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Paula Steingäßer erzählt, was es bedeutet, in einer Welt aufzuwachsen, in der die Zukunft nicht mehr sicher ist. Angst, Selbstzweifel und die Frage: Wie sieht meine Zukunft aus? Junge Menschen befinden sich schon immer auf der Suche. Aber in einer Gesellschaft, in der die Klimakrise die Zukunft bedroht, scheint die Orientierungslosigkeit unüberwindbar zu werden. Die Gefühle, die die Auseinandersetzung mit der Klimakrise auslöst, können isolieren und lähmen. Welchen Einfluss das auf uns alle und insbesondere die Jugend hat, wird viel zu wenig thematisiert – wie auch, wenn die öffentlichen Debatten und Entscheidungsfindungen vor allem von älteren Generationen geprägt werden. Aus einer sehr persönlichen Perspektive beschreibt Paula Steingäßer das Aufwachsen in einer Welt, in der eine ganze Generation aus allen Sicherheiten und Überzeugungen gerissen wird. Sie erzählt von ihren Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen, von Ängsten und Problemen und dem Gefühl, nichts ändern zu können. Ein mutiges und eindrückliches Gesprächsangebot, das zeigt: Wir müssen auch über diese Erfahrungen sprechen, über die Unsicherheit und die Verzweiflung. Nur so kann es gelingen, zukunftsfähige Geschichten zu erzählen und wirkungsvolle Formen des Aktivismus zu entwickeln.
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Seitenzahl: 173
Paula Steingäßer
Aufwachsen mit der Klimakrise
Angst, Selbstzweifel und die Frage: Wie sieht meine Zukunft aus? Junge Menschen befinden sich schon immer auf der Suche. Aber in einer Gesellschaft, in der die Klimakrise die Zukunft bedroht, scheint die Orientierungslosigkeit unüberwindbar zu werden. Welchen Einfluss das auf die Jugend hat und welche Gefühle es auslöst, wird viel zu wenig thematisiert – wie auch, wenn die öffentlichen Debatten und Entscheidungsfindungen vor allem von älteren Generationen geprägt werden.
Ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung beschreibt Paula Steingäßer das Aufwachsen in einer Welt, in der eine ganze Generation aus allen Sicherheiten und Überzeugungen gerissen wird. Ein sehr persönliches Gesprächsangebot, das zeigt: Wir müssen auch über diese Erfahrungen sprechen, über die Unsicherheit, die Verzweiflung und das Gefühl, nichts ändern zu können. Nur so kann es gelingen, zukunftsfähige Geschichten zu erzählen und wirkungsvolle Formen des Aktivismus zu entwickeln.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Paula Steingäßer, geboren 2000, studiert Geschichte und Philosophie in Freiburg im Breisgau. Aufgrund der journalistischen Arbeit ihrer Eltern ist sie schon als Kind um die Welt gereist, um auf die Folgen der Klimakrise aufmerksam zu machen. Neben ihrem Studium besucht Paula Steingäßer Fortbildungen im Bereich der Permakultur, auf denen sie lernt, lebendige Systeme zu designen. 2022 erschien ihr Text »Eine kurze Anleitung fürs Aufgeben« im FUTURZWEI-Anti-Frust-Buch »Zu spät für Pessimismus«.
[Widmung]
[Hinweis]
Gedicht
Kalaallit Nunaat
Angerlartussiaq
Spöng
Schuhgröße 44
Haare
Permakultur
Zukunftsmusik
Danksagung
Literaturliste
Für Spöng.
Du hast mich sanft und stark gemacht.
Der folgende Text beinhaltet Schilderungen von psychischen Problemen und Erkrankungen wie Magersucht, Depressionen, Angstzuständen und selbstverletzendem Verhalten. Falls das Lesen der entsprechenden Stellen in dir schwierige Gefühle oder Erinnerungen auslöst, kannst du jederzeit das Buch zur Seite legen und einen nahen Menschen anrufen, spazieren gehen oder etwas anderes machen, was dir guttut. Du kannst dich außerdem immer bei der Telefonseelsorge unter 0800 1110111 melden oder zur nächstgelegenen Psychiatrie gehen, falls du unter suizidalen Gedanken, Selbstverletzungen oder anderen psychischen Symptomen leidest. Auch in weniger akuten Situationen gilt: Du darfst dir jederzeit professionelle Hilfe holen, therapeutischen Rat aufsuchen und andere Hilfsangebote beanspruchen. Ich schicke dir viel Kraft!
Die Klimakrise ist ein Eisberg, sagten sie.
Verhungernde Eisbären klettern über einen schmelzenden Untergrund,
und wir sehen nur ein Zehntel des Ausmaßes –
der Rest verliert sich im dunklen Wasser.
Die Klimakrise ist wie eine Geschichte, deren Ende wir nicht kennen.
Wir suchen noch nach einem Anfang,
während die Eskalationsspirale uns bereits die Worte raubt –
dabei sind wir doch eigentlich die, die rauben.
Was wollt ihr mit euren Eisbildern, mit euren Eisüberschriften?, fragen andere.
Die Klimakrise ist überall, sie fällt in unsere Leben und unsere Geschichten ein
und breitet sich in unseren Sommern und Wintern aus,
durch die Hitze, die Stürme und die Sprachlosigkeit.
Wenn ich erzählen will, wenn ich gegen die wortlose Angst anschreibe,
schmecken meine Sätze nach dem Eis,
das klarer und türkiser wird, je älter es ist.
Meine Träume riechen nach Robbenfell und Sommergewittern im April,
und ich kann meine Geschichte nur beginnen, wenn ich dort stehe,
zwischen den Eisbergen und Eisbären.
Die Klimakrise hat tausendundeins Gesichter,
also warum nicht dort anfangen, wo ich aufgewacht bin,
damals mit dreizehn Jahren, in einem kleinen Boot auf einem arktischen Meer?
Ich weiß nicht, ob meine wachsenden Brüste oder die schmelzenden Gletscher meine Kindheit beendeten
oder ob ich ein Zuviel oder Zuwenig an Zukunft habe und deshalb nie beginne.
Aber ich weiß, dass ich meine Geschichte erzählen will,
weil wir alle jene Gesichter kennenlernen müssen,
um uns dieser schwindenden Welt nicht zu entfremden.
Vielleicht fange ich im Sprechen an, ohne zu wissen, wie alles endet,
und im Zuhören auf das, was ihr antwortet und zurückerzählt.
Vielleicht schreibe ich mein Fragen auf, mein Träumen und Zweifeln,
ohne die Antworten je gefunden zu haben,
um einen kleinen Raum zu öffnen, in der Leere, die uns die Worte raubt.
Um zu erzählen und erzählen zu lassen, damit wir uns den tausendundeins Gesichtern annähern,
und vielleicht – vielleicht? – tausendundzwei neue Wege finden.
Denn die Krise, in der wir leben,
ist nicht nur eine einzige Geschichte
und die Zukunft, die wir suchen,
nicht nur eine Entscheidung entfernt,
sondern tausendunddrei.
Und vielleicht ist das die einzige Zahl, die wirklich zählt
oder die wir zählen sollten.
Denn ab dem Tag, an dem meine Geschichten endeten
und die Stunden ihren Sinn verloren
und die Fragen ihre Ursprünge fraßen,
bis keine Worte mehr in mir waren,
lösten Welt und Ich sich gleichermaßen langsam auf.
Und zurückgefunden habe ich sie nur
im Zuhören
und Erzählen.
Es sind zu viele Menschen auf zu engem Raum in diesem Flugzeug. Die beiden Sitzreihen sind zu schmal, der Gang dazwischen auch, die Luft scheint knapp zu werden. Das ganze Flugzeug ist zu klein, eine winzige Propellermaschine, die sich von Island aus auf den Weg nach Kulusuk, Ostgrönland, macht. Wie sollen ihre kurzen Flügel diese ganzen Menschen in der Luft halten? Es sind hauptsächlich Männer in Outdoorkleidung, die ihre klobigen Skistiefel anhaben, um die Gewichtsgrenze ihrer Expeditionstaschen nicht zu überschreiten. Die vordersten Sitze hat ein Filmteam eingenommen, es ist noch bepackter als die restlichen Insass*innen. Ein bärtiger Mann aus Mexiko, mit dem sich meine Eltern schon am Flughafen in Reykjavik unterhalten haben, sitzt auf dem Platz am Notausgang und ganz vorne, am Eingang der Maschine, ein gewisser Markus Lanz mit seinem Sohn. Das hat meine Mutter gleich bemerkt, aber ich habe keine Ahnung, wer das ist. Ich beobachte die Gesichter der Menschen um mich herum; jede kleinste Regung in ihrer Mimik lässt mein Herz schneller schlagen. Mein Selbsthilfebuch sagt, ich soll der Flugangst nicht glauben, aber je höher wir steigen, desto stärker wackelt die Maschine. Ist es wirklich so unwahrscheinlich, mit dreizehn Jahren über dem Nordpolarmeer bei einem Flugzeugabsturz zu sterben? Die Motoren dröhnen ungleichmäßig und stotternd. Verlieren wir nicht schon wieder an Höhe? Ich schnalle mich nicht ab, solange wir noch in der Luft sind. Die ganzen drei Flugstunden lang trinke und spreche ich nicht. Bloß nichts riskieren, was das Gleichgewicht dieses Fluges irgendwie stören könnte. Vor allem wenn meine drei kleinen Geschwister neben mir den Ernst der Lage nicht begreifen und munter weiter über die Sitze klettern. Ich versuche mich mit meinem Blick am Horizont festzuklammern, doch die Welt draußen ist durch die runden kleinen Fenster verzogen. Der Himmel geht fast nahtlos in ein blaues Meer über. Blau in Blau, nur von Wolken durchbrochen.
Neben mir sitzen meine Eltern. Meine Mutter ist Ethnologin und mein Vater Fotograf, zwei Journalist*innen auf der Jagd nach den Spuren der Klimakrise, auf der Suche nach Geschichten über sie. Zu Hause wird alles nur in Zahlen erklärt, doch Menschen können keine Zahlen fühlen, sagen meine Eltern. Die Klimakrise betrifft uns alle, aber niemand unternimmt etwas, wenn wir nur von Zahlen sprechen. Sie sagen auch, dass die Erde krank ist, vergiftet von dem, was wir ausstoßen, ausleben und ausatmen. Ich sehe, wie sich im Himmel unter mir Abfall ansammelt und aus den Wolken Rotzfahnen tropfen, wie bei einer Grippe. Also versuche ich, weniger zu atmen, aber das macht die Angst nicht besser, nur noch schwindeliger. Der Horizont verschwimmt so sehr, dass ich ihn nicht mehr festhalten kann. Als ich mich irgendwann der Gefahr des unausweichlich erscheinenden Falles ergeben will, kommt das Eis. Wie ausgelaufene Milch malt es Muster auf das dunkle Meer, erst noch wässrig, Salzwasser am Gefrierpunkt, dann klarer, fester, flächiger. Schollen treiben auf dem Wasser, einzelne kleine, und große, die wie Bienenwaben aneinanderkleben. Das Flugzeug sinkt langsam, und ich möchte näher an das Eis gelangen. Ich möchte die Risse und die verschiedenen Weißtöne von nahem sehen und mit den Fingern über die Kälte streichen. Je weiter wir nordwärts fliegen, desto enger rücken die Eisschollen zusammen, bis sie schließlich miteinander verschmelzen und eine weiße Decke auf dem rauen Meer bilden, die nur von einzelnen dunklen Wasserlinien durchzogen wird. Ich weiß nicht, ob es an der beruhigenden Kraft der kristallisierten Kälte liegt, aber meine Angst hat sich in diesen Mustern verloren. Irgendetwas in ihnen fühlt sich vertraut an, so als würde ein Teil von mir nach sehr langer Zeit zurückkehren, obwohl ich diese Insel noch nie betreten habe. Die Küste kommt in Sicht: eine lange Bergkette, die braungrau zerfurcht aus dem Wasser wächst. Uralte Präsenz, die seit Jahrtausenden über dem Meer thront. Etwas in der Taubheit meines Körpers, die mich seit ein paar Monaten begleitet, beginnt zu schwingen.
Wir kommen der Küste immer näher und fliegen schließlich durch Bergtäler, die so eng sind, dass die kleine Maschine mit ihren Flügeln fast an den Stein kratzt. Wir sind kaum aus den Kurven heraus, da landen wir schon. Die Piste ist nicht mehr als eine Spur aus dreckigem Schnee zwischen den Felsen. Als die Türen aufgehen, spüre ich einen eisigen Luftzug. Der Pilot gibt über die Lautsprecher durch, dass wir schnell über die Landebahn aus Schnee laufen sollen, weil da gestern noch Eisbären waren, eine Mutter mit zwei Jungen, also nicht zu langsam, bitte, danke. Ich nehme eine Schwester an der Hand. Wir steigen aus dem Flugzeug, es ist scheißkalt. Ich beeile mich, wirklich. Nach kurzer Zeit betreten wir den Flughafen, eine kleine Hütte am Fuß der Berge. Ein alter Mann mit dunklen Augen und hellen Falten steht am Eingang und verkauft schwarze Eisbärenkrallen. Wie schon so oft stürzt die Fremde auf mich ein. Die neuen Gerüche und ungewohnten Eindrücke legen sich um mich herum wie eine große Jacke. Ich habe sie schon als Kind getragen, an anderen Orten und aus anderen Stoffen gemacht. Aber sie passt nicht mehr, seitdem mein Körper seine ganzen neuen Rundungen bildet. Mein Körper ist mir inzwischen viel fremder als diese Eiswüste, in der wir gelandet sind. Alles fühlt sich bedrohlicher an als sonst, weil ich mir selbst so körperfremd geworden bin und ohnehin schon nicht mehr weiß, wer, woher oder wohin. Trotzdem ist auch etwas in mir angekommen. Je kälter die Luft wird auf dieser Eispiste, desto wärmer fühlt sich mein Körper an. Die Taubheit wird in der Kälte schwächer und mein Blick weicher. Alle Blicke sind hier weicher, und ich erwidere manche, zaghaft.
Wir packen unsere großen Taschen in einen Anhänger, der an einem Motorschlitten befestigt ist. Das dauert lange, denn es sind viele Taschen. Es sind ja auch viele Kinder, vier Stück, zu den zwei Eltern und viel Gepäck: Jacken, Essen, Windeln, Kameras, ein Snowboard. Wir laufen hinterher, als unsere Taschen zum Hafen gebracht werden, der nicht mehr als ein großer Stein an der Wasserkante ist. Meine Eltern laden alles in ein kleines Boot. Ich passe auf, dass keine Geschwister ins Wasser fallen und der Stoffeisbär auch wirklich dabei ist und nicht noch im Flugzeug liegt oder bei der Eisbärin und ihren zwei Kindern. Das Boot ist orange, mit Plastikglas an den Seiten. Schließlich sind alle Taschen eingeladen, und wir steigen ebenfalls ein, legen ab und fahren los.
Dann wache ich auf.
Ich wache auf, anders kann ich es nicht beschreiben. Ich wache auf, in meinem Körper und in dieser Welt. Plötzlich bin ich nicht mehr außerhalb von allem, sondern innerhalb. Ich kann kaum glauben, wie klar die Luft ist und wie kaltblau das Wasser. Zwischen uns schwimmt das Meereis, dicke flache Schollen, mit Schnee bedeckt, und Eisberge, riesig wie Kathedralen, türkis strahlend. Ich rieche das Benzin des Motorbootes, aber auch noch etwas anderes: Ich rieche blaue Himmel, ich rieche tausend Jahre Eis, ich rieche Möwenlieder. Ich erkenne, ohne zu kennen. Ich wache auf, so fühlt es sich an, aber vielleicht strömt einfach nur das Gefühl in meine Gliedmaßen zurück. Meine Lunge brennt von der eisigen Luft, das Blut pumpt in meinem Gesicht und in meinem ganzen Körper, der versucht, sich gegen die Kälte zu wehren. Meine Hände und Füße, eingepackt in dicken Lagen, beginnen zu kribbeln. Mein ganzer Körper wird von den Wellen hin und her geschaukelt.
Irgendwann kommen wir im Hafen von Tasiilaq an, der Hauptstadt Ostgrönlands. 2000 Menschen leben hier in bunten Holzhäusern, die sich wie rote, blaue und gelbe Tupfen in die schneebedeckten Berghänge am Fjord schmiegen. Wir werden von Robert Peroni abgeholt, ein ehemaliger Extremsportler und Bergsteiger, der schon lange in Grönland lebt. Er hat das Rote Haus gegründet, in dem wir schlafen werden. Im Utiili Aapalartoq, wie das Rote Haus auf Ostgrönländisch heißt, kommen Journalist*innen wie Wandrer*innen unter; hier starten Skitouren und Dokumentationen, Expeditionen und Schlittenhundefahrten. Vor allem aber, sagt Robert mit seiner warmen Stimme, können hier Menschen aus aller Welt die Inuit und ihre Kultur kennenlernen. In Roberts hellen Augen spiegelt sich sein Lachen wider, tiefe Falten ziehen sich über sein Gesicht. Während wir unsere Taschen in seinen Jeep laden, erzählt er uns von dem Land, das er vor Jahrzehnten als seine Heimat erwählt hat, und von den Menschen, die ihn aufgenommen haben. Die Straßen, über die wir fahren, sind holprig und uneben. Es gibt kaum Autos in Tasiilaq und nur ein einziges Taxi. Der Weg endet hinter dem letzten grünen Haus auf der Hügelkuppe – vielleicht, weil es dort keine kleinen bunten Heimaten mehr gibt, die verbunden werden müssen, sondern nur noch eine große weiße Weite.
Ich sitze auf der engen Rückbank des Jeeps und beobachte, wie Tasiilaq am Fenster vorbeizieht. Ich weiß nicht, ob ich einfach übermüdet bin von der Ankunft dieses Landes in meinem Leben oder besonders wach von der plötzlichen Rückkehr meines Körpers. Vielleicht ist es auch etwas ganz anderes, aber die Wirklichkeit fühlt sich ungewohnt an, als hätte sich ein Schleier von mir gelöst, als hätte ich die Welt bis jetzt immer nur aus der Entfernung sehen können. Jetzt ist sie ganz nah. Wäsche und Eisbärenfelle hängen an Leinen zwischen den Häusern. An den Holzwänden blättert die Farbe ab, die Fenster sind vergraut, Kanister, Gummistiefel und Bierflaschen liegen in den Straßen. Die Wäsche strahlt gleißend hell in der kalten Sonne, und ich frage mich, wie sie trocknen soll, wenn mein Atem selbst im Auto in der Luft gefriert. Bin ich müde oder wach von dieser Kälte?
Es ist so kalt, dass meine Wangen brennen. Am Wegrand spielen Kinder im Schnee. Ihre Rotznasen glänzen bis zu mir herüber, aber sie tragen weder Handschuhe noch Mützen, nur dicke Schuhe und dünne Winterjacken. Mein Blick bleibt an den Hunden hängen, die vor jedem Haus in dicken Ketten liegen. Sie blicken mir aus mit Fellbüscheln ausgekleideten Schlafkuhlen entgegen, in denen der Schnee vor lauter Schmutz ganz dunkel gefärbt ist. Sie sind rotbraun und schwarz, weiß gefleckt und grau meliert. Dünn sind sie alle, auch wenn ihr dichtes Fell das gut zu verbergen vermag. Ein etwa dreijähriger Junge schleppt einen Welpen durch den Straßengraben, dessen Fiepen auch durch die Autoscheiben zu hören ist. Eine angekettete Hündin, vermutlich seine Mutter, wird von einem Kind gestreichelt und von einem anderen mit Schnee beworfen. Als wir aussteigen, rennen zwei Junghunde auf uns zu. Sie springen an mir und meinen Geschwistern hoch, lecken unsere Gesichter und beißen Löcher in unsere Daunenjacken. Ihr Fell riecht nach Fisch und Schafswolle. Unwillkürlich muss ich lächeln. Die Hunde haben ein Bissmuster auf meinen rotkalten Händen hinterlassen, das sagt: Ich bin in Grönland.
Ich bin in Grönland, und die Hunde bleiben meine Gefährten, während ich mich vor den Menschen wie zu Hause am liebsten verstecken würde, um zu verbergen, wie schwammig mein Körper und mein Selbst werden. Ein paar Tage später ziehen mich die Hunde an starken Seilen, die an einem Holzschlitten befestigt sind, durch den tiefen Schnee. Unten am Hafen werden sie von Tobias angeschirrt, der große Hände und als Jäger keine Zukunft mehr hat. Die Hunde jaulen aufgeregt und springen zwischen den alten Booten, die bis zum Sommer zur Hälfte im Meereis versunken sind, in die Luft, bis die Ketten sie zurückreißen. Tobias entknotet die roten Leinen und spannt die Hunde vor den Schlitten, jeden an seinen Platz. Die harte Sitzfläche des Holzschlittens ist für uns mit Eisbärenfellen ausgepolstert worden. Meine Eltern haben mir erzählt, dass Tobias als Kind mit seiner Familie nomadisch gelebt hat und den Tieren nachgezogen ist. Heute lebt er vom Tourismus und von der Robbenjagd. Englisch hat er sich selbst mit Filmen beigebracht. Der Leithund, erklärt er mir, ist nicht der schnellste, sondern der intelligenteste. Als Tobias einen kurzen, lauten Ruf von sich gibt, rennen die Hunde los. Wir machen uns auf den Weg nach Tiniteqilaaq, einem kleinen Dorf, das ein paar Hundeschlittenstunden entfernt liegt.
Mit dreizehn Jahren weiß man noch nicht viel über die Welt und das Leben. Und doch bin ich mir sicher, dass es pure Freiheit ist, sich von einem Rudel grönländischer Schlittenhunde über ein zugefrorenes Meer ziehen zu lassen. Es ist eine Freiheit, die ich vorher nicht kannte, und von der ich nicht wusste, wie sehr ich sie brauche. Die Hunde sind schnell, sie rennen mit Lebensfreude, von Angst und Instinkt geleitet, so schnell, dass wir die Drehung der Erde einzuholen scheinen und die Welt für einen Moment stillsteht. Die Hunde rennen so schnell über den harten Schnee und über den Eisfjord, dass der Wind alles aus mir herauspresst, was nicht genau in diesen Moment gehört. Die Hunde rennen so schnell, dass sich Freiheit nur noch anfühlt wie ein weißer Horizont, der sich in einen hellen Himmel und Kälte auflöst; so schnell, dass ich fliege und alles zurücklasse, was der Kälte nicht standhalten kann: Menschensorgen, Dickheitsängste, Schulaufgaben, Zukunftsenden. Wir fliegen in einen weißen Himmel, der sich langsam dunkel färbt, als wir am Horizont die Lichter von Tiniteqilaaq erkennen. Die Hunde werden abgeschirrt und an Haken angeleint, die im Hafeneis befestigt sind. Als Tobias ihnen ihr Robbenfleisch gibt, färbt sich alles rot: der Schnee, ihre Münder, ihre Pfoten, der Himmel. Wir ziehen in eine kleine Hütte am Fjord. In der Diele liegen Robbenfelle und Gewehre in einer Plastikwanne.
Am nächsten Morgen stapfe ich in Thermounterwäsche, Schneehose und Daunenjacke, mit Daunenfäustlingen und einer dicken Mütze in den Schnee. Vor unserer Hütte wartet eine schwarze Hündin auf mich. Sie bleibt bei mir, in den nächsten Tagen und Wochen, auch wenn ich nicht weiß, warum. Ich folge ihr durch das Dorf und zwischen die Häuser. Es sind noch viel weniger als in Tasiilaq, und noch viel mehr als dort sind verbrannt. Schwarze Dachbalken ragen in den weißen Himmel. Wir laufen vorbei am Pilersuisoq, dem Supermarkt, in dem man Nudeln, Munition und Barbies kaufen kann; vorbei an den weißen Holzkreuzen auf dem Hügel hinter der Schule, zu deren Füßen bunte Blumen aus Plastik im weißen Schnee liegen; vorbei an den Motorschlitten und unzähligen weiteren Hunden, die mit Metallketten festgebunden sind. Wie in Tasiilaq fällt es mir schwer, an ihnen vorbeizugehen. Die meisten können kaum mehr aufstehen, weil ihre Ketten zu kurz und zu stark verknotet sind. Ihr Leben findet in einem Radius von einem Meter statt. Die schwarze Hündin läuft einfach an ihnen vorbei.
Ich höre Fußgetrappel. Lachende Kinder ziehen mich von hinten an meinen Armen auf kleine Holzschlitten, zu Schneehäusern und Kinderspielen. Ein paar werfen harte Schneebälle nach der schwarzen Hündin. Ich kenne kein Wort für Wut auf Grönländisch und kann nichts tun, um sie zu stoppen. Andere Kinder tragen die Kleinsten auf ihren Armen, noch jünger als meine kleine Schwester, die noch Windeln trägt und ihren Schnuller braucht. Genauso wie ich scheinen alle viele Geschwister zu haben. Wir ziehen durch die Stille Tiniteqilaaqs, auf Schlitten und Schultern, spielen Klatschspiele, Enemenedupedene, und lachen. Das Lachen können wir alle verstehen. Meine Geschwister und ich werden von den Kindern Tinteqilaaqs aufgenommen, als würde uns nichts trennen, obwohl wir uns so anders als sie durch diese Eiswelt bewegen. Sie zeigen uns, wo sich die neugeborenen Welpen gerade verstecken, nehmen uns mit auf ihren riesigen Schlitten, auf denen wir zu zehnt die engen Schneegassen herunterrasen, und bringen uns Wörter bei, die wir sofort wieder vergessen. Orpa, Angiuk und Oderika essen fast jeden Mittag bei uns zu Hause, zwei Portionen, aber ohne Gemüse. Die anderen trauen sich nicht in das kleine Wohnzimmer. Stattdessen naschen sie Chips und saure Gummibärchen auf der Schneewehe vor dem Wasserturm. Sie scheinen tagsüber kein Zuhause zu haben. Den ganzen Tag lang erfüllen ihr Gelächter und ihr Geschrei die eisige Luft, während meine Geschwister und ich uns alle zwei Stunden im Haus aufwärmen müssen, obwohl wir zwei Jacken und Handschuhe mehr anhaben. Nur in der Dunkelheit ist der Ort kinderleer und still.