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"Lohnarbeit, Gartenarbeit, Beziehungsarbeit, Blowjob: Alles ist zur Arbeit geworden. Wir arbeiten an unserem Körper, an unserer Lebensweise und an unserem Liebesglück. Arbeit ist das Lebenselixier des modernen Menschen, ein Fetisch, mit dem wir uns lustvoll selbst geißeln." Aber was wird da eigentlich gearbeitet? Zu welchen Bedingungen? Burn-out oder Bore-out? Vergnüglich und provokativ stellt Patrick Spät unsere Arbeitsgesellschaft auf den Prüfstand und fragt: Ist es das wert? Warum nehmen wir nicht einfach mal den Fuß vom Gas - und leben?
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Seitenzahl: 148
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Patrick Spät
Und,wasmachstduso?
© 2014 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
Umschlaggestaltung & Satz: Patrizia Grab & Ulrike Groeger
Druck & Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-85869-633-5
1. Auflage 2014
Ich arbeite, also bin ich?
Zum Arbeitsfetisch
Arbeit essen Seele auf oder: digitale Fließbandarbeit
Müßiggangster
Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral
Stockholm-Syndrom
Ich Mensch, du Maschine:die Folgen der Automatisierung
Wie uns die Politik den Fleiß eintrichtert
Die Marktgesellschaftoder: Volkes Zorn gegen die Nichtstuer
Was ist das: Arbeit?
Die outgesourcte Sklaverei
Erst die Arbeit, nie das Vergnügen
Keine Arbeit ist besser als jede Arbeit
Arbeit ist das halbe Leben: Gedanken zur Arbeitszeit
Die 30-Stunden-Woche … und weniger
Stell dir vor, es geht, und keiner kriegt’s hin
Generalstreik das Leben lang!
Proletarier aller Länder, verweigert euch!
Do-it-yourself-Anarchismus
Müßiggang ist aller Laster Ende
Quellen und Literatur zum Weiterlesen
Studien und Reports
Der Autor
»Unser Leben ist der Mord durch Arbeit, wir hängen sechzig Jahre lang am Strick und zapplen, aber wir werden uns losschneiden.«1
GEORG BÜCHNER
Wohl kein anderer Satz fällt auf einer Party so häufig wie dieser: »Und, was machst du so?« Dahinter steckt die unausgesprochene Frage: Bist du nützlich? Manchmal verbirgt sich dahinter auch die Frage: Verdienst du mehr Geld – oder Anerkennung – als ich? Die Arbeit bestimmt unseren sozialen Stellenwert: Sag mir, was du arbeitest – und ich sag dir, wer du bist. So schaut’s aus in unserer Leistungsgesellschaft. In der schönen neuen Arbeitswelt speist sich auch unser individuelles Selbstwertgefühl unmittelbar aus unserem Job, wir definieren uns zu einem ziemlich großen Teil über die Art und Weise, wie wir unsere Brötchen verdienen. Und weil dieses Schubladendenken auch im Umgang mit unseren Mitmenschen allzu praktisch ist, fragen wir sie immer gleich nach ihrer Arbeit.
Auf einer ebensolchen Party erzählte mir mal ein Syrer, der wegen des dortigen Bürgerkriegs als Flüchtling in Deutschland gestrandet war: »Es gibt kein Wort, das ich bei den Deutschen öfter höre als das Wort machen. Ihr macht ständig irgendwas … ihr macht belegte Brote, ihr macht eine Party, ihr macht Musik, ihr macht sogar eine Pause und Urlaub! Ruht ihr euch eigentlich auch mal wirklich aus?« Der Syrer lächelte verschmitzt. Er hatte natürlich recht: Machen, machen, machen. Wir sind pausenlos auf Draht und – machen irgendwas.
Lohnarbeit, Gartenarbeit, Beziehungsarbeit, Blowjob – alles ist zur Arbeit geworden. Wir arbeiten an unserem Körper, an unserer Lebensweise und an unserem Liebesglück. Die Arbeit ist das Lebenselixier des modernen Menschen, ein Fetisch, mit dem wir uns lustvoll selbst geißeln. Von Kindesbeinen an wachsen wir mit dem Imperativ auf, »etwas aus uns zu machen«. Dieser Befehl dröhnt ständig in unseren Ohren, mit jedem Vorhaben, das wir aushecken. Und erst recht mit jedem Vorhaben, das wir ausschlagen.
Wir sollen also »etwas aus uns machen«. Ja, sind wir denn nicht schon etwas? Menschen zum Beispiel? Die Arbeit ist heute der unangefochtene Maßstab, mit dem wir unser Gegenüber bewerten. »Martha Musterfrau, 38, Rechtsanwältin«, »Max Mustermann, 56, Lagerist« – keine Talkshow, keine TV-Doku, bei der hinter dem Namen einer Person nicht direkt auch ihr Beruf erwähnt wird. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Apropos: Sogar auf den Grabsteinen eines Wiener Friedhofs las ich Sätze wie »Hier ruht Maximilian Bradow, Schlossermeister«. Herr, erlöse uns von der Arbeit!
Diese Wehklage zu äußern, ist riskant, denn eine Kritik an der Arbeit ist ein gesellschaftliches Tabu: Es gilt als anrüchig, den Sinn von offensichtlich sinnfreien Jobs infrage zu stellen, über gesundheitsschädliche Arbeit zu motzen oder ganz einfach die Faulheit zu glorifizieren. Wer offen sagt, dass er keinen Bock hat zu arbeiten und dass mitnichten jede Arbeit besser ist als keine Arbeit, der steht im Generalverdacht, zu verlottern und andere dazu anzustiften, es gleichzutun – mit dem Endergebnis, dass die ganze fleißige Gesellschaft in den Abgrund stürzt. Das Mantra unserer Zeit: Ich arbeite, also bin ich.
Wie konnte es dazu kommen? Wie steht es tatsächlich um unsere Arbeitsgesellschaft? Was macht der Arbeitswahn mit uns? Und wie können wir uns von ihm befreien? Fragen über Fragen, deren Beantwortung dem Schreiber etwas – da haben wir sie wieder – Arbeit bereiten wird. Aber am Ende steht die Hoffnung, dass wir uns vom Arbeitsfetisch lösen. Dass wir endlich wieder leben.
1Georg Büchner, Dantons Tod, 1. Akt, 2. Szene, Frankfurt am Main 2008.
»Nur wer arbeitet, hat eine Lebensberechtigung. Das ist nicht mehr pietistisch oder christlich, sondern faschistisch. Arbeit ist unser neuer Führer, unsere neue Religion, auch wenn sie sinnentleert, entfremdet und nutzlos ist. Es muss gearbeitet werden, und zwar immer.«1
FRANZOBEL ALIAS FRANZ STEFAN GRIEBL
Wer kennt das nicht: Man sitzt mit Freunden bei einem Bier und plötzlich schießt einem durch den Kopf, was man arbeitsmäßig noch alles erledigen muss – hier eine E-Mail, da ein Auftrag oder Projektbericht, dort ein zu reparierendes Auto. Die Laune ist getrübt. Kaum bei der Arbeit angekommen, sehnt man sich nach dem Feierabend. Oder träumt von Ferien, Ruhe, vielleicht auch von weißen Sandstränden. Und was, wenn die Träume in Erfüllung gingen? Die Gedanken wären sicherlich schon bald wieder bei der Arbeit. Ein verfluchter Teufelskreis. Der Arbeitswahn hat sich, bewusst oder unbewusst, tief in unsere Köpfe eingenistet – und verfolgt uns noch im Schlaf: Das häufigste Thema in den Träumen der Deutschen ist ihre Arbeit (34 Prozent), es folgen Reisen (27 Prozent) und Verstorbene (22 Prozent). Und auf die hypothetische Frage, was man nach einer Entlassung samt Abfindung für ein halbes Jahr machen würde, antworten lediglich 8 Prozent: meinen Traum verfolgen, und 13 Prozent: Urlaub machen, aber 72 Prozent: mich gleich um eine neue Arbeitsstelle bewerben.2 Friedrich Nietzsche beschrieb in seiner Fröhlichen Wissenschaft (1882) mit treffenden Worten, wie der Arbeitswahn des modernen Menschen die Muße zerstört:
»Die atemlose Hast der Arbeit – das eigentliche Laster der neuen Welt – beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt, wie einer, der fortwährend etwas ›versäumen könnte‹. […] Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits ›Bedürfnis der Erholung‹ und fängt an, sich vor sich selber zu schämen. ›Man ist es seiner Gesundheit schuldig‹ – so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Ja, es könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur vita contemplativa (das heißt zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe. – Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf sich. […] das ›Tun‹ selber war etwas Verächtliches.«3
Die Zeichen mehren sich. Im September 2012 schaffte die spanische Regierung eine uralte Tradition des Nichtstuns ab: die Siesta zwischen 14 und 16 Uhr. Man darf heute kaum noch sagen, dass man auf der faulen Haut gelegen hat, dass man dem permanenten Druck entflohen ist und sich ent-spannt hat. Der Kommentar unserer ach so fleißigen Mitmenschen ist vorprogrammiert: »Na, du hast es ja gut, dir heute einen Lauen zu machen.« Hinter solch simplen Kommentaren verbirgt sich nichts anderes als die moralische Keule der Arbeitsideologie: Deshalb schämen sich viele fürs Nichtstun, und hetzen sich weit über das (überlebens)notwendige Maß. Das schlechte Gewissen nagt unerbittlich an denen, die über die Stränge schlagen und auch nur einen Hauch zu viel faulenzen.
Von Frankreich sagen die Deutschen gerne: Dort arbeite man, um zu leben – in Deutschland aber lebe man, um zu arbeiten. Auch wenn der Arbeitswahn die französischen Gemüter ebenso befallen hat wie die deutschen, steckt in dem Spruch doch ein Funken Wahrheit: Wenn ein Franzose mitteilt, er müsse nun zur Arbeit, erhält er als Antwort ein »Bon courage!«, was so viel heißt wie »Kopf hoch!« oder »Nur Mut!«. In Deutschland jedoch wünscht man »Frohes Schaffen!«, und wenn hierin eine Prise Ironie liegen sollte, muss man sie mit der Lupe suchen.
Die Arbeit steht im Zentrum unseres Lebens, es gibt kein Außerhalb der Arbeit, sie erfasst unseren Alltag, unser Leben. Unser Ich geht arbeiten, es ist zur »Ich-AG« mutiert. Wie wäre es mal mit dem Wagnis einer Ohne-mich-AG? Kaum auszudenken. Denn »wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen«, wie es bereits in der Bibel beim Apostel Paulus heißt (2 Thess 3,10).
Es gibt unzählige Regalmeter von Büchern, die den Zusammenhang zwischen den Ideologien der Arbeit und des Christentums untersuchen. Die Kurzfassung lautet: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« (Gen 3,19). Mit diesen Worten werden im Alten Testament Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben. Arbeit ist zwar auch in der Antike und im Mittelalter mit Mühsal und Plage verbunden, aber sie ist schlichtweg eine menschliche Notwendigkeit und kollektive Bußtätigkeit: Der Sündenfall brachte die Vertreibung aus dem Garten Eden und Verurteilung der Menschen zum Arbeitsdienst auf Erden. Die Zeit der mühelosen Labsal und Wonne war definitiv vorbei. Was vormals eine Buße der Menschheit gewesen war, wurde aber bald zu einem Gottesdienst des Individuums: Seit der Reformation – als Martin Luther 1517 seine Thesen ans Tor der Schlosskirche zu Wittenberg hämmerte – ging die Zahl der arbeitsfreien Feiertage von 156 auf 2 zurück. Während die Menschen im vermeintlich düsteren Mittelalter die Hälfte des Jahres die Füße hochlegten, gab es seit der Reformation nur noch den Sonntag sowie Ostern und Weihnachten als arbeitsfreie Tage, den Rest der Zeit wurde geschuftet.
Arbeit war schon in der Bibel ein heiliges Gut, seit Luther aber wurde sie zum gnadenlosen Gottesdienst. Vormals glaubten die Menschen, dass man mit jedem Beruf in der Ständegesellschaft selig werden könne. Es war schlichtweg sinnlos, sich übermäßig abzurackern, solange man seine Arbeit einigermaßen meisterte. Seit der Reformation aber galt: Gottes Wohlwollen will verdient sein. Weltlicher Erfolg galt fortan als untrügliches Zeichen dafür, dass man von Gott auserwählt war – und nicht in der Hölle, sondern im Himmel landete.
»Wenn wir nur unserem Beruf gehorchen, so wird kein Werk so unansehnlich und gering sein, dass es nicht vor Gott bestehen und für sehr köstlich gehalten würde. Unsere Arbeit, unser Broterwerb ist Gottesdienst und heilig. Müßiggang und Prasserei sind es, die die Menschen verderben. Darum arbeitet fleißig und lebt bescheiden, meidet Rausch, Tanz und Spiel. Das sind die Versuchungen des Teufels.«4
Diese Worte stammen aus der Feder eines weiteren Arbeitsfanatikers: Johannes Calvin, der die Gedanken Luthers verbreitete und dabei stark zuspitzte. Vier Jahrhunderte später zeigte der Soziologe Max Weber in seinem Klassiker Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904), wie sehr die Lehren der Reformation auf die Denk- und Handlungsweise des Kapitalismus Einfluss genommen hatten: Gottes Wege sind unergründlich. Wer wird erlöst und wer nicht? Diese offene Frage empfanden viele als quälend – und sie folgten der »Lösung« Calvins, sich durch harte Arbeit zu empfehlen. Wirtschaftlicher Erfolg, disziplinierter Fleiß und rastlose Arbeit im Diesseits waren von nun an die einzigen Indikatoren für eine Erlösung im Jenseits. Damit waren Luther und Calvin die Ersten, die den Begriff der Arbeit durchweg positiv besetzten. Natürlich predigten sie nicht, dass Arbeit Spaß macht. Vielmehr sollten die Menschen Freude am Leid der Arbeit empfinden angesichts der paradiesischen Aussichten, die ihnen verheißen waren, nachdem sie sich zu Tode geschuftet hatten. Während Jesus noch ein glücklicher Arbeitsloser war, wurden Faulheit und Zeitvergeudung spätestens jetzt zur buchstäblichen Todsünde.
Der kollektive Sündenfall und die individuelle Todsünde der Faulheit verfolgen uns bis heute. Nicht zufällig drohte 2006 der damalige SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering mit den Worten Paulus’: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!« Der eigentliche Sündenfall aber ist die Arbeit selbst! Dabei ersetzen die säkularen Mythen einfach die vormals religiösen, es gibt ein Recycling des Glaubens: In Zeiten, wo die Menschen immer weniger an Gott und erst recht an die Kirche glauben, ist die Arbeit zur neuen Religion emporgestiegen. Und sie weist alle Merkmale einer Religion auf: unhinterfragte Vergötterung ihres Sinnstifters, Inkaufnahme schmerzhafter Entbehrungen, übersteigerte Symbole und Riten sowie eine rigorose Bestrafung all jener, die partout nicht »glauben« wollen. Wer nicht arbeiten will, muss fühlen.
1Franzobel, »Warum wir die Arbeit abschaffen sollen«, in: Der Standard, 27./28.April 2013, www.derstandard.at/1363709298468/Franzobel-Warum-wir-die-Arbeit-abschaffen-sollen (Aufruf dieser sowie aller im Folgenden zitierten Websites am 1. Mai 2014).
2Studie zu »Träume der Deutschen« der IfD Allensbach (2002), www.de.statista.com/statistik/daten/studie/76159/umfrage/traeume---wovon-deutsche-traeumen/; sowie Studie zu »Tätigkeiten nach Entlassung mit Abfindung« von Randstad Deutschland (2009), www.de.statista.com/statistik/daten/studie/72981/umfrage/taetigkeiten-nach-entlassung-mit-abfindung.
4Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae religionis, III, 10,6, Neukirchen 1955, S. 470.
»Die meisten Menschen würden sich beleidigt fühlen, wenn man ihnen als Arbeit anböte, Steine über eine Mauer zu werfen und sie dann wieder zurückzuwerfen, bloß damit sie ihren Lohn verdienten. Doch viele haben jetzt keine sinnvollere Beschäftigung.«1
HENRY DAVID THOREAU
Am Montag, den 27. Oktober 2010, ging ich als freier Mensch über die Spree. Am Montag, den 4. November 2010, lief ich als Lohnsklave über dieselbe Brücke. Die Sonne spiegelte sich postkartenidyllisch am Berliner Fernsehturm, die Spatzen zwitscherten – und ich sah aus der Ferne meinen neuen Arbeitsplatz: einen todesgrauen Betonklotz. In der Woche zuvor hatte das Bewerbungsgespräch stattgefunden, am darauffolgenden Tag dann der Anruf: »Glückwunsch, Sie haben den Job!« Oha. Ich hatte Philosophie in Mannheim, Leipzig und zuletzt Freiburg studiert. Zwei Wochen nach der Abschlussprüfung war ich bereits auf Wohnungssuche in Berlin – Stadt der Freiheit, Stadt der Sehnsucht. Tempo, Tapetenwechsel, Lebenslust. Ich hatte mein druckfrisches Zeugnis in der Tasche, aber ansonsten war diese leer. Ich war jung und brauchte das Geld – so heißt das wohl. Nun, Geld gab es bei dem Job, 2200 Euro brutto im Monat. Als Philosoph war ich bei einem großen Versicherungskonzern untergekommen, der gerade Aushilfen suchte, um seine bürokratischen Rückstände aufzuholen. Ich war in der glücklichen Gruppe derer, die befristet angestellt wurden, die restlichen Stellen bestückte die nicht gerade am Hungertuch nagende Versicherung mit Leiharbeitern. Niemand wurde gezwungen, dort zu arbeiten. Niemand wurde dorthin verkauft oder versklavt. Und doch fühlte ich mich meiner Freiheit beraubt. Im Vorstellungsgespräch konnte ich damit punkten, dass Philosophen »präzise und logisch und analytisch arbeiten« könnten, genau das richtige für die digitale Fließbandarbeit, die mich jetzt erwartete.
In der Abteilung Firmenhaftpflicht bekam ich jeden Tag Hunderte Briefe auf den Bildschirm, die im Keller des Gebäudes eingescannt wurden. Dort unten loderte die wahre Hölle: Ehemalige Sachbearbeiter wurden dorthin strafversetzt und mussten nun acht Stunden am Tag Briefe aufschlitzen, kurz den Inhalt checken, das ganze dem Sachgebiet zuordnen und einscannen. Der gesamte deutsche Briefverkehr des Unternehmens wurde dort abgewickelt. Und eine Versicherung bekommt viel Post. Die Briefscanner schufteten im Akkord, wer zu langsam scannte, bekam mächtig Ärger. So gesehen waren die verbliebenen Sachbearbeiter froh, an ihrem Arbeitsplatz noch Tageslicht zu sehen, etwas mehr zu verdienen und auch mal einen Kaffee trinken zu können. Ich war nun einer von ihnen, zusammen mit ein paar anderen Aushilfen und mit einem auf sechs Monate befristeten Vertrag. Bis dahin sollten die Rückstände abgearbeitet sein.
Die Briefe kamen also als Scan auf den Bildschirm geflattert. Wir überprüften stets die gleichen Zahlenkolonnen, fragten Kioskbesitzer, ob sie in ihrem Betrieb ein Pferd haben oder Raupenfahrzeuge unterhalten und allerlei anderen Versicherungskram. Die Highlights beschränkten sich auf Antwortschreiben, in denen ich bei der obligatorischen Tierfrage lesen durfte: »Ja, ich habe zehn Buckelwale und zwei blutrünstige T-Rex.« Ansonsten gab’s nix zu lachen. Ich weiß nicht mehr genau, was mein Hirn mehr zermatschte: die permanente Weichspüler-Radiomusik oder die überaus monotone Bildschirmarbeit mit den immer gleichen fünf Klicks. Ganz ehrlich: Meine bisherigen Nebenjobs in einem Getränkemarkt, wo ich mir den Rücken mit Bierkästen krummbuckelte, oder am Hafen, wo ich die frisch eingetroffenen Klamotten etikettierte und stundenlang die chemischen Ausdünstungen der Textilbranche schnuppern durfte – all diese Nebenjobs waren spannender gewesen. Fifty-fifty steht der Vergleich mit dem Call-Center, in dem ich anderthalb Jahre lang fremde Menschen mit meinen Anrufen nervte und sie nach ihrem Konsumverhalten aushorchte.
Beim Kaffeeautomaten, dessen schwarze Brühe genauso fad war wie alles andere dort, unterhielt ich mich mit einer jungen Kollegin. Sie sagte zu mir: »Ich gehe in meinem Job voll auf.« O ja, ich auch: Ich zerfalle in meine Einzelteile, ich atomisiere mich, ich gehe nahtlos ins Nirwana ein, ich harmonisiere mich mit der völligen Inhaltsleere. Schöne neue Arbeitswelt. Der Weg vom Hörsaal ins Büro war ebenso hart wie lehrreich. Hier durfte ich nun Marx’ Theorie der Entfremdung live und hautnah erleben:
»Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit? Erstens, dass die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen gehört, dass er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, dass, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird.«2