Unabhängigkeitstag - Richard Ford - E-Book

Unabhängigkeitstag E-Book

Richard Ford

4,6

Beschreibung

Frank Bascombe, ehemals Sportreporter, jetzt Makler, plant zum Unabhängigkeitstag in Amerika am 4. Juli 1988 einen Ausflug mit seinem Sohn. Er setzt alle Hoffnung in dieses Wochenende, an dem er die Sorgen der letzten Zeit – Scheidung, Berufswechsel, eine neue Freundin, von der er nicht sicher ist, ob er sie liebt – hinter sich lassen und sich seinem seltsam verschlossenen Sohn wieder annähern kann. Franks Versuch, sein Leben nach einigen Katastrophen wieder zu ordnen, wird ausgerechnet an diesen Tagen von mehreren Seiten torpediert. Ein meisterhaft erzählter, komischer und kluger Roman über ein Ringen um Halt und Kontrolle.

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Hanser Berlin eBook

Richard Ford

Unabhängigkeitstag

Roman

Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek

Hanser Berlin

Die Originalausgabe erschien 1995

unter dem Titel Independence Day bei Alfred A. Knopf, New York

ISBN 978-3-446-25106-9

© Richard Ford 1995

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

©Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2015

Cover: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos von © franckreporter / iStock

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Kristina

1

In Haddam treibt der Sommer durch baumverschattete Straßen wie süßer Balsam eines achtlosen, träumerischen Gottes, und die Welt fällt in ihre eigenen geheimnisvollen Hymnen ein. Schattige Rasenflächen liegen still und feucht. Draußen, auf der friedlich-frühmorgendlichen Cleveland Street, höre ich die Schritte eines einsamen Joggers, der erst am Haus vorbeitrabt und dann den Hügel hinunter in Richtung Taft Lane und weiter zum Choir College, um dort auf dem feuchten Gras zu laufen. Im Schwarzenviertel sitzen Männer auf Türschwellen, die Hosenbeine über den Socken hochgekrempelt, und trinken in der zunehmenden trägen Hitze ihren Kaffee. Der Eheberatungskurs (4.00-6.00) in der High School entläßt seine Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die benommen und mit schläfrigen Augen wieder zurück ins Bett wollen. Während die High School-Kapelle auf ihrem Übungsplatz mit den zweimal täglich stattfindenden Proben beginnt und sich für den Vierten Juli in Stimmung bringt: »Buum-Haddam, buum-Haddam, buum-buum-babuum. Haddam-Haddam, auf denn, auf denn! Buum-buum-babuum!«

Anderswo an der Küste nennt der Wetterbericht den Himmel, wie ich gehört habe, verhangen. Die Hitze wird drückender, ein metallischer Geruch pulsiert durch die Nasenlöcher. Schon drohen die ersten Wolken eines sommerlichen Hitzegewitters am Horizont der Berge, und da, wo die leben, ist es heißer als da, wo wir leben. Der Wind steht so, daß man weit draußen auf der Strecke den Amtrak »Merchants Special« mit Kurs auf Philly vorbeijagen hört. Salziger Meeresgeruch treibt mit diesem Wind von weit her und mischt sich mit dämmrigen Rhododendron-Düften und den letzten standhaften Sommerazaleen.

Aber in meiner Straße, im laubbeschatteten ersten Block der Cleveland Street, herrscht wohltätige Stille. Einen Block weiter wirft jemand geduldig auf den Basketballkorb in seiner Auffahrt: ein Quietschen der Schuhe … ein Keuchen … ein Lachen, ein Husten … »Seehr schön, so ist’s guuut.« Alles gedämpft. Vor dem Haus der Zumbros, zwei Häuser weiter, rauchen die Straßenbauarbeiter in aller Ruhe eine Zigarette zu Ende, bevor sie ihre Maschinen anwerfen und den Staub wieder aufwirbeln. Dieses Jahr pflastern wir die Straßen neu, verlegen neue Kabel, säen am Straßenrand neuen Rasen, erneuern die Bordsteinkanten, geben unsere stolzen neuen Steuerdollar aus – die Arbeiter allesamt Kapverdianer und gerissene Honduraner aus den ärmeren Städten nördlich von hier. Sergeantsville und Little York. Sie sitzen, still vor sich hin starrend, neben ihren gelben Lastwagen, Planierraupen und Schaufelbaggern, während ihre schnittigen Wagen – Camaros und tief gelegte Chevys – um die Ecke geparkt sind, wo sie nicht so viel Staub abbekommen und es später schattig sein wird.

Und plötzlich setzt das Glockenspiel von St. Leo the Great ein: Gong, gong, gong, gong, gong, gong, gong, gefolgt von einem hellen, mahnenden Choral aus der Feder des alten Wesley höchstpersönlich: »Wachet auf, wachet auf, die Ihr gerettet werden wollt, wachet auf, wachet auf, und läutert Eure Seelen.«

Obwohl nicht alles hier ganz koscher ist, trotz des guten Anfangs. (Wann ist irgendwas schon ganz koscher?)

Ich selbst, Frank Bascombe, wurde Ende April auf der Coolidge Street, nur eine Straße weiter, überfallen, als ich nach einem guten Abschluß in der frühen Abenddämmerung zu Fuß nach Hause trabte, erfüllt vom Gefühl, etwas geleistet zu haben, in der Hoffnung, die Nachrichten noch zu erwischen, eine Flasche Roederer – das Geschenk eines dankbaren Verkäufers, für den ich einen guten Preis rausgeholt hatte – unter dem Arm. Drei Jungs, von denen ich einen, wie ich meinte, schon mal gesehen hatte – einen Asiaten, dessen Name mir aber später nicht mehr einfiel –, kamen auf ihren BMX-Rädern den Bürgersteig heruntergekurvt, zogen mir eine große Pepsiflasche über den Schädel und fuhren johlend weiter. Mir kam nichts abhanden, und mein Schädel blieb heil, obwohl ich wie ein Baum umkippte und zehn Minuten lang mit Sternen vor den Augen im Gras saß, ohne daß jemand etwas mitgekriegt hätte.

Später, Anfang Mai, wurde zweimal innerhalb derselben Woche in das Haus der Zumbros und ein weiteres eingebrochen. Offenbar hatten sie beim ersten Mal etwas übersehen und kamen zurück, um es sich zu holen.

Und dann wurde im Mai, zu unser aller Bestürzung, Clair Devane ermordet, unsere einzige schwarze Maklerin, eine Frau, mit der ich vor zwei Jahren eine kurze, aber intensive Affäre gehabt hatte. Tatort war eine Eigentumswohnung an der Great Woods Road in der Nähe von Hightstown, die sie einem Kunden zeigen wollte: Sie wurde gefesselt, vergewaltigt und erstochen. Keine verwertbaren Indizien – nur eine rosa Telefonnotiz auf dem Parkett der Diele, geschrieben in ihrer weit ausholenden Schrift: »Familie Luther. Suchen erst seit kurzem. Um die 90 Tsd. 15.00 Uhr. Schlüssel besorgen. Abendessen mit Eddy.« Eddy war ihr Verlobter.

Außerdem ziehen fallende Immobilienpreise wie ein böser Wind durch die Bäume. Alle spüren sie, obwohl unsere neuen bürgerlichen Errungenschaften – die neuen Streifenwagen, die neuen Fußgängerüberwege, die gestutzten Bäume, die in die Erde verlegten Stromkabel, die instandgesetzte Konzertmuschel und die Pläne für die Parade am Vierten Juli – dazu beitragen, um uns von unseren Sorgen abzulenken und davon zu überzeugen, daß unsere Sorgen keine Sorgen sind, oder wenigstens nicht allein unsere Sorgen, sondern die Sorgen von allen – also von niemandem. Und daß es in diesem Land immer darum ging, den Kurs zu halten, keinen Millimeter zurückzuweichen und sich von der zyklischen Natur der Dinge tragen zu lassen. Und daß jeder, der anders denkt, unseren Optimismus untergräbt, paranoid ist und sich jenseits der Staatsgrenzen einer kostspieligen »Behandlung« unterziehen sollte.

Und praktisch gesprochen und ohne zu vergessen, daß ein Ereignis nur sehr selten ein anderes einfach so nach sich zieht, muß es für eine Stadt, für ihren Lokalesprit, ja auch etwas bedeuten, wenn ihr Wert auf dem freien Markt fällt. (Warum sonst wären die Immobilienpreise ein Index für das nationale Wohlergehen?) Wenn die Aktien einer ansonsten gesunden Holzkohlenfirma plötzlich abstürzten, würde die Firma umgehend reagieren. Ihre Leute würden nach Einbruch der Dunkelheit eine Stunde länger an ihren Schreibtischen sitzen (wenn sie nicht auf der Stelle gefeuert würden); Männer würden noch müder als sonst nach Hause kommen, und zwar ohne Blumen mitzubringen, würden in den violetten Abendstunden länger einfach nur dastehen und die Bäume anstarren, die dringend gestutzt werden müßten, würden weniger freundlich mit ihren Kindern reden, würden vor dem Dinner noch einen Pimms mit ihrer Frau trinken und dann gegen vier Uhr morgens aufwachen, ohne daß ihnen viel, aber auf jeden Fall nichts Gutes im Kopf herumginge. Einfach eine Unruhe.

So ist es auch in Haddam, wo sich trotz unserer Sommerträgheit das bisher unbekannte Gefühl breitmacht, daß jenseits der engen Grenzen unserer Welt der Dschungel liegt. Eine Undefinierte dunkle Vorahnung unter unseren Einwohnern, an die sie sich, wie ich glaube, nie gewöhnen werden. Eher würden sie sterben, als sich damit abzufinden.

Zu den traurigen Tatsachen des Erwachsenenlebens gehört aber nun einmal, daß man genau die Dinge, an die man sich nie gewöhnen wird, am Horizont auf sich zukommen sieht. Man erkennt sie als Problem, man zerbricht sich den Kopf, man trifft Vorbereitungen und Vorkehrungen und überlegt sich Anpassungsmaßnahmen; man sagt sich, daß man die Art, wie man die Dinge anpackt, ändern muß. Bloß tut man es nicht. Man kann nicht. Irgendwie ist es schon zu spät. Und vielleicht ist es sogar noch schlimmer: Vielleicht ist das, was man von weitem auf sich zukommen sieht, gar nicht das, was einem solche Angst macht, sondern schon sein Nachspiel. Und das, was man fürchtet, ist schon passiert. Das Ganze ähnelt der Erkenntnis, daß all die großen Neuerungen der Medizin uns überhaupt nichts nutzen werden, obwohl wir sie bejubeln, obwohl wir hoffen, daß der neue Impfstoff rechtzeitig bereitstehen wird, obwohl wir denken, daß die Dinge doch noch besser werden könnten. Nur daß es auch hier zu spät ist. Und auf die Weise ist unser Leben vorbei, bevor wir es merken. Wir verpassen es. Wie der Dichter sagt: »Was man im Leben verpaßt, ist das Leben.«

Heute morgen bin ich früh auf den Beinen, in meinem Arbeitszimmer oben unter dem Dach, und gehe ein Angebot durch, das gestern abend kurz vor Feierabend »exklusiv« bei uns eingegangen ist und für das ich vielleicht jetzt schon Käufer habe. Angebote gehen häufig so unerwartet ein, als hätte die Vorsehung sie geschickt: Ein Hausbesitzer kippt ein paar Manhattans, dreht eine nachmittägliche Runde durch den Garten, um die Papierschnipsel einzufangen, die vom Müll der Nachbarn herübergeweht worden sind, harkt die letzten modrigen Blätter des Winters unter dem Forsythienstrauch hervor, wo sein alter Dalmatiner Pepper begraben liegt, begutachtet die Schierlingstannen, die er zusammen mit seiner Frau gepflanzt hat, als sie frisch verheiratet waren, vor langer, langer Zeit, wandert in Erinnerungen versunken durch Zimmer, die er selbst gestrichen, Bäder, die er lange nach Mitternacht gefugt hat, genehmigt sich unterwegs noch zwei steife Drinks, und plötzlich ist da dieser aufwallende und unterdrückte Schrei aus der Tiefe seines Herzens nach einem längst verlorenen Leben, das wir alle (wenn wir weiterleben wollen) loslassen müssen … Und peng: schon steht er am Telefon, stört einen Immobilienmakler bei seinem wohlverdienten Abendessen, und zehn Minuten später ist die Sache perfekt. (Durch einen glücklichen Zufall sind meine Interessenten, die Markhams, gestern abend aus Vermont nach Haddam gekommen, und es wäre denkbar, daß ich den ganzen Zyklus – von Angebotseingang bis Verkauf – an einem einzigen Tag erledigen kann. Der Rekord, nicht von mir, liegt bei vier Minuten.)

Als zweites muß ich an diesem frühen Morgen den Leitartikel für die monatliche Zeitschrift Käufer und Verkäufer schreiben (die unsere Firma kostenlos an jeden lebenden Hausbesitzer in Haddam verschickt). Diesen Monat feile ich an meinen Gedanken zu den wahrscheinlichen Auswirkungen des bevorstehenden Parteitags der Demokraten auf den Immobilienmarkt. Der wenig inspirierende Gouverneur Dukakis, geistiger Urheber des zwielichtigen Wunders von Massachusetts, wird wohl nominiert werden und dann auf einen leichten Sieg im November zusteuern. Ich zumindest hoffe das, aber die meisten Haddamer Hausbesitzer erfüllt es mit lähmender Angst, da sie fast ausnahmslos Republikaner sind und Reagan lieben wie die Katholiken den Papst. Aber selbst sie fühlen sich angesichts der grotesken Aussicht, Bush zum Präsidenten zu bekommen, betrogen und veralbert. Meine Argumentation beruht auf Emersons berühmtem Satz aus »Selbstvertrauen«, nämlich: »Groß sein heißt, mißverstanden sein.« Den habe ich zu der These verarbeitet, daß Gouverneur Dukakis mehr an das Portemonnaie der Wähler denkt, als die meisten glauben. Ich sage, daß die wirtschaftliche Unsicherheit ein Plus für die Demokraten ist und daß die Zinsen, die das ganze Jahr verrückt gespielt haben, spätestens zu Neujahr bei elf Prozent liegen werden, auch wenn William Jennings Bryan zum Präsidenten gewählt und die Silberwährung wieder eingeführt würde. (Diese Annahmen ängstigen Republikaner ebenfalls zu Tode.) »Was soll’s also«, lautet in etwa die Quintessenz meiner Argumentation. »Es könnte alles im Handumdrehen noch schlimmer kommen. Springen Sie jetzt ins kalte Wasser des Immobilienmarktes. Verkaufen (oder kaufen) Sie!«

In diesen sommerlichen Tagen ist mein Leben, zumindest nach außen hin, ein Muster an Einfachheit. Ich führe das glückliche, wenn auch ein wenig gedankenverlorene Leben eines vierundvierzigjährigen Junggesellen im früheren Haus meiner Frau in der Cleveland Street 116, im sogenannten Präsidentenstraßen-Viertel von Haddam, New Jersey, wo ich in der Immobilienfirma Lauren-Schwindell in der Seminary Street arbeite. Vielleicht sollte ich besser sagen: im Ex-Haus meiner Ex-Frau, Ann Dykstra, jetzt Mrs. Charley O’Dell, wohnhaft Swallow Lane 86, Deep River, Connecticut. Auch meine beiden Kinder leben dort, obwohl ich nicht genau sagen kann, wie glücklich sie sind, oder auch nur, wie glücklich sie sein sollten.

Die Abfolge der Ereignisse, die mich zu diesem Beruf und in dieses Haus führte, könnte vielleicht ein wenig ungewöhnlich erscheinen, falls man sich in seiner Vorstellung von menschlicher Beständigkeit an den Familienillustrierten des »mittleren« weißen Amerika zur Zeit der Jahrhundertwende orientiert. Oder an der »idealen amerikanischen Familie«, wie sie von rechtsgerichteten Denkfabriken propagiert wird – mehrere Direktoren solch eines Instituts leben hier in Haddam. Die aber sind im Grunde genommen nichts anderes als Propaganda für eine Lebensart, die kein Mensch durchhalten kann, ohne genau die Beruhigungspillen zu nehmen, die eben diese Leute einem verbieten wollen (obwohl ich sicher bin, daß sie selbst die Dinger tonnenweise konsumieren). Aber jedem halbwegs Vernünftigen wird mein Leben mehr oder weniger normal vorkommen, zusammengesetzt aus Zufälligkeiten und Ungereimtheiten, denen keiner von uns entgeht und die in einem Leben, das ansonsten nicht weiter bemerkenswert ist, kaum Schaden anrichten.

Heute morgen jedoch bereite ich mich auf einen Wochenendausflug mit meinem einzigen Sohn vor, der anders als die meisten meiner Unternehmungen von einigem Lebensgewicht zu sein verspricht. Überhaupt riecht diese Exkursion eigentümlich nach etwas, was man zum letzten Mal tut. Als käme eine entscheidende Phase – in meinem und seinem Leben –, nein, nicht unbedingt zum Abschluß, aber als nähere sie sich einer Drehung des Kaleidoskops, die das Bild strafft und verändert. Es wäre töricht, das auf die leichte Schulter zu nehmen, und ich tue es auch nicht. (Der Impuls, »Selbstvertrauen« zu lesen, ist an dieser Stelle ebenso bedeutsam wie der bevorstehende Unabhängigkeitstag selbst – mein liebster weltlicher Feiertag, weil er erstens so öffentlich ist und zweitens implizit das Ziel hat, uns so zurückzulassen, wie er uns vorgefunden hat: frei.) All das ereignet sich – zu allem Überfluß – fast am Jahrestag meiner Scheidung, einer Zeit, in der ich jedesmal nachdenklich werde und mich verletzbar fühle und ganze Tage damit verbringe, über den Sommer vor jetzt sieben Jahren nachzugrübeln, als das Leben plötzlich ins Schleudern geriet und ich in meiner Hilflosigkeit nicht in der Lage war, es wieder auf Kurs zu bringen.

Aber als erstes fahre ich heute nachmittag nach Süden, nach South Mantoloking an der Küste von New Jersey, zum üblichen Freitagabendrendezvous mit meiner Freundin (es gibt letztlich keine höflichere oder bessere Bezeichnung), der blonden, großen und langbeinigen Sally Caldwell. Obwohl sich auch hier Störungen zusammenzubrauen scheinen.

Sally und ich haben seit jetzt zehn Monaten eine meiner Meinung nach perfekte »dein Leben/mein Leben«-Geschichte, in der wir einander großzügige Portionen Kameradschaft, Vertrauen (auf einer »soweit nötig«-Basis), ein vernünftiges Maß an Verläßlichkeit und eine Menge heißer fleischlicher Leidenschaft bieten – alles unter Zubilligung von genügend »Freiraum« und absolutem Laisser-faire, wobei ich für letzteres offengestanden nicht viel Verwendung habe, während wir gleichzeitig den höchsten Respekt vor den teuer erkauften Lektionen und eifrig katalogisierten Fehlern haben, die das Erwachsensein mit sich bringt. Liebe ist es nicht, das stimmt. Nicht so ganz. Es kommt der Liebe aber näher als das Zeug, das die meisten Verheirateten zu bieten haben.

Und doch ist in den letzten Wochen, aus Gründen, die ich mir nicht erklären kann, in jedem von uns etwas entstanden, was ich nur als seltsames Unbehagen bezeichnen kann. Etwas, was bis in unser ansonsten erregendes Liebesleben kriecht und sogar die Häufigkeit unserer Besuche beeinflußt, als sei unser Zugriff auf gegenseitige Aufmerksamkeit und Zuneigung dabei, sich zu verändern und zu lockern, und als hätten wir jetzt die Aufgabe, einen neuen Ansatzpunkt für eine längere, ernsthaftere Bindung zu finden. Nur daß anscheinend keiner von uns dazu in der Lage ist, ein Versagen, das uns beide verblüfft.

Gestern abend, irgendwann nach Mitternacht, als ich schon eine Stunde geschlafen hatte, zweimal aufgewacht war und mein Kopfkissen zusammengeknüllt hatte, mir über die Fahrt mit Paul Sorgen gemacht, ein Glas Milch getrunken, mir den Wetterbericht angesehen und mich dann zurückgelehnt hatte, um ein Kapitel von Die Unabhängigkeitserklärung zu lesen – Carl Beckers Klassiker, den ich zusammen mit »Selbstvertrauen« als Schlüsseltext für die Kommunikation mit meinem schwierigen Sohn verwenden will, um ihm auf diese Weise ein paar wichtige Einsichten zu vermitteln –, rief Sally an. (Die beiden Texte sind übrigens kein bißchen mühsam, öde oder langweilig, wie es einem in der Schule vorkam, sondern stecken voll nützlicher, tiefsinniger persönlicher Lektionen, die sich direkt oder metaphorisch auf die zähen Dilemmata des Lebens anwenden lassen.)

»Hi. Wie geht’s?« sagte sie mit einem Anflug unsicherer Zurückhaltung in ihrer ansonsten seidenglatten Stimme, so als wären mitternächtliche Telefongespräche für uns etwas Ungewöhnliches, was sie auch sind.

»Ich les grade Carl Becker. Er ist fantastisch«, sagte ich, nun wachsam. »Er denkt, daß es bei der ganzen Unabhängigkeitserklärung darum ging zu beweisen, daß Rebellion das falsche Wort war. Daß die Gründerväter was ganz anderes im Sinn hatten. Als wär das Ganze ein Krieg um eine Wortwahl gewesen. Erstaunlich, was?« Sie seufzte. »Und was war das richtige Wort?«

»Oh. Vernunft. Natur. Fortschritt. Der Wille Gottes. Karma. Nirwana. Das alles bedeutete für Jefferson und Adams und diese Leute so ziemlich dasselbe. Die waren schlauer als wir.«

»Ich dachte, da wär mehr dran gewesen«, sagte sie. Dann sagte sie: »Alles kommt mir so festgefahren vor. Ganz plötzlich, heute abend. Geht’s dir nicht auch so?« Mir war bewußt, daß es sich hier um eine verschlüsselte Nachricht handelte. Ich hatte aber keine Ahnung, wie ich sie dechiffrieren sollte. Vielleicht, dachte ich, war das alles die Einleitung zu der Erklärung, daß sie mich nicht mehr sehen wollte – was schon mal vorgekommen war. (Wobei »festgefahren« im Sinne von »unerträglich« zu verstehen wäre.) »Irgendwas schreit geradezu danach, bemerkt zu werden. Ich weiß nicht, was es ist. Aber es hat was mit dir und mir zu tun. Findest du nicht?«

»Hm. Vielleicht«, sagte ich. »Ich weiß nicht.« Ich lehnte neben meiner Nachttischlampe in den Kissen, den muffig riechenden kommentierten Becker auf der Brust, unter meiner gerahmten Landkarte von Block Island, während der Fensterventilator (ich habe mich gegen eine Klimaanlage entschieden) die kühle, milde kleinstädtische Mitternacht an mein Bett sog. Ich wußte wirklich nicht, was im Augenblick gefehlt hätte, außer Schlaf.

»Ich hab einfach das Gefühl, daß alles festgefahren ist und irgendwas fehlt«, sagte Sally noch einmal. »Bist du sicher, daß es dir nicht auch so geht?«

»Man muß auf manche Dinge verzichten, wenn man andere haben will.« Das war eine idiotische Antwort. Vielleicht träumte ich nur. Aber morgen würde ich Mühe haben, mich davon zu überzeugen, daß diese Unterhaltung nicht stattgefunden hatte. So was kam bei mir gar nicht so selten vor.

»Ich hatte heute nacht einen Traum«, sagte Sally. »Wir waren in deinem Haus in Haddam, und du hast ständig aufgeräumt. Ich war irgendwie deine Frau, hatte aber schreckliche Angst. In der Toilettenschüssel war blaues Wasser, und irgendwann standen wir beide auf der Treppe vor deinem Haus und schüttelten uns die Hand – so als hättest du mir das Haus gerade verkauft. Und dann sah ich dich mitten über ein großes Maisfeld fliegen, die Arme ausgestreckt wie Christus oder was weiß ich, so wie in Illinois.« Wo sie herkommt, aus dem grundsoliden, christlichen Maisgürtel. »Es sah irgendwie friedlich aus. Aber insgesamt war da das Gefühl, daß alles sehr, sehr geschäftig und hektisch war und niemand irgendwas richtig machen konnte. Und ich hatte diese schreckliche Angst. Und dann bin ich aufgewacht und hatte das Bedürfnis, dich anzurufen.«

»Ich bin froh, daß du das getan hast«, sagte ich. »Aber der Traum hört sich doch gar nicht so übel an. Schließlich wurdest du weder von wilden Tieren verfolgt, die wie ich aussahen, noch aus irgendwelchen Flugzeugen gestoßen.«

»Nein«, sagte sie und schien über diese Schicksale nachzudenken. Weit weg in der Nacht hörte ich einen Zug. »Bloß daß ich solche Angst hatte. Alles war so deutlich. Normalerweise hab ich keine so deutlichen Träume.«

»Ich versuch immer, meine Träume zu vergessen.«

»Ich weiß. Darauf bist du stolz.«

»Nein, bin ich nicht. Sie kommen mir bloß nie geheimnisvoll genug vor. Ich würde mich an sie erinnern, wenn sie mir interessanter vorkämen. Vorhin hab ich geträumt, daß ich lese, und dann hab ich gemerkt, daß ich wirklich lese.«

»Du scheinst nicht besonders interessiert zu sein. Vielleicht ist es nicht der richtige Augenblick, um ernsthaft darüber zu reden.« Sie klang verlegen, als machte ich mich über sie lustig, was ich nicht tat.

»Jedenfalls bin ich froh, deine Stimme zu hören«, sagte ich. Vermutlich hatte sie recht. Es war Mitternacht. Wenig Gutes beginnt um diese Zeit.

»Tut mir leid, daß ich dich geweckt hab.«

»Du hast mich nicht geweckt«, sagte ich, schaltete aber, ohne daß sie es wissen konnte, das Licht aus, lag ruhig atmend da und hörte in der kühlen Dunkelheit dem Zug zu. »Wahrscheinlich ist es einfach so, daß du dir was wünschst und es nicht bekommst. Das ist nicht so ungewöhnlich.« In Sallys Fall konnte es sich dabei um eine ganze Reihe von Dingen handeln.

»Hast du nie so ein Gefühl?«

»Nein. Ich hab das Gefühl, eine ganze Menge Dinge zu haben. Ich hab dich.«

»Das ist schön«, sagte sie ohne viel Wärme.

»Es ist schön.«

»Wir sehen uns doch morgen, oder?«

»Darauf kannst du wetten. Ich werd in bester Form bei dir auftauchen.«

»Wunderbar«, sagte sie. »Schlaf gut. Und träum nicht.«

»Werd ich. Werd ich nicht.« Und ich legte auf.

Ich konnte nicht so tun, als ob das, womit Sally sich an diesem Abend herumgeschlagen hatte, mir unbekannt gewesen wäre – eine Leere, etwas, was fehlte. Vielleicht bin ich einfach kein Hauptgewinn, weder für sie noch für sonst jemanden, weil ich das Glöckchengeklingel zu Anfang einer Romanze zwar herrlich finde, aber absolut nicht das Bedürfiiis habe, mehr zu tun, als wegzuhören, sobald dieser süße Klang droht, sich in etwas anderes zu verwandeln. Eine erfolgreiche Strategie meiner mittleren Jahre, einer Zeit, die ich für mich als die »Existenzperiode« bezeichne, besteht darin, einen großen Teil dessen, was mir nicht gefällt oder mir beunruhigend oder verwirrend vorkommt, einfach zu ignorieren und zuzusehen, wie es sich für gewöhnlich von selbst erledigt. Aber ich bin mir der »Dinge« ebenso bewußt wie Sally und könnte mir vorstellen, daß dieser Anruf das erste (oder vielleicht auch das siebenunddreißigste) Signal dafür ist, daß wir uns vielleicht bald nicht mehr »sehen« werden. Und ich empfinde Bedauern und würde gerne einen Weg finden, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Bloß daß ich entsprechend meiner Strategie eben bereit bin, die Dinge so laufen zu lassen, wie sie laufen, und abzuwarten, was passiert. Vielleicht wird’s sogar besser. Wär schließlich auch möglich.

Von größerer Bedeutung und absolut wichtig ist jedoch die Geschichte mit meinem Sohn, Paul Bascombe, der fünfzehn ist. Vor zweieinhalb Monaten, kurz nach Ablauf der Einkommenssteuerfrist und sechs Wochen, bevor das Schuljahr in Deep River zu Ende ging, wurde er festgenommen, weil er in einem Finast in Essex drei Schachteln 4X-Kondome (»Magnum«) geklaut hatte. Seine Tat wurde von einer versteckten Kamera festgehalten, die über den männlichen Hygieneartikeln eingebaut war. Als eine kleine, aber uniformierte vietnamesische Ladendetektivin ihn gleich hinter der Kasse ansprach – er hatte als Ablenkungsmanöver eine Flasche Tönungshaarwasser gekauft –, versuchte er wegzulaufen, wurde aber von ihr niedergerungen. Er beschimpfte sie als »schlitzäugiges Arschloch«, trat sie ans Bein, schlug ihr ins Gesicht (möglicherweise unabsichtlich) und riß ihr eine beträchtliche Menge Haare aus, bevor es ihr gelang, einen Würgegriff anzuwenden und ihm mit Hilfe eines anderen Angestellten und eines Kunden Handschellen anzulegen. (Seine Mutter bekam ihn innerhalb einer Stunde wieder frei.)

Die Ladendetektivin hat verständlicherweise Anzeige wegen tätlichen Angriffs und Beleidigung und Verletzung einiger ihrer Menschenrechte erstattet. In der Jugendbehörde von Essex war angeblich sogar von »Rassenhaß« die Rede und davon, »ein Exempel zu statuieren«. (Ich halte das aber nur für Wahlkampfgerede plus Rivalität zwischen den beiden Gemeinden.)

Seitdem hat Paul zahllose Verhöre und Stunden komplizierter psychologischer Analysen seines Charakters, seiner allgemeinen Einstellung und geistigen Verfassung über sich ergehen lassen müssen – ich war bei zwei Sitzungen anwesend und fand sie nicht weiter bemerkenswert, aber fair, habe die Ergebnisse indessen noch nicht gesehen. Für diese Prozeduren hat er keinen Anwalt, sondern einen Ombudsmann, einen Sozialarbeiter mit juristischer Ausbildung. Sein erster richtiger Gerichtstermin ist am nächsten Dienstag, dem Tag nach dem Vierten Juli.

Paul hat alles zugegeben. Er hat mir aber auch gesagt, daß er sich nicht sonderlich schuldig fühle, daß die Frau sich von hinten auf ihn gestürzt und ihm einen höllischen Schrecken eingejagt habe. Er habe geglaubt, sie wolle ihn ermorden. Deshalb habe er sich verteidigen müssen. Er hätte so was nicht sagen sollen, das sei ein Fehler gewesen. Er hat geschworen, daß er nichts gegen Menschen anderer Hautfarbe oder des anderen Geschlechts habe. Im übrigen fühle er sich selbst »reingelegt« – von wem, hat er nicht gesagt. Er behauptet, er habe mit den Kondomen nichts Besonderes vorgehabt (eine Erleichterung, falls es wahr ist) und hätte sie höchstens dazu benutzt, Charley O’Dell, dem Ehemann seiner Mutter, den er genau wie sein Vater nicht ausstehen kann, einen Streich zu spielen.

Eine kurze Zeit habe ich daran gedacht, mich beurlauben zu lassen und irgendwo in der Nähe von Deep River eine Wohnung zu mieten, um Paul jeden Tag sehen zu können. Aber seine Mutter war dagegen. Sie wollte mich nicht in der Nähe haben und sagte das auch klar und deutlich. Außerdem war sie der Ansicht, sofern nicht noch etwas Schlimmes passiere, solle bis zu Pauls Anhörung alles so normal wie möglich verlaufen. Sie und ich haben die ganze Sache bis ins kleinste Detail durchgesprochen – zwischen Haddam und Deep –, River und sie vertritt den Standpunkt, daß das alles schon vorbeigehen wird, daß Paul nur eine Phase durchmacht und weder ein Syndrom noch eine Manie hat, wie man vielleicht annehmen könnte. (Es ist ihr Michiganer Stoizismus, der es ihr erlaubt, Geduld und Beharrlichkeit mit Fortschritt gleichzusetzen.) Jedenfalls ist das der Grund, weshalb ich Paul in den letzten zwei Monaten weniger häufig gesehen habe, als mir lieb ist. Ich habe allerdings vorgeschlagen, daß er im Herbst zu mir nach Haddam ziehen soll. Dem steht Ann bis jetzt skeptisch gegenüber.

Sie hat ihn jedoch – denn sie ist nicht verrückt – nach New Haven geschleppt, um in aller Stille die Meinung eines bekannten Psychologen einzuholen. Paul behauptet, es habe ihm Spaß gemacht und er habe drauflosgelogen wie ein Pirat. Ann ging sogar soweit, ihn Ende Mai für zwölf Tage in ein luxuriöses Gesundheitscamp in den Berkshires zu schicken, Camp Wanapi (von den Insassen Camp Unhappy genannt), wo man ihn als »zu inaktiv« einstufte und deshalb dazu ermutigte, sich wie ein Pantomime zu schminken und jeden Tag einige Zeit auf einem unsichtbaren Stuhl hinter einer unsichtbaren Glasscheibe zu sitzen und zu grinsen, überrascht auszusehen und Grimassen zu schneiden, wenn jemand vorbeikam. (Natürlich wurde alles auf Video festgehalten.) Die Betreuer dort, einer wie der andere insgeheim »Milieutherapeuten« in Tarnkleidung – weite weiße T-Shirts, weite Khakishorts, muskelstrotzende Waden, Trillerpfeifen an Kordeln um den Hals, mit Klemmheftern unterm Arm und wie die Schießhunde darauf aus, spontan-vertrauliche Gespräche unter vier Augen zu führen –, äußerten die Ansicht, Paul sei (nach dem Stanford-Test für Sprache und Logik) seinem Alter intellektuell weit voraus, emotional jedoch eher zurückgeblieben (wie ein Zwölfjähriger), was ihrer Ansicht nach »ein Problem darstellt«.

Das Ganze bedeutet, daß er zwar redet wie eine Intelligenzbestie, hinterhältige Witze und Zweideutigkeiten liebt (er ist vor kurzem auch ganz schön in die Höhe geschossen und jetzt 1,72 groß, hat sich aber gleichzeitig eine neue Schicht Babyspeck zugelegt), gefühlsmäßig aber immer noch genauso verletzlich ist wie ein Kind, das von der Welt weniger Ahnung hat als eine Pfadfinderin.

Seit Camp Unhappy legt er auch eine ungewöhnliche Zahl ungewöhnlicher Symptome an den Tag: Er beklagt sich darüber, nicht richtig gähnen oder niesen zu können; er spricht von einem mysteriösen »Kribbeln« an der Spitze seines Penis; er klagt, daß seine Zähne nicht mehr richtig »aufeinanderpassen«. Er gibt von Zeit zu Zeit bellende Geräusche von sich – wonach er manchmal grient wie eine Cheshire-Katze – und hat mehrere Tage lang leise, aber hörbare iiik-iiik-Geräusche gemacht, indem er bei geschlossenem Mund Luft zurück durch die Kehle preßte, meistens begleitet von einem bestürzten Gesichtsausdruck. Seine Mutter hat versucht, mit ihm darüber zu reden, hat den Seelenklempner noch einmal konsultiert (der viele weitere Sitzungen empfahl) und sogar Charley dazu gebracht, »was zu unternehmen«.

Zuerst behauptete Paul, keine Ahnung zu haben, was alle von ihm wollten, und meinte, das sei doch alles ganz normal. Später sagte er, Geräusche von sich zu geben, befriedige ein legitimes inneres Bedürfnis und störe schließlich niemanden, und falls doch, sollten die Betreffenden einmal über ihre Probleme damit und mit ihm nachdenken.

In diesen letzten Monaten habe ich mich im wesentlichen bemüht, meine eigene Ombudsmann-Tätigkeit zu intensivieren. Ich habe frühmorgendliche Telefongespräche mit ihm geführt (im Augenblick hoffe ich auf so ein Gespräch) und ihn und gelegentlich auch seine Schwester Clarissa zum Fischen in den Red Man Club mitgenommen, einen exklusiven Angelclub, dem ich zu ebendiesem Zweck beigetreten bin. Ich habe mit ihm einen Nur-wir-Männer-Trip nach Atlantic City unternommen, um Mel Tormé im Trop-World zu sehen, und ihn zweimal in Sallys Haus am Strand eingeladen, wo wir faulenzten, im Meer schwammen, am Strand spazierengingen, wenn weder Einwegspritzen noch andere feste menschliche Abfallprodukte uns den Platz streitig machten, und wo wir bis lange nach Einbruch der Dunkelheit über den Zustand der Welt und über ihn sprachen.

In diesen Gesprächen hat Paul viel von sich preisgegeben: vor allem, daß er einen komplizierten, aber aussichtslosen Kampf darum führt, gewisse Dinge zu vergessen. Zum Beispiel erinnert er sich an einen Hund, den wir vor vielen Jahren hatten, als wir noch eine ganz normale Kleinfamilie waren und alle zusammen in Haddam lebten, einen lieben, schwänzelnden alten Basset namens Mr. Toby, den wir alle über die Maßen liebten und endlos verhätschelten, der aber eines späten Sommernachmittags, als wir im Garten grillten, genau vor unserem Haus angefahren wurde. Der arme Mr. Toby rappelte sich tatsächlich noch von der Hoving Road auf, lief geradewegs auf Paul zu, sprang ihm in die Arme, zitterte und jaulte einmal und gab den Geist auf.

Paul hat mir in den letzten Wochen erzählt, daß er schon damals (er war erst sechs) Angst hatte, der Vorfall würde ihm im Gedächtnis bleiben – vielleicht für immer – und sein ganzes Leben ruinieren. Wochenlang, sagte er, lag er abends in seinem Zimmer wach, dachte an Mr. Toby und machte sich Sorgen darüber, daß er an ihn dachte. Irgendwann war die Erinnerung dann aber doch verblaßt, bis kurz nach der Kondomgeschichte. Da tauchte sie wieder auf, und seitdem denkt er »viel« (vielleicht auch ständig) an Mr. Toby. Er denkt, daß er noch am Leben und immer noch bei uns sein sollte – und natürlich auch, daß sein armer Bruder Ralph, der am Reyes-Syndrom starb, ebenfalls noch am Leben sein sollte (womit er selbstverständlich recht hat), und daß wir alle noch wir sein sollten. Manchmal, sagt er, ist es gar nicht so unangenehm, an das alles zu denken, da er sich erinnern kann, daß diese frühe Zeit, bevor all die schlimmen Dinge passierten, oft »Spaß« gemacht hat. Eine seltene Art von Nostalgie.

Er hat mir auch erzählt, daß er vor kurzem angefangen hat, sich seinen eigenen Denkprozeß bildlich vorzustellen, und daß dieser aus »regelmäßigen Ringen« zu bestehen scheint, bunt wie Hula-Hoop-Reifen. Einer der Ringe ist Erinnerung, und er versucht vergeblich, diese Ringe dazu zu bringen, »daß sie genau aufeinanderpassen«, so deckungsgleich, wie sie seiner Meinung nach sein sollten – außer manchmal kurz vor dem Einschlafen, wenn er für kurze Zeit alles vergessen kann und glücklich ist.

Außerdem hat er mir von etwas erzählt, was er als »denken, daß ich denke« bezeichnet, einem Versuch, seine Gedanken ständig zu überwachen, um sich selbst zu verstehen und die Kontrolle zu behalten und sein Leben in den Griff zu bekommen (obwohl er dadurch natürlich Gefahr läuft, sich selbst verrückt zu machen). In gewisser Weise ist sein »Problem« ganz einfach: Er hat das Gefühl, das Leben und wie man es leben sollte, verstehen zu müssen. Bloß hat er dieses Gefühl viel zu früh. Er hat noch nicht die Erfahrung gemacht, daß Krisen an einem vorbeisegeln wie beschädigte Boote. Er hat noch nicht begriffen, daß es ein verdammt guter Durchschnitt ist, wenn man eine von sechs bewältigt, und daß man den Rest einfach ziehen lassen muß. Das ist eine sehr nützliche Lehre meiner Existenzperiode.

Dies alles ist kein gutes Rezept, das weiß ich. Tatsächlich ist es sogar ein schlechtes Rezept. Es ist eine Formel für ein Leben, das von Ironien und Enttäuschungen erstickt wird: Eine äußere Person versucht, sich mit einer anderen, unter der Oberfläche versteckten inneren Person anzufreunden oder sie unter ihre Kontrolle zu bringen, kann es aber nicht. (Das könnte dazu führen, daß er Professor wird oder Übersetzer bei den Vereinten Nationen.) Abgesehen davon ist er Linkshänder und von daher statistisch jetzt schon in Gefahr, früher als üblich ums Leben zu kommen, von herumfliegenden Gegenständen geblendet, von Pfannen mit heißem Fett verbrannt, von tollwütigen Hunden gebissen und von Autos mit anderen Linkshändern am Steuer überfahren zu werden. Außerdem ist er überdurchschnittlich gefährdet, in der dritten Welt leben zu wollen, den Baseball nicht oft genug zu treffen oder geschieden zu werden wie seine Mom und sein Dad.

Ich brauche kaum zu sagen, daß meine väterliche Aufgabe aus dieser mir aufgezwungenen Entfernung nicht einfach ist: mit dem Charme eines Vermittlers seine beiden fremden Ichs, seine Gegenwart und seine kindliche Vergangenheit, zu einer besseren, robusteren und aufgeschlosseneren Einheit zusammenzuschweißen – wie getrennte, zornige Nationen, die nach einer gemeinsamen Regierung suchen –, und ihn dazu zu bringen, sich selbst zu akzeptieren. Das sollte natürlich jeder Vater in jedem Leben tun, und ich habe es auch versucht, trotz der Hindernisse, die die Scheidung und die Zeit mir in den Weg legen, und zwar ohne meinen Gegner immer zu kennen. Bloß scheint mir inzwischen klar zu sein, und Ann ist gleichfalls dieser Meinung, daß ich keinen durchgreifenden Erfolg gehabt habe.

Aber morgen werde ich ihn in aller Herrgottsfrühe in Connecticut abholen, und wir beide werden in einer richtigen Vater-Sohn-Unternehmung, einer stürmischen Spritztour, losziehen, um so viele Ruhmeshallen des Sports zu besuchen, wie es innerhalb von achtundvierzig Stunden menschenmöglich ist (also zwei). Wir werden im berühmten Cooperstown Station machen, wo wir in der altehrwürdigen Deerslayer Inn absteigen, im wunderschönen Lake Otsego fischen, ein paar ungefährliche Feuerwerkskörper in die Luft jagen und wie die Scheunendrescher essen werden, und irgendwie werde ich (hoffentlich) unterwegs das Wunder zustande bringen, das nur ein Vater zustande bringen kann. Womit ich sagen will: Wenn der eigene Sohn plötzlich kopfüber abstürzt, muß man ihm mit Liebe und Alterserfahrung eine Rettungsleine zuwerfen und ihn wieder hochziehen. (Das alles muß ich irgendwie schaffen, bevor ich ihn bei seiner Mutter in New York abliefere und mich selbst nach Haddam zurückverfrachte, wo ich aus Gründen der Vertrautheit am Vierten Juli am besten aufgehoben bin.)

Und dennoch, und dennoch. Auch eine gute Idee kann fehlschlagen, wenn man sie mit Unwissenheit in Angriff nimmt. Und wer würde sich an meiner Stelle nicht fragen: Ist der einzige Sohn, den ich noch habe, nicht jetzt schon für mich unerreichbar und völlig durchgeknallt oder auf dem besten Weg in diese finstere Richtung? Sind seine Probleme das Ergebnis durcheinandergeratener Synapsen und nur noch durch prophylaktisch verabreichte Chemikalien zu lösen? (Dies war die Meinung des Seelenklempners aus New Haven, Dr. Stopler.) Wird er sich langsam, aber sicher in einen verschlagenen Eigenbrötler mit schlechter Haut, fauligen Zähnen, abgebissenen Fingernägeln und gelben Augen verwandeln, der die Schule schmeißt, von zu Hause abhaut, in schlechte Gesellschaft gerät, mit Drogen experimentiert und schließlich zu der Überzeugung kommt, daß Ärger sein einzig verläßlicher Freund ist? Bis auch der ihn eines sonnigen Samstags unerwartet und unerträglich im Stich läßt, woraufhin er in einem Vorort in ein Waffengeschäft geht und anschließend auf offener Straße ein wildes Gemetzel veranstaltet? (Ehrlich gesagt rechne ich nicht damit, da er bisher noch keins der drei großen Warnsignale einer mörderischen Jugenddemenz an den Tag gelegt hat: Pyromanie, Tierquälerei und Bettnässen; und weil er überhaupt ein sehr weichherziger und fröhlicher Junge ist und immer war.) Oder macht er, was die wünschenswerteste Alternative wäre – wie es uns allen gelegentlich geht und was seine Mutter hofft –, nur eine Phase durch, so daß er schon in acht Wochen in der Jugendmannschaft von Deep River Linksaußen spielen wird?

Das weiß Gott allein, nicht wahr? Aber weiß er es wirklich?

Für mich, der ich Paul die meiste Zeit nicht sehe, ist das Schlimmste, daß er eigentlich in einem Alter ist, wo es ihm nicht mal in den Sinn kommen sollte, daß ihm was Schlimmes zustoßen könnte. Aber es kommt ihm in den Sinn. Manchmal, am Strand, oder wenn wir im Red Man Club am Fluß stehen und die Sonne untergeht und das Wasser schwarz und bodenlos zurückläßt, sehe ich in sein süßes, blasses, unfertiges Jungengesicht und weiß, daß er mit zusammengekniffenen Augen in eine Zukunft blickt, die voller Unsicherheiten ist. Er weiß jetzt schon, daß sie ihm nicht gefallen wird, marschiert aber tapfer darauf zu, weil er meint, daß er es muß. Und er wünscht sich, so zu sein wie ich, um aus dieser Ähnlichkeit eine Art Absicherung zu ziehen. Aber tief im Innersten seines Herzens weiß er, daß wir einander nicht ähnlich sind.

Natürlich kann ich ihm fast nichts erklären. Vaterschaft allein stattet einen nicht mit Weisheiten aus, die man weiterreichen kann. Zur Vorbereitung auf unseren Ausflug habe ich ihm »Selbstvertrauen« und die Unabhängigkeitserklärung geschickt. Ich gebe zu, daß diese Texte nicht unbedingt typische väterliche Geschenke sind. Aber ich glaube, daß er gesunde Instinkte besitzt und sich selbst helfen wird, wenn er kann. Ihm fehlt es an Unabhängigkeit – von dem, was ihn gefangenhält, was immer das sein mag: die Erinnerung, die Vergangenheit, schlimme und gute Ereignisse, mit denen er sich herumschlägt und die er nicht kontrollieren kann, obwohl er meint, sie kontrollieren zu müssen.

Die Vorstellungen, die Eltern von dem haben, was mit ihrem Kind in Ordnung ist oder nicht, sind wahrscheinlich weniger zutreffend als die des Nachbarn, der das Leben des Kindes mit einem einzigen Blick durch die Gardine perfekt erfaßt. Natürlich würde ich Paul gern sagen, wie er leben und alles auf hundert faszinierende Weisen besser machen sollte. Oder die einfachen Sachen, die ich mir selbst auch immer sage: Nichts »paßt« jemals ganz richtig, man macht Fehler, Schlimmes muß man vergessen. Aber bei unseren kurzen Zusammenkünften scheine ich mich nur im Vorbeigehen und flüchtig äußern zu können, bevor ich wieder zurückscheue. Ich bin sehr darauf bedacht, keine Fehler zu machen, will ihn weder ausquetschen noch mit ihm streiten, will nicht sein Therapeut sein, sondern sein Vater. So daß ich aller Wahrscheinlichkeit nach nie in der Lage sein werde, ihm ein Rezept für seine Krankheit anzubieten. Ich kann mir nicht einmal richtig vorstellen, was für eine Krankheit es eigentlich ist, ich werde sie einfach eine Zeitlang zusammen mit ihm durchleiden müssen. Und dann werde ich wieder wegfahren.

Das Schlimmste am Vatersein ist, daß ich erwachsen bin. Ich spreche nicht die richtige Sprache, ich werde nicht von denselben Ängsten und Unsicherheiten und verpaßten Chancen geplagt. Es ist mein Schicksal, viel zu wissen, aber nur dastehen zu können wie ein Laternenmast mit hell brennendem Licht und darauf zu hoffen, daß mein Kind den Schein sehen und sich näher an dieses stumm angebotene Licht und seine Wärme heranwagen wird.

Draußen, in der stillen, ruhigen Morgenluft, höre ich eine Autotür zuschlagen und dann die gedämpfte (der frühen Stunde angepaßte) Stimme Skip McPhersons, meines Nachbarn von gegenüber. Er kommt von seinem Sommer-Eishockeyspiel in East Brunswick zurück (Zeit auf dem Eis nur vor Tagesanbruch verfügbar).

An vielen Vormittagen habe ich ihn inmitten seiner unverheirateten Wirtschaftsprüferkumpane auf der Vordertreppe sitzen und ein geruhsames Bier trinken sehen, immer noch in ihren Schutzpolstern und Trikots, die Schlittschuhe und die Schläger auf dem Bürgersteig gestapelt. Skips Mannschaft hat die rötlichen indianischen Kriegerinsignien und die knallharte Spielweise der Chicago Blackhawks der 70er Jahre übernommen (Skip stammt ursprünglich aus Aurora), und Skip selbst trägt zu Ehren seines Helden, Stan Mikita, die Nummer 21. Manchmal, wenn ich früh auf den Beinen bin und nach draußen gehe, um die Trentoner Times hereinzuholen, unterhalten wir uns über die Straße hinweg ein bißchen über Sport. Es kommt oft vor, daß er eine Augenklappe trägt oder eine verquollene, dicke Lippe hat oder mit einer komplizierten Knieschiene herumhumpelt. Aber er ist immer gut gelaunt und verhält sich wie der beste Nachbar der Welt, obwohl er wenig von mir weiß, außer daß ich Immobilienmakler bin – irgendein älterer Kerl eben. Er ist ein typischer Vertreter der jüngeren Akademikergeneration, einer von den vielen, die sich Mitte der achtziger Jahre in die Präsidentenstraßen eingekauft und ganz schön was dafür hingeblättert haben und die jetzt am Ball bleiben, ihre Häuser nach und nach auf Vordermann bringen, ihre Hypotheken abtragen und darauf warten, daß Bewegung in den Markt kommt.

In meinem »Käufer und Verkäufer«-Artikel habe ich geschrieben, daß die meisten Leute unzufrieden sein werden, egal, wer die Wahlen gewinnt, daß aber 54 Prozent trotzdem meinen, daß es ihnen in einem Jahr besser gehen wird. (Nicht zitiert habe ich die ergänzende Statistik, auch aus der New York Times, die besagt, daß nur 24 Prozent der Meinung sind, daß es auch dem Land insgesamt besser gehen wird. Warum diese Zahlen nicht übereinstimmen, weiß kein Mensch.)

Und plötzlich ist es halb acht, und das Telefon klingelt. Es ist mein Sohn.

»Hi«, sagt er lahm.

»Hi, Paul«, sage ich, der Inbegriff des gutgelaunten, wenn auch fernen Vaters. Irgendwo ist Musik zu hören, und einen Augenblick lang glaube ich, daß sie von draußen kommt – die Straßenbauarbeiter vielleicht oder Skip –, dann erkenne ich das schwere, verrauschte bunga-bjunga-bunga-bjunga und weiß, daß Paul seine Kopfhörer aufhat und sich »Mammoth Deth« oder sonst eine seiner Lieblingsbands anhört, während er mit mir spricht.

»Was tut sich bei euch da oben? Alles okay?«

»Ja.« Bunga-bjunga. »Alles okay.«

»Alles startklar? Morgen also Canton, Ohio, und am Sonntag dann die Hall of Fame der Cowgirls?«

Wir haben eine Liste aller Ruhmeshallen zusammengestellt, die es gibt, darunter die Anthracite Hall of Fame in Scranton; die Clown Hall of Fame in Delavan, Wisconsin; die Cotton Hall of Fame in Greenwood, Mississippi und die für Cowgirls in Beaton, Texas. Wir haben geschworen, sie alle in zwei Tagen abzuklappern, obwohl das natürlich unmöglich ist und wir uns mit Basketball in Springfield (nicht allzuweit von Deep River) und mit Baseball in Cooperstown zufriedengeben müssen – das sich, wie ich hoffe, als die Begegnungsstätte für unser Vater-Sohn-Tête-à-tête herausstellen wird. Baseball ist schließlich als der Männersport überhaupt in die Geschichte eingegangen. (Ich bin zwar noch nie in Cooperstown gewesen, aber die Broschüren deuten darauf hin, daß ich recht habe.)

»Jaaa, alles startklar.« Bunga-bjunga-bunga-bjunga … Paul hat die Musik lauter gedreht.

»Hast du immer noch richtig Lust?« Wir wissen beide, daß zwei Tage viel zu kurz sind, tun aber so, als wäre es anders.

»Ja«, sagt Paul unverbindlich.

»Bist du noch im Bett?«

»Ja. Bin ich. Noch im Bett.« Scheint mir kein gutes Omen zu sein, aber schließlich ist es erst halb acht.

Eigentlich gibt es nichts, worüber wir jeden Morgen reden müßten. In jedem normalen Leben würden wir uns um diese Zeit einfach so im Haus über den Weg laufen, vielleicht ein paar freundliche Worte tauschen oder herumwitzeln, uns entweder miteinander verbunden fühlen oder auf beiläufige Weise auch nicht. Aber unter den Bedingungen unseres unnormalen Lebens müssen wir uns anstrengen, auch wenn es reine Zeitverschwendung ist.

»Hast du letzte Nacht was Schönes geträumt?« Ich beuge mich auf meinem Stuhl vor und starre in die kühlen Maulbeerblätter vor meinem Fenster. Auf diese Weise kann ich mich voll und ganz konzentrieren. Paul hat manchmal verschrobene Träume, aber es kann auch sein, daß er sie sich nur ausdenkt, um was zu erzählen zu haben.

»Ja, hab ich.« Er klingt zerstreut, aber dann wird das bunga-bjunga-bunga-bjunga sehr leise. (Anscheinend war es eine gute Nacht für Träume.)

»Willst du mir davon erzählen?«

»Ich war ein Baby, okay?«

»Okay.«

Er macht sich an irgendwas Metallischem zu schaffen. Ich höre ein schepperndes klick. »Aber ich war ein wirklich häßliches Baby. Wirklich häßlich. Und meine Eltern waren nicht du und Mom, sondern sie ließen mich allein zu Hause und gingen auf Partys. Auf sehr, sehr schnieke Partys.«

»Und wo?«

»Hier. Ich weiß nicht. Irgendwo.«

»In Deep Water?« Deep Water ist sein Spitzname für Deep River, die Stadt, in der er lebt, und er benutzt ihn, um Charley O’Dell zu zeigen, wie wenig er ihn schätzt. Allem Anschein nach kann er mit Charley noch weniger anfangen als ich.

»Genau. In Deep Water. Und so ist es, Leute.« Er verfällt in eine perfekte Imitation der Stimme von Walter Cronkite. Ein Psychologe würde ganz sicher Spuren von Angst aus Pauls Traum herauslesen und natürlich recht haben. Angst vor dem Verlassenwerden. Angst vor Kastration. Angst vor dem Tod – alles solide Ängste, dieselben, die ich auch habe. Aber wenigstens scheint er bereit zu sein, das Ganze als Witz zu betrachten.

»Sonst noch was?«

»Mom und Charley hatten Krach. Gestern abend.«

»Das tut mir leid. Worüber?«

»Irgendwas. Keine Ahnung.«

Ich höre, wie der Wettermann auf Good Morning America uns die frohe Botschaft fürs Wochenende verkündet. Paul hat seinen Fernseher eingeschaltet und keine Lust mehr, über die ehelichen Kabbeleien seiner Mutter zu sprechen; er wollte sie einfach nur erwähnen, damit er während unserer Fahrt auf sie zurückkommen kann, wenn es ihm in den Kram paßt. Seit einer ganzen Weile spüre ich (mit einem Scharfsinn, der Ex-Ehemännern vorbehalten ist), daß mit Ann irgendwas nicht stimmt. Verfrühte Wechseljahre, verfrühte Nostalgie, verspätetes Bedauern. Alles wäre möglich. Oder vielleicht hat Charley auch irgendwo ein Täubchen sitzen, irgendeine kleine vollbusige, stupsnäsige Kellnerin aus dem Hafenrestaurant in Old Saybrook zum Beispiel. Aber ihre Verbindung dauert jetzt immerhin schon vier Jahre, was unter den gegebenen Umständen ganz schön lang ist. Womit ich meine, daß niemand, der bei klarem Verstand ist, Charley überhaupt erst geheiratet hätte.

»Also hör zu. Dein alter Dad muß heute morgen noch ein Haus verkaufen. Zuschlagen. Den dicken Fisch an Land ziehen.«

»D. O. Volente«, sagt er.

»Richtig. Die Volentes aus Upper High Point, North Carolina.« Paul hat auf der Grundlage seines einen Jahres Latein entschieden, daß D. O. Volente der Schutzpatron der Immobilienmakler ist und wie ein guter Samariter umworben werden sollte – man muß ihm jedes Haus vorführen, ihm die besten Angebote unterbreiten, ihm jede Höflichkeit erweisen, darf ihn auf keinen Fall übers Ohr hauen –, weil sonst lauter schlimme Sachen passieren.

Seit dem Kondom-Vorfall spielen sich unsere Gespräche zu großen Teilen auf der Ebene von Witzen, Spitzfindigkeiten, Doppeldeutigkeiten und wieherndem Gelächter ab. Grundlage all dessen ist natürlich Liebe. »Sei nett zu deiner Mutter, okay, Kumpel?« sage ich.

»Ich bin nett. Aber sie ist blöd.«

»Nein, ist sie nicht. Ihr Leben ist härter als deins, ob du’s glaubst oder nicht. Schließlich hat sie dich am Hals. Wie geht’s deiner Schwester?«

»Prima.« Seine Schwester Clarissa ist zwölf und so verständig, wie Paul unreif ist.

»Sag ihr, daß ich sie morgen seh, okay?«

Plötzlich dröhnt der Fernseher los, und die Stimme eines Mannes schnattert aufgeregt, daß Mike Tyson 22 Millionen abgesahnt hat, als er Michael Spinks in einundneunzig Sekunden k.o. geschlagen hat. »Ich würde mir von ihm schon für die Hälfte die Fresse polieren lassen«, sagt der Mann.

»Hast du das gehört?« sagt Paul. »Er würde sich von ihm ›die Fresse polieren lassen‹.«

Er liebt diese Art von Slang, findet solche Ausdrücke unendlich komisch.

»Jaha. Jedenfalls sei morgen startklar, wenn ich komm, okay? Wir müssen ein bißchen Stoff geben, wenn wir es bis nach Beaton, Texas, schaffen wollen.«

»Er ließ sich einiges Beaton und anschließend die Fresse polieren. Wirst du wieder heiraten?« Er sagt das schüchtern. Warum, weiß ich nicht.

»Nein, niemals. Ich liebe dich, okay? Hast du dir die Unabhängigkeitserklärung und die Broschüren angeguckt? Ich erwarte natürlich, daß du mir die Sachen auswendig aufsagen kannst.«

»Nein«, sagt er. »Aber ich weiß einen.« Das bezieht sich auf einen richtigen Witz.

»Schieß los. Ich probier ihn dann an meinen Kunden aus.«

»Kommt ein Pferd in die Kneipe und bestellt ein Bier«, sagt Paul mit todernster Stimme. »Und was sagt der Barkeeper?«

»Keine Ahnung.«

»Heh, warum so ’n langes Gesicht?«

Stille an seinem Ende der Leitung, eine Stille, die besagt, daß wir beide wissen, was der andere denkt, und uns vor lautlosem Lachen ausschütten, dem besten Lachen, das es gibt. Mein rechtes Augenlid zuckt erwartungsgemäß. Jetzt wäre der richtige Augenblick – mit stillem Gelächter als Kontrapunkt –, einen melancholischen Gedanken zu denken, über irgendeinen Verlust nachzugrübeln, eine schnelle Rückschau auf das zu halten, was im Leben wichtig ist und was nicht. Statt dessen fühle ich eine Akzeptanz, die an Zufriedenheit grenzt, und eine leise Vorfreude auf den gerade beginnenden Tag. Es gibt kein falsches Gefühl des Wohlbefindens.

»Super«, sage ich. »Wirklich super. Aber was macht ein Pferd in einer Kneipe?«

»Keine Ahnung«, sagt Paul. »Tanzen vielleicht?«

»Übermut«, sage ich. »Vom Teufel geritten.«

Draußen, auf den sich erwärmenden Rasenflächen der Cleveland Street, schreit Skip McPherson: »Schuß! Und Tooooooor!« Unterdrücktes Gelächter dringt zu mir herauf, eine Bierdose zischt, die Stimme eines anderen Mannes sagt: »Was für ein Schuß! Waaas für ein Schuß, Mannomann.« Ein Stück die Straße runter grollt ein Diesel wie ein erwachender Löwe. Die Straßenarbeiter legen los.

»Bis morgen also, mein Junge«, sage ich. »Okay?«

»Jaaa«, sagt Paul. »Bis morgen. Okay.« Und dann legen wir auf.

2

In der Seminary Street um 8 Uhr 15 ist alles schon ganz auf das Wochenende des Unabhängigkeitstages ausgerichtet. Die Stimmung ist gehoben, und mit ihr heben sich alle äußeren Anzeichen des Stadtlebens. Bis zum Vierten sind es noch drei Tage, aber bereits jetzt staut sich der Verkehr vor Frenchy’s Gulf und auf dem Parkplatz von Pelcher’s Market, und aus der chemischen Reinigung und dem Spirituosengeschäft rufen sich Bekannte laute Begrüßungen zu, während die Vormittagshitze zunimmt. Viele machen sich jetzt schon auf den Weg nach Blue Hill oder Little Compton oder, wie meine Nachbarn, die Zumbros, die mehr als genug Zeit haben, zu irgendeiner Ferienranch in Montana oder teuren Forellengewässern in Idaho. Jeder hat nur einen Gedanken im Kopf: der Verkehrslawine entgehen, schnellstmöglich in die Gänge und auf die Straße kommen und das Gaspedal bis zum Boden durchtreten. »Nichts wie weg hier« lautet die Devise an der ganzen Küste.

Der erste Punkt auf meiner Liste ist ein morgendlicher Besuch in einem der beiden Einfamilienhäuser, die mir gehören, um die Miete zu kassieren. Dann werde ich einen kurzen Abstecher ins Büro machen, meinen Artikel abliefern und mir die Schlüssel für das Haus in Penns Neck holen, das ich heute Interessenten zeigen will. Und noch mal mit den Lewis-Zwillingen, Everick und Wardell, die bei uns als »Mädchen für alles« arbeiten, unseren Beitrag zu den Veranstaltungen des Feiertags am Montag durchgehen. Dieser Beitrag beschränkt sich auf den Verkauf von Hot dogs und Rootbeer von einem fahrbaren »Dogs-auf-Rädern«-Stand, der zufälligerweise mir gehört und den ich für die Sache zur Verfügung stelle (alle Einnahmen gehen an die beiden verwaisten Kinder von Clair Devane).

Auf der Seminary Street, die seit dem Aufschwung zu der Art von Edelmeilen-Hauptstraße geworden ist, die wir nie haben wollten, veranstalten die Geschäftsinhaber sogenannte »Feuerwerksverkäufe«, was heißt, daß sie den ganzen Schrott aufbauen, den sie seit Weihnachten nicht losgeworden sind, und ihre Markisen mit patriotischen Fähnchen und originellen Schildern dekorieren, die besagen, daß es amerikanische Lebensart ist, schwerverdientes Geld zum Fenster rauszuwerfen. Der Blumenladen hat Unmengen von halbverwelkten Maßliebchen- und Kornblumensträußen aufgestellt. Müde und schlecht gelaunte Angestellte, die zu Hause trotzdem Feiertagsstimmung verbreiten wollen (»sag es mit billigen Blumen«), sollen sie kaufen. Brad Hulbert, unser schwuler Schuhgeschäftbesitzer, hat vor dem großen Schaufenster Schachteln mit Restposten in nur einer Größe aufgebaut und seinen sonnengebräunten, gelangweilten Lustknaben Todd gleich neben der Tür auf einen Hocker gesetzt, wo er die Kasse machen soll. Die Buchhandlung hat sämtliche Ladenhüter vorgekramt – Berge billiger Wörterbücher und Atlanten und unverkäuflicher 88er Kalender und Computerspiele der letzten Saison –, alles auf einem langen Tisch aufgestapelt, wo diebische Teenager wie mein eigener Sohn den Krempel beäugen und begrabschen können.

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