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Nachdem Onem den Jarl und Anführer Eldor getötet hat, um dessen Frau Yrsa als seine eigene Frau zu nehmen und dadurch den Titel des Jarls zu erlangen, begibt Yrsa sich auf die Suche nach ihrem Mann, der sie in Visionen davon überzeugt hat, dass er in der Zwischenwelt gefangen gehalten wird. Sie muss sich dabei gegen üble Machenschaften von Menschen und Göttern zur Wehr setzen, um an ihr Ziel zu gelangen.
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Seitenzahl: 290
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Undorn
Martina Noble und Werner Diefenthal
Buchbeschreibung
Nachdem Onem den Jarl und Anführer Eldor getötet hat, um dessen Frau Yrsa als seine eigene Frau zu nehmen und dadurch den Titel des Jarls zu erlangen, begibt Yrsa sich auf die Suche nach ihrem Mann, der sie in Visionen davon überzeugt hat, dass er in der Zwischenwelt gefangen gehalten wird. Sie muss sich dabei gegen üble Machenschaften von Menschen und Göttern zur Wehr setzen, um an ihr Ziel zu gelangen.
Über die Autoren
Martina Noble:
Geboren 1979 in Mainz, liebt sie es seit frühester Kindheit, Geschichten zu erzählen und zu schreiben. Seit 2014 schreibt sie gemeinsam mit Werner Diefenthal und hat mehrere Bücher mit ihm veröffentlicht.
Werner Diefenthal:
Geboren 1963 im Rheinland, schreibt seit mehreren Jahren und veröffentlichte 2010 seinen ersten Roman. Seit 2014 hat er mit Martina Noble eine Schreibpartnerin, mit der er gemeinsam mehrere Romane veröffentlicht hat.
Für alle Wikinger und Schildmaiden
Undorn
Martina Noble
Werner Diefenthal
Coverdesign ©Sandra Limberg
Trio Ars Sistendi
1. Auflage, 2020
© Martina Noble und Werner Diefenthal – alle Rechte vorbehalten.
Trio Ars Sistendi
c/o Werner Diefenthal
Annaweg 12
96215 Lichtenfels
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
www.trio-ars-sistendi.eu; www.wdiefenthal.de, www.sollena-photography.de
Vorwort
Hier ist es, unser erstes gemeinsames Werk. Wir, das sind Sandra Limberg, die bisher all unsere Cover gestaltet hat, Martina Noble und ich, Werner Diefenthal. Gemeinsam bilden wir das »Trio Ars Sistendi«. Viele fragen sich vielleicht, was das bedeutet. »Ars Sistendi« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie: »Die Kunst der Darstellung«. Und als Kunst sehen wir dieses Projekt, denn es ist die Metamorphose vom Wort zum Bild und vom Bild zum Wort. Wunderbare Bilder gehen eine Symbiose mit einem Text ein, der extra dafür geschaffen wurde.
Hier, mit diesem Buch, haltet ihr einen Teil des Gesamtwerkes in der Hand, die reine Textform, die Essenz aus vielen Stunden Arbeit an der Tastatur und noch mehr Arbeit mit dem Fotoapparat und dem Bildbearbeitungsprogramm. Ergänzend dazu erscheint der Bildband, in dem man in Bildern und den dazu passenden Textstellen die fantastische Geschichte der Wikinger und deren Göttern noch intensiver erleben kann.
Obwohl beides eigenständige Werke sind, so ist es doch empfehlenswert, ebenfalls den Bildband zu lesen, um die Geschichte wirklich und wahrhaftig zu erleben.
Für alle, die in der Mythologie nicht so bewandert sind, findet sich am Ende ein kleiner Exkurs.
Entstehung und Danksagung
Am Anfang war eine Idee. Oder, wie es so schön heißt: »Es begab sich, dass es sich begab …«
Alles begann damit, dass Martina Noble zum Verfasser dieser Zeilen hier meinte: »Sandra hat da ne Idee …«
Zu dieser Zeit hatte Sandra Limberg eine ganze Menge Bilder von Menschen gemacht und diese in Wikinger verwandelt. Dazu kommt, dass sie (wie ich mittlerweile auch) ein großer Fan einer bestimmten Serie ist, in deren Mittelpunkt halt Wikinger stehen. »Sie meinte, sollten wir nicht ein Buch schreiben und dazu passend einen Bildband machen?«, fragte Martina ganz unschuldig.
Und dann begab es sich … dass mich der Wahnsinn heimsuchte und ich innerhalb weniger Stunden einen ersten, groben Plot zusammenschrieb. Als ich diesen dann innerhalb des Trios vorstellte, war die Folge, dass ich an der ganzen Sache, am ganzen Werk, schuld bin. Nun ja … so begann es.
Wir krempelten den Plot um, denn: Egal, welche Fantasie man im Wahn hat, so manches können wir bildtechnisch nicht umsetzen. Denn, woher zum Teufel bekommen wir ein Wikingerboot? Oder einen Werwolf? Einen Riesen?
Also bastelten wir. Doch dann kam ein Problem auf. Zumindest glaubten wir das.
»Wir brauchen Menschen, die vor die Kamera treten.«
»Na, ob wir da vielleicht so fünf oder sechs finden?«
»Wir machen mal ne Ausschreibung.«
Gesagt, getan. Wenig später dann: »HILFE!! Wir können ja zehn Bücher schreiben mit all den Leuten.«
Ergo mussten wir aussuchen, überlegen, Rollen definieren. Wir waren wirklich mehr als überrascht. So viele tolle Menschen, die mitmachen wollten. Von überall her.
Ich muss es sagen: Leider konnten wir nicht alle berücksichtigen. Es waren zu viele.
Schließlich hatten wir die Besetzung zusammen, ein Termin wurde gemacht. An einem wunderschönen Wochenende im Mai 2018 (vergesst das mit dem »wunderschön«, es war brütend heiß!) traf man sich. Zuerst in Budenheim, dann am nächsten Tag im Keltendorf in Bundenbach. Es war ein Erlebnis! Wir waren alles in allem so ca. 60 Leute, die meisten in wirklich fantastischen Gewandungen, voller Elan, hochmotiviert, folgsam und friedfertig (Wobei einige Jogger, denen wir begegneten, das wohl nicht so sahen und abdrehten). Und immer die bange Frage: Haben wir genug Proviant? Machen wir alles richtig? Hält das Wetter? (Ja, es hielt. Das geflügelte Wort war: »So viel grün!« (O-Ton Sandra)) Und dem Wetter geschuldet kam dann die Änderung des Namens dieses Werkes. Sollte es ursprünglich »Nebelreise« heißen, so mussten wir, bedingt durch den strahlenden Sonnenschein und das Fehlen jeglichen Nebels, einen neuen Titel kreieren. Nach langem Überlegen haben wir uns für »Undorn« entschieden. Dieses Wort stammt aus dem Altnordischen und bedeutet »Zwischenzeit«.
Böse Zungen könnten nun sagen, wir haben in der Zwischenzeit vieles andere gemacht. Doch im Grunde genommen, so unsere Überlegung, bezieht sich das auf die Handlung, die in einer »Zwischenzeit« stattfindet. So oder so, wir finden den Titel gelungen und einprägsam.
Auf jeden Fall haben wir an einem Wochenende so Summa summarum 2000 Bilder geschossen. Es gab noch einige Termine, um alles zu vervollständigen, aber auch diese waren einfach toll.
Und dann haben Sandra und Martina stundenlang Bilder angesehen, selektiert, sortiert, genehmigt, verworfen, überlegt, sich vielleicht übergeben, Stielaugen bekommen … aber es geschafft.
Parallel haben wir begonnen, an dem Roman zu arbeiten, während Sandra sich in die Bildbearbeitung stürzte. Nach vielen, vielen Stunden harter Arbeit hat sie dann alle Bilder so gehabt, dass wir uns daran machen konnten, sie zusammenzustellen, die Texte dafür zu schreiben, und irgendwie ist es uns dann doch gelungen, woran wir zeitweise nicht mehr geglaubt haben:
Das erste gemeinsame Projekt unter dem Namen »Trio Ars Sistendi« ist fertig. Buch. Bildband.
Und, ehrlich: Wir sind es auch. Aber glücklich.
Keinesfalls darf an dieser Stelle die Danksagung fehlen – wir versuchen, uns kurz zu halten, was nicht einfach werden wird:
Der größte Dank geht an all unsere Protagonisten, ohne deren Zutun, deren Kreativität und deren unermüdliche Reisebereitschaft dieses Projekt niemals hätte geschehen können.
Danke an die Gemeinde Bundenbach und ihren Bürgermeister, die uns ihr Keltendorf völlig unkompliziert für einen kompletten Tag zur Verfügung gestellt haben. Mehr zum Keltendorf findet man unter:
http://www.sgoerner.de/bundenbach/keltensiedlung
Danke an Cora dafür, dass Du für uns die grafische Arbeit in Sachen „Bildband“ übernommen hast – ohne Dich hätten wir sehr viel mehr unter Druck gestanden.
Danke an Deborah und Thomas für die vielen Making-Of Bilder, die uns als Erinnerungen bleiben werden.
Danke an Daniel für die Hilfe bei der finalen Gestaltung der Schilde sowie für das schöne Trio Ars Sistendi Logo.
Danke an alle uns unbekannten Menschen, die Ihre Kleidung und Ihre Requisiten leihweise unseren Protagonisten für UNDORN zur Verfügung gestellt haben.
Wir sehen uns in Walhalla!
Prolog Der Wanderer
Der Rabe zog seine Kreise. Weit über der See, die sich schäumend an den hoch über dem Wasser aufragenden Klippen brach. Am Rand der Felsen standen einzelne Kiefern, deren Äste im Wind schwangen. Unbeirrt hielten sie dem Ansturm der Elemente stand, krallten sich mit ihren Wurzeln in den Boden, erzitterten mit jedem neuen Windstoß. Elegant flog der Rabe über sie hinweg, seine klugen Augen erfassten jede noch so geringe Bewegung. Der Wind trug ihn weiter, bis er über einer Bucht, die sich im natürlichen Schutz der weit vorgelagerten Felsen befand, ein heiseres Krächzen ausstieß.
Die Häuser duckten sich etwas entfernt vom Strand auf einer Anhöhe. Nur ein schmaler Pfad führte auf das Felsplateau hinauf, an dessen Ende eine Palisadenwand mit einem Tor den Eingang markierte. Die verlassenen Landungsstege in der Bucht warteten auf die Rückkehr der Schiffe mit den Männern, die auf Raubzug waren.
Im Dorf selbst waren nur wenige Menschen zu sehen. Einige ältere und verletzte Männer sortierten den Fang des Tages, die Frauen besserten die Netze aus, während die Kinder sich mit Holzschwertern und Schilden im Kampf übten.
Weiter flog der Rabe, ließ ein erneutes Krächzen hören. Über dem Wald, der ein Stück vom Dorf entfernt begann, ließ er sich wieder vom Wind tragen, bis er sah, wonach er gesucht hatte. An einem kleinen See kniete ein Mann, betrachtete sich im Spiegel des Wassers, lächelte. Langsam erhob er sich, richtete seine Kleidung. Als er den Raben hörte, sah er zu ihm auf, zwinkerte ihm mit dem rechten Auge zu und ging gemächlichen Schrittes in Richtung des Dorfes.
Er war groß gewachsen, schlank, jedoch kräftig. Seine Augen blitzten wach, sein dichter schwarzer Bart umrahmte ein markantes Kinn. Die langen Hosen waren staubig, genau wie seine Schuhe. Beim Gehen zog er das linke Bein nach, schlurfte mit dem Fuß über den Boden.
An seiner linken Seite hing ein Schwert, ein Schild war auf den Rücken gegurtet, direkt neben seiner Axt. An der rechten Hüfte hing an einem Ledergürtel seine Knochenflöte, die im Takt seiner Schritte baumelte.
Langsam näherte er sich dem Ort. Ein Stück entfernt blieb er stehen, schien sich jedes Haus, jeden Zaunpfahl genau einzuprägen. Einige Anwohner sahen ihn, doch ein einzelner Fremder stellte keine Gefahr dar. Dennoch schickte man einige der älteren Jungen los, um sich in den Wäldern umzusehen, ob der Fremde vielleicht doch Feinde anführte. Als die Sonne sank, setzte der Mann sich wieder in Bewegung und erreichte mit dem letzten Licht des Tages das Tor, das in das Dorf führte. Mittlerweile schien klar zu sein, dass er alleine unterwegs war, jedenfalls hatte man keinerlei Spuren anderer Männer gefunden. Niemand hielt den Fremden auf, die Kinder umringten ihn, und er lächelte sie an und holte aus einem Beutel einige Beeren, die er ihnen hinhielt. Doch keines von ihnen griff zu, das Misstrauen überwog.
Mitten im Dorf zwischen den Hütten stand eine Frau und sah ihm entgegen. Der Mann betrachtete sie eingehend. Sie war von einer ganz besonderen Schönheit, die ihn sofort in ihren Bann zog. Ihre langen dunklen, leicht rötlich schimmernden Haare hingen offen über ihre Schultern, das einfache Kleid erschien ihm wie das Gewand einer Königin. Vermutlich lag es an ihrer Haltung, hoch aufgerichtet, selbstsicher und stolz. Ihre vollen Lippen waren leicht skeptisch geschürzt, als sie ihrerseits seinen Blick offen erwiderte.
Ohne zu zögern, trat er auf sie zu, neigte den Kopf.
»Verzeiht mir mein Eindringen, doch bin ich ein Wanderer auf der Suche nach einem Schlafplatz für die Nacht. Ein Sturm zieht auf.«
Sie musterte ihn von oben bis unten.
»Und wer seid Ihr? Wer sagt mir, dass Ihr nichts Böses im Schilde führt?«
Der Fremde verbeugte sich leicht.
»Mein Name ist Agnar. Agnar, der Flötenspieler. Nichts Böses ist in meinem Sinn. Im Gegenteil, nur Freude möchte ich den Menschen bringen.«
»Ich bin Yrsa, Frau von Eldor, dem Jarl dieses Dorfes und seiner Bewohner.« Sie trat näher an den Fremden heran, registrierte jede Kleinigkeit an ihm, auch seine Waffen. »Sagt mir, Agnar, wie kommt es, dass ich Euch noch nie gesehen habe? Und wie kann es sein, dass ein so kräftig gebauter Mann nicht mit auf Beutezug ist?« Sie trat vor ihn hin, sah ihm in die Augen. »Wurdet Ihr von Eurem Jarl verstoßen? Habt Ihr Verbrechen begangen?« Sie machte eine kurze Pause, beobachtete seine Reaktion. »Oder seid Ihr gar ein Feigling?«
Nach diesen Worten entfernte sie sich ein Stück. Die anderen Bewohner des Dorfes hatten sich genähert, schlossen einen Kreis um den Fremden, bereit, ihn sofort zu töten, wenn Yrsa es befahl.
Agnar lächelte sanft.
»Ich verstehe Euer Misstrauen.« Er machte ein paar Schritte auf Yrsa zu, die sein Humpeln bemerkte. »Doch wie Ihr leicht erkennen könnt, bin ich nicht fähig, mit in den Kampf zu ziehen. Als Knabe geriet ich unter die Hufe der Pferde meines Jarls. Seitdem bin ich als Kämpfer nicht mehr geeignet, doch hat man meine anderen Fähigkeiten erkannt. Ich bin geschickt im Umgang mit jeglichem Werkzeug und spiele Euch die schönsten Weisen auf der Flöte. Ich bitte Euch nur um Obdach für die Nacht und um etwas zu essen. Morgen in der Früh werde ich weiterziehen.«
»Nun, Agnar, Ihr sagt, Ihr seid ein guter Flötenspieler. Musik macht jedes Essen zum Festmahl. Wenn Ihr uns aufspielt, dürft Ihr mit uns speisen und bekommt ein Bett für die Nacht«, erwiderte Yrsa nickend.
Agnar verbeugte sich.
»So sei es.«
Yrsa bedeutete ihm, ihr zu folgen, und der Besucher kam bereitwillig mit ihr. Schon nach ein paar Schritten bemerkte er, dass ihnen drei junge Frauen mit nur wenig Abstand folgten und ihn nicht aus den Augen ließen. Wie Yrsa waren sie ausnehmend schön und gut gewachsen, mit schlanken, trainierten Körpern. Alle drei hatten Haare, die ihnen bis auf die Hüften hinab fielen, eine in einem dunklen Kastanienrot, die andere in hellem Kupfer. Sie hatte die langen Strähnen zu kunstvollen Filzzöpfen zusammengedreht. Den Kopf der Dritten zierten dunkelbraune Locken.
Die Schönheit der Frauen konnte jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sie alle die Hand am Schwertknauf trugen.
Amüsiert wandte Agnar sich an seine Gastgeberin.
»Man hat keine wehrhaften Männer zu Eurem und dem Schutz des Dorfes zurückgelassen?«
Yrsa sah ihn nicht einmal an, lächelte nur.
»Wir brauchen keine Männer, um uns zu schützen.« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf die jungen Frauen, die ihnen folgten. »Nehmt Arnora, Runa und Jorunn. Ihr könnt sicher sein, sie haben Euch die Kehle durchgeschnitten, noch bevor Ihr Eure Waffe ziehen könnt.«
Agnar lachte.
»Daran habe ich keinen Zweifel!«
Er zwinkerte der kupferhaarigen Arnora zu, was ihm einen bösen Blick aus kristallblauen Augen einbrachte. Sie näherten sich einem großen Platz in der Mitte des Dorfes, direkt neben dem Gemeinschaftshaus. In den dunklen und kalten Monaten hielt man im Inneren die Versammlungen ab und feierte dort, doch in den Sommermonaten verlagerte man dies nach draußen. Fleißige Helfer hatten Tische aufgestellt, an denen etwa dreißig Menschen Platz genommen hatten.
Agnar sah sich um, betrachtete die überall brennenden Kohlenfeuer, die Speisen, die man aufgetischt hatte, bestehend aus Braten, Zwiebeln, Brot und Wurzelgemüse. Auf den Bänken rutschte man zusammen, damit auch er Platz fand.
Yrsa bat die Versammelten, zuzugreifen, und prostete mit einem Krug in die Runde. Man unterhielt sich über den Fischfang, ob der Winter bald käme und ob die Männer wohl reichlich Beute mit nach Hause brächten.
Als das Mahl endete, sah Yrsa Agnar an.
»Ihr sagtet, Ihr seid Meister der Flöte, oder habe ich das falsch verstanden?«
»Oh, nein, nicht nur auf der Flöte, auch bin ich ein Künstler des Wortes.«
»Wie wäre es, wenn Ihr uns eine Kostprobe Eures Könnens darbringt, damit wir darüber befinden können, ob Ihr die Wahrheit sprecht oder nur Sprüche klopft?«
Agnar stand auf, trat vor Yrsa und verbeugte sich leicht.
»Ihr werdet nicht enttäuscht sein.«
Die Feiernden versammelten sich um die Feuerstelle, Agnar löste die Flöte vom Gurt, setzte sie an die Lippen und spielte eine leise Melodie. Sanft flogen die Töne zum Himmel empor, wurden scheinbar von ihm zurückgeworfen, schienen in der Luft zu tanzen.
Die letzten Gespräche verstummten, alles lauschte dem Flötenspiel des Mannes, obwohl es nicht übermäßig laut war. Sogar die tobenden Kinder hörten mit verzückten Gesichtern zu. Yrsa sah ihn gebannt an. Noch nie im Leben hatte sie Ähnliches gehört. Jeder Ton schien in ihr einen Nerv zu treffen, brachte sie zum Vibrieren. Ihr Herz schlug schneller, die Handflächen wurden feucht und sie war froh, auf einer Bank zu sitzen, denn ihr zitterten die Knie. So hatte sie sich nur ein einziges Mal gefühlt – als Eldor sie damals umworben hatte. Sein Lächeln und das verschmitzte Blitzen in seinen Augen hatten dieselbe Reaktion ausgelöst wie jetzt das Flötenspiel dieses seltsamen Fremden.
Schmerzhaft fiel ihr ein, dass ihr Mann weit fort war und nur die Götter wussten, wann er wieder zu ihr zurückkehren würde. Sie schalt sich innerlich eine Närrin, dass sie nur vom Flötenspiel eines Mannes so berührt wurde. Jedoch sah sie, dass es ihr nicht alleine so ging. Alle Frauen, angefangen vom gerade erst erblühten Mädchen bis zur Greisin, hatten jenes Strahlen im Gesicht, das einem Mann die Offenheit ihres Herzens anzeigte. Auch die Männer, die nicht mit zur Kaperfahrt hatten kommen können, weil sie schon zu alt oder verletzt waren, blieben von der Darbietung nicht unberührt. Überrascht entdeckte Yrsa Tränen in den Augen ihres ältesten Kriegers. Das Spiel endete. Beinahe schmerzhaft war es für Yrsa, als habe man ihr etwas gestohlen. Dann begann Agnar, mit einer volltönenden Stimme zu singen, und eine neue Woge aus Sehnsucht schlug über ihr zusammen. Kaum konnte sie dem Text folgen, der von Liebe und Leidenschaft handelte.
Als Agnar schließlich verstummte, brach Beifall aus. Die Menschen standen um ihn herum, applaudierten laut, bis Yrsa die Arme hob.
»Nun, Agnar, Ihr habt wahrlich nicht gelogen. Habt Dank für diese Darbietung. Doch es ist spät, der Tag wird nicht auf sich warten lassen. Ich lasse Euch Euer Lager zeigen.«
Agnar sah ihr tief in die Augen und Yrsa durchfuhr die Erkenntnis wie ein Blitz. Er hoffte darauf, in dieser Nacht ihr Bett zu teilen. Vielleicht hätte sie es getan, hätte sie keine Verpflichtungen gehabt – er war ein ansehnlicher Mann.
Doch sie war die Frau des Jarl. Es verbot sich von selbst, diesem Verlangen nachzugeben. Sie liebte Eldor ehrlich und aufrichtig. Niemals würde sie sich in die Arme eines anderen Mannes begeben, so lange Eldor lebte. Und dennoch, die Verführung war gegenwärtig, das erkannte sie. War es vielleicht eine Prüfung der Götter? Brüsk schüttelte sie den Kopf.
»Ich wünsche Euch eine angenehme Nacht, Agnar, der Flötenspieler. Morgen früh werdet Ihr uns verlassen.« Sie lächelte. »Ich denke, Ihr wisst, warum.«
Agnar sah ihr wieder tief in die Augen, hörte, wie die Menschen gingen, bis nur noch er mit Yrsa und einigen jungen Mädchen alleine war, die den Tisch abräumten.
»Erklärt es mir«, erwiderte er leise.
Erneut durchfuhr es Yrsa beim Klang der warmen Stimme.
»Ihr stiftet Unruhe in den Herzen der Frauen«, gab sie ruhig zurück. »Und Ihr wisst es, mehr noch, Ihr beabsichtigt es sogar. Doch lasst mich Euch etwas sagen: Ich liebe Eldor, meinen Mann. Ich habe geschworen, ihm treu zu sein. Kein anderer Mann wird mich berühren, geschweige denn besitzen. Ihr werdet ein Lager hier im Gemeinschaftshaus erhalten. Solltet Ihr es wagen, in der Nacht zu mir zu kommen, so seid gewarnt. Ich weiß, wie man mit einem Schwert und einem Messer umgeht, und wir werden das Haus nicht unbewacht lassen.«
Damit drehte sie sich um und ließ einen schmunzelnden Agnar stehen.
***
Mit einem Keuchen schreckte Gudney aus dem Schlaf, richtete sich hastig auf. Die Bilder aus ihrem Traum folgten ihr für einen Moment in die Realität, wirbelten um sie herum, aber bevor sie sie fassen und begreifen konnte, verblassten sie, rannen davon wie Wasser durch gefaltete Hände. Die Seherin des Dorfes fluchte leise. Seit die Männer auf Raubzug gegangen waren, wurden die Träume mit jeder Nacht intensiver, aber nach dem Erwachen schwand die Erinnerung daran viel zu schnell, ließ nur Bruchstücke zurück. Sie erinnerte sich an Jarl Eldors Gesicht und an das seines Bruders. Und an einen lachenden Mann mit dunklem Haar, den sie nicht kannte.
Noch immer außer Atem wischte Gudney sich die langen braunen Haare aus dem Gesicht und erhob sich von ihrem Lager, ging zur Fensteröffnung herüber, die nach Osten gewandt war und die ersten blassen Sonnenstrahlen des Morgens eindringen ließ. Darunter stand eine Schale mit Wasser auf einem hölzernen Tisch.
Gudney beugte sich über die Schale, versetzte sie in Schwingungen, bis die kleinen Wellen ihr Spiegelbild völlig zerrissen hatten, und wartete. Doch als die Wasseroberfläche wieder ruhig wurde, sah sie nur die eigenen grünen Augen. Keine der Visionen, die sie bekam, seit sie ein kleines Mädchen war, wollte kommen. Die junge Frau unterdrückte einen weiteren Fluch und zog sich nachdenklich an, trat dann vor ihre Hütte, die ganz in der Nähe des Gemeinschaftshauses in der Mitte des Dorfes lag. Als einzige unverheiratete Frau des Clans hatte sie ihre eigene Behausung, die sie mit niemandem teilen musste. Man glaubte, dass die Anwesenheit anderer Menschen die ungewöhnlichen Fähigkeiten einer Seherin störten und verhinderten, dass sie in die Zukunft sehen konnte. Und Gudneys Fähigkeiten waren sehr wichtig im Clan. Keine Beutefahrt fand statt, ohne dass man sie zuvor befragt hatte, keine Jagd, nicht einmal der Anbau von Feldfrüchten. Sie war außergewöhnlich jung für eine Seherin, hatte noch keine dreißig Sommer erlebt, aber sie irrte sich nie. Umso mehr machte ihr zu schaffen, dass sie die Bilder jetzt nicht greifen konnte. Es war wichtig, sehr wichtig, das fühlte die junge Frau.
Die kühle Morgenluft machte ihr den Kopf ein wenig klarer, und Gudney schlenderte gemächlich durchs Dorf. Es wurde langsam Herbst, die Blätter im nahen Wald hatten sich schon golden gefärbt, das Gras war kühl und feucht. Bald würde es Frost geben. Vereinzeltes Rascheln aus den Hütten zeigte an, dass die ersten Bewohner bereits erwacht waren, aber zwischen den hölzernen, mit Grassoden gedeckten Gebäuden war noch niemand unterwegs.
Auch die Wachen, die vor dem Gemeinschaftshaus gestanden hatten, um ein Auge auf den Besucher zu halten, waren nicht mehr dort. Das verwunderte Gudney. Sie hatte erwartet, dass sie dort mindestens ausharren würden, bis mehr Menschen erwacht waren.
Einem Instinkt folgend zog die Seherin sich in den Schatten eines nahen Hauses zurück und behielt den Eingang im Auge. Im Inneren des Gemeinschaftshauses konnte sie undeutliche Bewegungen ausmachen. Offensichtlich war auch der Besucher schon erwacht und bereitete seine Abreise vor. Nur wenige Momente später trat er nach draußen, und Gudney presste die Hand vor den Mund, um nicht erschrocken aufzuschreien. Es war nicht der junge, schöne Flötenspieler, der am Vorabend ins Dorf gekommen war. Zwar immer noch hochgewachsen und stattlich stand dort ein völlig anderer Mann, Jahre älter als Agnar, mit kahlem Kopf und einem beeindruckenden grauen Bart. Hatte Agnar etwa heimlich nachts weitere Männer ins Dorf geschleust? Wie konnte er das bewerkstelligt haben?
Der Fremde sah sich aufmerksam um, entdeckte Gudney jedoch nicht, die sich noch weiter in ihr Versteck zurückzog, und ging dann schnellen Schrittes fort. Die Seherin verfolgte seinen Weg mit Blicken, bis er, ohne aufgehalten zu werden, durchs Tor eilte und verschwand. Ein paar Momente lang stand sie noch wie angewurzelt, dann rannte sie ins Gemeinschaftshaus und sah sich um. Es war leer. Agnar war nicht mehr da und kurz zweifelte Gudney an sich selbst. Hatte sie sich im dämmrigen Morgenlicht getäuscht, Agnar nicht richtig erkannt? Oder war die Vision nun doch noch gekommen? Die Seherin rang mit sich, ob sie Yrsa von den wirren Träumen und der merkwürdigen Beobachtung erzählen sollte, doch dann entschied sie sich dagegen. Nicht, bevor sie nicht größere Klarheit darüber hatte, was das Gesehene bedeutete. Sie ging zurück in ihre Hütte, um zu meditieren und die Götter um Hilfe und Klarsicht zu bitten.
***
Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, als schließlich auch Yrsa das Gemeinschaftshaus betrat. Langsam ging sie zu der Stelle, an der man Agnar ein Lager bereitet hatte, doch dieses war leer, scheinbar unberührt.
»Habe ich das nur geträumt?«, fragte sie sich leise und schüttelte den Kopf, kehrte in ihre Hütte zurück.
Sie wollte wieder in ihr Bett gehen, um vielleicht doch noch etwas Schlaf zu finden, da blieb ihr Blick auf ihrem Tisch hängen. Darauf lagen eine Rabenfeder und ein Amulett. Neugierig nahm sie das Schmuckstück in die Hand, betrachtete es, und einem plötzlichen Impuls folgend legte sie es an. Wärme durchfloss sie und ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Und im Ohr hatte sie wieder das Flötenspiel des geheimnisvollen Mannes.
***
Loki stand auf einem der Balkone von Valaskjalf, dem Palast Odins. Seit einer Weile schon hielt er sich dort auf, hatte begehrliche Blicke auf Hliðskialf geworfen, den Thron Odins.
»Irgendwann sitze ich auf ihm«, hatte er dabei gemurmelt.
Loki wusste, Odin war wieder einmal auf einem seiner Streifzüge in Midgard, wie immer in seiner menschlichen Gestalt und auf der Suche nach einer Menschenfrau, die er verführen konnte. Es war Loki ein Rätsel, warum Odin dies immer noch tat.
»Irgendwann ist es dein Verderben, alter Freund«, wisperte er.
»Was ist wessen Verderben?«
Odins Stimme ließ Loki herumwirbeln, und er starrte in das Gesicht des Allvaters, um dessen Mund ein leises Lächeln spielte. Loki deutete eine Verbeugung an.
»Odin! Ich hatte dich noch nicht erwartet. Meist dauern deine, nun, Ausflüge etwas länger.« Loki legte den Kopf schief. »Oder war deine Gespielin zu langweilig?«
Der Göttervater lachte.
»Im Gegenteil, mein lieber Loki, im Gegenteil. Ich habe selten einen Menschen dieser Art getroffen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Loki neugierig.
Der Allvater legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber es gibt wirklich Menschen, die meinem Werben widerstehen können. Und das nur, weil sie wirklich und wahrhaftig in Liebe zu einem der ihren entbrannt sind. Und diese Liebe, die ist so stark, dagegen sind unsere göttlichen Kräfte nichts.«
»Pah! Menschen und Liebe! Als ob sie so etwas wirklich empfinden können. Jeder Mensch hat seinen Preis. Und jeder Mensch lässt sich verführen, wenn man die richtigen Wege findet. Da verliert Liebe ihre Kraft und Gültigkeit.«
»Ach Loki, so lange kennen wir uns schon, und so lange hoffe ich, dass du eines Tages erkennst, dass wir Götter nicht allmächtig sind. Und lass es dir gesagt sein, gegen die Liebe, und damit meine ich wahre Liebe, tief aus dem Herzen kommend, dagegen sind wir Götter machtlos.«
»Das glaube ich nicht.«
Odin sah ihn lange an.
»Loki, der Tag, an dem ich erkennen muss, dass die Liebe nicht die stärkste Kraft ist, gegen die auch wir nicht ankämpfen können, das wird der Tag sein, an dem du Hliðskialf besteigst.«
Damit ließ er ihn stehen. Loki sah ihm hinterher und ein Plan reifte in ihm.
1. Kapitel Verführung
Onem hatte sich von seinen Kameraden zurückgezogen und Erschöpfung vorgegeben, um nicht mit ihnen am Feuer sitzen zu müssen.
Tatsächlich war er alles andere als müde. Er kochte vor Wut, als er in seine Felle gewickelt ein ganzes Stück von der Gruppe entfernt auf der Erde lag und durch einen knorrigen Eichenhain hindurch das Flackern des Lagerfeuers beobachtete.
Er hörte sie lachen, hörte das dumpfe Brummen ihrer Stimmen. Diese Narren! Onem war davon überzeugt, dass Jarl Eldor gerade dabei war, sie ins Verderben zu führen, und keiner außer ihm schien sein Handeln zu hinterfragen.
Das Dorf, das sie angesteuert hatten, um es zu plündern, war verlassen gewesen. Auf der Rückreise von ihrem letzten Raubzug waren ihnen die Rauchfahnen der Siedlung aufgefallen, und Onem hatte es damals schon überfallen wollen, aber Eldor hatte abgelehnt. Sie hatten genug Beute gemacht, wie er meinte. Übermäßige Gier erzürne nur die Götter.
Onem schnaubte noch jetzt vor Verachtung, wenn er daran dachte. Sein jüngerer Bruder war der größte Narr von allen, und ausgerechnet ihn hatte Yrsa zu ihrem Ehemann und damit zum Jarl auserkoren! Eine Entscheidung, die den Stamm früher oder später in die Vernichtung, oder schlimmer noch, die Sklaverei führen würde, davon war Onem überzeugt.
Der Gedanke an Yrsa ließ den Krieger frustriert die Fäuste ballen. Im Grunde war sie der Ursprung allen Übels. Oder, um genau zu sein, die Tatsache, dass sie das einzige Kind von Jarl Brynjar geblieben war.
Jarl Brynjar war ein großer Mann gewesen, ein kluger Anführer. Es war ihm zu verdanken, dass ihr Dorf vom Strand auf das Felsplateau hinauf verlegt worden war. Seitdem waren sie uneinnehmbar. Sämtliche Angriffe, die auf sie unternommen worden waren, hatten sie erfolgreich und meist ohne große Verluste zurückschlagen können. Darüber hinaus waren ihre Raubzüge ertragreicher geworden, denn sie mussten keinen der wehrhaftesten Krieger mehr zum Schutz des Dorfes zurücklassen – die Frauen konnten es sehr gut allein verteidigen!
Einen Sohn hatte Brynjars Frau Sigrid ihm nie schenken können, doch ihn störte das nicht. Er bildete Yrsa genauso an der Waffe aus, wie er es mit einem Sohn getan hätte, und lehrte sie alles, was ein würdiger Jarl wissen musste. Niemand erhob Einspruch dagegen, dass sie den Nachfolger ihres Vaters zu ihrem Mann wählen würde. Und Onem war sich sehr sicher gewesen, dass er dieser Nachfolger sein würde. Er war der ältere der beiden Brüder und schon in sehr jungen Jahren ein erbitterter, gnadenloser Kämpfer gewesen, während Eldor häufig in den Tag hinein lebte und sich Träumereien und – in Onems Augen – sinnlosen Zukunftsvisionen hingab.
Yrsa jedoch fühlte sich zu dem schelmischen Blitzen in Eldors braunen Augen weit mehr hingezogen als zu Onems kriegerischem Wesen und zog ihn vor. Es war seitdem kein Tag vergangen, an dem Onem sich nicht um die Führung des Dorfes betrogen glaubte, zumal Eldor viel zu viel Wert auf das legte, was seine Frau sagte und wollte.
Immer wieder gab es Zwist darüber, dass Eldor Yrsa um Rat fragte, vor allem bei wichtigen Entscheidungen.
»Du gibst zu viel auf das Weibergeschwätz«, sagte Onem häufig.
»Du unterschätzt die Intelligenz der Frauen«, gab Eldor gern zur Antwort, worauf Onem nur die Augen verdrehte.
»Die einzige Intelligenz, die ich bei einem Weib brauche, ist die, wie sie mich befriedigt!«
Eldor war anderer Meinung. Für ihn war Yrsa eine wichtige Partnerin und er vertraute ihr blind. Ihre Ratschläge gaben oft genug den Ausschlag für Entscheidungen, und er hatte viele ihrer Ideen, wie man das Leben im Dorf verbessern könnte, in die Tat umgesetzt.
Beispielsweise betrieben sie seit geraumer Zeit in unmittelbarer Nähe der Siedlung Ackerbau und hatten begonnen, sich mit benachbarten Stämmen anzunähern und Handel mit ihnen zu treiben. Ein unsäglicher Zustand für Onem. Krieger waren sie, keine Bauern und Händler! Ein Armutszeugnis und eine unverzeihliche Schwäche!
Dazu kam, dass Eldor und Yrsa bis heute kinderlos waren. Wurden im Dorf jedes Jahr Kinder geboren, wuchs die Anzahl der Köpfe stetig, so blieb jedoch ausgerechnet der Jarl ohne einen Nachfolger.
Monat für Monat warteten die Bewohner darauf, dass Eldor und Yrsa verkündeten, dass die Frau des Jarls guter Hoffnung war. Doch bisher vergeblich.
Onem war der Meinung, dass die Götter sich gegen Eldor gewandt hatten. Sie verhinderten, dass er einen Nachfolger bekam. Und je öfter er diesen Gedanken nachhing, desto mehr war er davon überzeugt, dass Eldor der falsche Jarl war.
»Zu viele Entscheidungen, die von seinem Weib getroffen werden«, brummte Onem.
Wann welche Feldfrüchte ausgebracht wurden, wann geschlachtet wurde, wann gejagt. Und auch bei Streitigkeiten, die geschlichtet werden mussten, wurde die Frau des Jarls gefragt.
Auch bei der Wahl der Route für die unselige Kaperfahrt hatte Yrsa mitentschieden. Weil Eldor nicht entschlossen genug war, eine Entscheidung allein zu treffen, so sah Onem das!
»Unerfreulich, wenn alle blind dem falschen Anführer folgen, nicht wahr?«
Onem fuhr hoch, als habe ihn etwas gestochen und taumelte rückwärts, seine Hand schnellte an den Gurt, wo er auch im Schlaf sein Schwert bei sich trug. Es war verschwunden!
»Suchst du das?«
Zwei Gestalten, ein Mann und eine Frau, traten zwischen den Bäumen hervor, bis sie vom Mondschein beleuchtet wurden. Der Mann hielt Onems Schwert in der Hand und wirkte deutlich amüsiert. Der Krieger stieß einen Fluch aus und taumelte rückwärts. Wie hatte dieser Schurke es geschafft, an seine Waffe zu kommen, ohne dass er ihn auch nur wahrgenommen hatte?
Der Fremde hob die Hände, breitete sie zur Seite aus.
»Ganz ruhig, Freund! Wollte ich deinen Tod, hättest du mich niemals bemerkt!«
Die beiden ließen sich in Onems Nähe auf der Erde nieder, und die Frau wies vor sich auf den Boden, lächelte Onem einladend an.
»Setz dich doch. Unterhalten wir uns ein wenig.«
Langsam kam der Krieger näher, musterte die beiden Fremden mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugierde. Er hatte sie noch nie gesehen, und doch schienen sie zu wissen, was ihn beschäftigte. Besaßen sie geheime Kräfte, stärker noch als die der Seherin zu Hause im Dorf? Wie Wegelagerer sahen sie jedenfalls nicht aus. Beide waren gewandet wie Krieger, die hochwertige Kleidung verriet Wohlstand. Beide waren groß, wohlgestaltet und gut genährt.
Der Mann hatte eine dunkle Lockenmähne, sein Bart war gepflegt und die Frau war von besonderer Schönheit. Im Mondlicht wirkte die Haut milchweiß, das Gesicht war ebenmäßig und von kunstvoll geflochtenem, ebenholzfarbigem Haar eingerahmt. Besonders faszinierten Onem ihre Augen. Sie leuchteten im Mondlicht wie Türkise.
»Keine Waffe vermag einen Krieger so trefflich zu schmücken wie eine schöne Frau, nicht wahr, Onem?«
Der Lockenköpfige lachte erheitert, verstummte aber, als er Onems zusammengekniffene Augen bemerkte.
»Woher wisst Ihr meinen Namen?«
Mit gesenktem Kopf spielte der Fremde mit der gestohlenen Waffe.
»Oh, es gibt viel, was ich weiß. Deinen Namen. Den deines Bruders. Die Tatsache, dass er euren Stamm auslöschen wird, wenn er der Jarl bleibt. Hast du dir nie die Frage gestellt, warum er noch keine Nachkommen hat? Ob es vielleicht gegen den Willen der Götter ist, dass er Jarl wurde?«
Gespannt starrte Onem den Mann an, nickte.
»Wer seid ihr? Woher kommt ihr? Haben euch die Götter geschickt?«
»Spielt das eine Rolle?« Der Fremde lehnte sich selbstgefällig zurück. »Für dich sollte nur wichtig sein, dass ich dich zum Jarl deines Stammes machen kann. Wenn du tust, was ich dir sage!«
Nicht eine Sekunde lang dachte Onem nach, rückte eifrig näher.
»Sprecht weiter!«
Der Fremde und seine Frau tauschten einen Blick, ein wissendes Lächeln spielte um ihre Lippen. Onem saugte jedes Wort des unbekannten Kriegers ein, als er fortfuhr.
»Euch wird viel Unglück widerfahren, wenn ihr weiter Jarl Eldors Befehlen folgt. Nur ein Opfer kann den Zorn der Götter besänftigen. Wirst du in der Lage sein, ein geeignetes Opfer auszuwählen und zu den Göttern zu schicken, Onem?«
Ein entschlossenes Nicken.
»Das werde ich! Jedes Opfer, das nötig ist.«
»Gut!« Der Fremde nickte zufrieden. »Du darfst das Opfer nur nicht mit deinem Schwert bringen, sondern damit in Lokis Namen!«
Er warf seiner Frau einen Blick zu. Sie hatte eine Axt in der Hand, wobei Onem sich sicher war, dass ihre Hände vor einem Augenblick noch leer gewesen waren. Er bildete sich ein, dass die Schneide leicht in der Dunkelheit glühte. Die Frau hielt sie ihm hin, aber als er die Hand danach ausstreckte, packte der Lockige ihn am Arm.
»Du musst schwören, dass du das Götteropfer und jeden Feind nach ihm nur mit dieser Axt ins Nichts schickst. Solange du diese Axt führst, bist du unbesiegbar. Niemand wird es wagen, deine Autorität anzuzweifeln. Du wirst der Jarl, der Anführer, und du allein wirst entscheiden, wohin der Weg euren Stamm führt!«
Begehrlich starrte Onem die makellose Schneide an. Seine Stimme zitterte vor Gier.