Und wenn der Wind eine Seele hat ... - Birgit Schuler - E-Book

Und wenn der Wind eine Seele hat ... E-Book

Birgit Schuler

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Beschreibung

Wer liebt sie nicht? – Geschichten, die uns ins Land der Fantasie reisen lassen, zum Träumen verleiten, uns verzaubern oder zum Nachdenken bringen. Geschichten, die aus längst vergangenen Zeiten und von anderen Welten berichten. Birgit Schuler schreibt über das kleine Glück, das wir auf Schritt und Tritt entdecken können, erzählt sanft, zart und märchenhaft – dabei gleichzeitig realitätsbezogen und modern und den Kern der Dinge treffend. "Echte" Märchen wie die aus Kindertagen, deren "Es war einmal …" noch in unseren Ohren klingt, wechseln sich ab mit modernen Kurzgeschichten über die Problematiken der heutigen Zeit. Die Autorin versteht es, das Augenmerk auf die kleinen Dinge zu richten und mitfühlend auch die kleinsten Lebewesen mit den Augen der Liebe zu sehen. Die Erzählungen entspannen und unterhalten, stärken die Seele, öffnen und weiten sowohl unser Herz als auch unseren Blick für die Natur, die Tiere und Pflanzen. Manch eine dieser Geschichten prägt sich ein, lässt uns nicht mehr los und taucht vielleicht vor unserem geistigen Auge genau dann wieder auf, wenn wir ihre Botschaft benötigen. So werden ganz nebenbei Lösungsansätze für die Bewältigung persönlicher Themen angeboten und Anregungen geschaffen, eigene, ganz neue Wege zu finden. Dieses Buch ist eine überarbeitete Neuauflage des im September 2012 im Paashaas-Verlag erschienenen Buches "Das Leben ist ein Märchen – Geschichten über Achtsamkeit und Lebensglück".

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ISBN 978-3-946723-49-3 (Printversion) ISBN 978-3-946723-50-9 (Ebook)

Birgit Schuler

Und wenn der Wind eine Seele hat … Märchenhafte Erzählungen

Copyright 2018

Neuauflage

Covergemälde: Gabriele Froschwww.gabrielefrosch.de

Covercollage: Elke Mehlerwww.querwerker.de

Korrektorat: Gisela Polnik

Verlag: Verlag Begegnungen, Schmittenwww.verlagbegegnungen.de

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Buch ist eine überarbeitete Neuauflage des im Paashaas -Verlag erschienenen Buches: Das Leben ist ein Märchen – Geschichten über Achtsamkeit und Lebensglück (erschienen im September 2012)

 

Und wenn der Wind eine Seele hat …

Märchenhafte Erzählungen

Birgit Schuler

 

Inhalt

Vorwort

Der Zeitoptimierer

Die Waldgeister

Der frohe Müller

Körper und Seele

Die blinde Prinzessin

Die Seele des Windes

Der Spuk der Kobolde

Gut und Böse

Philip und die Regenwürmer – jeder hat ein Recht auf Leben

Die Leute vom alten Haus

Der Stein, der die Angst besiegte

Die drei Tagebücher und die Blume der Freude

Das geheimnisvolle Tor

Der Gefangene

Marianna

Noch einige Worte zum Dank

Über die Autorin

 

Vorwort

„Mein Leben ist ein hübsches Märchen, so reich und glücklich“ – das sagte Hans Christian Andersen, der berühmte Märchenerzähler. Und ich finde: Das Leben ist ein hübsches Märchen – für jeden. Man muss es nur zulassen. Dabei ist es wichtig, achtsam zu sein. Achtsam gegenüber sich selbst zunächst. Sich fragen: Was will ich eigentlich, was brauche ich? Wie kann ich nutzen, was ich habe, um mich selbst glücklich zu machen? Es braucht nämlich gar nicht so viel! Wir können manches nicht ändern, aber das ist auch gar nicht unbedingt notwendig. Hans Christian Andersen wuchs in sehr ärmlichen Verhältnissen auf, hatte kaum Kontakt zu anderen Kindern, galt als „merkwürdig“. Er war oft allein. Und trotzdem war er glücklich. Denn er hatte seine Träume und die Gabe, sich an Kleinigkeiten zu erfreuen, insbesondere an der Natur, wie z. B. auch am „Garten“ seiner Mutter, der aus einem Kasten in der Dachrinne bestand. ( Aus: Hans Christian Andersen: Das Märchen meines Lebens, 1847)

Egal, wie furchtbar alles um uns herum zu sein scheint – niemand kann uns unsere Träume nehmen! Träumen Sie sich Ihr eigenes Lebensmärchen! Schmücken Sie es ruhig aus, tragen Sie dick auf! Manches wird sich dann auf wunderbare Weise erfüllen. Denn Träumen motiviert zum Handeln! Träumen entspannt und in unseren Träumen gibt es keine Grenzen! Träumen Sie und Sie werden feststellen, dass Sie sich wiederfinden – mit einem Lächeln im Gesicht.

Oft sind es gerade die Dinge in unserem Leben, die uns zu schaffen machen, die helfen, dass wir aufschauen, die uns sogar manchmal zwingen innezuhalten – achtsam zu sein. Schauen Sie genau hin, seien Sie achtsam, halten Sie inne. Die Welt ist wunderschön, man muss sie nur wirklich wahrnehmen – und das heißt, stehenzubleiben und mal genau hinzusehen, anstatt, wie meist, schnell vorbeizueilen. Mark Twain sagte einmal: „Das Glück ist ein schwedischer Sonnenuntergang – er ist für alle da, aber die meisten von uns blicken in eine andere Richtung und verpassen ihn.“

Die kleinen Dinge am Lebens-Wegesrand, das ist meistens das wahre Glück! Benutzen Sie einmal all Ihre Sinne – zum Hin-Hören, ohne noch schnell nebenbei etwas anderes zu tun oder zu denken. Oder zum An-Sehen, ohne dass nebenbei noch etwas anderes wichtig ist. Sehen Sie sich doch mal genau die Wolken an, die vorbeiziehen, ihre Form, die Farbe, sehen Sie, wie sie sich verändern – haben Sie das nicht auch als Kind getan und gestaunt und dabei das Leben, das Glück gefühlt? Lassen Sie die störenden Gedanken ziehen, vergessen Sie einmal alles andere, nur diese Wolken da über Ihnen sind wichtig. Oder vielleicht der Baum vorn an der Straße gegenüber der Bushaltestelle – haben Sie den schon mal genauer angeschaut? Haben Sie ihn übers Jahr beobachtet, wie er sich während der Jahreszeiten verändert? Entdecken Sie die Welt einmal wieder aus Kinderaugen. Nehmen Sie sich die Zeit – sie ist gut genutzt! Stellen Sie ruhig mal Ihr Smartphone eine Weile aus und gehören Sie nur sich selbst! Seien Sie achtsam gegenüber sich selbst, niemand sonst kann Ihnen so viel Gutes tun! Aber seien Sie auch achtsam mit anderen, auch das kommt zurück. Nicht immer sofort, aber irgendwann, irgendwie. Achten Sie auch die anderen Wesen, die Tiere, die Pflanzen – sie sind so wertvoll. Sie sind Leben. Schauen Sie genau hin – die Tiere verstehen zu leben. Und erfreuen Sie sich an der Natur. Sie sind ein Teil davon! Schauen Sie doch mal das Unkraut am Wegesrand an – die zarten Blüten – warum es ausreißen – warum nicht einfach Freude daran haben?

Auch in meinem Garten wächst viel davon, manchmal weiß ich gar nicht, was aus einem Pflänzchen wird, und warte einfach ab – wie viele Male war ich überrascht, welch schöne Blumen daraus wurden.

Aber auch das, was wir als nicht schön bezeichnen, ist wertvoll. Was maßen wir uns an, diese Welt nach unserem Schönheitsideal umzugestalten und damit wertvolle Ressourcen, die sowieso furchtbar knapp sind, einfach zu vernichten oder anderen etwas wegzunehmen? Denn all das, was wir vernichten, bedeutet oft Lebensraum und Nahrung für andere! Unsere Umwelt zu schützen und Schönheit überall zu entdecken, wo wir sie im Alltag oft gar nicht sehen – das ist Glück! Und jeder hat seine Berechtigung auf dieser Welt! Ich teile gerne unseren Garten mit Maulwürfen, Mäusen, zahlreichen Vögeln, noch zahlreicheren Insekten, Schnecken, auch mit denen, die normalerweise unbeliebt sind. Mit der Zeit lernt man, sie zu verstehen. Wenn im Herbst die Maulwürfe hohe Hügel werfen, weiß ich, dass sie sich tiefere Wohnstuben graben, und kann mich darauf verlassen, dass es kälter wird. Gelernt hatte ich einmal, dass diese Hügel unschön sind. Mittlerweile schaue ich traurig auf einen gepflegten Rasen. Er kommt mir oft leblos vor. Meine Wiese ist bunt, sie duftet und sagt mir so viel über die Erde und die Tiere, die darin wohnen. Ich teile gern mit ihnen. Und „merkwürdigerweise“ hat niemand in unserer Umgebung so reiche Ernte wie wir.

Die verborgenen Ecken im Gebüsch, moosbewachsene Wurzeln, wenn aus Totholz wieder Leben wächst – das ist mein Märchen!

Halten Sie Ausschau, schauen Sie sich um und fühlen Sie mal! Und entdecken Sie Ihr Märchen!

Der Zeitoptimierer

Es lebte einmal vor langer, langer Zeit in einem Land, das heute fast niemand mehr kennt, ein Junge, fast schon ein junger Mann, aber eben nur fast. Er hieß Morlo Orin Irus. In der Sprache des Landes hieß das „der die Zeit optimiert“. Denn das war es, wonach die Menschen sich damals am meisten sehnten. Alle hatten immer so viel zu tun, dass sie sich wünschten, die Minuten hätten mindestens doppelt so viele Sekunden, als sie eigentlich haben, und die Stunden hätten mindestens doppelt so viele Minuten, als es in Wirklichkeit gibt, und der Tag hätte mindestens doppelt so viele Stunden und so weiter. Es gab viele Erfindungen damals, mit denen man die Dinge schneller erledigen oder immer mehr Sachen gleichzeitig machen konnte. Die Erfinder waren wichtige Leute, die von jedem hoch geachtet wurden. Und hoch geachtet werden, das wollte schließlich jeder. Man konnte sich Achtung und Ansehen aber auch durch anderes erwerben, nämlich dadurch, dass man möglichst viele Dinge gleichzeitig schaffte. Alle Leute arbeiteten viel und versuchten, ihre Arbeit so zu verrichten, dass es möglichst schnell ging: mit schnellen Maschinen oder dadurch, dass sie versuchten, überall gleichzeitig zu sein oder mit möglichst vielen anderen Geschäftsleuten gleichzeitig zu verhandeln. Und sogar in ihrer freien Zeit versuchten sie, so viel gleichzeitig zu schaffen, wie sie konnten, indem sie viele Freunde auf einmal trafen und mit ihnen zusammen so viele Feste wie möglich besuchten oder so viel Sport, wie sie nur konnten, trieben. Und wenn sie am nächsten Tag bei der Arbeit erzählten, bei wie vielen Veranstaltungen, Versammlungen oder Zusammenkünften sie während der letzten Nacht gewesen und mit wie wenig Schlaf sie ausgekommen waren, waren sie stolz und ernteten bei den anderen Bewunderung – oder sogar Neid.

Natürlich verbrauchte es auch viel zu viel Zeit, einen so langen Namen wie Morlo Orin Irus auszusprechen, und deshalb nannte man den Jungen kurz bei den Anfangsbuchstaben: Moi.

Moi hatte keine Geschwister, denn Mois Eltern waren sehr strebsam und sehr erfolgreich in ihren Berufen und hatten wenig Zeit für Kinder. Auch nicht für Moi.

Aber Moi hatte einen Großvater, mit dem er viel Zeit verbrachte. Und Mois Großvater war furchtbar altmodisch. Er lebte in einem kleinen Häuschen am Rand eines Dorfs inmitten eines kleinen Gartens voller Apfelbäume. Er scherte sich nicht darum, was die Leute über ihn sagten, und die Leute nannten ihn sonderbar und belächelten ihn. Aber Moi liebte seinen Großvater, denn er hatte immer ein offenes Ohr und beantwortete all die vielen Fragen, die der Junge ihm stellte.

Eines Tages, als Moi wieder einmal seinen Großvater besuchte und in dem kleinen Garten umherstreifte, während der Großvater dort in seinem Schaukelstuhl saß und eine Pfeife rauchte, wollte Moi etwas wissen: „Großvater, was ist ein Zeitoptimierer?“

„Tja, mein Junge“, sagte der Großvater und schaukelte hin und her und paffte an seiner Pfeife, bevor er weitersprach, „ein Zeitoptimierer ist jemand, der so viel, wie es nur irgend möglich ist, in so wenig Zeit wie nur irgend möglich tun kann.“

„Mhm“, überlegte Moi, „und warum ist das so wichtig?“

„Tja, mein Junge“, sagte der Großvater wieder, aber diesmal hörte er auf mit dem Schaukeln und nahm die Pfeife aus dem Mund und sah Moi mit ernstem Blick an. „Es ist nicht wichtig! Es ist ganz und gar nicht wichtig! Es ist sogar ganz und gar falsch!“

Erst einmal war Stille. Moi blickte den Großvater mit großen Augen an. „Aber“, fing er schließlich wieder an zu reden, „alle sagen doch, dass es wichtig ist. Und wenn alle das sagen, dann muss es doch so sein.“ Er schaute seinen Großvater dabei an und war sich plötzlich gar nicht mehr so sicher.

Der Großvater schaute zuerst in die Ferne, so als würde er sehr gründlich nachdenken und müsse sich die Worte sorgfältig zurechtlegen, dann schaute er Moi an und schließlich sagte er ernst: „Nein, es ist nicht immer alles richtig, was alle sagen. Und es sind auch nicht alle, sondern nur die meisten.“ Eine kurze Pause entstand und der Großvater schien wieder seine Worte genau zu bedenken. „Die Menschen sind irgendwann vom rechten Weg abgekommen und wissen nicht mehr, was ihnen guttut, was das Leben ausmacht, was Glück ist. Die Menschen haben Angst. Sie rennen und rennen durch ihr Leben, weil sie nicht fühlen wollen, nicht spüren wollen – ihre Angst nicht spüren wollen, ihre Angst nicht fühlen wollen.“

„Welche Angst meinst du?“, wollte Moi wissen.

„Die Angst, nicht gut genug zu sein, nicht so gut wie die anderen zu sein. Die Angst, nicht dazuzugehören. Die Angst vor dem Leben.“ Traurig blickte der Großvater durch seinen Garten. „Und sie haben einfach aufgehört zu fühlen, denn wer nicht fühlt, kann nicht traurig sein.“

Moi hatte sehr genau zugehört. „Aber wer keine Gefühle hat, kann auch keine Freude haben, oder?“

„Ja, mein Junge – genau so ist es!“

„Ich möchte aber Freude haben.“ Moi sagte es leise und sehr nachdenklich.

Und sein Großvater sah ihn an, mit einem hoffnungsvollen Lächeln, das voller Liebe war.

„Ja, mein Junge! Das sollst du. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, die Gefühle zurückzuholen. Vielleicht kann die Angst besiegt werden, sodass die Menschen nicht mehr davor flüchten müssen.“

Und Moi blickte mit großen Augen zu seinem Großvater: „Und wie soll das gehen? Wie kann man denn die Gefühle zurückholen? Und die Angst besiegen?“

Und nun wurde der Großvater sehr ernst. „Nun, mein Junge, das ist eine sehr schwere Aufgabe. Es sind sogar mehrere Aufgaben: Wer die Gefühle zurückholen will, muss zuerst der Leere ins Gesicht blicken. Dort wird er sich selbst finden. Dann muss er die Freundschaft der Unwichtigkeit gewinnen. Und zum Schluss muss er den rechten Umweg finden.“

Mois Augen waren noch größer geworden, als der Großvater gesprochen hatte, und seine Hoffnungen sanken: Er hatte gar nichts verstanden. Ratlos blickte er den alten Mann an.

„Weißt du, es ist gar nicht so schwierig. Aber es ist eine sehr beschwerliche Reise. Denn man muss die Angst vor der Leere überwinden. Und um die Freundschaft der Unwichtigkeit zu gewinnen, braucht es Mut, denn es kann sein, dass man ausgelacht oder sogar bekämpft wird. Man kann die Freundschaft der Unwichtigkeit nur erlangen, indem man der Macht und derAnerkennung entsagt. Und den rechten Umweg kann nur finden, wer langsam geht und seinen Blick immer nur auf das Hier und Jetzt und auf eine Sache konzentriert. Und wer den Blick auch für die Kleinigkeiten im Leben nicht verliert.“

Moi hatte wieder gut zugehört und, obwohl er immer noch nicht alles verstand, was sein Großvater ihm erzählt hatte, keimte doch so etwas wie Hoffnung in ihm auf. „Meinst du, ich könnte mich auf die Reise machen und diese Aufgaben lösen?“

Und wieder blickte der Großvater seinen Enkel an, diesmal mit Stolz in den Augen: „Ja, ich glaube, du könntest das.“

„Aber“, wandte Moi ein, „kann ich diese Reise denn für alle Menschen machen?“

„Nein, natürlich nicht. Diese Reise muss jeder allein unternehmen. Aber du kannst diese Reise als Erster machen und damit zeigen, wohin sie führen kann. Und dann werden einige Menschen sich auch auf die Reise machen.“

„Alle?“

„Nein, alle sicher nicht. Aber einige. Vielleicht nur wenige, aber mit der Zeit werden es immer mehr werden. Der Erste wird es aber am schwersten haben.“

Moi war sehr mutig und vor allem hatte er seinen eigenen Kopf. Er hatte sich längst selbst ein Bild gemacht von den Menschen und wie sie lebten. Und was er sah, gefiel ihm nicht. Er wollte fröhlich sein und die schönen Dinge genießen, die das Leben bereithielt – er wollte es auch für diejenigen, die noch einen Blick dafür hatten, solche wie sein Großvater. Und so stand für ihn schnell fest, dass er sich auf die Reise machen würde, um die drei Aufgaben zu lösen und die Gefühle zurückzuholen, die auch in seinem Leben nur noch wenig Platz hatten. Je älter er nämlich wurde, desto weniger Zeit durfte er mit seinem Großvater verbringen, denn seine Tage wurden mehr und mehr verplant. Seine Eltern wollten schließlich, dass er möglichst viel in möglichst wenig Zeit zu tun lernte. Und so verbrachte er die meisten Tage damit, zu lernen, wie man möglichst viel in möglichst wenig Zeit schaffen konnte und wie man Zeit, die vielleicht dennoch übrig blieb, nutzte, sodass man sie nicht vertrödelt. Er lernte, dass man nichts verpassen durfte, dass Zeit Geld ist und Geld Macht und dass es wichtig ist, wichtig zu sein, wenn man in der Welt bestehen will.

Und Mois Großvater wusste, dass er seinen Enkel gehen lassen musste, auch wenn ihm das nicht so ganz leichtfiel, denn Moi war ja fast noch ein Kind, wenn auch schon ein nicht mehr ganz so kleines. Aber er wusste auch, dass Kinder, auch manchmal schon etwas größere – wenn sie Glück haben –, manche Dinge noch kannten, sich manches noch bewahrt hatten, was die Erwachsenen längst vergessen hatten. Und dass es höchste Zeit war, dass Moi diese Dinge schätzen lernte, bevor er sie ganz vergaß. Und so nahm er ihn bei der Hand und ging mit ihm in die gute Stube, drückte ihn dort sanft aufs Sofa und setzte sich neben ihn.

„Mein Junge“, begann er, „ich will dir noch etwas mit auf den Weg geben. Du wirst deinen Weg zwar allein gehen müssen, aber du wirst dennoch nie wirklich allein sein, denn dein Weg wird dich durch die Wälder und Wiesen führen und dort ist Leben. Und du bist ein Stück von diesem Leben, vergiss das nie. Dann wirst du nicht einsam sein. Und wenn du die Augen schließt und alle Gedanken ziehen lässt, sodass keiner dich mehr stört, dann schicke mir das, was auf deiner Seele liegt, und ich werde dir antworten.“

„Mois Augen waren auf seinen Großvater gerichtet. „Wie kann ich dich hören, du bist doch dann so weit weg?“

„Du kannst mich hören in Form von Gedanken oder Bildern, die dir dann in den Kopf kommen. Man muss ein bisschen üben. Und man muss vertrauen. Du wirst schon sehen!“ Und dabei tätschelte ihn der Großvater, und dann nahm er ihn liebevoll in den Arm und drückte ihn ganz fest.

Am nächsten Morgen machte sich Moi auf den Weg zu der Leere, vor der alle so viel Angst zu haben schienen. Er lief durch den dunklen Wald, den kaum einer mehr kannte, und es war so, wie der Großvater es ihm gesagt hatte: Überall war Leben, die Bäume rauschten im Wind, die Vögel zwitscherten von den Baumkronen, Eichhörnchen, Mäuse, kleine Käfer und noch einige andere Waldbewohner huschten über den federnden Waldboden. Manchmal sah Moi auch Hasen oder sogar Rehe und Füchse und sie alle schienen ihm im Vorbeigehen zuzuzwinkern. So wanderte er staunend weiter, bis er den großen dunklen Wald durchquert hatte. Sein Weg führte ihn weiter durch einige Wiesen, die jedoch immer mehr steinigem oder sandigem Untergrund wichen, und schließlich lag vor ihm ein karges Tal. Der Himmel hatte sich zugezogen und hing voller grauer Wolken. Und es war immer ruhiger um ihn herum geworden. Er war auch kaum mehr einem Tier begegnet und das Vogelgezwitscher war verklungen. So stand er nun vor dem Rand des Talkessels und hörte sein Herz klopfen. Die Stille, das öde Land und das Grau um ihn herum begannen ihn zu ängstigen. Doch er nahm sich ein Herz und suchte sich eine Stelle, an der er den Abstieg in das düstere Tal wagen wollte. Vorsichtig stieg er hinab. Der Weg war beschwerlich und er musste aufpassen, wohin er seine Füße stellte, um nicht abzurutschen. Als er endlich im Tal angekommen war, bemerkte er, dass es hier noch dunkler, noch grauer war, als es von oben den Anschein gehabt hatte. Um ihn herum herrschte eine bedrückende Leere! Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und schritt voran, auch wenn er nicht genau wusste, wohin er gehen sollte. Er stieg über Geröll und durch dunklen Nebel, bis schließlich ein See vor ihm auftauchte, dessen Wasser unbeweglich und fast schwarz vor ihm lag. Sein Mut sank. Aber er war müde, und so beschloss er, sich hier für die Nacht niederzulassen. Er suchte sich eine Stelle, wo der Untergrund sandig und damit nicht steinhart war, setzte sich und ließ seinen Blick durch das Tal gleiten. Soweit er es erkennen konnte, gab es nirgends auch nur die kleinste Pflanze. Nicht das leiseste Geräusch drang in seine Ohren. Er schien gefangen im Nichts. Langsam senkte sich die Nacht über das Tal und Moi blieb nichts anderes übrig, als das dunkle Wasser zu trinken, das ziemlich fad schmeckte, aber dennoch seien Durst stillte, und sich dann zum Schlafen in den Sand zu legen. Die Trübseligkeit hatte sich inzwischen auch auf sein Gemüt gelegt und er lag eine Weile wach. Die Gedanken schienen durcheinanderzuwirbeln und er hatte das Gefühl, gar nicht mehr denken zu können, sondern nur noch Traurigkeit zu empfinden, bis ihn irgendwann die Erschöpfung erlöste und er in einen tiefen traumlosen Schlaf sank.

Als er am nächsten Morgen erwachte und sich vorsichtig umblickte, schien sich nichts verändert zu haben. Keine Sonne schien durch den grauen, mit dicken Wolken verhangenen Himmel, kein Geräusch drang durch die Stille und der See lag immer noch dunkel und undurchsichtig vor ihm. Eine Weile saß er so am Ufer und blickte still vor sich hin, blickte in die Dunkelheit des Gewässers. Plötzlich fühlte er sich von dem See auf merkwürdige Weise angezogen. Er konnte gar nicht anders, und so stand er auf und ging hin zu dem trüben Wasser, kniete sich ans Ufer und dann beugte er sich, ohne auch nur darüber nachzudenken, über die Wasseroberfläche und sah hinein. Und was sich dort zeigte, auf der fast schon düsteren und grauen Oberfläche, war sein Gesicht, das ihm ernst und schweigend entgegenblickte. Zuerst sah er seine Wangen, seine Augen, Ohren, Nase und Mund, seine Haare, aber dann sah er tiefer. Der See erschien plötzlich nicht mehr grau, dort wo sein Gesicht war, sondern klarer, und er sah durch sein Spiegelbild hindurch und erkannte tiefer unten ein Leuchten, ganz zart, aber doch deutlich zu erkennen. Und je länger er hinsah, desto heller wurde das Licht. Und auch seine Gedanken wurden ganz klar. Es war, als sehe er sich zum ersten Mal. Natürlich hatte er sich viele, viele Male in einem Spiegel betrachtet und gewusst, wie er aussah, aber nun erkannte er, dass er bisher nur wenig wirklich gesehen hatte. Und er begann sich ganz neu zu entdecken. Dabei stellte er fest, dass es nichts Wichtigeres auf der Welt gab, als sich selbst kennenzulernen. Was spielte es für eine Rolle, wie viel Zeit er dafür brauchte? Sein Mund begann ihm plötzlich zuzulächeln und so entdeckte er seine Fröhlichkeit und Ungezwungenheit. Und als er darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, dass ihm diese Fröhlichkeit wichtig war und dass er dabei war, sie zu verlieren in seinem Leben, das damit ausgefüllt war, wichtige Dinge zu tun - wichtige Dinge, die ihm plötzlich gar nicht mehr wichtig erschienen. Und er begann über die Fröhlichkeit ein wenig mehr nachzudenken. Die Menschen lachten wenig, und wenn ihm doch ein Lachen begegnete, dann war dies meist mehr eine Maske, die sich jemand aufgesetzt hatte. Wie traurig, dachte er. Und er begann über immer mehr Dinge nachzudenken, über die man in der Welt nicht mehr nachdachte: Über das Genießen, das Nichtstun, die Freude, die ihm der Spaziergang im Wald gemacht hatte, über sich selbst und er war erstaunt darüber, wie wenig er sich kannte. Nie hatte er sich Gedanken darüber gemacht, was er mochte und was nicht. Was er gut konnte und was nicht. Immerzu hatten seine Eltern oder seine Lehrer ihm gesagt, was richtig und was falsch sei.

Aber was, wenn das alles gar nicht stimmte? Vielleicht wollte er gar nicht so unheimlich viel können in ganz wenig Zeit? Vielleicht wollte er auch nicht dauernd beschäftigt sein? So kam ein Gedanke zum anderen und plötzlich erfüllte Moi ein wunderbares warmes Gefühl in seinem Herzen. Und als er aufsah, merkte er, dass sich die Wolken verzogen hatten und die Sonne am Himmel stand. Moi dachte an seinen Großvater, ließ alle anderen Gedanken ziehen, vergaß die Welt um sich herum – und da sah er seinen Großvater vor sich und dieser zwinkerte ihm verständnisvoll zu. Und in seinem Lächeln schien Zufriedenheit zu liegen.

Moi legte sich ans Ufer und ließ die Gedanken durch seinen Kopf wandern und es war ihm völlig egal, wie viel Zeit dabei verging. Und im Nu war es Abend geworden. Glitzernd lag der See vor ihm und einzelne kleine Wolken zeichneten sich scharf und glühend und glitzernd vom Abendhimmel ab. Und Moi entdeckte Vögel, die ihre Bahnen am Himmel zogen, und hörte ihre Stimmen, die ihm scheinbar ein lustiges Lied sangen. Und ohne groß darüber nachzudenken, stand er auf und tanzte dazu, bis schließlich die Nacht hereinbrach.

Am folgenden Morgen hatte sich die Welt in dem Tal verändert. Überall waren zaghaft Blumen und Büsche gewachsen, kleine Bäume standen hie und da in der Gegend, Tiere wuselten herum und der Himmel zeigte sich in strahlendem Blau. Moi gefiel es jetzt an dem See, der nun nicht mehr grau war, sondern in durchsichtigem Grün vor ihm lag und in der Sonne glitzerte. Diesmal musste er nicht erst in den See blicken, um sich selbst zu sehen. Aber er verbachte auch diesen Tag damit, sich selbst zu entdecken. Diesen und den nächsten und den darauf folgenden und viele Tage, Wochen und Monate mehr. Um ihn herum wuchsen die Pflanzen zu dichtem satten Grün heran, während Moi seine eigenen Stärken entdeckte und lernte, sie zu nutzen, und auch seine Schwächen, die er nicht verachtete, sondern die er liebevoll annehmen konnte, die er als einen Teil von sich akzeptierte. Man muss nicht alles können oder wissen, niemand kann das, dachte er sich. Und – sind es nicht unsere Schwächen, die uns erst wirklich liebenswert und einzigartig machen?