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Ein Leben ohne Schaf ist möglich, aber sinnlos
Wie spürt man wieder Rückenwind, wenn einem das Leben um die Ohren pfeift? Als ihr Körper streikt, fasst Anne Hansen einen Entschluss: Sie zieht aus der Großstadt zurück in die Heimat, zum Auskurieren an die Nordsee. Doch nie hätte sie gedacht, dass die größte Hilfe auf vier Beinen daherkommt: Am Deich trifft sie ein Lamm und rettet es vor dem Schlachter – oder rettet das Lamm vielmehr sie? Voller Witz und Wärme erzählt sie von einer ungewöhnlichen Freundschaft, die Antwort gibt auf die ganz große Frage des Lebens: Was macht uns eigentlich glücklich? Eine Liebeserklärung an das unterschätzteste Tier der Welt. An das platte Land, in dem der Regen von der Seite kommt. Und an die Kunst, einfach mal loszulassen.
Dieses Buch ist was für dich, wenn du ...
.... wissen möchtest, wie man besser mit Stress, Krisen und Schicksalsschlägen umgehen kann
... mit dem Gedanken spielst, aufs Land zu ziehen (Kleiner Spoiler: Du wirst ganz neue Seiten an dir entdecken!)
... verstehen möchtest, warum es alles ändert, das Glück im Kleinen zu suchen
... mal wieder richtig herzhaft lachen möchtest!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
ANNEHANSEN, 1980 in Husum geboren, arbeitet als freie Autorin für überregionale Medien und hat bereits mehrere Bücher geschrieben. Unter dem Pseudonym Rosa Schmidt begeisterte sie mit der Reihe der »Rentner-Tagebücher« mehr als hunderttausend Leser und landete mit dem Buch »Mein Mann, der Rentner« einen SPIEGEL-Bestseller. Wenn sie nicht am Schreibtisch sitzt, versucht sie ihr Glück beim Pokern (wenig erfolgreich) und erzieht in ihrer Freizeit einen Jack Russell (es geht aufwärts). Sie lebt mit ihrem Mann in Nordfriesland.
ANNE HANSEN
Hinfallen, aufstehen, weitergrasen:Wie ein kleines Schaf mir ganz große Dinge beibrachte
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Copyright © 2024 by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Fotos: Anne Hansen
Bildbearbeitung: Lorenz+Zeller GmbH, Inning a. Ammersee
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de | München
Umschlagabbildungen: Thomas Lorenzen
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31253-4V001
www.penguin-verlag.de
Ja, worum geht es hier? Diese App, die den Inhalt von Büchern zusammenfasst, würde schreiben: Frau rettet Schaf vor dem Schlachter.
Joaaaaaa, haut einen jetzt nicht vom Hocker. »Muss ich das lesen?«, werden Sie sich fragen. Nö, man muss gar nichts im Leben (auch etwas, das ich von den Schafen gelernt habe).
Aber eigentlich geht es auch um viel mehr.
Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an das unterschätzteste Tier der Welt. An das platte Land, in dem der Regen von der Seite kommt. Und an die Kunst, loszulassen.
Denn es geht darum, wie man mit Krisen umgehen kann und warum am Ende nicht nur ich Lämmchen, sondern vor allem auch Lämmchen mich gerettet hat.
Wenn Sie das nun doch interessiert: Dann kommen Sie mal mit an den Deich!
When the Shit Hits the Fan
»Meinst du, ich kann mich kurz hinlegen oder kommt das komisch?«, flüstere ich Axel zu, während die Gemeinde »Es ist ein Ros entsprungen« singt. Laut Anzeiger kommen noch drei Lieder. Dann kann ich mit Gottes Segen wieder wie eine 90-jährige Oma nach Hause schlurfen.
Wir sitzen im Heiligabend-Gottesdienst in einer Berliner Kirche in Prenzlauer Berg. Obwohl wir schon seit 16 Jahren in Berlin wohnen (und das sogar fast neben dieser Kirche), waren wir noch kein einziges Mal hier. Geschweige denn an Weihnachten. Da fährt man schließlich nach Hause. (Ein untrügliches Zeichen dafür, dass »Wohnort« und »Zuhause« wohl doch oft zwei verschiedene Dinge sind.)
»Klar, mach mal«, flüstert Axel zurück und knüllt mir seine Jacke zum Kopfkissen zusammen. Ich lasse mich nach links auf die harte Holzbank kippen, lege mich auf den Rücken und blicke gen Kirchendecke. Seit drei Monaten betrachte ich die Welt weitestgehend von unten. Arztzimmer, Taxis, unser Wohnzimmer, Krankenhäuser oder einfach den Himmel. Ich kenne nun verschiedene Modelle an Rauchmeldern (vielleicht mal was für Wetten, dass …?), habe viele Lüftungsschächte und die größte Spinne der Welt gesehen, kann mich immer noch nicht entscheiden, ob ich verputzte Decken oder welche aus Rohbeton lieber mag, und habe mich intensiv mit Wolkenformationen beschäftigt. Wie dieser unfreiwillige Perspektivwechsel zustande gekommen ist?
Den folgenden Abriss meiner letzten drei Monate können Sie überspringen, wenn Sie ein Problem mit Krankheiten haben (vollstes Verständnis!). Machen Sie einfach auf Seite 19 weiter. Ansonsten: Ich halte mich auch kurz, zwei Strophen Tochter Zion und wir haben diese Episode hinter uns. Versprochen!
Es war ein sonniger Sonntag Ende September. Ich wachte auf und spürte sofort: Irgendwas stimmte nicht. Mein Schädel brummte. Aber es waren keine normalen Kopfschmerzen, sondern ein eher undefinierbarer Druck. So, als hätte ich eine Gehirnerschütterung oder wäre in einem Boxkampf ordentlich vermöbelt worden. Im Liegen waren die Schmerzen fast weg, doch kaum setzte ich mich auf oder stand, schoss es wieder in den Kopf.
»Hat heute Nacht ein Kampf stattgefunden, von dem ich nichts mehr weiß?«, fragte ich Axel, während ich im Badezimmerschrank nach Ibuprofen suchte.
Axel lachte. »Wahrscheinlich hast du dich nur verlegen, oder? Hatte ich doch neulich auch, das passiert schnell mal.«
Eigentlich war mir sofort klar, dass es irgendwas anderes sein musste, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Also ließ ich mich überreden, noch mit Freunden einen Spaziergang im Park zu machen. Die frische Luft würde mir sicher guttun. (Was soll diese arme frische Luft bloß immer alles richten?!)
Leider brachte der Spaziergang nicht die erhoffte Besserung. Im Gegenteil. Mir war jetzt auch noch unglaublich übel, und als wir eine Pause machten, musste ich mich unter einen Baum in den Schatten legen (bei kümmerlichen 15 Grad).
»Großer Gott, mit dir stimmt aber wirklich was nicht«, sagte meine Freundin Anke, die ich normalerweise zwang, sich bei 30 Grad mit mir in die pralle Sonne zu setzen.
Am nächsten Tag schleppte ich mich irgendwie zu meinem Hausarzt, der mir prompt eine Einweisung ins Krankenhaus in die Hand drückte.
»Lieber mal abklären«, sprach er – und das Unglück nahm seinen Lauf.
Im Krankenhaus tippte ein junger Assistenzarzt nämlich auf Hirnhautentzündung (die ich nicht hatte) und verpasste mir dafür eine Lumbalpunktion (die er anscheinend noch nicht oft gemacht hatte). Bei dieser Punktion wird unten an der Wirbelsäule Gehirnflüssigkeit, der so genannte Liquor, aus dem Rückenmark entnommen, und wenn man darin nicht so viel Erfahrung hat … unschön! Ich erspare Ihnen die anschließenden Details und spule ein wenig vor: Das Krankenhaus hatte ganze Arbeit geleistet und ich war als Schatten meiner selbst herausgekommen. Durch die Punktion hatte sich im Kopf ein Unterdruck entwickelt und ich war stolze Besitzerin eines Liquorunterdrucksyndroms (unbedingt für Scrabble merken, das schlägt keiner!). Es ging jetzt wirklich nur noch eins: liegen.
Im Nachhinein (diese zwei Wörter sind immer schlecht, wenn es um die Gesundheit geht) stellte sich heraus, dass ich bereits ein Liquorunterdrucksyndrom gehabt hatte, als ich ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Um mal einen Vergleich zu bemühen: Ich hatte also schon einen Arm gebrochen gehabt, und im Krankenhaus hatte man noch einmal richtig ordentlich draufgehauen, damit es ja kein einfacher Bruch, sondern so ein stattlicher Trümmerbruch wurde. Der Arm sollte bitte richtig schön im Eimer sein. Leider war es mein Kopf.
Die nächsten Wochen befand ich mich fast durchgehend in der Horizontalen, es ging nichts mehr. Sobald ich aufrecht stand oder auch nur saß, hatte ich einen solchen Druck im Kopf, dass ich mich direkt wieder hinlegen musste. Außerdem war da diese unglaubliche Müdigkeit, als hätte man mir den Stecker gezogen. Ich konnte auch gar nicht mehr klar denken. Hellgrau wallender Nebel in meinem Kopf, permanent. Und eine Zeitlang war ich mir nicht sicher: Würde ich überhaupt jemals wieder ein normales Leben haben? Als Journalistin war ich auf meinen Kopf angewiesen, ich hatte nichts anderes. Und ausgerechnet der war jetzt nicht einmal imstande, sich auf ein Gespräch zu konzentrieren, geschweige denn, die passenden Worte zu finden, um daran teilzunehmen. Würde ich jemals wieder reiten können? Oder auch nur Auto fahren? Selbst Alltägliches, wie mit Freunden in einem lauten Restaurant zu sitzen, war absolut unvorstellbar. Alle diese Dinge erschienen mir wie weit entfernte Galaxien, die ich nur vom Hörensagen kannte.
An einem Tag wollte ich mir die Normalität zurückerobern und nahm mir vor, selbst mit dem Auto zu einem Arzttermin zu fahren. Doch auf halber Strecke überfielen mich so starke Kopfschmerzen, dass ich rechts ran fuhr, den Warnblinker setzte, den Sitz nach hinten kippte und liegend so lange wartete, bis Axel mich abholte. Es war verrückt. Nichts war mehr möglich. Ich war zum Liegen verdammt.
Dies war die Zeit, in der ich viel schlief. Viel las. Viele Serien guckte. Viel grübelte. Und zur Rauchmelderexpertin wurde.
Nach zwei Monaten etwa wurde der Druck im Kopf ganz allmählich weniger – ein Segen –, und ich feierte die kleinen, aber doch so großen Erfolge. Ich konnte für zehn Minuten am Esstisch sitzen, ohne dass mein Schädel platzte. Ich konnte wieder duschen, ohne mich danach über Stunden hinlegen zu müssen. Und ich konnte wieder gehen, wie eine Oma Schritt für Schritt um den Block schlurfen, und musste nur drei Pausen zwischendurch einlegen, an jeder Ecke eine. Es ging aufwärts, immerhin. Aber die Kopfschmerzen waren meine täglichen Begleiter, mal mehr, mal weniger.
Genau zu dieser Zeit empfahl mir eine Freundin einen Chiropraktiker, der in Berlin als Wunderheiler galt. Schon viele Patienten mit Kopfschmerzen hatte er durch beherztes Zupacken wieder hinbekommen. Das war er, mein Strohhalm!
Besagter Chiropraktiker war Feuer und Flamme, auch bei mir sein Können zur Vollendung zu bringen. Er hörte sich meine Vorgeschichte an und sagte dann mit schönstem wienerischen Akzent (ich war hin und weg): »Schauen’S, des erleb i oft. Da mocht’s amoi knack und des Kepferl ist wieda frei.« Ich war sofort überzeugt.
Eine Woche später lag ich bäuchlings zum vereinbarten Termin auf seiner Behandlungsliege und war bereit, den sagenumwobenen Knack in Empfang zu nehmen.
»Aber bitte nicht die Halswirbelsäule einrenken«, sagte ich noch, denn eine andere Freundin hatte mir vor Jahren einmal eine Horrorgeschichte darüber erzählt. Alles, was ich abgespeichert hatte: NIEMALS die Halswirbelsäule einrenken lassen!
Der Österreicher schüttelte den Kopf und lachte. »Keine Sorge, das geht sich gut aus!«
Er fing an, meinen Rücken zu bearbeiten, und wiederholte die ganze Zeit mantraartig: »Das geht sich gut aus«, wobei mir nicht klar war, ob er mir Mut zusprach oder sich selbst. Er arbeitete sich vom Steißbein Richtung Kopf hoch, und ich dachte über die eigenwillige Formulierung nach. Das geht sich gut aus. Gab es in Österreich wohl noch mehr reflexive Verben als bei uns? Auf Deutsch fielen mir gar nicht so viele ein, vor allem nicht in der dritten Person. Während ich abwechselnd »Grammatik ist schon interessant« und »Himmel, der packt aber ordentlich zu« dachte, machte es plötzlich tatsächlich »knack« und ich spürte einen stechenden Schmerz – in der Halswirbelsäule. Grundgütiger.
Im Nachhinein (Klappe, die Zweite) stellte sich im MRT heraus, dass ich in der Halswirbelsäule etliche Instabilitäten hatte. Ein Autounfall in Griechenland, mehrere Reitunfälle und ein schwerer Fahrradsturz als Kind – meine Halswirbelsäule hatte schon einiges mitgemacht. Eigentlich war das all die Jahre kein Problem, doch das Einrenken hatte es zu einem gemacht.
Seit besagten Tagen im Herbst muss ich an einen Spruch denken, den ich mal bei einer Australierin aufgeschnappt habe: »When the shit hits the fan.« Frei übersetzt: Die Sch… wird schön über den Ventilator überall hin verteilt. Treffender könnte es wohl nicht sein. Manchmal stellt ein einziger Augenblick das gesamte Leben auf den Kopf. Es kommt zu einer Verkettung unglücklicher Umstände, und immer tiefer stapft man irgendwann durchs hässliche Gestrüpp, wo man doch nur einmal kurz den hübsch angelegten Wanderweg verlassen hat. Und nun liege ich auf der Holzbank einer Berliner Kirche, höre ironischerweise »O du Fröhliche« und kneife die Augen zusammen, damit ich nicht weinen muss und das Relief über mir wie ein Kaleidoskop aussieht.
Fast den ganzen Tag gelegen. Highlights: »Drei Nüsse für Aschenbrödel« und die ZDF-Silvesterparty am Brandenburger Tor gesehen.
Um zwölf Axel länger als sonst umarmt, weil ich noch schnell ein paar Tränen unterdrücken musste.
»Du kannst ruhig weinen«, sagte er (Mist, ertappt) und drückte mich an sich.
Tapfer »nö« gesagt.
Während ich kurz darauf im Bett liege und mich noch einmal geistesabwesend durch Facebook klicke, lese ich auf einem Profil: »Gib jedem neuen Jahr die Chance, das Schönste deines Lebens zu werden. Happy new year an alle!«
Ich hasse diese Motivations- und Kalendersprüche, habe ich schon immer. Carpe Diem oder noch schlimmer: Lebe jeden Tag, als wäre es dein Letzter. Natürlich, sie machen sich unglaublich gut auf Kaffeebechern, Jutebeuteln oder eben Facebook-Profilen. Man zeigt damit, dass man sein Leben in vollen Zügen genießt und hach, seufz, so ganz bewusst und achtsam im Moment lebt. Dass man das meiste aus den Tagen herausholt. Dass man jeden Moment voll ausgekostet und man mit sich im Reinen ist. Aber jetzt nehmen wir das mal wörtlich: Würde nicht jeder komplett durchdrehen, wenn er wüsste, dass morgen sein letzter Tag wäre? Kann man sich eigentlich noch mehr unter Druck setzen? Normal zur Arbeit gehen. Normal zu Mittag essen. Normal auf dem Sofa sitzen. Normal LEBEN. Alles nicht mehr möglich, wenn man wüsste, die letzte Stunde hat geschlagen. Kann bitte jemand diese Sprüche für immer verdammen?! Ich könnte mich wirklich in Rage reden. Aber gut, vielleicht sollte ich in meiner Lage nicht auch noch Bluthochdruck bekommen. Dann versuche ich mal, mich darauf einzulassen: Gib jedem neuen Jahr die Chance, das Schönste deines Lebens zu werden.
Ich wäre bereit. Aber sowas von.
Das nächste Jahr kann kommen.
Bye, Bye, Berlin
Axel und ich haben einen Entschluss gefasst. Wir ziehen für ein Jahr nach Nordfriesland. Glücklicherweise haben wir direkt ein kleines Haus mit kleinem Garten zur Miete gefunden. Axel kann als selbstständiger Journalist von überall aus arbeiten, ich als freie Autorin auch. Und ohnehin bin ich noch länger krankgeschrieben. Einen Tag, nachdem wir unsere Wohnung zur Untermiete ins Netz gestellt hatten, war sie auch schon weg. Eine amerikanische Unternehmensberaterin und ein junger, dynamischer Start-up-Typ übernehmen ab Februar unser Leben. Great!
Ich könnte jetzt schreiben, dass wir schon immer zurück aufs Land wollten. Dass die Aussicht aufs Meer, die grenzenlose Weite, die Wellen, den Horizont, die salzige Luft und den Wind, der Körper und Geist einmal kräftig durchpusten soll, dafür gesorgt hat, dass wir bald unsere Koffer packen werden. Dass wir schon immer eins dieser Paare waren, die davon träumten, mit Schürze und Gummistiefeln an einem Hochbeet zu stehen und zu seufzen: »Schau dir diesen Salat an, ein Geschenk der Mutter Natur.« Doch all das wäre dreist gelogen.
Denn wir sind durch und durch Großstadtmenschen. Ich liebe es, dass ich in Berlin nachts um drei noch ein vietnamesisches Sandwich essen kann, dass die Menschen hier alle so unterschiedlich und viele verrückt sind und dass wir so viele Museen haben (in die wir zwar nicht oft gehen, zugegeben, aber wir KÖNNTEN!). Das große Glück des Konjunktivs.
Oder: Die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten und wir mittendrin – das fühlt sich gut an.
Außerdem hat die Tatsache, dass ich eigentlich aus dem hohen Norden vom platten Land komme, immer für Lacher um mich herum gesorgt. Weil mir immer kalt ist, bin ich die Erste, die reingehen will. Ich kann nicht erklären, wie Ebbe und Flut zustande kommen, kann weder Blätter noch Vögel benennen (wirklich KEINE!) und – festhalten, jetzt kommt’s richtig dicke – hasse Wind! Da bin ich wie meine Oma, die anscheinend auch im falschen Landstrich geboren war. Ich sehe noch genau vor mir, wie sie immer ihre weiße Mohair-Mütze festhielt und auf Plattdeutsch vor sich hin schimpfte: »Scheußli, scheußli.«
Und trotzdem. Irgendwie kommt mir meine Krankheit wie eine vom Leben verordnete Auszeit vor, ein großes Stoppschild. Und was lernt man schon in der Fahrschule? An einem Stoppschild muss man halten. Mit allen vier Reifen. Nicht langsam rollen und dann wieder durchstarten. Nicht die ganze Zeit die Kupplung treten, damit man auch ja sofort wieder einsatzbereit ist. Nein, richtig halten. Einmal zum Stehen kommen. Gang rausnehmen.
Und wo würde das besser gehen als in Nordfriesland? Keine Ablenkung weit und breit und auf Mamas Versprechen »Wir päppeln dich schon wieder auf« vertrauen.
Außerdem muss ich immer an etwas denken, das mir ein Arzt im vergangenen Jahr gesagt hat. Ich lag auf einer Liege aus teurem schwarzem Leder im Berliner Westen (Privatpraxis, natürlich! Das nächste Buch wird zum Thema Zwei-Klassen-Medizin sein, kann ich so aus dem Ärmel schütteln!) und sprach mit dem Arzt über meinen Kopf, der nicht mehr richtig funktionierte.
»Und wie lange dauert das wohl?«, stöhnte ich und hielt mir die Schläfe.
»Ein halbes Jahr, maximal. Aber sehen Sie es wie ein Philosophiesemester an. Man lernt nie mehr im Leben über das Leben, als wenn man krank ist.«
Große Worte, dachte ich. Ob das wohl zutrifft?
Aber nun: In knapp drei Wochen geht es zum Studieren an die Nordsee.
(Gilt Nordfriesland schon als Auslandssemester?)
Die Koffer sind gepackt.
Schlagartig minus zehn Grad. Die berühmte Russenpeitsche ist da. Die ganze Stadt ist in ein undefinierbares Grau getaucht. Nie machte es einem Berlin leichter wegzuziehen als jetzt.
Von einer, die auszog. Und dann wieder da war
Größer könnte der Kontrast nicht sein. In Berlin packe ich meine Koffer in einer riesigen Altbauwohnung mit zwei Flügeltüren wie in einem Schloss. Alles an dieser Wohnung ist zu groß geraten. Das Schlafzimmer, fast 50 Quadratmeter. Dazu zwei Wohnzimmer, warum auch nicht, eine absurd große Küche, in der ein langer Esstisch für imaginäre Reisegruppen steht, die jederzeit vorbeikommen könnten, und ein großes Badezimmer, in dem es fast alles doppelt gibt: Waschbecken, Spiegel, Toilette, wobei das Bidet ein wenig aus der Zeit gefallen scheint. Heute wäre diese Wohnung unbezahlbar, und wenn man nicht gerade Ai Weiwei heißt (die letzten zwei Jahre fast unser direkter Nachbar), kaum erreichbar. Doch wir sind in einer Zeit eingezogen, in der Berlin noch billig und alles möglich war. Zugezogene hatten die freie Wahl auf dem Wohnungsmarkt, und ich weiß noch, wie ich als Einzige (!) die Wohnung besichtigte und in einer aberwitzigen Hybris zum Verwalter sagte (nie wäre man damals auf die Idee gekommen, einen Makler zu kontaktieren): »In dem großen Erker kann man natürlich schlecht Möbel stellen, aber wir werden schon irgendwie einen Weg finden.«
Einziger Wermutstropfen: Alle Räume sind nach vorne ausgerichtet, direkt an einer vierspurigen Straße, ein bauliches Meisterwerk. So wird es niemals dunkel in der Wohnung. Selbst spezielle Verdunklungsvorhänge mit der hässlichen schwarzen Rückseite müssen die Segel streichen. Keine Chance. Noch dazu wird es niemals still in der Wohnung. Die Tram, die direkt vor der Tür im Zehnminutentakt hält und wieder anfährt, verursacht ein Quietschen, das unseren Alltag wie Hintergrundmusik begleitet. Hinzu kommen ein nicht enden wollender Strom an Autos, die bremsen, beschleunigen und hupen, und Fahrradfahrer, die schimpfen und klingeln.
Bis zuletzt sind wir am Dechiffrieren dieser Großstadtkakophonie gescheitert. Wir empfingen immer nur: »Kauf dir neue Ohropax!« Auf dem Gebiet bin ich tatsächlich Expertin. Welche Marke, wie reindrehen, wann loslassen, wie nachdrücken. Auch Schlafmasken! Ich kenne sie alle.
Fünfeinhalb Autostunden später begrüßen mich Stille und Dunkelheit. Genauer gesagt: sind wir am 54. Breiten- und 9. Längengrad angelangt. 50 Minuten bis nach Dänemark, zwei Minuten bis zum Wasser. Hier in Husum komme ich an. In der Stadt, in der ich vor fast zwanzig Jahren nach dem Abitur in die große weite Welt aufgebrochen bin (die für mich nach der Journalistenschule in Köln aus einer Wohnung an besagter vierspurigen Straße über einer Dönerbude in Berlin bestand). Der Kreis schließt sich. Damals weinte meine Mutter, als ich nach dem Abi in einem Umzugswagen verschwand, und jetzt weint sie, weil ich wieder da bin. Und weil ich so krank bin. Das würde sie aber niemals zugeben, denn sie will sich nichts anmerken lassen. Nicht, dass es mir noch schlechter geht, weil es ihr schlecht geht. Stattdessen drückt sie mich immer ganz fest und sagt so optimistisch wie möglich, dass alles gut wird.
Nordfriesland ist der nördlichste Landkreis Deutschlands. Oben drüber kommt nur Dänemark, links daneben gibt’s nur Wasser und drunter liegt Süddeutschland, gefühlt. Rechts davon kommt irgendwann die Ostsee, in der immerzu Wasser ist und man baden kann, wann man möchte. Es ist uns ein Rätsel.
Wenn man Nordfriesland beschreiben sollte, dann kommt man nicht umhin, sämtliche Klischees aus ZDF-Vorabendserien zu bemühen – und durchgehend zu sagen: Yup, es stimmt! Es gibt sehr viele Reetdachhäuser, überall Fischbrötchen und viele Menschen in Troyern (aber KEINE in Friesennerzen, die tragen nur die Touris). Das Land ist flach und immer ist es windig. Als ich noch in der Grundschule war, habe ich beim Preisausschreiben der hiesigen SPD mal eine Reise nach Bonn gewonnen. Was für eine Aufregung! Zum ersten Mal in die Großstadt. Viele Erinnerungen habe ich nicht an die Tage am Rhein, aber ich weiß noch, wie ich irgendwann auf der Straße ergriffen innehielt.
»Irgendwas ist hier anders«, sagte ich.
»Ja klar, wir sind ja auch in einer richtig großen Stadt«, sagte meine Mutter.
»Nee, das ist was anderes.«
»Die U-Bahn vielleicht? Bist du ja vorher auch noch nie gefahren.«
»Nee, das ist es nicht.«
»Die vielen Leute überall? Die Politiker vielleicht?«
Ich schüttelte den Kopf. Es musste irgendetwas in der Luft sein. Und schlagartig fiel es mir auf: Es war windstill. Ein neunjähriges Mädchen von der Nordsee kam aus dem Staunen nicht heraus, dass so etwas möglich war. Ich hatte den Himmel auf Erden gefunden. Seitdem verbinde ich die Bonner Republik immer mit Blättern an den Bäumen, die sich keinen Zentimeter bewegen.
Zurück nach Nordfriesland: Wie ticken wir so? Nun, ich zitiere die messerschärfste Abhandlung über unsere Mentalität, die ich finden konnte: »Es heißt Moin. Moin Moin ist schon Gesabbel.« Wirklich, wenn Sie sich so ein doofes T-Shirt mit diesem Spruch kaufen, erweisen Sie sich als geprüfter Kenner unserer Psyche. Die Nordfriesen sind keine Meister großer Worte. Aber hat man sie einmal geknackt, hat man sie für immer. Übrigens: Man sagt wirklich nur »Moin«. Wenn Sie »Moin Moin« sagen, können Sie sich auch gleich ein Schild um den Hals binden: »Ich komme nicht von hier, möchte aber gern so tun, als ob.«
Aber die Nordfriesen können auch überschwänglich. Vor allem bei Torten. Alles, was wir uns an Worten sparen, stecken wir in Form von Sahne und Schmand und Zucker in unsere Torten. Googeln Sie mal nach »Trümmertorte«. Dann wissen Sie, wovon wir uns ernähren. Aus einer großen Springform kriegen wir maximal fünf bis sechs Stücke raus. Wer da knickert, macht sich unbeliebt.
Ich warne Sie übrigens vor: Sollten Sie mal zu einer Kaffeetafel eingeladen werden, stellen Sie Tage vorher das Essen ein. Glauben Sie mir, Sie werden dankbar sein! Es gibt nämlich eine nordfriesische Tradition: Alle Torten und Kuchen werden linksherum im Uhrzeigersinn herumgereicht. Man nimmt sich nicht, worauf man am meisten Lust hat, sondern man hat sich von allem etwas zu nehmen! Wenn jemand eine Torte weiterreicht, ohne sich ein Stück abzuschneiden, wird dies mit Argusaugen beobachtet. Jutta hat den Käsekuchen ausgelassen. Stimmt was nicht mit dem? Oder ist was mit Jutta? Geht’s ihr nicht so gut heute? Die wird doch jetzt nicht alle weiter … nein, Aufatmen, Jutta steigt bei der Marzipantorte wieder ein. Zwar unter Ächzen und Stöhnen, aber die Welt ist wieder in Ordnung. Nach Kuchen und Torten kommen nach einer kurzen Pseudo-Pause (man bleibt die ganze Zeit sitzen!) übrigens noch Kekse und Brote mit Käse. Wird auch alles nacheinander herumgeschickt. Linksherum.
Und Husum selbst? Erst einmal: Es ist KEINE Insel. Irgendwie scheint es wie die Bielefeld-Verschwörung zu sein, die die Legende nährt, dass Bielefeld nicht existiert. Alle Welt glaubt, dass Husum eine Insel ist. Mir ist das zum ersten Mal im Studium begegnet, als ich einer Freundin erzählte, dass ich an dem Tag noch nach Husum fuhr.
»Fährt denn noch eine Fähre?«, fragte sie mit großen Augen.
Seitdem kommt in Gesprächen auf »Ursprünglich komme ich aus Husum« regelmäßig die Reaktion: »Oh, wie schön, ein Inselkind!«
Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Husum wäre liebend gern eine Insel, ist aber kurz vor dem großen Sprung auf dem schönen Festland gelandet. Darum sind wir auch ziemlich neidisch auf die Sylter, werden aber sofort panisch, wenn Sylter Verhältnisse bei uns aufziehen und die gesamte Husumer Altstadt mit Ferienwohnungen zugepflastert wird. Wenn uns auch kein mondäner Inselcharme umweht, können wir mit anderen Dingen punkten: einem wunderschönen Schloss, in dem vor 150 Jahren eine feministische, rebellische Gräfin lebte, Theodor Storm (der für nahezu jedes Haus herhalten muss à la »Hier lebte / aß / lachte / war mal zu Besuch / saß auf der Toilette Theodor Storm«), dem besten Käsekuchen der Welt (Café Jacqueline), dem besten Kaffee an der Nordsee (Künstlercafé), kleinen gepflasterten Gassen, die bald eine einstweilige Verfügung einreichen, weil sie nicht mehr fotografiert werden wollen, Bernds Schlossluke, an der sich die ganze Stadt trifft und stundenlang über die Welt philosophiert, und die alljährliche Krokusblüte, die den gesamten Schlosspark in Violett taucht und Unmengen an Reisebussen aus ganz Deutschland anspült.
Fast 25 000 Einwohner hat Husum, und jeder kennt jeden über 1,2 Ecken, maximal. (Weltweit sind es übrigens 6,6!) Es könnte auch sein, dass wir alle irgendwie miteinander verwandt sind, denn wir alle heißen Petersen, Ingwersen, Carstensen, Clausen, Andresen, Martensen oder eben Hansen. Die Endung stammt vom Ende des 18. Jahrhunderts: Als Nachname bekam das Kind den Namen des Vaters. Hieß dieser zum Beispiel Jens, hieß die Tochter automatisch Jensen mit Nachnamen.
Wenn ich danach gefragt werde, wie man »Hansen« schreibt, weiß ich, dass ich in weiter, weiter Ferne bin. Ich sage dann immer »ganz normal«, wobei das meist auch für keine Erleuchtung beim Gegenüber sorgt. »Ein ›s‹ und ein ›n‹«, kläre ich absurderweise auf und denke: »Wenn man das in Husum wüsste …«
Wenn ich dagegen in Husum meinen Namen angebe, werde ich erst einmal nach dem Vornamen gefragt. Doch auch »Anne Hansen« gibt es hier wie Sand am Meer, weshalb man mich nach meiner Straße fragt. Und selbst da ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass hier mehrere Anne Hansens leben, deswegen ist eigentlich erst so richtig klar, wer ich bin, wenn ich die Hausnummer noch dazu sage. Ach, die Anne Hansen aus der Nummer 5.
Heute bin ich in die Søren-Kierkegaard-Falle getappt. Wem das nichts sagt: Von diesem dänischen Philosophen stammen die weisen Worte: »Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.«
Bei mir war es heute so weit, als wir einen Spaziergang durch die Stadt machten und irgendwann am Marktplatz vor dem Husumer Wahrzeichen standen: Die »Tine«, eine große in Bronze gegossene Fischersfrau, blickt stolz gen Meer und empfängt heimkommende Fischer. Und, welchen Fang hast du heute gemacht? Welche Beute bringst du mit nach Hause? Na, dann zeig doch mal, was du dabei hast!
Ja, welchen Fang habe ich heute gemacht? Oder im Leben? Habe ich alle Schätze gehoben, oder liegt da noch etwas ziemlich Tolles auf dem Meeresgrund, an dem ich total unachtsam und deppert vorbeigeschippert bin? Derzeit herrscht jedenfalls Flaute, die Beute streichen andere ein. Während anscheinend alle auf große Expedition gehen und das Leben beim Schopfe packen, muss mein Schiff zurück in die Werft, um überhaupt wieder fahrtüchtig gemacht zu werden. Wieder da, wo ich geboren wurde, zurück auf Los. Los wie Loser? Irgendwie fühlt es sich gerade so an.