ich ihn zu beruhigen. Aber nichts zu machen. »Mir geht alles viel zu hopplahopp. So ebbes muss sich doch entwickeln«, knurrte er.
So viel Zeit hatte der Architekt offensichtlich nicht. Leider müssten wohl oder übel auch etliche der alten, nicht mehr zeitgemäßen Bauernhäuser im Laufe der Zeit verschwinden und durch moderne Wohn- und Geschäftshäuser ersetzt werden, keineswegs zum Schaden der Eigentümer, wohlgemerkt. »Und wer weiß«, beschloss er seine Zukunftsplanung, »vielleicht wird Krettenstetten aufgrund seiner hervorragenden klimatischen Verhältnisse sogar Luftkurort. Keineswegs utopisch. Die Chancen stehen gut.«
»Ausgerechnet Krettenstetten! Dass ich nicht lache!« »Net so laut, Walter!«
Mir war es fast schon peinlich, wie Walter sich aufführte. Sonst war er doch auch nicht so. Selbst Tussi wunderte sich.
»Was hat er denn?« erkundigte sie sich. »Stimmt was net?«
»I glaub’, Frieder Beißwenger isch ihm aufg’stoßa«, versuchte ich zu erklären.
Nichtsdestotrotz, die Pläne des Architekten beeindruckten sehr, und in der anschließenden Diskussion ging es hoch her. Es war eindeutig: die Befürworter waren in der Überzahl. Schließlich wusste inzwischen jedes Kind, dass man sich in der Landwirtschaft keine goldene Nase mehr verdienen kann. Die Zeiten waren vorbei, falls es sie je einmal gegeben hat. Weniger, aber dafür schlagkräftige Bauern, so stellte man sich die Zukunft der Landwirte nicht nur in Brüssel vor. Wer oder was, so frage ich, soll eigentlich »geschlagen« werden?
Auch tauchte in den Zeitungen eine neue Wortschöpfung auf: »das Bauernsterben«. Seltsamerweise regte sich außer den Landwirten niemand groß darüber auf.
»Ob sich beim ›Hundesterben‹ wohl mehr Leute aufregen würden?« fragte ich Tussi.
»Und ob«, meinte sie, »darauf kannst du Gift nehmen.«
Walter, den bereits wieder der Hafer stach, stieß – grad zum Possen –, wie er sagte und so laut, dass man es bis zum Prominententisch hören konnte, auf’s Wohl der Bauern an. Und Martin Nägele, sein Freund, der auch an unseren Tisch gekommen war, setzte noch eins drauf und zitierte sogar Cicero: »Nichts ist besser als die Landwirtschaft, nichts schöner; nichts angenehmer; nichts eines freien Mannes würdiger.« Das war ein Wort!
Allerdings hinter das gepriesene ›angenehme Landleben‹ machten wir doch ein dickes Fragezeichen, schließlich sind wir keine Edelleute, aber sonst? Doch damit nicht genug. Walter nahm noch einmal einen tüchtigen Schluck, und unter dem Beifall der Tischgenossen und der Dorfbewohner, die neben und hinter uns saßen, brachte er ein dreifaches Hoch auf die Landfrauen an.
»… denn was wäre der Landwirt ohne seine bessere Hälfte?« posaunte Walter in den Saal und gab mir vor allen Leuten einen schallenden Kuss.
Hab’ ich mich vielleicht geniert!
Man kann planen, soviel man will, es kommt meistens anders als geplant. Ein dahinplätscherndes Gleichmaß ist nicht drin, wenigstens nicht bei uns. Dabei muss nicht einmal viel passieren.
»Die Milli gefällt mir nicht«, sagte Walter kurz vor dem Schlafengehen zu mir. »Zur Vorsicht werde ich in ein paar Stunden nochmals in den Stall gehen und nach ihr sehen. Es wird doch nicht schon losgehen?« Milli, eine unserer besten Milchkühe, war trächtig. Ich kam gut mit ihr zurecht. Im Gegensatz zu Berta, der Störrischen, schlug sie weder beim Anlegen des Melkgeschirrs ständig mit dem Schwanz um sich, noch machte sie Theater, wenn das verschmutzte Euter gewaschen werden musste.
Nun, es dauerte noch etwas, bis es tatsächlich losging. Eine leichte Geburt, so schien es. Ruckzuck lag das gelbweiße, feuchte, zappelnde Etwas im Stroh. Aber dann machte Milli Zicken. Anstatt nach der Geburt mit Pressen aufzuhören, presste sie unentwegt weiter, als ob ein zweites Kälbchen in ihrem Bauch wäre. Dabei schnaufte sie wie verrückt. Alles gute Zureden half nichts.
»Ruf sofort den Tierarzt an, ich bleibe solange bei Milli«, sagte Walter zu mir.
Der Tag drängte schon mächtig herauf, als ich ziemlich verschlafen im Hof stand und auf Dr. Pfeiffer wartete. Wo er nur so lange blieb? Die Minuten schlichen dahin.
Endlich! Aus dem Wagen springen und im Stall sein war eins.
»Wo?« fragte er nur und zog sich im Laufen den Kittel über. Sein Arm verschwand im Inneren der Kuh. »Gebärmuttervorfall«, stellte er fest »Eine schöne Bescherung.«
Beide, Milli und Dr. Pfeiffer, schwitzten um die Wette. Milli ging es wirklich nicht gut. Ich streichelte sie fortwährend und flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr.
Als sich auf Dr. Pfeiffers Gesicht ein Lächeln zeigte, wusste ich, Milli hatte es geschafft.
»Jetzt könnt’ ein tüchtiger Schluck Kaffee nicht schaden, finden Sie nicht auch?«
Dr. Pfeiffer hatte nichts gegen Walters Vorschlag einzuwenden.
Kurze Zeit später saßen die beiden Männer sichtlich erleichtert und entspannt am Tisch und ließen sich meinen Kaffee, Marke extrastark, samt deftigem Frühstück schmecken. Dr. Pfeiffer liebte keinen Bodenseekaffee. Ich wusste dies und machte einen Kaffee, dass fast der Löffel drin stehenblieb. Irgendwelche Bedenken? I wo! Unseren Tierarzt haut so leicht nichts um. Im Flecken hieß es von ihm, der hat a g’sonda Kuttel. Und die brauchte er auch. »Schmeckt ausgezeichnet«, lobte Dr. Pfeiffer meinen rabenschwarzen Kaffee und goss sich eine dritte Tasse ein.
Auch ich genehmigte mir einen Schluck und war über die Wirkung erstaunt. Nein, nicht bei mir, sondern bei Walter, dem Schweiger. Wann hatte ich ihn, außer bei der letzten Bürgerversammlung, je so gesprächig erlebt?
Im Rübenraum wolle er einen Melkstand sowie eine Milchküche mit Milchtank einbauen. Das gegen Westen vorhandene Vordach solle vergrößert werden. Sollte man nicht doch noch etliche Sauen eintun? Brachte mehr ein als Milchvieh. Und und und … Die beiden fachsimpelten auf Teufel komm raus. Walter bekam richtig glänzende Augen dabei. Sieh mal einer an, dachte ich bei mir, der Umbau des Großviehanbindestalls schien also keineswegs Walters letztes Bauvorhaben zu sein. Anscheinend hatte ihn der gleiche Bazillus erwischt wie Bürgermeister Schäfferle. Aber was soll’s, träumen schadet nicht.
Wer nicht mehr träumen kann, ist kein Realist, las ich vor einiger Zeit. Und außerdem, vor zwei kommt bekanntlich eins. Walters Träumen wurden sehr reale Grenzen gesetzt. Der Stallumbau war ein ziemlich dicker Brocken, der erst einmal verdaut sein wollte.
Gegen Abend machte das neugeborene Kälbchen im kleinen Grasgarten bereits seine ersten Gehversuche. Moggi war begeistert. Auf noch wackeligen Beinen stakste das neue Stallmitglied am Strick hinter ihr drein.
»Was für ein hübsches, munteres Kerlchen du bist«, sagte sie zu ihm. »Ich taufe dich auf den Namen Purzel.«
Eigentlich hätte ich es nicht erlauben dürfen, dass Moggi dem neugeborenen Kälbchen einen Namen gibt. Es bringt nichts als Schwierigkeiten, wenn man zu Tieren, die man nicht unbedingt behalten will, ein zu persönliches Verhältnis hat. Das klingt hart, ist aber so. Diesmal jedoch konnte ich nicht hart sein, viel zu groß war die Erleichterung, dass die schwere Geburt gut überstanden worden war. Milli lag zwar noch ziemlich geschwächt am Boden, aber ich bin sicher, sie wird sich bald wieder erholen.
Zwischen Morgen und Abend kommt bekanntlich noch das Mittagessen. Wie ein aufgescheuchter Hornissenschwarm fielen unsere drei ins Haus. Sie brachten einen Kohldampf mit, als hätten sie seit Tagen nichts mehr zu essen gekriegt.
Lag es am schwülen Wetter, oder hatte Carlos wieder einmal seinen unsozialen Tag? Er konnte es einfach nicht lassen, Uli zu ärgern. Dabei ist jeder von den zwei Lausern ganz verträglich, aber zusammen sind sie eine mittlere Katastrophe.
»Fröhlich sei das Mittagessen! Guten Appetit!«
Mit diesem frommen Wunsch stürmte Uli zur Türe herein, knallte diese wie üblich zu, dass die Wände wackelten. Die Schultasche flog im hohen Bogen in die Ecke, und der Anorak segelte hinterdrein. Als Uli sich auf die Eckbank drängen wollte, zeigte Walter wortlos auf den Boden, und maulend räumte Uli seine Sachen weg.
»Mann o Mann, hab’ ich einen Hunger«, verkündete er anschließend lautstark. »Was gibt’s denn Gutes?« »Heuschrecken nach Art Johannes des Täufers oder nach Art des Hauses, geröstet auf Körnerschnitzel. Ganz nach Wunsch.«
Carlos grinste.
Uli verzog das Gesicht, als hätte er eine Krott verschluckt.
»Also gibt’s was G’sundes. Brrr. Ich hab’s ja geahnt!« »Genau das Richtige für Bubis mit Schlappohren.« Carlos grinste noch eine Spur unverschämter.
»Sei bloß still, hast ja selber Segelohren, und was für welche!« gab Uli nicht faul zurück und versuchte Carlos eine zu langen.
Der aber blieb cool.
»Im Gegensatz zu dir, sind meine Schlappohren mein Markenzeichen.«
Moggi verschluckte sich fast vor Lachen und quietschte:
»Typisch Carlos, wenn’s ihm nützt, findet unser Sonnyboy selbst Wanzen im Bett noch gut.«
Ehrlich gesagt, mir tat Uli richtig leid, aber ich hatte heute einfach keine Lust, den Feldwebel zu spielen. Ich war müde. Der Kaffee wirkte schließlich nicht ewig. Außerdem, was bringt schon das ständige, nutzlose Ermahnen und Wehren? Nichts als Falten und Kopfweh. Soll doch Walter auch einmal sein Amt als Erziehungsberechtigter wahrnehmen. Der aber war eifrig mit Kauen beschäftigt – oder baute er weiter an seinen Luftschlössern?
Mal sehen, wann ihm der Kragen platzt, dachte ich, und kaute ebenfalls munter weiter.
Uli aber holte noch einen Trumpf aus der Tasche. »Rat mal, mit wem ich dich heute gesehen habe? Also diese Claudia, kess, kess kann ich nur sagen.« Uli feixte anzüglich zu Carlos hinüber.
»Na und? Was dagegen?« Carlos spielte den Gleichgültigen.
»Es sah aber nach mehr aus als nur ›na und‹.«
»Nur nicht neidisch werden, Kleiner. Kommt alles noch.«
Sie frotzelten weiter, bis es Walter schließlich zu bunt wurde.
»Schluss jetzt mit dem Herumgegäbel! Könnt ihr zwei nicht wenigstens beim Essen friedlich sein? Und überhaupt?« fragte Walter, »von welcher Claudia war hier die Rede?«
»Ach nichts, wirklich nichts von Bedeutung«, wehrte Carlos verlegen ab.
»Das will ich auch schwer hoffen. Zuerst wird das Abitur gemacht, und dann sehen wir weiter«, sagte Walter, der nichts von allzu frühen Techtelmechteln hielt. Außerdem hätte es ihm gerade noch gefehlt, dass sein Ältester ausgerechnet mit Beißwengers Claudia herumpoussierte.
»Im Übrigen, damit ihr nicht auf dumme Gedanken kommt, für morgen ist Regen angesagt. Das heißt alle Mann samt Frauen ran an die Front. Das Heu muss dringend unter Dach und Fach. Carlos, Uli, ihr fahrt mit mir. Lisa und Moggi kommen mit dem kleinen Schlepper nach.«
Begeisterung ringsum. Uli allerdings war fein raus. »Ich kann nicht mit. Ich hab’ einen Termin beim Zahnarzt.«
Dagegen war nichts zu sagen, Moggi aber meuterte. »Ich habe mich bereits mit Steffi ins Schwimmbad verabredet. Außerdem muss ich noch soo viel Englisch lernen. Wir schreiben morgen eine Arbeit.« »Das hat Zeit bis heut Abend«, sagte Walter ungerührt, und als Moggi ärgerlich vor sich hin bruddelte, »du hättest dir eben ein anderes Elternhaus aussuchen müssen.«
Dieser Meinung war Moggi allerdings auch, zumindest heute, und sie hielt damit nicht hinter dem Berg.
Wie gut es ihre Freundin hatte. Bei der kamen weder das Heu, noch das Korn und schon gar nicht Kartoffeln oder Fallobst dazwischen. Was für eine Ungerechtigkeit!
Oh, ich wusste wohl, dass es nicht immer leicht war für Moggi. Dabei hatte ich mir fest vorgenommen, die Kinder möglichst nicht mit in die notwendigen Arbeiten einzuspannen, wusste ich doch selbst nur zu gut, wie hart das mitunter war. Aber manchmal ging es eben nicht anders. Oder sollte das Heu tagelang im Regen liegenbleiben?
Zugegeben, auch ich träume manchmal, was wäre, wenn …?
Ja, was wäre, wenn Walter Beamter wäre und jeden Tag Schlag 17 Uhr oder sogar noch früher nach Hause käme?
Unerfüllbarer Wunschtraum. Darum ab in die Schublade damit!
Dass Oma Päule am helllichten Dienstagmittag zu uns heraus marschiert kam, war ungewöhnlich. Ich war gerade im Stall und sah nach den Kälbchen. Plötzlich quietschte die Stalltüre. Oma Päule schaute sich suchend um.
»Ist was passiert?« fragte ich erschrocken.
»Nein, nein, noch nicht«, beruhigte sie mich. »Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten, muss mit jemand reden. Was glaubst du wohl, wer heute früh bei mir war?«
»Keine Ahnung.«
»Der Bürgermeister! Er wolle in einer dringenden Angelegenheit mit mir sprechen.«
»Und um was ging’s?« fragte ich, während wir zusammen ins Haus marschierten.
»Kannst du dir’s nicht denken?«
Oma Päule ließ sich in den bequemen Fernsehsessel fallen und holte erst einmal tief Luft.
»Stell dir vor«, begann sie ihre Berichterstattung, »Bürgermeister Schäfferle – und nicht nur er – ist der Meinung, mein Haus versperre den Blick auf’s neu renovierte Rathaus und den vorgesehenen Rathausplatz. ›Ich will Ihnen nicht zu nahetreten, liebe Frau Scheuermann‹, sagte er sehr freundlich zu mir, ›aber Sie müssen doch zugeben, dass sich Ihr Haus nicht mehr im allerbesten Zustand befindet. Im Gemeinderat fiel sogar das Wort ›Bruchbude‹. Was sagst du dazu? Mein Haus eine Bruchbude! Da hört sich doch alles auf!« Oma Päules Stimme zitterte vor Wut und Empörung.
»Aber das war noch nicht alles«, fuhr sie fort, »würde das Haus, so Bürgermeister Schäfferle, samt angebauter Scheuer, abgerissen und durch ein neues, etwas nach hinten versetztes Haus ersetzt, so würde angeblich die ganze Hauptstraße aufgewertet. Und wer weiß, meinte der Schäfferle, vielleicht würde dann Krettenstetten endlich auch einmal den begehrten Preis Unser Dorf soll schöner werden gewinnen und nicht – wie letztes Jahr schon zum zweiten Mal – Langenbuch. Dies wurmt, wie du weißt, nicht nur den Bürgermeister.«
Oma Päule wirkte richtig mitgenommen.
»Komm, jetzt stärk dich erst einmal«, sagte ich und stellte den restlichen Marmorkuchen vom Sonntag auf den Tisch und eine angebrochene Flasche Wein dazu.
Moggi, die gerade von der Mittagsschule nach Hause kam, spickelte zur Türe herein.
»Oma, du hier?« fragte sie erstaunt.
In aller Kürze erzählte ich Moggi das Wichtigste. »Und was hat der Bürgermeister sonst noch g’wusst?« wollte sie wissen.
»Dass die Gemeinde dafür sorgen werde, dass ich zu einem neuen, modernen Haus komme. Der Garten hinter der Scheuer sei ja groß genug, und überhaupt hätte ich nicht im geplanten Erweiterungsgebiet noch eine Wiese? Ich könnte auf sein Entgegenkommen zählen.
Oma Päule machte eine Pause und nahm einen Schluck Wein.
»Zugegeben, manchmal träum’ ich auch von einer bequemen Wohnung, bin schließlich nicht mehr die Jüngste, aber dass man mein Haus so mir nichts dir nichts abreißen will, das geht mir doch gewaltig gegen den Strich.«
»Also i find’s au allerhand, dei schön’s Haus einfach abreißa! I bin dagegen!« erklärte Moggi temperamentvoll.
»Des freut mi, dass du so denkst«, sagte Oma Päule. »Die Jahreszahl 1790 und die Buchstaben J.S. für Johann Scheuermann sind über dem großen, runden Kellereingang eingemeißelt, alles noch genau wie früher. Und das soll plötzlich nichts mehr wert sein?«
Oma Päule konnte sich nicht so schnell beruhigen. »Unser Dorf soll schöner werden! Ich kann’s fast nicht mehr hören. Obwohl – zugegeben – Krettenstetten ist schöner geworden, ohne Zweifel. Aber manchmal, wenn ich zum Einkaufen gehe, kommt es mir vor wie aus dem Katalog. So schön, dass es fast nicht mehr schön ist. Landauf, landab der gleiche Einheitsbrei. Ob’s des brengt?«
Ich konnte mir gut vorstellen, wie verärgert Bürgermeister Schäfferle abzog, als Oma Päule ihm unmissverständlich erklärte:
»Auch wenn ein Misthaufen nach dem anderen verschwindet, was traurig genug ist, mein Haus bleibt, wo es ist!« Und noch eines gab sie ihm mit auf den Weg. »So wie ihr jetzt verzweifelt nach guten alten Fachwerkhäusern sucht und überall, ob richtig oder nicht, auf Teufel komm raus den Putz herunterhaut, so verzweifelt werdet ihr noch nach alten Bauernhäusern suchen. Das garantier’ ich euch, so wahr ich s’Päule Scheuermann bin!«
»Des hascht aber gut g’sagt«, Moggi strahlte bewundernd ihre Großmutter an.
Nicht allein der Bürgermeister, auch der Sparkassendirektor hatte angeblich nur das Wohl von Oma Päule im Sinn.
Gestern, als sie ein paar Märker auf ihr Sparbuch einbezahlen wollte, bat sie der Direktor ins Büro. Die Sparkasse plane einen Neubau an exponierter Stelle, erklärte er ihr. Vom Bürgermeister habe er erfahren, dass sie eventuell ihr Haus abbrechen und durch ein neues ersetzen lassen wolle. Die Sparkasse sei an dem Platz sehr interessiert und berate sie gerne in dieser Angelegenheit und nicht zu ihrem Nachteil. Ganz bestimmt nicht. Dafür übernehme er persönlich die Verantwortung, versicherte Direktor Merkle.
Aber wenn Oma Päule nicht wollte, dann wollte sie nicht, auch wenn noch so viele vernünftige Gründe dafür sprachen.
»Und was hast du zum Sparkassendirektor g’sagt?« wollte ich wissen.
»Was i g’sagt han? Am besten man schmeißt mich samt mei’m Haus zum Müll. Wir Alten, oder vielmehr wir Gruftis, würden in unserer Leistungsgesellschaft sowieso nichts mehr zählen.«
»Au Backe, das war aber dick. Wetten, dass Herrn Merkle die Spucke wegblieb?« sagte Moggi erschrocken und anerkennend zugleich.
Auch ich zuckte innerlich zusammen. So direkt hätte sie es ja auch wieder nicht sagen müssen. Hoffentlich geht alles gut. Ich fürchte die spontanen Reaktionen meiner Mutter. Damals, kurz vor Ende des tausendjährigen Reiches, lief Oma Päule nämlich auch zur Hochform auf. Oder anders gesagt, sie gehörte mit zu den wenigen Bürgern, die Zivilcourage zeigten.
Um was es ging?
Nun, kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner räumte sie zusammen mit anderen wackeren Dorfbewohnern, einschließlich dem Bürgermeister, die bereits errichteten Panzersperren weg und hisste die weiße Fahne. Diese mutige Tat hat Krettenstetten davor bewahrt, in einen Trümmerhaufen verwandelt zu werden. Allerdings war es nur der Besonnenheit des Amtsrichters in der nahen Kreisstadt zu verdanken, dass Oma Päule und die anderen verhafteten Mitbürger am Leben blieben. Dieser aufrechte Mann weigerte sich, was nicht ungefährlich war, in aller Eile die Todesurteile zu unterschreiben.
Etwas von diesem selbstmörderischen Mut von damals steckt auch heute noch in Oma Päule. Bürgermeister Schäfferle und Sparkassendirektor Merkle bekamen eine Kostprobe davon.
Letzterer allerdings gab sich nicht so schnell geschlagen. Er wusste nur zu genau, dass ein Schwabe nicht so ohne weiteres ja sagen kann. Er braucht Bedenkzeit, will gebeten sein. Mindestens dreimal muss man ihn bitten, ehe er etwas annimmt oder nachgibt, aber der Zeitaufwand lohnt sich. Allerdings Oma Päule war ein besonders harter Knochen.
»Sie werden schon noch merken, dass unser Angebot nicht das Schlechteste war, aber vielleicht ist es dann zu spät«, gab Herr Merkle zu bedenken. »Es gibt schließlich auch andere Häuser am Ort.«
»Also daher weht der Wind«, entgegnete Oma Päule und wurde nun erst recht bockig.
Ziemlich genervt warf der Sparkassendirektor für’s erste das Handtuch.
Auch Moggi schien genervt.
»Aber gell Oma, du verkaufsch dei Haus net. I kann mir des überhaupt net vorstella!«
Nun, ich wusste wohl, warum Moggi so dagegen war, dass Oma Päules angebliche Bruchbude abgerissen werden sollte. Oben auf der alten, mit allerlei Gerümpel gefüllten Bühne, im hintersten Winkel, neben dem kleinen Dachfensterle machte Moggi Urlaub vom Bauernhof. Hier las sie stundenlang in meinen alten Büchern und träumte vor sich hin. Oma Päule hatte mir dieses kleine Geheimnis verraten, als ich mich wunderte, wie lange Moggi immer bei ihr war.
Als wir noch etwas ratlos zusammensaßen, kam mir eine Idee. Ob es nicht sinnvoll wäre, Herrn Hermann anzusprechen. Er ist Lehrer an unserer Schule und hält gern ein Schwätzle mit Oma Päule. Angeblich ist er richtig verliebt in ihr altes Haus.
»Wo findet man das heute noch, ein unverfälschtes, nicht modernisiertes Bauernhaus aus dem letzten Jahrhundert. Ein Jammer, dass eins ums andere dieser alten Bauernhäuser unwiederbringlich verschwindet«, sagte er, als Oma Päule ihn durchs Haus führte.
»Soll ich bei ihm mal etwas auf den Busch klopfen?« fragte ich.
Gegen Abend, wir saßen gerade alle beim Vespern, platzte noch eine nicht weniger explosive Bombe. »Wisst ihr schon das Neueste?« stürmte Carlos herein. »Neben Oma Päules Haus kommt ein Supermarkt.« »Ein Supermarkt? Woher weißt du das?« fragte Walter ungläubig.
»Von Claudia. Ihre Großmutter hängt net so am alten Glump wie Oma Päule. Angeblich soll’s a ganz toll’s, schick’s Haus werda, mit Tiefgarage, Mietwohnungen und allem Piepapo.«
Frau Haug, die Schwiegermutter von Frieder Beißwenger, wohnt direkt neben Oma Päule. Kein Schnaufer tat sie von wegen Hausverkauf, obwohl sie sonst ein fürchterliches Batschweib ist.
»Jetzt schlägt’s dreizehn!« war alles, was Walter dazu sagte. Eine weitere Portion Bratkartoffeln lehnte er wortlos ab.
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