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Rothenburg, 1526 Nachdem Marie die Wahrheit über ihre Herkunft erfahren hat, macht sie sich gemeinsam mit ihrem Mann Matthias auf die Suche nach Beweisen, um diese dem Vogt Bernhard Steiner vorzulegen. Jedoch wurde inzwischen der einzige Zeuge, der die Wahrheit kennt, ermordet. Während ihrer Abwesenheit trifft die Inquisition unter der Führung des Inquisitors Ferdinand von Ravensburg in Rothenburg ein und versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Matthias wird von ihm gezwungen, ihn bei der Durchführung der Befragungen zu helfen. Als der Henker sich weigert, ein Kind zu foltern, wird die Situation beinahe aussichtslos und sie müssen beide um ihr Leben fürchten.
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Seitenzahl: 492
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Der Henker von Rothenburg: Inquisition in Rothenburg
Von Martina Noble und Werner Diefenthal
Buchbeschreibung:
Rothenburg, 1526
Nachdem Marie die Wahrheit über ihre Herkunft erfahren hat, macht sie sich gemeinsam mit ihrem Mann Matthias auf die Suche nach Beweisen, um diese dem Vogt Bernhard Steiner vorzulegen. Jedoch wurde inzwischen der einzige Zeuge, der die Wahrheit kennt, ermordet.
Während ihrer Abwesenheit trifft die Inquisition unter der Führung des Inquisitors Ferdinand von Ravensburg in Rothenburg ein und versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Matthias wird von ihm gezwungen, ihn bei der Durchführung der Befragungen zu helfen. Als der Henker sich weigert, ein Kind zu foltern
Über die Autoren:
Martina Noble:
Geboren 1979 in Mainz, liebt sie seit frühester Kindheit, Geschichten zu erzählen und zu schreiben. Seit 2014 schreibt sie gemeinsam mit Werner Diefenthal und hat mehrere Bücher mit ihm veröffentlicht.
Werner Diefenthal
Geboren 1963 im Rheinland, schreibt seit mehreren Jahren und veröffentlichte 2010 seinen ersten Roman. Seit 2014 hat er mit Martina Noble eine Schreibpartnerin, mit der er gemeinsam mehrere Romane veröffentlicht hat.
Der Henker von Rothenburg: Inquisition in Rothenburg
Von Martina Noble und Werner Diefenthal
Annaweg 12
96215 Lichtenfels
Telefon: +49 175 2672918
www.wdiefenthal.de; www.martina-noble.com
Titelmodels: Valerie Mattheyhttps://www.facebook.com/The-art-of-Valley-409182422597077/ Marco Röhlichhttps://www.facebook.com/Bradley-Blackwater-742119889205680/?fref=ts Titelbild, Grafikdesign und Covergestaltung: Sandra Limberghttp://www.sollena-photography.de Logo- und Webseitengestaltung für Werner Diefenthal monikakloeppelt – agentur für werbung, marketing & pr http://monikakloeppelt.jimdo.com/
2. Auflage 2016 1. Auflage erschienen bei Moon House Publishing, 2014
© Werner Diefenthal / Martina Noble – alle Rechte vorbehalten. Jeglicher Nachdruck, auch auszugsweise, bedarf der vorherigen Zustimmung durch die Autoren.
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Teil 3:
Inquisition in Rothenburg
Alle Personen und Begebenheiten in dieser Geschichte sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Frei erfunden ist der Vogt zu Rothenburg nebst Gattin. Der Henker ist ein Produkt unserer Fantasie. Trotz intensiver Recherche haben wir keinen wirklich fundierten Beweis für einen Henker in Rothenburg finden können. Tatsache ist die Vertreibung der Menschen aus dem jüdischen Viertel um 1520. Was danach dort geschieht, ist reine Fiktion.
Die örtlichen Begebenheiten wurden nach bestem Wissen und Gewissen wiedergegeben, wurden teilweise jedoch für den Lauf der hier aufgeschriebenen Geschichte ein wenig angepasst. So existierte z.B. keine Vogtei, auch der ›Goldene Schwan‹ ist fiktiv. Bei der Benennung der Straßen, Plätze und Tore haben wir uns an alten Karten der Stadt orientiert. Sollten diese nicht in allen Punkten der Wirklichkeit entsprechen, so bitten wir, dies zu entschuldigen.
Soweit möglich, wurden geschichtliche Abläufe und Ereignisse wahrheitsgemäß verwendet. In einigen Fällen wurden diese jedoch so weit verändert, dass sie zum Kontext des Romans passen.
Die hier durch den Henker bzw. im weiteren Verlauf durch die Inquisition angewandten Verhörmethoden und Strafen entsprechen weitestgehend der zu dieser Zeit üblichen Rechtsprechung bzw. der vorherrschenden Auffassung von Gerechtigkeit. Die beschriebenen Folterwerkzeuge waren zu jener Zeit durchaus gebräuchlich, auch wenn teilweise der Einsatz mittlerweile stark von Geschichtswissenschaftlern angezweifelt wird. Die im Roman verhängten Strafen spiegeln in keiner Weise die Meinung oder Auffassung der Autoren wieder.
Empfindliche Gemüter seien daher gewarnt: Es wird Blut fließen.
Bei unseren Recherchen über das Leben zu dieser Zeit sind wir des Öfteren überrascht worden. Insbesondere über die gar nicht so prüde Lebensweise zu jener Zeit. Diesem mussten wir zwangsläufig Rechnung tragen und haben dementsprechend auch diesen Teil des Lebens mit in die Handlung einfliessen lassen.
Ferner haben wir, des leichteren Verständnisses wegen, die Sprache der Neuzeit angepasst. Bei Versuchen, so zu reden, wie die Menschen zu der Zeit, in welcher der Roman spielt, haben wir feststellen müssen, dass uns niemand mehr versteht. Daher haben wir uns dazu entschieden, eine für die heutige Allgemeinheit verständliche Ausdrucksweise zu wählen. Auch dafür bitten wir um Verständnis.
Hinweis zur Neuauflage:
Die hier vorliegende Fassung wurde sorgfältig überarbeitet. Insbesondere wurden dabei Szenen, welche sexuelle Handlungen enthalten, sprachlich und inhaltlich so angepasst, dass sie weniger deutlich sind. Auch bei den Szenen, in denen Matthias Bestrafungen durchführt, haben wir die drastische Darstellung aus der ursprünglichen Fassung entschärft.
Die meisten Änderungen beziehen sich jedoch auf Formatierungen und Aussehen, da wir, die Autoren, mit dem Erscheinungsbild der ersten Auflage nicht zufrieden waren. Wir hoffen, jetzt auch optisch einen Lesegenuss geschaffen zu haben.
Personenverzeichnis:
Bernhard Steiner Vogt von Rothenburg
Elsa Steiner Die Frau des Vogtes
Eckhart Steiner Vater des Vogtes, früherer Vogt
Matthias Wolf Henker von Rothenburg
Marie Wolf Frau des Henkers, frühere Magd bei Vogt Steiner
Popolius Harthrath Schreiber
Magdalena Holzapfel Wirtin des ›Goldenen Schwans‹
Greta Dinkelsbraun Freundin von Marie
Helga Bonnekamm Freundin von Marie Klaus Bonnekamm Bäckermeister, Vater von Helga Bonnekamm
Agatha Bonnekamm Mutter von Helga Bonnekamm
Meginhard von Scharfenstein Oberhaupt einer reichen Familie, Vater von Jakob
Margarethe von Scharfenstein Mutter von Jakob
Jakob von Scharfenstein Sohn von Meginhard und Margarethe von Scharfenstein
Karl Schwattner Freund von Helga Bonnekamm, Knecht beim Vogt
Nikolaus von Brümme Arzt und Chirurg, Heilkundiger
Pater Remigius Pfarrer von Rothenburg
Heinrich Meisner Hauptmann der Stadtwache
Markus Gehilfe bei Matthias Wolf
Irmtraud Wallner Hure im ›Goldenen Schwan‹
Ferdinand von Ravensburg Inquisitor
Lotte Lambrecht Frau des Pächters auf dem Gutshof der Steiners
Max Soldat der Stadtwache
Silvanus Gaukler, Anführer einer Jahrmarkttruppe
Anna Mädchen in einer Jahrmarkttruppe
Bandit, Donner, Luna Drei Wolfswelpen
Prolog
Nachdem Matthias Wolf, der Henker von Rothenburg, die Magd des Vogtes, Marie, vor dem Schafott gerettet und geheiratet hat, sind die Zeiten für die beiden nicht leichter geworden.
Elsa Steiner, die Frau des Vogtes, trachtet Marie immer noch nach dem Leben, da Marie die uneheliche Tochter ihres Schwiegervaters ist und durch ein Testament, von dem sie erfahren hat, einen Teil des Vermögens erbt.
Um zu verhindern, dass dieses gut gehütete Geheimnis ans Licht kommt und Marie ihre Erbschaft antritt, beschuldigte Elsa Marie des Mordes an Eckhard Steiner und stellte sie als Hexe dar. Matthias Wolf, der Henker von Rothenburg, rettet Marie vor dem sicheren Tod, indem er sie heiratet. Elsa Steiner jedoch versucht weiterhin, Marie bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu diskreditieren und sie als Hexe darzustellen.
Als auf dem Gutshof, auf dem Marie geboren wurde, ein Wolf sein Unwesen treibt, schickt Vogt Steiner seinen Henker dorthin, um die Angelegenheit zu klären. Da Marie unter Strafe verboten wurde, Rothenburg zu verlassen, muss der Vogt eine Entscheidung treffen, die seiner Frau alles andere als Recht ist.
Doch Bernhard Steiner vertraut seinem Henker mehr als seiner Frau und lässt Marie mit Matthias auf das Gut reisen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Dort erfährt Marie die Wahrheit über ihre Herkunft. Sie kann es nicht begreifen, aber es scheint wahr zu sein, dass der Vogt ihr Bruder ist und seine Frau ihr nach dem Leben trachtet.
Mittlerweile hat sich jedoch bereits herumgesprochen, dass in Rothenburg einige seltsame Dinge geschehen, welche die Inquisition auf den Plan rufen.
Matthias und Marie geraten in einen tödlichen Kreislauf aus Gewalt und Verrat, den sie nur mit viel List, Glück und der Hilfe ihrer Freunde durchbrechen können.
Juli 1526
1. Kapitel
Als Marie vor die Tür trat, wurde ihr Schwindel etwas schwächer. So viel Wein hatte sie noch nie getrunken. Sie schüttelte den Kopf, als ob sie damit ihren Gedanken wieder eine geordnete Richtung geben könnte.
Zu viel war auf sie eingestürmt. Das Wiedersehen mit den Menschen, bei denen sie aufgewachsen war. Dann noch der Besuch am Grab ihrer Mutter, als sie und Matthias im Rauschen der Blätter einen Namen zu erkennen glaubten. ›Elsa‹, so hatte es sich angehört.
Aber am schlimmsten war die Offenbarung der alten Lotte gewesen. Eckhard Steiner, der ehemalige Vogt von Rothenburg, war ihr Vater!
Ausgerechnet der Mann, den sie nach den Beschuldigungen von Elsa Steiner, der Frau des jetzigen Vogtes, mittels Hexenkraft getötet haben sollte. Diese Wahrheit hatte Marie im Wein zu ertränken gesucht, aber der einzige Erfolg, den sie hatte, war, dass sie von Schwindel geplagt wurde. Und dass ihr schlecht war. Sie hielt sich an einer Mauerecke fest. In ihrem Kopf drehte sich alles.
»Ich bin die Schwester des Vogtes«, brabbelte sie. »Die Schwester des Kerls, der mich köpfen lassen wollte.«
Sie rülpste laut vernehmlich.
»Scheißwein«, plapperte sie. »Aber der Vogt kann es nicht gewusst haben. Glaub ich nicht. Es war nur seine Frau.«
Zumindest hoffte Marie das. Der Gedanke, dass der Vogt vielleicht ebenfalls eine unliebsame Miterbin hatte loswerden wollen, war zu viel. Sie beugte sich vor und übergab sich.
»Matthias, wo bist du?«, wimmerte sie, nachdem sie sich den Mund abgewischt hatte. »Ich brauch dich jetzt!«
Der Henker war seiner Frau gefolgt, er machte sich Sorgen um sie. Zu viel war an diesem Abend auf sie eingestürzt, dazu der Wein, dem sie mehr als reichlich zugesprochen hatte.
An der Hausecke sah er sie, wie sie sich nach vorne beugte und hörte, wie sie würgte. Schnell eilte er zu ihr, hörte, wie sie nach ihm rief.
»Ich bin hier«, sagte er leise und streichelte ihren Rücken.
Marie richtete sich auf.
»Da bist du ja, mein geliebter Henker.«
Sie kicherte.
»Ich glaub, ich bin betrunken.«
Matthias lachte.
»Nein, du bist nicht betrunken, du bist besoffen wie ein Maultiertreiber.«
Sie drohte ihm schelmisch mit dem Finger.
»Das lass mal nicht meinen Bruder hören, den ollen Vogt von Ri… Ra… Rothenburg.«
Matthias starrte sie an. War sie wirklich nur betrunken? Oder was steckte dahinter?
»Was soll das, Marie? Komm, ich bring dich in dein Bett.«
Sie richtete sich auf.
»Du meinst in dein Bett. In das mein eigener Bruder mich gelegt hat.«
Er wich zurück. Es war wie ein Stich ins Herz. Aber Marie war noch nicht fertig.
»Matthias, ich liebe dich … aber«, sie kicherte wieder, »ein wenig mehr Respekt bitte.«
»Marie, hör jetzt auf. Was wird das?«
Sie starrte ihn an. In ihrem Kopf arbeitete es. Die Situation, in der sie sich befand, überforderte sie.
»Was das wird? DU fragst mich, was das wird? Ich sage dir, was das wird: Wir werden schön unsere Klappe halten und keinem Menschen etwas von dem, was wir heute Abend herausgefunden haben, sagen.«
»Marie!«, rief Matthias erstaunt. »Das können wir nicht tun! Wenn das nicht klargestellt wird, haben wir nie Ruhe. Elsa wird immer hinter uns her sein und versuchen, uns zu beseitigen.«
Die Blonde winkte ab.
»Mit Elsa werden wir schon fertig. Aber was ist, wenn der Vogt selbst genauso raffgierig ist wie sein Weib? Dann überlegt er es sich womöglich noch einmal anders mit der gewährten Gnade und befiehlt dir, es zu Ende zu bringen.«
Matthias erkannte, dass seine Frau nicht mehr Herr ihrer Sinne war, und trat auf sie zu, wollte sie in den Arm nehmen. Sie stieß ihn von sich.
»Marie, bitte. Ich würde dich niemals hinrichten.«
»Niemals?«
Sie starrte ihn an. In ihrem Kopf war alles durcheinander.
»Wem willst du denn das erzählen? Wenn der Vogt dem Gnadengesuch nicht nachgegeben oder ich nicht eingewilligt hätte, dann hättest du mir ohne zu zögern den Kopf abgeschlagen. Obwohl du nicht geglaubt hast, dass ich schuldig war. Wenn das überhaupt so stimmt. Vielleicht ist das auch alles nur gelogen! Geh doch weg von mir!«
Sie schwankte, beugte sich vor und erbrach sich erneut. Matthias traute seinen Ohren nicht. Er kniff die Augen zusammen. Er erkannte seine eigene Frau nicht wieder, die ihn beschimpfte und ihn der Lüge bezichtigte.
»Marie. Ist es wirklich das, was dich beschäftigt, oder ist das eine Ausrede? Willst du mir eigentlich sagen, dass ich nicht mehr gut genug für dich bin? Ist es das, was du mir erklären willst? Dass du jetzt, wo du zu den Vornehmen gehörst, den Henker aus dem Bett und deinem Leben wirfst? Wenn das so ist, dann geh einfach.«
Ihm stiegen die Tränen in die Augen. Marie sah ihn wieder an. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf, wollten sich nicht einfangen lassen. Sie machten keinen Sinn.
»Denk doch, was du willst«, schrie sie ihn an.
Damit drehte sie sich um und rannte davon. Einen Moment lang blieb Matthias schockiert stehen, dann folgte er ihr, so schnell er konnte. Trotz seiner Eile war sie verschwunden. Er suchte zuerst in ihrem Zimmer, doch dort war sie nicht. Auch in allen anderen Räumen des Gutes war sie nicht zu finden.
»Marie! Wo bist du?«, rief er in die Dunkelheit, aber er bekam keine Antwort.
Sie stürzte durch die Nacht. Als die junge Frau in ihrer betrunkenen Verwirrung davongestürzt war, hatte sie völlig vergessen, dass sich in der Nähe des Gutes immer noch ein Wolf herumtrieb und dass es in der Finsternis draußen für sie gefährlich werden konnte. Langsam wurde sie wieder klar im Kopf und begriff, was sie getan hatte.
Sie hatte ihren Mann, der sie über alles liebte, vergrault. Ihn beschimpft, ihn angeschrien, ihn der Lüge bezichtigt. Sie war nicht besser als die Weiber, die sie immer verachtet hatte, führte sich auf wie die vornehmen Herrschaften, die Matthias und sie von oben herab behandelten. Wie hatte sie ihm etwas vorwerfen können, über das er keine Kontrolle gehabt hätte?
Wenn jetzt ein Wolf käme, wäre es ihr im Grunde genommen egal! Wenn sie Matthias verlor, dann konnte auch der Wolf sie töten!
Mit tränenverschleiertem Blick lief sie immer weiter, bis sie sich auf einmal am Grab ihrer Mutter wiederfand. Sie sank auf die Knie, ließ ihrer Trauer freien Lauf.
»Mama! Warum will er mich nicht mehr? Wieso sagt er, dass ich gehen soll?«
Dass sie selber nur wenige Augenblicke vorher das Gleiche getan hatte, verdrängte sie. Sie verdrehte das, was geschehen war, zu einer Tatsache, an die sie selber glaubte.
Marie weinte hemmungslos. Der Wein und ihre Trauer, dazu die plötzliche Angst vor der Zukunft, forderten ihren Tribut. Sie sank zu Boden und fiel in einen unruhigen Schlaf, in dem sie von Träumen verfolgt wurde.
Marie stand vor den Toren Rothenburgs, mitten in einem Gewitter. Es stürmte, der Wind pfiff ihr um die Ohren und peitschte ihr Regen ins Gesicht. Ihre Kleider waren durchgeweicht, sie fror erbärmlich, aber von fern konnte sie das warme Licht hinter den Fenstern des Henkershauses sehen, das ihr einladend entgegen leuchtete.
Sie wollte ihrem Zuhause entgegen hasten, aber plötzlich hielt sie etwas zurück. Sie sah an sich herunter. An ihren Füßen waren schwere Ketten befestigt. Als sie die Arme hob, sah sie auch dort die Glieder der Kette.
Plötzlich zog sie jemand mit sich fort, weg von ihrem Heim, weg von dem Haus, in dem sie wohnte, zerrte sie hoch zum Schafott, auf dem Matthias mit einer langstieligen Axt stand. Sein Blick war finster, das Gesicht ausdruckslos.
»Köpf sie endlich, die Hure des Teufels«, hörte sie eine Stimme. Elsa Steiner stand links von Matthias, neben ihr der Vogt. Er legte Matthias die Hand auf die Schulter, sein Lächeln war kalt.
»Denk daran, was ich dir versprochen habe. Du bekommst ein Stück Land, ein Haus, fern von Rothenburg. Du musst nicht mehr der Henker sein, kannst ein normales, ehrbares Leben führen und jedes Mädchen heiraten, das dir gefällt.«
Er wies auf eine Reihe junger Frauen, die schon mit entzückten Gesichtern warteten. Marie erkannte Helga, Greta, sogar Magdalena.
Matthias nickte. Kein Muskel zuckte in ihrem Gesicht. Er würde sie töten. Panisch schrie Marie um Hilfe.
»Markus! Wo bist du?«
»Ich helfe dir nicht«, hörte sie seine Stimme und erkannte, dass er es war, der sie zum Schafott gezogen hatte. »Ich gehorche nur meinem Herrn!«
Markus zwang sie in die Knie, drückte ihren Oberkörper nach vorne, bis ihr Kopf den Hauklotz, auf dem er immer das Holz gespalten hatte, berührte.
»Schlag ihr endlich die Rübe ab«, geiferte Elsa und Marie sah aus den Augenwinkeln, wie Matthias die Axt hob.
›Wieso nimmt er eine Axt‹, schoss es ihr noch durch den Kopf, als das Mordinstrument nach unten fiel und sich in ihren Hals biss.
Keuchend und schweißgebadet fuhr Marie hoch, sah sich panisch um. Sie lag neben dem Grab ihrer Mutter, war immer noch auf dem Gutshof, zu dem sie mit Matthias gereist war. Es war nur ein Traum gewesen!
Marie wartete auf die einsetzende Erleichterung, aber die wollte nicht kommen. Sie sah wieder Matthias, der die Axt hob. Sah wieder den Vogt, hörte Elsa keifen. War es ihr Schicksal, doch geköpft zu werden?
Marie taumelte auf die Füße, rannte einige Schritte zur Seite und erbrach sich stöhnend. Da spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter, hörte die Erleichterung in Matthias´ Stimme.
»Da bist du ja! Ich habe dich überall gesucht.«
Sie stand da, hilflos vornübergebeugt und erbrach sich erneut.
»Marie«, sagte er. »Was ist denn?«
Sie sah ihn an.
»Matthias«, flüsterte sie. »Ich habe Angst.«
»Wovor?«
Stockend erzählte sie ihm von seinem Traum, immer wieder von Tränen unterbrochen. Er nahm sie in den Arm. Es war tröstlich, ihn zu fühlen.
»Es war nur ein Traum, ein böser Traum.«
»Und wenn nicht?«, antwortete sie.
Matthias wusste nicht, was er sagen sollte.
»Ich liebe dich, das weißt du. Und niemals werde ich zulassen, dass dir etwas Böses geschieht. Und jeder, der Hand an dich legt, wird dafür büßen.«
Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, wurde Marie wütend auf ihn.
»Zum Teufel, Matthias!«, fauchte sie den erstaunten Mann an. »Verstehst du es denn nicht? Liebe! Darum geht es doch gar nicht!«
»Worum geht es denn dann?«
Jetzt wurde Marie noch zorniger.
»Verdammt! Du hast mich geheiratet, weil du keine bessere Option hattest. Aber wenn mich jetzt der Vogt würde loswerden wollen, und dir dafür ein besseres Leben bietet - ich bin mir nicht so sicher, dass du das ablehnen würdest.«
Matthias wich einen Schritt zurück.
»Das stimmt nicht …«
Marie war nicht zu bremsen.
»Ach, das stimmt nicht? Wem willst du das erzählen? Ich weiß doch, was du denkst. Du willst nicht mehr Henker sein! Du willst wie jeder andere auch die Frau heiraten, die du liebst, und nicht eine, die zufällig auf dem Schafott auftaucht. Warum solltest du die Gelegenheit nicht ergreifen, wenn sie dir geboten wird?«
Er griff nach ihr, doch sie schlug seine Hand weg.
»FASS MICH NICHT AN!«
»Marie! Das ist nicht wahr! Wenn der Vogt das macht, dann brenne ich mit dir durch, egal, was kommen sollte. Und das weißt du genau!«
Sie sah zu Boden. Konnte das stimmen? Aber ihr immer noch vom Wein umnebeltes Gehirn ließ es nicht zum, dass sie ihm glaubte, für sie wurde es immer mehr zur Wahrheit.
Anklagend sah sie Matthias an.
»Du redest und redest und redest. Du tust immer so, als ob du alles verstehst. Aber du verstehst nichts! Gar nichts! Warum hast du mir nicht einfach den Kopf abgeschlagen? Das wäre nicht so schmerzhaft gewesen!«
Matthias wusste nicht mehr, was er tun sollte. Marie gab ihm die Schuld daran, dass sie noch lebte, dass sie nicht im Grab lag. Wie sollte er das verstehen?
»Marie, Herrgottnochmal! Was soll das? Ich habe dich gerettet. Mehr als einmal. Und ich habe mich in dich verliebt. Am Ende ist es doch egal, wie es dazu gekommen ist! Glaubst du wirklich, ich könnte dich jetzt noch töten? Aber vielleicht willst du jetzt MICH loswerden. Du gehörst ja jetzt zur feinen Gesellschaft und kannst etwas Besseres bekommen!«
Marie winkte ab.
»Denk doch, was du willst. Du hast mir in der letzten Zeit zu oft gesagt, dass du am liebsten weggehen würdest. Und jetzt willst du mir erzählen, dass du die Gelegenheit dazu nicht ergreifen würdest meinetwegen? Das glaube ich nicht. Wenn du nicht der Henker wärst, die Frauen würden dir die Türe einrennen. Du hättest schnell eine Neue gefunden, eine, die du wirklich willst und nicht eine Notlösung!«
Damit ließ sie ihn stehen, rannte einfach davon.
Matthias stand da, als wenn ihn der Blitz getroffen hatte. Er wurde wütend. Wütend auf Marie, wütend auf sich selber. Sollte er hinterherlaufen? Nein! Er hatte auch seinen Stolz.
»Kaum erfährt sie, dass sie vielleicht eine feine Dame sein könnte, schon bin ich ihr nicht mehr gut genug«, brummte er. Er schüttelte den Kopf. Die Tränen stiegen ihm in die Augen, aber er würde nicht weinen.
Er ging langsam zum Hof zurück, in die Werkstatt, in der er sein Schwert und seine Axt liegen hatte. Er nahm sie, dazu ein paar Fackeln und ein Seil, und marschierte in den Wald. Seine Gedanken waren klar, sein Entschluss stand fest: Er würde sich diese Nacht den Wolf holen. Und wenn er dabei umkommen würde, das war ihm jetzt egal.
Seine Frau, seine Seele, hatte ihn stehen lassen. Und das war etwas, womit er nicht fertig wurde. Ohne Marie war es alles sinnlos.
2. Kapitel
Lautlos schlich sich der Henker in den Wald. Immer wieder lauschte er. Von Ferne hörte er leises Geheul. Das mussten die Wölfe sein!
Der Mond schien mittlerweile hell genug, sodass er die Spur der Meute fand und sie verfolgen konnte. Es dauerte nicht lange, bis das Geheul lauter wurde. Und dann spürte Matthias, wie ihn mehrere Augenpaare beobachteten. Langsam ging er weiter.
Auf einmal stand er vor ihm, mitten auf dem Weg. Der Leitwolf! Er hatte die Lefzen nach oben gezogen, zeigte messerscharfe Zähne. Seine Augen glühten in der Dunkelheit.
»Komm her, du Teufel. Du oder ich!«, murmelte Matthias, während er furchtlos einen Fuß vor den anderen setzte.
Er fühlte sich müde, traurig und alleine. Aber gleichzeitig strömte eine Wut durch seine Adern, die durch nichts zu beschreiben war.
Vor wenigen Stunden noch, da wollte er alles für Marie tun. Er hatte ihr gesagt, er würde für sie sterben. Und wenn es heute Nacht so sein sollte, dann war er bereit. Er hatte das Gefühl, sie verloren zu haben. Und ohne sie wollte er nicht mehr leben.
Nur noch wenige Meter trennten ihn von dem Wolf. Ein Rascheln zu seiner Linken verriet ihm, dass das Tier nicht allein war. Matthias wirbelte herum, sah einen zweiten Wolf aus dem Dickicht schnellen und schlug mit der Axt zu. Ein Winseln zeigte ihm, dass er getroffen hatte. Der Körper des Tieres flog durch die Luft, fiel zu Boden. Er wollte sich erheben, aber er knickte immer ein, das Rückgrat war gebrochen.
Ein heißer Schmerz durchfuhr das linke Bein des Henkers. Ein weiterer Wolf hatte sich in seinen Oberschenkel verbissen. Matthias ließ die Axt fallen, griff mit beiden Händen nach dem Tier, riss es von seinem Bein und drückte ihm die Kehle zu.
Der Wolf biss um sich, knurrte, aber Matthias kannte keine Gnade. Es knackte, als bräche ein Ast, und der pelzige Körper erschlaffte. Das Genick des Tieres war gebrochen.
Der Henker nahm seine Axt wieder in die Hand, humpelte auf den Leitwolf zu. Der heulte einen lang gezogenen Ton. Und dann brachen fünf weitere Wölfe durch das Gebüsch. Aber Matthias ließ sich nicht beeindrucken.
Er wirbelte die Axt, spaltete dem Ersten den Schädel, zertrümmerte dem Zweiten die Schnauze und hieb dem Dritten die Vorderbeine ab.
Die letzten beiden nahmen Reißaus, klemmten die Rute zwischen die Hinterbeine und suchten das Weite. Sie hatten scheinbar begriffen, dass Matthias keine leichte Beute war.
»Feiglinge«, rief Matthias ihnen hinterher. Dann richtete er seinen Blick auf den Leitwolf, der jetzt nur noch wenige Armlängen entfernt vor ihm stand. Er kauerte sich zu Boden, dann sprang er mit einer Kraft, die selbst Matthias überraschte, den Henker an. Nur durch einen Reflex konnte Matthias verhindern, dass der Wolf ihm die Kehle zerfetzte - er hob den linken Arm und der Wolf verbiss sich darin. Sofort schoss das Blut aus der tiefen Wunde, aber Matthias spürte keinen Schmerz. Der Wolf ließ von ihm ab, zog sich zurück und griff erneut an. Wieder konnte der Henker den Arm heben. Eine weitere tiefe Wunde blieb zurück. Jetzt zog Matthias sein Schwert, er hatte genug.
»Nur einer wird das hier überleben, Wolf!«, brüllte er.
Das Tier schlich um Matthias herum, suchte eine gute Angriffsposition. Dann sprang es ihn an. Doch dieses Mal war es vorbei, Matthias schwang sein Schwert und traf genau den Hals des Tieres. Tief drang die Schneide in das weiche Fleisch ein, zerriss die Adern und durchtrennte das Genick. Mit einem letzten Winseln brach der Wolf zusammen und starb.
Matthias musste sich jetzt setzen. Der Blutverlust aus den zahlreichen Bisswunden schwächte ihn. Aber noch war seine Mission nicht erledigt.
Er ging von einem Tier zum anderen, prüfte, ob sie verendet waren. Die noch Lebenden erlöste er. Schließlich griff er das Seil und band alle Tiere an den Hinterläufen zusammen fest. Dann schleppte er seine Last durch den Wald zum Gutshof. Er spürte, dass ihm kalt wurde, aber gleichzeitig brach ihm der Schweiß aus. Der Weg kam ihm unendlich lang vor, viel länger als sein Gang in den Wald hinein.
Der Morgen graute, als er endlich die Häuser vor sich auftauchen sah. Er mobilisierte seine letzten Kräfte, um das Gut zu erreichen.
Vor dem Haupthaus ließ er das Seil los, sah sich um. Er bildete sich ein, hinter einem der Fenster seine Frau zu sehen. Er hob die linke Hand zum Gruß, dann schloss er die Augen und fiel zu Boden.
3. Kapitel
Zu der Zeit, als Matthias in den Wald ging, um die Wölfe zu jagen, hatte Marie sich in ihrem gemeinsamen Zimmer eingeschlossen und weinte sich die Augen aus. Es tat ihr schon wieder leid, Matthias angeschrien zu haben.
Wenn sie nur niemals hierher gekommen wären. Alles in ihrem Leben war eine einzige Lüge. Sogar ihre Ehe.
Matthias hatte sie ja nicht einmal geheiratet, weil er sie begehrt hatte, sondern weil Magdalena es ihm gesagt hatte. Und nun war er vielleicht froh, eine Gelegenheit zu bekommen, sie wieder loszuwerden. In Maries Kopf wirbelten die wildesten Verschwörungstheorien, die alle zum Ergebnis hatten, dass Matthias ihr Leben gegen seine eigene Freiheit eintauschte. Im Kopf der Blonden war die Idee, dass Matthias Rothenburg verlassen würde, bereits zur Tatsache herangereift. Verzweifelt weinte sie sich in einen erschöpften Schlaf.
Als Marie später aus wirren Träumen hochschreckte, graute draußen der Morgen. Matthias war nicht gekommen, hatte nicht an die Tür geklopft. Vielleicht bereitete er schon eine Nachricht an den Vogt vor, dachte Marie bitter. Sie erhob sich, spürte die Nachwirkungen des Weins im Kopf und wankte ans Fenster.
Was sie dort sah, sorgte dafür, dass sich ihr alle Haare sträubten – Matthias taumelte aus dem Wald, zog an einem Seil eine graue Masse hinter sich hier, die Marie erst beim zweiten Hinsehen als die Kadaver einer Wolfsgruppe identifizieren konnte. Eines seiner Hosenbeine sowie ein Hemdsärmel waren blutdurchtränkt. Marie starrte ihn an. War dieser Verrückte tatsächlich ganz alleine mitten in der Nacht auf die Jagd nach dem Wolfsrudel gegangen und hatte es auch noch erledigt?
Er hob den Kopf, sah zu ihr hinauf und winkte. Dann brach er ganz plötzlich zusammen.
Marie schrie auf vor Entsetzen. Er durfte nicht sterben! Sie war sicher, dass er diese Irrsinnstat nur begangen hatte, weil sie ihn so angefahren hatte! Sämtliche Ängste waren auf einen Schlag verschwunden. Laut nach dem Chirurgen rufend hetzte Marie die Treppen hinunter und aus dem Haus.
Als Matthias wieder zu sich kam, konnte er kaum die Augen öffnen vor Schwäche. Sein Arm und sein Oberschenkel pochten dumpf, aber erträglich. Marie saß zusammengesunken an seinem Bett und schluchzte leise, während Nikolaus von Brümme gerade seine Tasche schloss.
»Na na, jetzt reg dich doch nicht so auf!«, brummte der Chirurg beruhigend. »Er wird ja wieder. Die Wunden sind gesäubert und genäht und werden schnell verheilen. Wer stark genug ist, ein ganzes Wolfsrudel auszuschalten, den bringen ein paar Liebesbisse so schnell nicht unter die Erde.«
Marie versuchte zu lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus.
»Ich danke Euch für Eure Hilfe!«
»Ist doch selbstverständlich. Wenn er aufwacht, gib ihm den Trank, den ich ihm gemischt habe. Das gibt Kraft.«
Damit verließ der Arzt das Zimmer. Marie und Matthias waren allein.
Als er leise stöhnte, bemerkte Marie, dass er wach war, und beugte sich ängstlich über ihn.
»Matthias … was machst du nur für Sachen? Tut es sehr weh? Wie geht es dir?«
Matthias sagte nichts. Er wollte nicht reden, wollte niemanden sehen. Er schloss die Augen wieder. Doch Marie gab nicht nach, plapperte immer weiter.
»Lass mich«, brummte er nur. Was wollte sie noch? Sie hatte ihn letzte Nacht einfach stehen lassen, so wie die vornehmen Menschen in Rothenburg es taten, wenn sie ihn nicht mehr brauchten. Er fühlte sich verletzt. Nicht am Körper, sondern in seiner Seele.
Er hörte, wie die Tür sich öffnete. Ließ sie ihn in Ruhe? Doch dann hörte er eine andere Stimme.
»Na, Marie, hast du es wieder mal geschafft?«
Es war Lotte, die in das Zimmer gekommen war. Marie wollte etwas sagen, aber Lotte fuhr sie an.
»Halt einfach mal deinen dummen Schnabel. Ich weiß, was letzte Nacht geschehen ist. Ich bin alt, aber nicht blöde.«
»Woher … woher weißt du … ?«, stammelte Marie.
»Ich schlafe doch nur noch wenig und muss ständig pissen. Und da hab ich gehört, wie du ihn angebrüllt hast, ihm Vorwürfe gemacht hast. Bist du noch ganz bei Trost? Das ist nicht die Marie, die ich mit großgezogen habe. Und du warst besoffen wie ein Kutscher zur Brunftzeit der Waldesel! Schäm dich.
Statt froh zu sein, dass du einen solchen Mann hast, jagst du ihn beinahe in den Tod!«
Lotte ächzte und setzte sich zu Matthias auf das Bett.
»Und du, mein Freund«, sie stach mit einem Finger in seinen Bauch, »du lässt dir nicht einfallen, jetzt zu sterben!«
Matthias schlug die Augen auf. Dieser Frau konnte er sich nicht widersetzen.
»Warum nicht? Wenn Marie bald eine der feinen Damen ist, dann will sie mit einem Mann wie mir nichts mehr zu tun haben. Ich bin nicht ihr Stand. Ich bin der Henker, der Schinder. Und wenn ich Marie verliere, dann will ich einfach nicht mehr leben!«
Er schloss die Augen wieder. Marie saß mit offenem Mund auf dem Bett. Sie konnte nicht fassen, was sie da hörte.
»DAS glaubst du wirklich?«, platzte sie empört heraus. »Du glaubst, ich bin nur bei dir, weil ich keine andere Möglichkeit habe und sobald sich das Blatt wendet, lasse ich dich stehen? Wegen eines dummen betrunkenen Streites gehst du in den Wald und bringst dich fast um? Wenn es so wäre, mein Freund, hätte ich dich in der Nacht, in der wir von dem Mörder angegriffen wurden, schon einfach liegen lassen! Andersrum wird doch ein Schuh draus! Du wolltest mich doch gar nicht haben, wenn Magdalena dich nicht mit der Nase drauf gestoßen hätte, wäre mein Kopf gefallen. Aber wenn der Vogt die Ehe annulliert oder mich aus dem Weg schafft, dann kannst du ja gehen, wohin du willst!«
In ihrer Wut war ihre Fantasie von letzter Nacht zur Realität geworden.
Lotte sah von Marie zu Matthias und seufzte.
»Aha, daher weht der Wind. Ich will dir jetzt mal etwas über deine Frau erzählen. Die kleine Marie war eines der Kinder, die eine sehr lebhafte Fantasie haben. Sie malte sich die wildesten Sachen aus und war am Ende überzeugt davon, dass sie genau so passieren würden. Wäre ich jünger und kräftiger, würde ich ihr mit dem Stock den Hintern bläuen! Und dir mit dazu!«
Sie erhob sich.
»So, ich gehe jetzt, ich bin müde. Wenn ich nachher wiederkomme und ihr habt euch nicht versöhnt, dann jage ich euch persönlich vom Hof. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!«
Damit humpelte sie aus dem Zimmer und ließ eine völlig verdatterte Marie und einen sehr nachdenklichen Matthias zurück.
Die Blonde wusste nicht, was sie sagen sollte. Einerseits hatte Lotte natürlich recht, das wusste sie. Sie war diejenige gewesen, die Matthias angeschrien hatte - ohne dass er ihr einen Anlass dazu gegeben hatte. Und sie war auch diejenige gewesen, die angefangen hatte, ihm etwas vorgeworfen, was überhaupt nicht passiert war und vielleicht nie passieren würde. Jede Reaktion von ihm hatte sie in ihrem Glauben bestärkt und noch mehr verletzt. Aber was ihr mehr weh tat, das war, dass Matthias sie schon als Schwester des Vogtes sah. Eine feine Dame, hatte er gesagt. Er wäre nicht gut genug. War der Verlust des Mannes, den sie immer noch über alles liebte, der Preis der Freiheit? Dieser Preis war ihr zu hoch, sie würde ihn nicht zahlen wollen. Und das erklärte sie auch Matthias.
Der sah seine Frau an. Was sollte er noch sagen?
»Marie … es geht doch gar nicht darum, ob du es willst. Was wird der Vogt sagen, wenn er erfährt, dass du in Wahrheit seine Schwester bist? Glaubst du wirklich, er wird es zulassen, dass wir zusammenbleiben? Denkst du, wir haben auch nur den Hauch einer Chance?«
Er war traurig. So hatte Marie ihn noch nie gesehen.
»Ja, es stimmt. Ich habe dich geheiratet, weil ich dir das Leben retten wollte. Aber es ist nicht richtig, dass du mir das vorwirfst. Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte dich getötet? Dann hättest du nur meinen Antrag ablehnen müssen.«
Er holte tief Luft.
»Verdammt, Marie! Ich liebe dich! Und letzte Nacht, da hast du mir das Gefühl gegeben, dass du mir nicht vertraust! Und dass ich dich verloren habe! Ohne dich will ich nicht leben, verstehst du das denn nicht? Du bist mir viel mehr wert als meine Freiheit, sogar mehr als mein Leben! Wenn ich der Henker bleiben muss, um dein Mann zu sein, dann soll es so sein!«
Und jetzt geschah etwas, was Marie nie für möglich gehalten hätte. Der Mann, der so groß und kräftig war, dem man keinerlei Gefühle ansah, wenn er die Urteile vollstreckte, schluchzte laut auf. Und dann liefen ihm die Tränen über die Wangen. Zwar hatte er schon einmal vor ihr die Fassung verloren, aber so heftig hatte er nicht geweint, und vor allem nicht ihretwegen.
Marie erschrak bis in die Knochen und nahm ihn spontan in die Arme, zog ihn an ihre Brust und wiegte ihn, streichelte sein dunkles Haar.
»Ooh, oh, nein, bitte, wein nicht. Nicht weinen, es wird doch alles wieder gut, das verspreche ich. Was der Vogt will, interessiert mich nicht. Das Erbe interessiert mich auch nicht. Ich brauche keine feinen Kleider und nicht jeden Tag ein Spanferkel auf dem Tisch, und Schmuck will ich auch keinen. Außerdem wird er wahrscheinlich sowieso nie etwas davon erfahren, weil wir nichts beweisen können. Ohne Beweise können wir das Risiko nicht eingehen, sonst wäre es leicht, mich loszuwerden - er müsste mich nur der Hochstapelei beschuldigen. Aber selbst wenn wir Beweise finden würden – sollte er mich vor die Wahl stellen, ob ich die Henkersfrau oder die Schwester des Vogts sein will, dann entscheide ich mich für die Henkersfrau. Der Vogt bedeutet mir nichts, aber den Henker, den liebe ich, auch wenn er mich fortwährend falsch versteht.«
Sie rückte ein wenig von ihm ab und versuchte, sein Gesicht zu trocknen, obgleich er immer noch weinte. Matthias entdeckte nun auch in ihren himmelblauen Augen Tränen, aber sie versuchte, zu lächeln und sich zu erklären.
»Ich werfe dir doch nicht vor, dass du mich vor dem Tod bewahrt hast. Aber weißt du … man möchte nicht aus einem solchen Grund geheiratet werden. Das klingt dumm und kindisch, aber es wäre doch viel schöner, wenn du mich geheiratet hättest, weil du mich als deine Frau haben wolltest. Ich habe leider das Gefühl, dass es Magdalena war, die das wollte, und nicht du. Und ich habe zu viel getrunken, ich habe all das nicht verkraftet. Dann kam einfach alles in mir hoch. Dass du am liebsten weggehen würdest. Dass du mich nicht liebtest, als du mich geheiratet hast. Und dass du mich nur hast, weil Magdalena mich praktisch in dein Bett gelegt hat.«
Sehr sorgfältig und mit ruhiger Stimme hatte sie ihre Worte gewählt und hoffte, dass es nicht ganz wirr klang und er sie ein wenig verstand.
Matthias beruhigte sich langsam.
»Marie«, fing er an, »wie soll ich dir das erklären? Magdalena hat nie gesagt, ich soll dich heiraten. Sie hat mir nur einen Weg gezeigt, der dein Leben retten würde. Ich habe dich geheiratet, damit du leben kannst. Ich wollte dich nach einer Weile freigeben. Ich hätte den Vogt davon überzeugt, glaub mir. Und du wärst als anständige Frau, unberührt, in die Ehe gegangen. Mit einem Mann, der nicht zu den Ausgestoßenen gehört.«
Er seufzte.
»Doch dann hab ich mich in dich verliebt. In dein reines Herz, deine Seele. Und ich würde dich niemals mehr verletzen können, und wenn man mir ganz Rothenburg dafür verspräche. Ich wollte doch auch irgendwann einmal lieben, aber ich habe, bevor du kamst, nie geliebt. Wen auch? Du weißt es doch selbst, vor mir haben alle nur Angst. Ganz besonders junge Frauen wie du!«
Er tastete zaghaft nach ihrer Hand.
»Marie, sei ehrlich zu dir selber: Du hättest mich aus freien Stücken auch nie geheiratet.«
Marie hatte einen dicken Kloß im Hals und sie schüttelte den Kopf. Ein paar Tränen lösten sich aus ihren Augen und rollten über ihre Wangen:
»Nein … natürlich nicht. Du hast ja Recht, ich hatte Angst vor dir. Aber dass du ein schöner Mann bist, das habe ich mir doch ein paarmal gedacht. Dass du auch noch ein so guter und anständiger Mensch bist, das hätte ich nie zu träumen gewagt.«
In der Tat hatte es sie überrascht, dass sie ihn nach so kurzer Zeit schon so liebte. Und dass der Henker, der auf dem Schafott so unnahbar und stark schien, der ohne eine Miene zu verziehen die Strafen vollstreckte, die der Vogt verhängt hatte, eine so verletzliche Seele hatte. Eine Seele, die er ihr gezeigt hatte. Sie holte Luft und fuhr fort.
»Und trotzdem … hältst du mich für dumm, wenn ich sage, dass ich gerne deine freie Wahl gewesen wäre und nicht nur ein Zufall? Dass es zumindest ein wenig Egoismus von dir war, als du mir die Hochzeit angeboten hast?«
Zum ersten Mal lächelte Matthias an diesem Tag.
»Egoismus? Marie, ich bin auch kein Heiliger. Ich habe mir immer gewünscht, eine Frau neben mir zu haben, die mich liebt. Eine Frau, die ich lieben kann. Und die dazu noch hübsch ist. Die klug ist.«
Er sah ihr in die Augen, griff nach ihrer Hand.
»Und auf einmal, von einer Sekunde auf die andere, wurden meine Wünsche wahr. Ich habe die Frau, die ich liebe. Die Frau, die hübsch und klug ist. Das Leben hat oft Überraschungen für einen. Mit jeder Sekunde, die du bei mir warst, habe ich dich mehr geachtet, mehr geliebt. Und es hätte mich zerstört, wärest du wieder gegangen. Ich liebe dich, Marie. Dich alleine. Und mir ist es scheißegal, ob du die Herzogin von irgendwo bist oder die Königin der Waldameisen oder von mir aus die Schwester des Papstes. Oder ob du nichts hast außer deinen schönen blauen Augen, deiner Seele und deiner Sanftmut.«
Er seufzte.
»Und eines verspreche ich dir: Ich werde beweisen, dass du unschuldig bist. Ich weiß jetzt, wo ich anfangen muss zu suchen. Ich werde dafür sorgen, dass du das bekommst, was dir zusteht, und niemand wird dir auch nur ein Haar krümmen. Wenn du mich danach noch willst, wirst du das bekommen, was du dir wünschst.«
Er schloss erschöpft die Augen. Wenn sie ihn jetzt nicht verstand, wenn sie ihn jetzt zurückwies, dann würde er sie nie mehr öffnen. Dann spürte er ihre Lippen am Ohr, und sie wisperte hinein.
»Du bist ein Holzkopf. Ich werde niemals einen anderen Mann haben wollen als dich. Und das Einzige, was ich mir wünsche, ist in Frieden irgendwo mit dir zu leben, wo mich niemand umbringen will. Mir ist es egal, ob es ein Schloss ist oder eine eiskalte Höhle, solange nur du mit mir darin lebst, um mich zu wärmen!«
Sie nahm sein Gesicht in die Hände und strich sanft mit den Lippen über seine, hielt den Atem an, ob er ihren Kuss erwidern würde.
Er öffnete seinen Mund, tastete vorsichtig mit der Zunge. Er versuchte, seine Arme zu heben, sie zu umfassen, aber der Schmerz durchzuckte ihn. Also konnte er nichts anderes tun, als ihren Kuss mit aller Liebe zu erwidern, zu der er fähig war.
Sie konnte nicht verhindern, dass noch mehr Tränen kamen, seine Wangen nässten. Fast hätte er sich durch ihre Dummheit von Wölfen zerreißen lassen. Sie wollte gar nicht mehr aufhören, ihn zu küssen, kroch schließlich zu ihm ins Bett, um ihm nah zu sein, hielt ihn fest umschlungen.
»Ich werde dich nie verlassen, hörst du mich?«, flüsterte sie ihm zu.
»Und ich werde nie ohne dich irgendwo hingehen«, raunte er ihr ins Ohr.
4. Kapitel
In Rothenburg war die Aufregung riesengroß. Es gab nur ein Gesprächsthema, das die Menschen bewegte und sie in Atem hielt. Am Morgen hatte man den Schreiber Popolius tot aufgefunden.
Als der Vogt zur Leiche kam, wurde ihm übel. Nicht nur der Fundort war makaber, auch die Art, wie er zu Tode gekommen war. Man hatte ihn gepfählt.
Eine Frau, die am Morgen die Kirche putzen sollte, hatte ihn unter dem Glockenturm gefunden. Ein Holzpfahl war ihm von hinten durch den After in den Leib getrieben worden. Man hatte den Schreiber auf den Pfahl, der senkrecht auf dem Boden stand, gesetzt. An den Knöcheln hatte der Mörder zwei Körbe mit Steinen angebracht, um den Vorgang zu beschleunigen. Dies war augenscheinlich deshalb geschehen, weil der Körper extrem leicht war. Popolius war ein magerer, kleiner Mann gewesen und man wollte auf Nummer sicher gehen, dass der Pfahl ihn auch durchbohrte.
Hauptmann Meisner nahm Bernhard Steiner zur Seite.
»Euer Gnaden, Ihr wisst, was das bedeutet?«, fragte er den Vogt.
»Wir haben einen Mörder in der Stadt«, brummte der Vogt.
»Nicht nur das. Diese Todesart«, er zeigte auf den toten Schreiber, »ist ein deutliches Zeichen.«
»Wofür?«
»Ich habe nur davon gehört. Aber es gibt Städte, in denen werden Männer, die es mit anderen Männern treiben, so hingerichtet.«
Der Vogt wurde bleich.
»Popolius war … ?«
Der Hauptmann nickte.
»Entweder das, oder jemand treibt einen blutigen Scherz mit uns.«
Der Pfarrer kam angerannt. Man hatte ihn bei einem Kranken gefunden, der ihn zur Beichte gerufen hatte. Als er sah, was in seiner Kirche los war, bekreuzigte er sich.
»Ein Sodomit!«, rief er aus und fiel gleich auf die Knie, stammelte Gebete.
Der Vogt fuhr ihn an.
»Haltet den Schnabel! Das fehlt mir noch! Erst diese verfluchte Hexengeschichte, dann der zurückgekehrte Tote und jetzt das! Wenn das bekannt wird, dann haben wir wirklich bald die Inquisition am Hals.«
Er wandte sich an den Hauptmann.
»Schafft ihn hier raus. So schnell es geht.«
Er eilte davon.
Inzwischen hatte es sich herumgesprochen, dass etwas Schreckliches in der Kirche passiert war. Auf dem Platz hatte sich eine Menschenmenge eingefunden. Auch Thomas stand da und beobachtete aufmerksam das Geschehen. Er musste grinsen. Es war leicht gewesen, den Schreiber in die Falle zu locken. Er hatte ihn beobachtet und genau im richtigen Moment abgepasst. Schnell hatte er durchblicken lassen, dass er, gegen einen gewissen Lohn, dem Schreiber sein spezielles Vergnügen ermöglichen würde.
Popolius hatte sein Glück kaum fassen können. Doch als er sich in seinem Haus dem jungen Mann hingeben wollte, hatte dieser ihn mit einer dünnen Schnur erwürgt. Popolius war viel zu überrascht und auch zu schwach gewesen, um sich zu wehren. Der Tod kam schnell über den schmächtigen Schreiber des Vogts.
Der Rest war dann etwas kniffliger.
Im Schutze der Nacht schaffte Thomas die Leiche zur Kirche. Seit Tagen lag der Pfahl bereit, den er über einige Wochen hinweg vorbereitet hatte. Oben spitz zulaufend, unten auf einem alten Karrenrad fixiert, damit er nicht umkippte. Dazu die Körbe mit Steinen, damit er auch wirklich runterrutschen konnte.
Er hatte den Holzpfahl eingefettet und den Schreiber mit Leichtigkeit darauf gesetzt. Der Rest passierte dank des zusätzlichen Gewichtes von alleine, der Pfahl trat am Hals des Ermordeten aus, so wie geplant.
Thomas war zufrieden mit sich. Der Erste war erledigt. Er sah sich schon als Gutsherr. Fehlten noch Marie und der Henker. Doch dabei würde ihm Greta helfen. Und die Inquisition, denn die würde kommen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Es mussten mittlerweile genug Gerüchte im Umlauf sein.
Er verließ langsam den Platz, ging zurück zu seinem Versteck. Heute Nacht würde er Greta erneut in seinen Armen halten. Sie war ihm inzwischen hoffnungslos verfallen.
Markus rannte vom Kirchplatz zum ›Goldenen Schwan‹. Er musste unbedingt mit Magdalena reden und fand sie in der Küche, wo sie gerade das Gemüse putzte.
»Was ist denn mit dir los, Junge?«, fragte sie ihn, als er atemlos hereinstürzte.
Er erzählte ihr, dass man den Schreiber gepfählt in der Kirche gefunden hatte. Magdalena wurde bleich.
»Und ausgerechnet jetzt, wo Matthias nicht da ist«, murmelte sie.
»Vielleicht gerade deswegen«, warf Markus ein.
»Wie meinst du das?«
Magdalena sah ihm mit großen Augen an.
»Na, wenn er nicht da ist, dann ist die Gefahr für den Mörder wesentlich kleiner, oder?«
»Du meinst, Matthias würde ihn finden?«
Markus nickte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendetwas gab, was sein Lehrherr nicht schaffte.
»Ja, das denke ich.«
Magdalena kratzte sich am Kopf. Der Junge liebte seinen Meister, das sah man. Aber übertrieb er nicht? Auf der anderen Seite … wäre es denkbar, dass auch dieses Verbrechen in einem Zusammenhang mit den anderen Vorfällen stand? Und war es nicht seltsam, dass ausgerechnet jetzt auch der Chirurg, der sich bestens auskannte, nicht hier war?
»Aber wir können jetzt nichts tun«, sagte sie zu Markus.
»Doch!«, erwiderte dieser. »Ich werde seine Augen sein, seine Ohren. Ich werde alles Sehen und Hören, was er wissen muss.«
Mit diesen Worten rannte er wieder aus der Küche.
Magdalena sah ihm nach.
»Was hat das zu bedeuten?«, murmelte sie nachdenklich.
Nach der unruhigen Nacht schlief Marie an der Seite ihres Mannes bis zum frühen Abend. Niemand störte sie und die junge Frau erwachte erst, als der Geruch nach Abendessen durchs Haus zog. Vorsichtig stand sie auf. Matthias regte sich nicht einmal, atmete weiterhin tief und ruhig. Der Sud, den sie ihm auf Nikolaus von Brümmes Rat gegeben hatte, machte müde und sorgte dafür, dass seine Wunden schneller heilten.
Als sie ihn so schlafend betrachtete, liebte Marie ihren Mann mehr als je zuvor. Es tat ihr noch immer leid, dass sie ihm mit ihrem Misstrauen so weh getan hatte. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, störte ihn dann aber nicht weiter und verließ leise das Zimmer.
Aus der Gaststube hörte Marie schon auf der Treppe Stimmengewirr, aber sie verstand erst, worum es ging, als sie an der Tür war. Natürlich konnten die Männer über nichts anderes reden als die fünf Wölfe, mit deren Häutung die Knechte heute den ganzen Tag beschäftigt gewesen waren.
»Habt ihr gesehen, wie riesig der Leitwolf ist? Er hat solche Zähne!«
Ein Zahn von einer Länge wurde angezeigt, der nicht einmal im Maul eines Löwen Platz gefunden hätte.
»Und ganz allein hat er sie alle erledigt!« Der Ausspruch war von einem der Soldaten gekommen. »Der Henker muss wirklich Kräfte wie ein Bär haben … ach, was red ich … zwei Bären!«
Als Marie in den Raum trat, wandten sich ihr alle zu, fragten wie aus einem Mund:
»Wie geht es ihm?«
Die Besorgnis der Männer rührte Marie - wenn sie daran dachte, wie Matthias in der Stadt behandelt wurde, war dies eine wahre Freude. Sie wusste, dass der Henker in ihren Augen eine Heldentat begangen hatte, als er das Wolfsrudel alleine besiegt hatte. Sie kannten ja seinen Beweggrund nicht, und Marie hatte nicht vor, es ihnen zu verraten. Sie lächelte.
»Es geht ihm gut, er schläft.«
»Gut so«, brummte Nikolaus von Brümme zufrieden. »Er braucht den Schlaf, um wieder gesund zu werden. Du solltest ihn nicht wecken, bevor er von selbst aufwacht.«
Während des gesamten Abendessens war einzig Matthias´ Kampf gegen die Wölfe Thema, und obwohl keiner dabei gewesen war, überboten die Männer sich gegenseitig mit Geschichten, wie es wohl gewesen sein konnte. Marie schmunzelte in sich hinein. Sie konnte sich jetzt schon vorstellen, wie sie nach Matthias´ Genesung wie kleine Kinder um ihn herumsitzen und sich erzählen lassen würden, wie er die Tiere erlegt hatte.
Mitten beim Essen wandelte sich jedoch plötzlich das Gesprächsthema.
»Müssen wir jetzt, da die Wölfe erlegt sind, eigentlich wieder nach Rothenburg zurück?«
Er hörte sich nicht begeistert an. Marie war klar, dass es auch den Männern hier in der Natur gefiel und dass es ihnen nichts ausmachte, einmal keine Wachdienste schieben zu müssen.
»Auf keinen Fall!«, empörte Lotte sich sofort. »Erst müssen wir abwarten, ob nicht noch genug von den Biestern übrig bleiben, um wieder unser Vieh zu stehlen. Außerdem braucht unser Wolfsjäger da oben noch eine gewisse Zeit, bis er sich erholt hat.«
»Das sehe ich genauso«, mischte sich Nikolaus von Brümme ein. »Bevor die Wunden nicht verheilt sind, ist an die Rückreise nicht zu denken. Zumal ich erst wieder einen Fuß in diesen von Banditen verseuchten Wald setze, wenn Meister Wolf wieder völlig genesen und kräftig genug ist.«
Marie entspannte sich. Ihr gefiel der Gedanke, noch eine Weile hierzubleiben. Sie hoffte, dass sie und Matthias ein wenig Zeit füreinander finden würden, ganz ungestört und ohne die Gefahren der Stadt. Hier waren sie sicher.
»Außerdem muss ich noch die Kräuter suchen, über die Meister Wolf mit mir gesprochen hat«, riss die Stimme des Chirurgen Marie aus ihren Gedanken. »Ich werde wohl heute Abend losgehen und sie pflücken. Angeblich soll ihre Heilkraft am besten sein, wenn man sie in der Dämmerung sammelt.«
Er lachte.
»Sicher Aberglaube, aber was kann es schaden?«
Maries Frage kam kurz entschlossen und aus dem Bauch heraus. »Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich Euch begleite? Ich würde gern mehr über die Pflanzen lernen.«
Freudig überrascht von Maries Interesse nickte der Chirurg.
»Natürlich, gerne. Komm nur mit.«
Wenig später, nachdem Marie sich noch einmal vergewissert hatte, dass Matthias tief und fest schlief, streifte sie mit Nikolaus von Brümme an dem kleinen Bach entlang über die Obstwiesen. Die Grillen zirpten und Glühwürmchen schwirrten um sie herum. Marie dachte, dass sie unbedingt mit Matthias einen Spaziergang machen musste, sobald seine Verletzungen etwas geheilt waren. Es war ein wirklich romantisches Fleckchen.
Nikolaus hatte Marie beschrieben, wie die Pflanzen aussahen, nach denen er suchte - Lungenkraut und Bibernelle - und sie bemühte sich redlich, die richtigen zu finden, wenn sie auch eigentlich ganz andere Pläne hatte.
»Ihr schätzt meinen Mann sehr, nicht wahr?«, wollte sie unverfänglich wissen.
»Freilich …«, antwortete Nikolaus, ohne seine Suche zu unterbrechen und ohne überrascht zu klingen. »Er weiß mehr über den Körper der Menschen, als die meisten der sogenannten Ärzte das von sich behaupten können. Außerdem ist er klug und besonnen. Und er kann richtiges Recht und Unrecht von dem unterscheiden, das uns aufgezwungen wird. Ja, ich schätze ihn sehr.«
Sein Kommentar über richtiges Recht und Unrecht von Falschem ließ Marie aufhorchen.
»Würdet Ihr seinem Urteil trauen, wenn es nicht der öffentlichen Meinung entspräche?«, wollte sie wissen und hoffte dabei, sich nicht verdächtig zu machen.
Nikolaus von Brümme schmunzelte, bückte sich und schnitt eine weißblühende Bibernelle ab.
»Ich würde seinem Urteil auch dann noch trauen, wenn es nicht einmal der Meinung des Vogtes, des Herzogs oder des Papstes entspräche.«
Marie nickte zufrieden und lenkte dann das Thema auf die Kräuter und ob er glaubte, dass sie Magdalena würden helfen können. Sie hatte das Gefühl, einen weiteren Verbündeten gefunden zu haben.
Von Brümme musterte Marie immer wieder von der Seite. Er ahnte, dass sie ihm etwas mitteilen wollte, aber er wusste nicht, was es war.
»Marie, darf ich dich auch etwas fragen?«
Sie warf ihm einen Blick zu.
»Ja, sicher.«
Was … was hast du gedacht, als der Henker, statt deinen Kopf zu nehmen, um deine Hand gebeten hat?«
Marie richtete sich auf. Sie war sich nicht sicher, was der Chirurg mit dieser Frage bezweckte. Sie seufzte.
»Ja, was habe ich gedacht? Ich konnte eigentlich überhaupt keinen klaren Gedanken mehr fassen. In der einen Sekunde habe ich mich selber gesehen, wie ich ohne Kopf auf dem schmutzigen, blutüberströmten Boden lag. In der nächsten Sekunde sah ich mich an der Seite des Henkers. Ich war mir nicht sicher, welches Schicksal das bessere wäre.«
Sie atmete tief ein.
»Aber wichtiger ist, was ich jetzt denke. Ich liebe ihn. Mehr, als ich es mir je erträumt habe.«
Der Arzt nickte.
»Ich habe bei unserer Ankunft etwas aufgeschnappt. Ich glaube, es war nicht unbedingt für meine Ohren bestimmt. Die Alte, Lotte heißt sie, wenn ich nicht irre, hat was von ›Erbe‹ gesagt.«
Marie hielt die Luft an. Aber es war wohl nicht mehr zu vermeiden, dass sie jetzt die Wahrheit sagen musste, um herauszufinden, auf welcher Seite der Arzt stand.
»Was wollt Ihr genau wissen?«, fragte sie.
»Was hat sie damit gemeint?«
Er sah, wie Marie zusammenzuckte, und hob eine Hand.
»Ruhig Marie. Du weißt, Matthias hat mich in der Hand. Ich tue Dinge, für die man brennen kann.«
Marie nickte. Matthias hatte ihr von den heimlichen Leichenöffnungen erzählt. Aber war das der einzige Grund, warum der Arzt so freundlich war? Von Brümme fuhr fort.
»Ich kannte deine Mutter. Zu meinen Pflichten gehört auch, hier immer wieder nach dem Rechten zu schauen. Als sie damals mit dir schwanger ging, habe ich sie untersucht. Und auch bei deiner Geburt war ich dabei. Es war Zufall, dass ich gerade in dem Moment hier war. Es war eine schwere Geburt. Sie hat drei Tage in den Wehen gelegen, fast hätte ich euch beide verloren. Im Wahn schrie sie immer wieder einen Namen und nach der Geburt, als sie mit hohem Fieber im Wochenbett lag, da redete sie immerfort davon, dass er es ihr nie verzeihen würde, wenn du stürbest. Ich bin zwei Wochen nicht von ihrer Seite gewichen und habe all meine Kunst aufbieten müssen, um sie zu retten.«
Marie begann zu zittern. Es war das erste Mal, dass sie etwas über ihre Geburt erfuhr. Nicht einmal Lotte hatte ihr erzählt, wie schwer es für ihre Mutter gewesen war, sie zur Welt zu bringen und dass von Brümme dabei gewesen war.
»Was hat sie noch gesagt?«, flüsterte Marie kaum hörbar.
Der Arzt trat näher zu ihr.
»Seit deiner Geburt trage ich dieses Wissen mit mir herum. Aber ich habe nicht einen Beweis dafür. Ich kann mir allerdings denken, wo du ihn vielleicht findest.«
»Was meint Ihr damit?«
Der Arzt sah sich gehetzt um. Wenn er jetzt weiterredete, war er auf Gedeih und Verderb mit Marie und ihrem Mann verbunden. Aber er wusste auch, dass es seine einzige Chance war, jemals wieder frei zu werden. Würde er dem Henker helfen, die Unschuld seiner Frau zu beweisen, dann könnte er mit ihm handeln und Rothenburg verlassen, denn das war sein Plan. Er musste in eine Stadt, in der er seine Studien weiter betreiben konnte.
»Ich weiß, wer dein Vater ist. Und ich denke, es gibt nur drei Möglichkeiten, wo man einen Beweis finden kann.«
Marie stockte der Atem. Der Arzt fuhr fort.
»Ich habe ihn ja behandelt. Jahrelang. Einmal, kurz vor seinem Tod, hat er mir gesagt, er habe seine Angelegenheiten geregelt. Er hatte dabei sein Grinsen aufgesetzt, dass er immer hatte, wenn er jemandem einen Streich gespielt hatte. Ich vermute, er hat damit sein Testament gemeint.«
Er zuckte mit den Achseln.
»Vielleicht hat er in diesem seine Vaterschaft zu dir offiziell anerkannt. Wenn dem so ist, dann musst du es suchen. »
Marie fasste ihn am Arm.
»Wo?«
»Entweder in den Archiven des Pfarrers, was durchaus möglich wäre. Dann in den Büchern des Vogtes. Aber da kann sie nur ein Mensch hinterlassen haben.«
Er sah sie an.
»Der Schreiber legt alles ab. Er ist der Einzige, der sich in den Archiven wirklich auskennt. Aber ich glaube nicht, dass es dort ist. Popolius ist eine kleine Ratte, aber das weißt du sicher. Ich bin mir sicher, er weiß mehr, als er zugibt und möglicherweise auch, wer du bist. Aber er würde das Risiko nicht eingehen, es in der Vogtei zu hinterlegen, wo es jemand finden könnte. Es sei denn, der alte Steiner hat ihn angewiesen, es zu tun. Dann wäre eine Abschrift dort zu finden.«
»Glaubt ihr das?«
Der Arzt zuckte mit den Schultern.
»Es ist eine Möglichkeit.«
»Und die Dritte?«
»Beim Schreiber selber. Ich weiß, er hat ein geheimes Archiv, irgendwo in seinem Haus.«
»Aber wie kommen wir dort hinein?«
Der Arzt lächelte.
»Es sollte für deinen Mann doch keine große Kunst sein, den Schreiber zu überreden, oder?«
Marie lächelte kalt. Sie stellte sich gerade vor, wie Matthias den kleinen Mann an der Gurgel hochhob.
»Wenn es einer schafft, dann mein Mann.«
Der Arzt lächelte. Marie sah ihm in die Augen.
»Aber Ihr sagt mir das doch nicht aus purer Menschenfreundlichkeit. Was erwartet Ihr als Dank?«
Der Arzt kratzte sich am Kopf.
»Marie, auch, wenn du es nicht glaubst: Ich bin kein schlechter Mensch. Was ich getan habe, das tat ich, um mehr Menschen helfen zu können. Nur mit Wissen ist es möglich, Krankheiten zu erkennen und zu heilen. Aber wenn wir beweisen können, dass du das bist, was ich vermute, dann möchte ich nur von Meister Matthias aus meiner Schuld entlassen werden. Wenn er mir sein Wort gibt, dass er niemandem etwas sagen wird, werde ich ihm glauben. Dann werde ich Rothenburg verlassen, mich an einem anderen Ort niederlassen. Ich möchte nur frei sein.«
Marie nickte.
»Ich glaube, dass ich Euch dies versprechen kann. Aber es gibt noch eine Bedingung.«
Der Arzt lachte.
»Ich weiß. Ich soll jemanden heilen. Ich kann nicht versprechen, dass es gelingt, aber ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.«
Er hielt Marie die rechte Hand hin.
»Hand drauf, Meisterin Wolf?«
Marie war verdutzt. So hatte noch nie jemand zu ihr gesprochen. Aber sie gab ihm die Hand.
»Hand drauf, Meister von Brümme. Und jetzt lasst uns endlich Kräuter suchen.«
Als Helga an diesem Morgen in die Backstube kam und ihr der Geruch nach Brot in die Nase stieg, wurde ihr so übel, dass sie es gerade noch in den Hinterhof schaffte, wo sie sich übergab.
Mit zitternden Knien hielt sie sich am Türrahmen fest. Was war nur los? Seit Tagen fühlte sie am Morgen diese merkwürdige Übelkeit, aber übergeben müssen hatte sie sich noch nie. Es wurde immer schlimmer.
»Was lungerst du hier herum und faulenzt?«
Die wütende Stimme ihrer Mutter schreckte das rothaarige Mädchen auf. »Wir brauchen Milch. Geh und hol welche.«
Widerwillig verzog Helga das Gesicht.
»Aber heute ist gar kein Markt!«
»Dann wirst du deinen faulen Hintern wohl zum Bauern schwingen müssen, nicht wahr?«, fauchte die Bäckerin und drückte ihrer Tochter zwei leere Milchkannen in die Hand.
»Und beeil dich, was wir haben, ist fast alle.«
Noch immer wacklig auf den Beinen und sich wie erschlagen fühlend gehorchte Helga. Widerstand hätte ohnehin keinen Sinn gehabt und wäre nur mit Schlägen gebrochen worden. Lustlos trottete sie durch die Straßen in Richtung Rödertor, das dem Bauernhof am nächsten lag. Sie hatte den Kopf so weit gesenkt, dass ihr rotes Haar das Gesicht verdeckte, und deshalb sah sie erst, dass jemand aus einer Seitengasse kam, als es zu spät war.
Greta und Helga stießen so heftig zusammen, dass beide hinfielen und die Bäckerstochter ihre Milchkannen fallen ließ.
»PASS DOCH AUF!«, schrien beide erbost, sahen sich dann verdutzt an und senkten verlegen die Köpfe. Seit Marie den Henker geheiratet hatte, hatten sie einander gemieden, aus Gründen, die zumindest Helga nicht wirklich kannte.
Als Greta den Gesichtsausdruck des anderen Mädchens sah, tat ihr die heftige Reaktion wieder leid. Sie atmete tief durch.
»Entschuldige, es war nicht so gemeint.«
Sie bemerkte, dass Helga Probleme zu haben schien, auf die Beine zu kommen, und half ihr, hob auch die Milchkannen auf. Argwöhnisch runzelte sie die Stirn.