Unheil - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Unheil E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Mitten unter uns lauert eine tödliche Bedrohung: der Vampir. Der erbarmungslose Killer foltert seine Opfer und saugt ihnen das Blut aus. Als ihm die Ermittlerin Conny in einer finsteren Gothic-Disco auf die Spur kommt, gerät sie in einen Albtraum: Immer wieder erscheint ihr ein Phantom mit offenbar übernatürlichen Kräften. Unheimliche Geschöpfe eröffnen die Jagd auf sie. Conny wird in eine tödliche Intrige verstrickt. Und diejenigen, die sie immer für ihre engsten Verbündeten gehalten hat, entpuppen sich als undurchsichtige Gegner …

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-95689-5

© Piper Verlag GmbH, München 2007 Covergestaltung: Guter Punkt, München / www.guter-punkt.de Coverabbildungen: Kim Hoang, Guter Punkt, unter Verwendung von Motiven von thinkstock Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Kapitel 1

Ohne den Leichenwagen mit dem Sarg auf dem Dach hätte sie den Laden vermutlich nicht einmal gefunden. Ihr sündhaft teures GPS-System hatte ihr den Stinkefinger gezeigt und sie gleich dreimal an der entscheidenden Abzweigung vorbeigelotst, um sie fünfzig Meter weiter mit einer enervierend freundlichen Stimme zum Wenden aufzufordern, und wäre sie dem (eigentlich unübersehbaren) Hinweisschild gefolgt, dann hätte der betagte Toyota jetzt wahrscheinlich bis zu den Achsen im Schlamm gesteckt, wenn sie sich nicht gleich auf dem Dach liegend und fünf Meter tiefer auf den Bahngleisen wiedergefunden hätte. Conny fragte sich nicht zum ersten Mal – und nicht zum ersten Mal vergeblich – warum die Betreiber des Trash sich eigentlich solche Mühe machten, ihr Etablissement zu verstecken.

Sie fragte sich auch nicht zum ersten Mal, was das Trash eigentlich war.

Natürlich wusste sie es. Sie war nicht ganz so blauäugig, wie manche ihrer sogenannten Kollegen es gerne darstellten, und hatte ein paar Erkundigungen eingezogen und im Internet recherchiert: ein ehemaliges Fabrikgelände, das nun eine Mischung aus Diskothek und Veranstaltungsort beherbergte und sich in den letzten Jahren zu einem Insider-Tipp der Gothic-Szene entwickelt hatte.

Aber sie überlegte trotzdem – und das nicht unbedingt mit einem guten Gefühl –, was sie hinter den Türen des großen, unscheinbaren Gebäudes vor ihr erwarten mochte, das einst wummernde Maschinen beherbergt hatte. Eine Diskothek, gut. Eine Gothic-Diskothek, das war vielleicht schon weniger gut – nicht, dass sie prinzipiell etwas gegen die Gothic-Szene oder ihre Anhänger gehabt hätte, doch sie hatte das entsprechende Alter nun wirklich hinter sich, und auch die Musik traf nicht mehr unbedingt ihren Geschmack – und das Publikum, das heute dort verkehrte … nun ja.

Conny schnippte den Stummel ihrer Zigarette aus dem Fenster, ohne auch nur einen Anflug schlechten Gewissens dabei zu verspüren, zündete sich praktisch noch in der gleichen Bewegung eine weitere West an und ließ ihren Blick zum wiederholten Male über den nur zur Hälfte belegten, schlammigen Parkplatz schweifen. Für die meisten wäre dieser Parkplatz nichts anderes gewesen als eben ein Parkplatz, aber ihr kundiger Blick verriet ihr auch noch eine Menge mehr. Der offenbar mit einer Rolle lackierte ehemalige Leichenwagen mit dem Pappsarg auf dem Dach, dem sie es letztendlich verdankte, das Trash überhaupt gefunden zu haben (sie war ihm kurzerhand gefolgt), war sicher nicht typisch für das, was sie sah; ein Unikum eben. Immerhin stimmte die Richtung.

Kaum einer der Wagen, die sie sah, schien vor weniger als sieben oder acht Jahren gebaut worden zu sein. Es gab ein paar Ausnahmen: Nicht einmal weit entfernt parkte ein silbernes BMW-Cabriolet, und direkt am Anfang des Parkplatzes, weit genug von den anderen Wagen entfernt, um nicht ganz aus Versehen mit dem Schlamm bespritzt zu werden, in dem ihr eigener klappriger Celica allmählich zu versinken schien, ein offensichtlich nagelneuer Hummer. Die meisten Wagen hier waren alt, nicht besonders gut gepflegt, und vor allem billig. Conny hatte nichts gegen billige Autos (sie fuhr selbst eines), aber es war eben eine ganz besondere Art von billig. Sie sah nur sehr wenige Fahrzeuge, deren Zustand ihre Besitzer als Autofreaks outete; um nicht zu sagen, so gut wie gar keines. Das, was sie hier sah, waren schlichte Beförderungsmittel.

Was ihr im Prinzip allerdings eher sympathisch war.

Sie kam zu dem Schluss, nun wirklich lange genug auf ihrem selbst ernannten Beobachtungsposten ausgeharrt zu haben, stieg aus und steuerte mit energischen Schritten den im Vergleich zur Größe des Gebäudes eher winzigen Eingang an, vor dem ein knappes Dutzend typischer Gothic-Fans (schwarz auf schwarz, und das Ganze geschickt zur Geltung gebracht mit ein paar schwarzen Accessoires) herumlungerte und rauchte. Die überraschten Blicke und hochgezogenen Augenbrauen tapfer ignorierend, versuchte Conny irgendwie an ihnen vorbeizukommen und dabei zumindest noch ein Mindestmaß an Würde zu wahren; ein Vorhaben, das aber von ihren hochhackigen Pumps gründlich torpediert wurde, auf denen sie beständig im Schlamm zu versinken drohte. Welcher Teufel hatte sie eigentlich geritten, in diesem Aufzug hierherzukommen?

Conny formulierte ihre eigene Frage in Gedanken um, als sie die Raucherfraktion passiert hatte und den ungefähr drei Meter großen Muskelprotz ansteuerte, der mit verschränkten Armen vor der Tür stand und darauf wartete, dass jedermann seine entblößten Ober- und Unterarmmuskeln bewunderte. Welcher Teufel hatte sie eigentlich geritten, überhaupt hierherzukommen?

Ihre wildesten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, als sie dem missbilligenden Stirnrunzeln des Fleischbergs begegnete. Sie war weder passend für diesen Anlass gekleidet, noch hatte sie das passende Alter … aber gut, wenn er ihr krummkam, hatte sie immerhin den passenden Dienstausweis, der ihn aus dem Weg scheuchen würde.

Hoffentlich.

Dann wurde ihr klar, dass sein grimmiger Blick weder ihrem bordeauxroten Kostüm noch den zwanzig Jahren zu viel galt, die sie auf dem Buckel trug, sondern der brennenden Zigarette in ihrer Hand. Sie nahm noch einen abschließenden tiefen Zug, schnippte den Rest in hohem Bogen davon und wurde mit einem zufriedenen Grinsen und einem mittleren Erdbeben belohnt, als sich der Koloss zur Seite schob und den Weg freigab.

Allerdings entblödete er sich nicht, ihr die Tür aufzuhalten; auf eine Art, die sie das Wort Muttchen beinahe hören ließ.

Sie wusste selbst nicht genau, was sie erwartet hatte – dröhnende Musik, vibrierende Fußböden, verräucherte Luft und blitzendes Laserlicht – aber sie gelangte zunächst lediglich in einen schmalen Gang, der von einem schweren Vorhang begrenzt wurde. Zur Linken gab es etwas, das sie an einen vergitterten Bankschalter aus dem vorvorletzten Jahrhundert erinnerte. Eine misstrauisch dreinschauende junge Frau reichte ihr eine kleine Pappkarte, mit der sie nicht wirklich etwas anzufangen wusste, und forderte sie mit einer so ruppigen Kopfbewegung zum Weitergehen auf, dass sie ganz instinktiv gehorchte.

Hinter dem Vorhang wurde die Musik lauter – Rammstein, Oomph!, irgendetwas in dieser Richtung –, wenn auch nicht annähernd so laut, wie sie befürchtet hatte. Trotzdem – und obwohl sie ein paar Fotos gesehen hatte und eigentlich wissen sollte, was sie erwartete – blieb sie einen Moment stehen und sah sich staunend um. Der Raum war riesig und konnte allein aufgrund seiner Größe und der hohen Decke seine ursprüngliche Bestimmung nicht leugnen, brodelte aber jetzt vor Leben, wie es in seiner Zeit als Maschinenhalle vermutlich niemals der Fall gewesen war. Conny versuchte erst gar nicht zu schätzen, wie viele Gäste sich augenblicklich hier drinnen aufhalten mochten. Vielleicht hundert, vielleicht auch drei- oder vierhundert, oder noch mehr. Jeder Versuch, sie zu zählen, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Die vorherrschende Farbe war Schwarz (was sich nicht nur auf die Kleidung der Gäste beschränkte), und es gab nur einige wenige Ausnahmen: hier und da ein weißes Hemd oder ein totenbleich geschminktes Gesicht, ein Tupfer von Rot oder Violett, aber im Grunde war alles schwarz. Selbst das Licht.

Zumindest das kam ihr allerdings zugute, als sie die lang gestreckte Theke auf der anderen Seite des Raumes ansteuerte. Das im Rhythmus der Musik flackernde Schwarzlicht löschte die unpassende Farbe ihres Kostüms aus und ließ es weit dunkler als zuvor erscheinen … was natürlich nichts daran änderte, dass sie die erstaunten und zum Teil abfälligen Blicke fast körperlich spüren konnte, die ihr auf dem Weg quer über die nur spärlich frequentierte Tanzfläche folgten. Sie gehörte nicht hierher, das spürte sie deutlich.

Aber war sie etwa freiwillig hier?

Genau genommen ja, gestand sie sich widerwillig ein. Ganz genau genommen war sie sogar hier, obwohl ihr sehr deutlich gesagt worden war, dass sie nicht hierherkommen sollte …

Sie verscheuchte den Gedanken, drängelte sich zur Theke durch und bestellte eine Cola, wozu sie sich anstrengen musste, um die Musik zu überbrüllen, die auf dieser Seite der Halle sonderbarerweise viel lauter zu sein schien. Als sie in ihrer Handtasche nach Kleingeld kramte, schüttelte die Bedienung heftig den Kopf und begann noch heftiger zu gestikulieren. Conny sah sie verständnislos an.

»Sie müssen ihre Karte abgeben«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Conny drehte sich um und blickte mindestens genauso verständnislos in ein Gesicht, das (allerhöchstens) halb so alt war wie ihr eigenes, aber so bleich, als wäre sein Besitzer seit mindestens der doppelten Anzahl von Jahren tot. »Wie?«

Der Junge (sie nahm zumindest an, dass es einer war) begann ebenfalls heftig zu gestikulieren. Er musste schreien, um die Musik zu übertönen, was ihn noch deutlich jünger erschienen ließ, als er vermutlich war.

»Ihre Karte! Haben Sie keine bekommen, am Eingang?« Als Conny ihn nur weiter verwirrt ansah, zog er seine eigene bedruckte Pappe aus der Hemdtasche und hielt sie der Bedienung hin. Sie stempelte sie mit einer verärgert wirkenden Geste ab, und endlich durfte Conny auch ihre mit einer Unmenge von Eis verpanschte Cola an sich nehmen, während der Junge seine Karte wieder verschwinden ließ.

»Man zahlt hier, wenn man rausgeht!«, erklärte er, immer noch beinahe schreiend. »Bist du das erste Mal hier?«

Conny nickte zwar ganz automatisch, aber sie konnte nur hoffen, dass ihre Gesichtszüge nicht allzu sehr entgleisten. Hoffentlich war dieses Bübchen nicht der, der sie herbestellt hatte. Wenn doch, dann … nun ja, dann hätte sie wenigstens das Gelächter des gesamten Kommissariats auf ihrer Seite.

»Setzen wir uns?«, brüllte Junior. »Im Nebenraum ist es ein bisschen leiser. Da können wir reden!«

Reden?, dachte Conny verwirrt. Mit dir? Worüber wohl? Aber sie nickte nur und bedeutete ihm mit einer entsprechenden Kopfbewegung, vorauszugehen.

Im Nebenraum war es tatsächlich leiser, allerdings nicht viel, doch dafür herrschte ein Gedränge, bei dessen bloßem Anblick sie Atemnot bekam. Vielleicht zwei oder drei Dutzend Zuschauer hatten sich um eine kleine Bühne versammelt, auf der irgendetwas dargeboten wurde, das mit mittelalterlichen Kostümen und Schwertern zu tun hatte und ziemlich unästhetisch aussah. Sie sah einen Moment hin, deutete dann ein Kopfschütteln an und kehrte in den großen Raum zurück. Ihr jugendlicher Charmeur wirkte ein bisschen enttäuscht, wie ein Kind, das sein neues Spielzeug vorführt und nicht den erhofften Applaus bekommen hat, aber natürlich gab er nicht auf, sondern stellte sich im Gegenteil auf die Zehenspitzen und deutete dann zum anderen Ende des Raumes. Vielleicht hatte er einen freien Platz entdeckt. Conny folgte ihm, auch wenn sie inzwischen ziemlich sicher war, dass die E-Mail nicht von ihm stammte.

Tatsächlich gelangten sie nicht nur zu einem freien Platz, sondern gleich an einen komplett freien Tisch. Die Diskothek war zwar gut besucht, aber der Großteil der Gäste hielt sich auf der anderen Seite der ehemaligen Maschinenhalle auf, wo die Musik lauter war, oder folgte der Schwerter-Pantomime im angrenzenden Raum. Auf einer kleinen Empore, nicht einmal weit entfernt, saß ein langhaariger Bursche vor einem kleinen Pult und las aus einem (natürlich schwarz) eingeschlagenen Buch vor, wobei er allerdings alle Mühe zu haben schien, die dröhnende Musik zu überbrüllen. Hätte man dem armen Kerl ein Mikrofon gegeben, wäre es vielleicht einfacher gewesen.

»Zum ersten Mal hier?«, schrie ihr weißgesichtiger Begleiter. Er hatte seine Lautstärke noch dem Lärmpegel auf der anderen Seite der Tanzfläche angepasst und wirkte selbst fast ein bisschen erschrocken. Als er weitersprach, senkte er die Stimme ein wenig. »Ich meine: Gefällt es dir?«

»Schon«, antwortete Conny und nippte an ihrer Cola. Sie war hoffnungslos verwässert und so kalt, dass sie an den Zähnen schmerzte. »Es ist … interessant.«

Das schien nicht unbedingt die Antwort zu sein, die er hatte hören wollen. Er machte auch keinen Hehl aus seiner Enttäuschung, aber was hatte er erwartet?, dachte sie spöttisch. Dass sie sich mit ihren fast zweiundvierzig Jahren die Kleider vom Leib riss, sich das Gesicht weiß anmalte und ein Stachelhalsband anzog?

Selbstverständlich ließ er sich auch nicht davon entmutigen. Nachdem sie sein Gesicht unter all der weißen Schminke etwas genauer studiert hatte, korrigierte sie ihre Schätzung noch einmal ein gutes Stück nach oben. Sie war mindestens fünfundzwanzig Jahre älter als er. Sie hätte seine Mutter sein können. Aber er schien wild entschlossen, sie im Sturm zu erobern.

»Was ist das hier?«, fragte sie. »Ich meine: Ist hier immer so viel los?«

»Besuchermäßig ja«, antwortete er. »Wenn du die Vorführungen meinst, nein. Heute ist das Jahrestreffen.«

»Der Vampire?«, fragte sie amüsiert.

»Nein. Der Gothic-Szene.« Er war nicht beleidigt, sondern lachte. »Ein paar Mittelalter-Fans sind auch dabei, und der eine oder andere Punk. Aber die meisten gehören zu uns. Ich bin Tom. Und du?«

Beinahe hätte sie sich als Conny vorgestellt, nannte dann jedoch ihren richtigen Namen. »Cornelia«, um die Distanz zwischen ihnen nicht noch schmaler werden zu lassen.

»Conny also«, stellte er fest. So viel dazu. »Darf ich dir eine Frage stellen?«

»Ich dachte, das tust du schon die ganze Zeit.«

Tom ignorierte ihre Antwort. »Warum bist du hier? Ich meine, nur aus Neugier? Wenn dich das hier wirklich interessiert, könnte ich dich ein bisschen rumführen. Dir alles zeigen, deine Fragen beantworten und so.«

Verlockend wäre gewesen: Ich suche meine minderjährige Tochter, die sich gegen meinen Willen in diesem Schuppen rumtreibt, mit Typen wie dir abhängt, raucht und Alkohol trinkt. Aber so groß die Versuchung auch war, sie gab ihr nicht nach, sondern deutete nur ein Schulterzucken an und blieb – beinahe – bei der Wahrheit. »Ich bin hier verabredet.«

»Dein Freund oder Mann?« Keine Spur von Enttäuschung.

»Nein. Ich weiß nicht, mit wem.« Jetzt wurde sein Blick ratlos, und Conny fügte mit einer Geste in die Runde hinzu: »Ich habe nur eine Nachricht bekommen, dass wir uns hier treffen wollen.«

»So eine Art Blind Date.« Tom grinste. »Lass mich raten: Als Erkennungszeichen habt ihr ausgemacht, dass er was Schwarzes anzieht.«

»Ja, so ungefähr«, seufzte Conny, musste aber zugleich und fast gegen ihren Willen lächeln. Sie hoffte, dass der Junge nicht tatsächlich recht hatte. Mittlerweile hoffte sie sogar, dass sich das Ganze nicht als übler Scherz eines ihrer netten Kollegen herausstellte, der jetzt in irgendeiner dunklen Ecke stand und sich vor Lachen krümmte, während er die Oma beobachtete, die zwischen all diesen schwarz angemalten Kids mehr als nur deplatziert wirkte. Und sie am besten auch gleich filmte, damit es sich morgen im Aufenthaltsraum auch alle ansehen konnten.

Aber das wäre vermutlich doch zu aufwendig gewesen. Ihre Kollegen kannten einfachere Methoden, sie lächerlich zu machen.

Eine Bewegung am Eingang erregte ihre Aufmerksamkeit. Über den Köpfen der schwarzhaarigen Menge erschien der Sarg, der bisher draußen auf dem Leichenwagen gelegen hatte. Er wurde von zwei kräftigen Burschen getragen und von einem stämmigen Mann mit Vollbart und schulterlangem Haar begleitet, der ein Schwert an der einen Seite seines Gürtels und einen zugespitzten Holzpflock und einen Hammer an der anderen trug. Hammer und Pflock waren vermutlich in Ordnung, doch sie fragte sich, was das Waffengesetz zu dem Schwert sagen mochte, noch dazu in einer Diskothek voller Jugendlicher, von denen die eine Hälfte inzwischen vermutlich betrunken und die andere high war.

»Keine Sorge, das gehört zur Show«, sagte Tom. »Ich hab die Nummer schon mal gesehen. Sie ist echt cool.«

»Du meinst, in dem Sarg ist gar kein richtiger Vampir?«, fragte Conny mit gespielter Überraschung. »Jetzt bin ich aber enttäuscht.«

Tom lachte, doch als er etwas sagen wollte, trat eine große, sehr schlanke Gestalt an ihren Tisch und sah sie an. Conny hätte ihr unter normalen Umständen wahrscheinlich gar keine Beachtung geschenkt. Der Mann war außergewöhnlich groß und trug ein schwarzes Cape, ein altmodisches Rüschenhemd mit einem noch altmodischeren Binder; dazu ein albernes Gehstöckchen mit einem Griff in Form eines Drachenkopfes, und sein Haar war kurz geschnitten und selbstverständlich ebenso schwarz wie sein Gesicht bleich. Kurz: Er unterschied sich nicht wirklich von mindestens neunzig Prozent der Anwesenden; sah man vielleicht von seinem Alter ab, das – wenigstens auf den zweiten Blick – mehr in ihre Richtung tendierte als dem hier vorherrschenden Durchschnitt. Und doch war irgendetwas an ihm, das ihn … anders machte. Conny sah irritiert auf und begegnete dem Blick zweier dunkler, sehr durchdringender Augen, die den Eindruck erweckten, dass ihnen nichts entging. Irgendetwas … Sonderbares schien den Mann zu umgeben, das nicht zu beschreiben, aber sehr unangenehm war.

Vielleicht war es auch die simple Tatsache, dass sie auf jemanden wartete.

Und zwar auf ihn, wie seine nächsten Worte bewiesen. »Sie sind also gekommen.«

Tom setzte dazu an, etwas zu sagen, doch der Schwarzhaarige brachte ihn mit einem einzigen eisigen Blick aus seinen sonderbaren Augen nicht nur zum Verstummen, sondern auch dazu, hastig aufzuspringen und davonzueilen. Conny sah ihm nach, bis er in der zum Takt des zuckenden Schwarzlichtes wogenden Menge verschwunden war, aber sie spürte den Blick der seltsamen Augen die ganze Zeit weiter auf sich ruhen; wie die Berührung einer warmen und unangenehm trockenen Hand.

»Wer war das?«, fragte der Fremde. Auch seine Stimme war … seltsam, fand Conny. Ein warmer, sehr weicher Bariton, der etwas Einschmeichelndes hatte und zugleich so kalt und schneidend wie scharf geschliffener Stahl klang.

»Nur ein Verehrer.« Conny blinzelte, als sie sich wieder umdrehte und zu ihm aufsehen wollte. Er hatte sich gesetzt, auf denselben Stuhl, auf dem Tom bisher gesessen hatte. Sie hatte es weder gehört noch gespürt; als hätte er sich nicht nur lautlos, sondern überhaupt nicht bewegt.

Conny rief sich in Gedanken scharf zur Ordnung. Dieser Mann war zweifellos seltsam, aber das war auch schon alles. »Haben Sie mich herbestellt?«, fragte sie, wobei sie zugleich gegen das vollkommen absurde Gefühl ankämpfen musste, dass das gar nicht sein konnte. Die Nachricht hatte sie als E-Mail erreicht, und alles in ihr sträubte sich einfach gegen die Vorstellung, dass er der Absender sein sollte. Nicht wegen ihres Inhalts oder dieses seltsamen Treffpunktes. So etwas wie eine E-Mail … passte einfach nicht zu ihm.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, lächelte er plötzlich auf eine nicht nur beunruhigend wissende, sondern auch beinahe spöttische Art und beließ es bei einem angedeuteten Nicken als Antwort. Conny überlegte, ob er das mit Absicht tat und nur aus dem einzigen Grund, um sie zu verunsichern. Wenn ja, hatte er Erfolg.

»Warum?«

»Um mich mit Ihnen zu treffen. Und Sie wollten es doch offensichtlich auch, sonst wären Sie nicht hier.« Er beugte sich leicht vor, wobei er sich mit beiden Händen auf den Knauf seines albernen Spazierstocks stützte. Conny fiel auf, dass er sehr schlanke, fast filigrane Finger hatte, die trotzdem den Eindruck großer Kraft vermittelten; fast wie man sie bei einem Pianisten erwarten mochte, oder einem Chirurgen. Das fast resultierte aus der Tatsache, dass seine Fingernägel zwar gepflegt, aber außergewöhnlich lang und spitz zugefeilt waren. Außerdem waren sie schwarz lackiert.

»Vielleicht war ich nur neugierig«, antwortete sie.

»Neugierig?«

»Auf jemanden, der sich so viel Mühe macht, nur um mir eine kryptische Nachricht zukommen zu lassen, in der eigentlich nichts steht.«

Das war keineswegs übertrieben. Nicht einmal den Spezialisten aus der Cyberspace-Abteilung war es gelungen, den Absender der E-Mail zu ermitteln, und die Jungs waren gut; was bedeutete, dass er mindestens ebenso gut war, wenn nicht besser.

»Ganz so sinnentleert kann sie nicht gewesen sein, sonst wären Sie nicht hier, oder?«

Conny unterdrückte das Gefühl von Hilflosigkeit und Wut, das diese Antwort in ihr hervorrief. Natürlich war nichts sinnentleert, was mit Lea zu tun hatte. Sie konnte den Anblick des halb nackten toten Mädchens nicht vergessen, das jemand wie ein Stück Abfall entsorgt und in einen Altpapiercontainer am Straßenrand geworfen hatte, nicht annähernd so schlimm zugerichtet wie manche andere, die sie zuvor gesehen hatte, aber mit einem Ausdruck so abgrundtiefer Furcht in den erloschenen Augen, dass sie diesen Anblick nie wieder wirklich vergessen könnte. Erst sehr viel später in dieser Nacht, nachdem man auch die Kleider und die Handtasche des Mädchens im gleichen Altpapiercontainer gefunden hatte und sie den Namen auf dem Personalausweis las, hatte sie überhaupt begriffen, wer das tote Mädchen war.

Lea. Die Tochter ihrer besten Freundin.

»Was wollen Sie?«, fragte sie mit rauer Stimme.

»Sie kennenlernen.« Er hob besänftigend die Hand, als sie auffahren wollte. »Und Ihnen meine Hilfe anbieten.«

»Hilfe?« Conny dachte an Lea, an ihre gebrochenen Augen, die sie anklagend in ihren schlimmsten Träumen verfolgten; ein Anblick, der den abgebrühtesten Profi erschüttert hätte. Sie hatte sich vorgenommen das Schwein zu fassen, dass ihr das angetan hatte. Doch dafür brauchte sie einen klaren Kopf. Wie schon so oft zuvor verscheuchte sie die Erinnerung an das übel zugerichtete Mädchen aus ihren Gedanken und den Hass und den Abscheu, den sie tief in sich empfand.

»Ich könnte mir vorstellen, dass Sie ein bisschen Hilfe gebrauchen könnten«, setzte er nach.

Jetzt war sie wirklich beunruhigt, wenn auch aus einem anderen Grund, als er vermutlich ahnte. Es ging nicht nur um Lea, sondern auch um all die anderen Opfer des Wahnsinnigen. Das Allerletzte, was sie bei der Jagd nach ihm brauchte, war ein begeisterter Amateur, der fest davon überzeugt war, unendlich viel schlauer zu sein als sie und alle ihre Kollegen.

»Erweisen Sie mir den Gefallen, sich zuerst einige Augenblicke mit mir zu unterhalten, bevor ich diese Frage beantworte?«

Eigentlich sollte sie jetzt erst recht ärgerlich werden, doch das genaue Gegenteil war der Fall: Sie versuchte sich sogar dagegen zu wehren, aber dieser Bursche hatte einfach ihr Interesse geweckt. Allein dieser Satz: Erweisen Sie mir den Gefallen. Er sprach nicht nur altmodisch, irgendwie … war er es, angefangen von seiner Kleidung über seine gestelzte Art zu sprechen bis hin zu seinem ganzen Habitus, der lächerlich hätte wirken können, es aber nicht tat.

Wie man es von jemandem erwarten kann, der einen Ort wie diesen als Treffpunkt vorschlägt, meldete sich der logische Teil ihres Verstandes zu Wort. Er war weiß Gott nicht der einzige, der hier in Klamotten aus dem neunzehnten Jahrhundert herumlief.

Allerdings war er vielleicht der Einzige, der darin überzeugend wirkte. Wenn er eine Rolle spielte, dann perfekt.

»Wer zum Teufel sind Sie eigentlich?«, fragte sie.

»Oh, wie unhöflich von mir.« Der Ausdruck von Betroffenheit, der über sein schmales Gesicht huschte, wirkte so echt und überzeugend wie alles andere. »Ich habe es ganz versäumt, mich vorzustellen. Das ist unverzeihlich. Bitte halten Sie es dem Umstand zugute, dass mich die Gegenwart einer so charmanten und schönen Frau meine guten Manieren vergessen ließ.« Er deutete eine knappe Verbeugung an, ohne dass der Blick seiner dunklen Augen ihr Gesicht dabei losließ. »Mein Name ist Vladimir. Aber meine Freunde nennen mich Vlad.«

»Mir ist nicht nach Schmeicheleien«, sagte Conny kalt … was zugleich stimmte und auch nicht. Allmählich begann sie sich wirklich über den Kerl zu ärgern, der entweder verrückt war oder versuchte, sich über sie lustig zu machen, oder beides. Dennoch schmeichelten ihr seine Worte, und darüber ärgerte sie sich fast noch mehr.

»Und mir ist auch nicht nach albernen Spielchen«, fügte sie noch schärfer hinzu.

»Spielchen?«

»Vlad, wie? Und gleich werden Sie behaupten, Ihr Nachname wäre Tepes. Oder soll ich Sie gleich Graf Dracula nennen?«

Vlad lächelte dünn. »Sie sind eine gebildete Frau, wie ich sehe. Trotzdem erliegen Sie demselben weit verbreiteten Irrtum wie die meisten.«

»Dem Irrtum, dass ich mit meiner Zeit etwas Besseres anfangen könnte, als sie mit diesem Unsinn zu vertrödeln?«

»Dracula – und ganz genau Dracul – war nicht der Name des legendären Vlad Tepes, sondern sein Titel«, fuhr Vlad ungerührt fort. »Es heißt nichts anderes als Drache. Er war ein Ritter des berüchtigten Drachenordens.«

»Wie interessant«, sagte Conny scharf. »Und ich nehme an, Sie sind ein direkter Nachkomme … oder sind Sie es sogar selbst. Er ist ja unsterblich, wenn ich mich richtig erinnere.«

»Eine interessante Theorie«, lächelte Vlad. »Und ein großes Kompliment, vor allem aus dem Mund einer so charmanten Frau.«

»Das reicht jetzt.« Conny machte Anstalten, aufzustehen. »Ich habe wirklich Besseres mit meiner Zeit zu tun, als sie mit diesem Unsinn …«

»Aber ich bin doch schon fertig, meine Liebe«, fiel ihr Vlad ins Wort.

Conny hielt inne. Ihre Augen wurden schmal. »Womit?«

»Ich wollte mir einen Eindruck von Ihnen verschaffen, und das habe ich«, antwortete er. »Ich glaube, dass wir uns einig werden.«

»Einig? Worüber?« Widerwillig ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl sinken. Sie hatte tatsächlich Besseres zu tun, als ihre Zeit mit diesem Irren zu verschwenden – aber auf ein paar Minuten mehr oder weniger kam es nun auch nicht mehr an. Und wenn gar nichts dabei herauskam, konnte sie ihn immer noch verhaften und ihm wegen Behinderung der Behörden und Verstoß gegen irgendein Datenschutzgesetz die Daumenschrauben anlegen.

»Ich möchte Ihnen helfen, Conny«, sagte er. »Ich darf Sie doch Conny nennen? Oder bestehen Sie auf Cornelia?Bitte verzeihen Sie mir meine Offenheit, aber ich finde, das klingt so …«, er suchte sichtbar nach dem richtigen Wort und hob dann die Schultern, »… altbacken.«

Sie reagierte gar nicht, was er selbstverständlich als Zustimmung auffasste, denn er fuhr nach einer kaum merklichen Pause und mit einem angedeuteten Nicken fort: »Ich machen keinen Hehl daraus, dass ich selbstverständlich eine gewisse … Gegenleistung erwarte, wenn wir uns einig werden.«

»Eine Gegenleistung wofür?«, fragte Conny scharf.

»Ich kann Ihnen den Vampir liefern«, antwortete Vlad.

Conny starrte ihn an. Eine Sekunde lang, dann zwei. Schließlich zehn. Dann lachte sie. »Stimmt. An Vampiren herrscht ja hier im Moment kein Mangel. Fangen wir direkt mit Ihnen an?«

Vlad blieb ernst, und plötzlich erschien in seinen Augen etwas, das ihr einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Vielleicht auch nicht in seinen Augen. Vielleicht war es … in ihr, dachte sie schaudernd. Sie hatte plötzlich das unheimliche Gefühl, von etwas Körperlosem und unendlich Kaltem tief in ihrer Seele berührt zu werden. »Du weißt, von wem ich spreche.«

Ob sie es wusste? Ob sie wusste, wovon er sprach?

Allein die Frage war schon beinahe lächerlich. Jeder, absolut jeder in diesem Land, der Zeitung las, einen Fernseher besaß oder ein Radio, wusste, wer der Vampir war. Die Medien beschäftigten sich seit drei Wochen praktisch mit nichts anderem – jedenfalls kam es ihr und ihren Kollegen mittlerweile so vor – und der Tenor dieser Berichterstattung war im gleichen Maße ungeduldiger und hämischer geworden, in dem ihre Menschenjagd ergebnislos verlief. Mittlerweile war die SOKO Vampir auf über hundert Köpfe angewachsen, und die aktuelle Schlagzeile der Revolverblätter hatte gelautet: Acht zu null für den Vampir. Das war nicht lustig. Die Acht stand für acht tote Teenager – keiner von ihnen älter als siebzehn – und die Null für ihre Fahndungserfolge. Acht Tote … Conny konnte sich an den einen oder anderen Serienmörder erinnern, der durchaus fleißiger gewesen war, wenn auch an keinen, der so schnell und in so kurzen Abständen gemordet hatte.

»Das ist nicht komisch«, sagte sie ernst. »Ich weiß nicht, was in Ihrem Kopf vorgeht. Wenn Sie glauben, dass ich in dieser Sache auch nur über einen Funken Humor verfüge, dann täuschen Sie sich. Das hier ist kein Spiel, und ich bin keine Kindergärtnerin. Also, wenn Sie mir nicht einen verdammt guten Grund liefern, warum Sie mich hierher zitiert haben, dann machen Sie sich darauf gefasst, verhaftet und so lange durch die Mangel gedreht zu werden, bis Sie sich wünschen, meinen Namen niemals gehört zu haben.«

»Er ist hier«, sagte Vlad.

Diesmal starrte Conny ihn noch länger an. »Hier?«, murmelte sie schließlich. »Sie … Sie meinen, hier in diesem Lokal?«

»Sogar in diesem Raum«, antwortete Vlad ruhig. »Wenn du dich umdrehst, kannst du ihn sehen.«

Alles in Conny schrie danach, ganz genau das zu tun. Stattdessen beherrschte sie sich und blickte ihr sonderbares Gegenüber nur noch durchdringender an.

»Schade«, seufzte sie schließlich. »Ich hatte gehofft, dass Sie es nicht so weit treiben. Ich weiß zwar nicht warum, aber irgendwie … möchte ich Sie nicht verhaften. Allerdings fürchte ich, dass Sie mir da keine andere Wahl lassen.«

»Du glaubst mir nicht«, seufzte Vlad. Er klang nicht etwa enttäuscht, sondern allenfalls auf eine Art resigniert, als hätte er genau das gehört, was er erwartet hatte, aber bis zuletzt auf etwas anderes gehofft. Seine schlanken Finger spielten mit dem silbernen Drachenkopf des Stöckchens, als wären es kleine, eigenständige Wesen. Er stand auf. »Komm mit.«

Aus keinem anderen Grund als dem, mit dem sie sich gerade schon einmal selbst beruhigt hatte – nämlich, dass es auf ein paar Sekunden jetzt auch nicht mehr ankam – erhob sie sich tatsächlich und folgte ihm. Außerdem hatte sie gerade die Wahrheit gesagt: Aus irgendeinem Grund wollte sie ihn nicht verhaften.

Was sie nicht daran hindern würde, es zu tun, wenn der Kerl sich einbildete, sie verarschen zu können.

Sie gingen nur ein paar Schritte, gerade weit genug, um die Tanzfläche überblicken zu können, auf der jetzt wieder nur mäßiges Gedränge herrschte. Anscheinend wechselte die Frequenz von Lied zu Lied; falls man das Röcheln eines gerade an Kehlkopfkrebs Sterbenden wirklich Musik nennen wollte.

»Dort drüben.« Vlad machte eine Kopfbewegung. »An der Theke. Der Langhaarige mit dem schwarzen T-Shirt.«

Davon gab es gleich drei, aber Conny wusste trotzdem, wen er meinte. Der Junge lehnte ganz außen an der Theke, ein großer, schlaksiger Bursche in der hier allgemein angesagten schwarzen Kleidung und mit ebenfalls schwarzem Haar, das er zu einem bis in die Mitte des Rückens hinunterfallenden Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Er wäre vollkommen unauffällig gewesen (zumindest in diesem Umfeld), wäre da nicht sein Blick gewesen, der einen krassen Gegensatz zu der betont lässigen Haltung bildete, in der er an der Theke lehnte. Er suchte etwas. Vielleicht auch jemanden.

»Dieses Bürschchen?«, fragte sie ungläubig. Der Junge war vielleicht gerade zwanzig.

»Er ist auf der Jagd«, sagte Vlad ungerührt. »Er hält gerade Ausschau nach seiner nächsten Beute. Das spüre ich. Und du spürst es auch.«

Das Verrückte war, dachte sie bestürzt, dass es stimmte. Es blieb dabei. Der Bursche war ein … Kind, nicht nur äußerlich, sondern viel mehr noch von seiner Ausstrahlung her. Jeder, der freiwillig in einen Schuppen wie diesen ging und nicht nur Geld dafür bezahlte, sich das Gehör ruinieren zu lassen, sondern auch noch Spaß daran hatte, sich von Kopf bis Fuß in Schwarz zu hüllen, das Gesicht totenweiß zu schminken und sich an den unmöglichsten Stellen zu piercen, musste tief drinnen ein Kind sein. Und das war er auch, ganz zweifelsfrei … aber zugleich hatte er auch etwas von einem Raubtier an sich. Kein Jäger. Er war kein Leopard oder Tiger, der seine Beute zu Tode hetzte und dann mit einem Prankenhieb niederstreckte, sondern eine Spinne, die lautlos und mit unendlicher Geduld auf ihre Beute lauerte, um dann aus dem Hinterhalt heraus zuzuschlagen; heimtückisch, aber nicht weniger tödlich.

»Das ist lächerlich«, sagte sie trotzdem, wenn auch mit einem deutlichen Zittern in der Stimme, das sie selbst erschreckte. »Der Kerl ist ein … ein Kind. Kaum älter als die meisten seiner Opfer.«

»Und das bedeutet automatisch, dass er unschuldig sein muss?«, fragte Vlad. »Weil er jung ist?«

Conny biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Das Schlimme war, dass er recht hatte. Sie spürte es einfach.

»Und was soll ich jetzt tun …«, um ein Haar hätte sie ihn geduzt, »… Ihrer Meinung nach?«

»Ihn verhaften?«, schlug Vlad vor.

»Und mit welcher Begründung?« Conny schüttelte heftig den Kopf, ohne den Langhaarigen auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen zu lassen. Er lehnte noch immer in scheinbar vollkommen entspannter Haltung an der Theke, nippte ab und zu an einem Glas Cola mit Eis und erweckte vollkommen überzeugend den Eindruck, sich ohne irgendein spezielles Interesse umzusehen … bei allen anderen. Conny entging keineswegs, wie taxierend seine Blicke unter dieser Maske waren; Blicke, denen nicht die geringste Kleinigkeit entging. Obwohl es nicht den Eindruck erweckte, war sein Kopf (und vor allem seine Augen) in ununterbrochener Bewegung. Ein oder zwei Mal streifte sein Blick sogar Conny, aber sie war vermutlich zu weit weg, als dass er sie genau erkennen konnte, und außerdem passte sie nicht in sein Beuteschema, ganz egal, nach welcher Art von Wild er auch Ausschau hielt. »Ich kann ihn nicht einfach verhaften, nur weil mir jemand, den ich noch nicht einmal kenne, gesagt hat, dass er ein Serienkiller sei.«

Sie bekam keine Antwort, und als sie sich ärgerlich zu Vlad umdrehte, begriff sie auch, warum.

Er war nicht mehr da, und einen Moment lang fragte sie sich ganz ernsthaft, ob er überhaupt jemals da gewesen war oder sie vielleicht allmählich durchdrehte.

Das war natürlich Unsinn. An einem Ort wie diesem einen Kerl mit Pelerine, Rüschenhemd und Gehstock zu sehen, den es gar nicht gab, das mochte ja noch angehen (vor allem, wenn man in den letzten beiden Nächten so gut wie nicht geschlafen hatte), aber sie hatte schließlich mit ihm gesprochen. Und nicht nur das.

Trotzdem blieb er verschwunden, so aufmerksam sie sich auch umsah.

Und als sie sich wieder zur Theke umdrehte, war auch der Langhaarige nicht mehr da.

Für eine oder zwei Sekunden drohte sie fast in Panik zu geraten, doch dann sah sie eine schlanke Gestalt mit einem auffällig langen, gepflegten Pferdeschwanz im anderen Saal verschwinden und machte sich hastig daran, ihr zu folgen. Sie hatte nicht vor, ihn anzusprechen oder gar etwas wirklich Dummes zu tun (wie zum Beispiel ihn zu verhaften), aber es konnte nicht schaden, ihn einfach noch ein paar Minuten im Auge zu behalten. Außerdem stieg in seiner Nähe vermutlich die Wahrscheinlichkeit, den selbst gebastelten Vlad Dracul wieder zu treffen.

Auf der Bühne im angrenzenden Saal war mittlerweile eine andere Inszenierung im Gange. Der Pappsarg, den man vorhin hereingebracht hatte, stand im Zentrum eines Dutzends unterschiedlicher, ausnahmslos grellbunter Scheinwerferstrahlen, die im Licht der hämmernden Heavy-Metal-Musik zuckte, die das Röcheln des Krebskandidaten abgelöst hatte. Eine Trockeneismaschine produzierte brodelnden weißen Dampf, und der Typ mit Hammer und Schwert trat gemessenen Schrittes auf die Bühne hinauf. Wahrscheinlich, dachte sie, würde gleich der Sargdeckel aufspringen, und eine totenblass geschminkte Frau in zerrissenen Kleidern würde heraussteigen, um von ihrem Kollegen möglichst publikumswirksam gepfählt zu werden.

Eigentlich sollte diese Vorstellung lächerlich sein. Sie dachte diesen Gedanken sogar ganz bewusst, um sich im Stillen darüber lustig zu machen, aber es wollte ihr nicht gelingen. So naiv und dilettantisch diese Laienvorstellung auch war, der Gedanke an das, was gleich dort oben auf der Bühne passieren würde, bereitete ihr fast körperliches Unbehagen.

Sie schüttelte den Gedanken ab, trat ganz instinktiv aus dem hellsten Licht heraus und machte dann noch einmal einen raschen Schritt zurück, nachdem sie sich suchend umgesehen hatte. Die Scheinwerfer, die die Bühne beleuchteten, waren so hell, dass alles andere ringsum praktisch unsichtbar wurde. Auch wenn der Kerl mit dem Pferdeschwanz ganz bestimmt kein Interesse an ihr hatte (Conny bezweifelte, dass er sie überhaupt zur Kenntnis genommen hatte), musste sie den Langhaarigen ja nicht unbedingt mit der Nase darauf stoßen, dass sie sich für ihn interessierte; schon, um im Zweifelsfall sich selbst ein paar sehr unangenehme Fragen zu ersparen …

Conny fragte sich erneut und mit immer größerer Verwunderung, was zum Teufel sie hier eigentlich tat. Ganz egal, wie man es drehte oder wendete, es lief genau auf das hinaus, was sie gerade selbst zu Vlad gesagt hatte: Sie bespitzelte einen ihr völlig unbekannten jungen Mann (einen Bürger, und somit per Definition jemanden, der so lange unschuldig wie ein neugeborenes Baby war, wie sie ihm nichts nachweisen konnte oder zumindest einen vernünftigen Anfangsverdacht hatte), und das nur auf die wilden Anschuldigungen eines vollkommen Fremden hin. Die Chancen, dass sich hier heute jemand gehörigen Ärger einhandelte, standen gar nicht schlecht. Sie war nur nicht sicher, wer das sein würde.

Der Pferdeschwanzträger schien sich weder für sie noch für das Geschehen auf der Bühne zu interessieren. Conny musste nach ihm suchen, um ihn in der dicht an dicht stehenden Zuschauermenge überhaupt zu entdecken. Er war nicht allein, sondern unterhielt sich in scheinbar vertrautem Ton mit einem vielleicht sechzehn- oder siebzehnjährigen Mädchen, das ihm kaum bis zur Brust reichte und ein schwarzes T-Shirt, einen gleichfarbigen Minirock (der eigentlich nur ein breiter Gürtel war) und sorgsam zerrissene Netzstrümpfe über einer weißen Strumpfhose trug. Anders als die meisten hier hatte sie ihre Haare nicht schwarz gefärbt, sondern in einem strähnigen Violett, und all ihre Mühe, sich mit totenbleicher Schminke, schwarzem Lippenstift und bitumenähnlichem Mascara zu entstellen, konnte ihre natürliche Schönheit nicht verhehlen.

Vielleicht war es der Anblick des Mädchens, der Connys letzte Zweifel beseitigte. Sie passte einfach zu gut ins Beuteschema des Vampirs: irgendetwas zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren alt, hübsch und auf eine Art selbstbewusst, die ihr nichts von ihrer mädchenhaften Ausstrahlung nahm. Und unter dieser Maske schrecklich verwundbar.

Für einen Moment erschien ein knappes drei Viertel Dutzend anderer Gesichter vor ihrem inneren Auge, säuberlich aufgereiht und mit der unbarmherzigen Detailtreue moderner Digitalfotos. Acht bleiche Gesichter, denen man gnädigerweise die Augen geschlossen hatte, damit das Foto den abgrundtiefen Schrecken nicht festhielt, der sich im Angesicht des Todes in ihre Augen gekrallt hatte. Jedes Einzelne dieser Gesichter war ebenso bleich und starr gewesen wie das der Kleinen, der der Langhaarige mittlerweile den Arm um die Schulter gelegt hatte, nur dass die Blässe in diesen Gesichtern nicht aufgeschminkt war, sondern nie wieder verschwinden würde.

Eines dieser Gesichter hatte sie gekannt, bevor diese monströsen Fotos entstanden waren …

Ein paar Sekunden lang drohten sie die Erinnerungen zu überwältigen, aber sie drängte die schrecklichen Bilder zurück, auch wenn es ihr wirklich große Mühe bereitete. Sie presste die Kiefer so fest zusammen, dass ihre Zähne knirschten und ein dünner Schmerz bis in ihre linke Schläfe hinaufstieg; schlimm genug, um ihr Tränen in die Augen schießen zu lassen.

Sie blinzelte sie weg, atmete drei oder vier Mal bewusst tief und lang ein und aus und verscheuchte auch noch die letzten Bilder aus ihrem Kopf. Pferdeschwanz hatte inzwischen nicht nur den Arm um die Schulter der Kleinen gelegt, sondern zog sie auch unauffällig zu sich heran. Seine Fingerspitzen spielten an ihrem Hals. Sie schien nichts dagegen zu haben, sondern hatte ganz im Gegenteil den Kopf an seine Schulter gelegt und die Augen halb geschlossen. Ihr Fuß wippte im Takt der hämmernden Bässe. Das alles machte einen so vertrauten Eindruck, dass Conny sich automatisch fragte, ob sie sich vielleicht geirrt hatte, und die beiden alte Freunde waren. Aber vielleicht ging so etwas heutzutage ja auch einfach schneller. Manchmal kam sie sich mit ihren gerade einmal etwas über vierzig vor wie ein Dinosaurier; ein Mitglied einer vom Aussterben bedrohten Spezies, das unversehens in eine fremde Welt versetzt worden war, deren Regeln sie nicht mehr verstand.

Jemand rempelte sie an. Conny machte einen hastigen halben Schritt zur Seite, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und murmelte eine Entschuldigung, obwohl sie es gewesen war, die man angerempelt hatte, und fing einen ärgerlichen Blick eines dunkel umrandeten Augenpaares auf, in den sich in der nächsten Sekunde ein deutlich überraschter Ausdruck mischte.

Das war nicht gut. Der junge Mann, der sie angerempelt hatte, ging kopfschüttelnd weiter und hatte sie im nächsten Augenblick wahrscheinlich schon wieder vergessen, aber das kurze Erstaunen, das in seinen Augen aufgeblitzt war, machte ihr sehr deutlich, wie auffällig sie war; zumindest in dieser Umgebung.

Die Grundregeln der Observierung, dachte sie ärgerlich. Tag eins, Stunde eins, Lektion eins. Versuch dich deiner Umgebung anzupassen – oder wenigstens nicht aufzufallen wie ein bunter Hund. Sie benahm sich tatsächlich wie eine Anfängerin!

Sie schrak auch wie eine ebensolche zusammen, als Pferdeschwanz plötzlich die Schulter der Kleinen losließ und zielsicher auf sie zukam, und drohte schon wieder in Panik zu geraten. Am liebsten wäre sie herumgefahren und einfach davongestürzt, aber diesmal gewannen ihre antrainierten Reflexe im letzten Moment die Oberhand. Sehr ruhig drehte sie sich um, ging die paar Schritte zur Theke und gewann ein wenig Zeit, indem sie übertrieben umständlich in ihrer Handtasche nach dem Kärtchen grub, das sie am Eingang bekommen hatte.

Als sie es gefunden hatte, tauchte Pferdeschwanz neben ihr auf. Nahe genug, dass sich ihre Schultern beinahe berührt hätten, lehnte er sich neben ihr gegen die Theke und winkte die Bedienung herbei. Conny konnte nicht verstehen, was er sagte – die Musik schien im gleichen Maße lauter zu werden, in dem sie versuchte, sie irgendwie auszublenden – aber die Bedienung machte sich unverzüglich daran, zwei Getränke zu mixen. Pferdeschwanz drehte sich neben ihr um und lümmelte sich übertrieben lässig und mit dem Fuß in einem vollkommen anderen Takt als dem der hämmernden Musik wippend gegen die Theke und vertrieb sich die Wartezeit damit, das Mädchen zu beobachten. Aber bevor er das tat, glitt sein Blick kurz und ganz eindeutig abschätzend über ihre Gestalt und ihr Gesicht, und diesmal nahm er sie zur Kenntnis. Conny spürte nicht nur sein Erstaunen, sondern auch so etwas wie ein sachtes Erschrecken; und ein umso jäheres Aufflammen von Misstrauen. Dann erlosch sein Interesse genauso schlagartig wieder, und er konzentrierte sich erneut auf sein potenzielles Opfer.

Conny musste sich beherrschen, um ihn ihrerseits nicht anzustarren, aber sie beging auch nicht den Fehler, ihn demonstrativ zu ignorieren, sondern versuchte sich in einem komplizierten Balanceakt dazwischen.

Anscheinend mit Erfolg, denn sein Interesse an ihr war nicht nur vollkommen erloschen; er widmete sich wieder völlig dem Mädchen mit den violetten Haaren und schien von dem Geschehen auf der Bühne so gut wie nichts mehr mitzubekommen. Auch aus der Nähe betrachtet hatte er noch etwas von einem Kind, fand Conny, wenn auch sicherlich nicht mehr sehr viel von einem unschuldigen Kind. Sie korrigierte ihre anfängliche Schätzung noch einmal ein wenig nach unten – er war allerhöchstens Anfang zwanzig, eine Vorstellung, die sie zutiefst entsetzte, wenn sie an seine Opfer dachte – aber ihr fielen auch noch ein paar Dinge auf, die sie aus der Entfernung nicht wahrgenommen hatte und die zumindest merkwürdig waren. Er war für hiesige Verhältnisse fast dezent gekleidet. Sowohl seine schwarzen Jeans als auch das schwarze T-Shirt mit dem Evanescence-Aufdruck waren neu, und die bleiche Schminke, die er aufgetragen hatte, machte auf den ersten Blick einen perfekten Eindruck. Allerdings fehlte ihr irgendwie die Leichtigkeit, die man bei fast allen anderen hier beobachten konnte; als hätte er versucht, mangelnde Übung mit umso größerer Sorgfalt auszugleichen. Er kam ihr vor wie ein Chamäleon … aber ein fabrikneues Chamäleon, das sich vorsichtig auf unbekanntem Terrain bewegte.

Aber machte ihn das automatisch zu einem Verdächtigen?

Was war wohl wahrscheinlicher? Dass ihr ein vollkommen Fremder einfach so den zurzeit meistgesuchten Serienmörder des Landes auf dem Silbertablett präsentierte, ohne auch nur zu sagen, warum, oder dass der Bursche einfach genauso neu hier war wie sie, sich aber ein etwas passenderes Outfit zugelegt hatte und einfach nur scharf auf die Kleine mit den violetten Haaren war?

Conny verzichtete wohlweislich darauf, sich eine ehrliche Antwort auf diese Frage zu geben, und beobachtete weiter den Langhaarigen, der mit zwei Gläsern in der Hand zu seinem potenziellen Opfer zurückschlenderte. Je länger sie ihn beobachtete, desto verdächtiger kam er ihr vor. Aber das war nur normal. Wenn hier mit jemandem etwas nicht stimmte, dann mit ihr. Hätte sie ihren Verstand auch nur halbwegs beisammen, dann würde sie diesen Radauschuppen auf der Stelle verlassen und sich auf dem Rückweg schon einmal Gedanken über eine glaubhafte Ausrede für den halben Tag machen, den sie mit diesem Schwachsinnsunternehmen verplempert hatte.

Jemand berührte sie an der Schulter. Die Bedienung beugte sich hinter ihr weit genug über die Theke, dass Conny bis zum Bauchnabel hinab in den Ausschnitt ihres pseudo-mittelalterlichen Kleides blicken konnte, und erkundigte sich mit einem unwilligen Blick nach ihren Wünschen. Conny bedeutete ihr ebenso wortlos, ihr dasselbe zu bringen, das Pferdeschwanz für sich und seine Freundin bestellt hatte, und sah kurz zur Bühne hoch. Der Sargdeckel stand inzwischen offen, und wie sie erwartet hatte, war der Vampirjäger gerade dabei, seinem Opfer (das ganz eindeutig nicht unschuldig aussah) den Rest zu geben. Was sie ein wenig überraschte, war die Qualität der Vorstellung, die schon beinahe professionelles Niveau erreichte.

Aber sie war nicht hier, um eine künstlerische Darbietung gleich welcher Qualität zu genießen.

Pferdeschwanz und das Mädchen standen wieder Schulter an Schulter da, nippten an ihrer verwässerten Cola und schäkerten, was das Zeug hielt; ein Anblick, der Conny fast ein schlechtes Gewissen bereitete. Wahrscheinlich war der Junge tatsächlich einfach nur heiß auf das Mädchen.

»Ist er weg?«

Conny registrierte gleichzeitig eine Berührung an der linken Schulter und die Stimme von links. Während sie mit der einen Hand ein Glas Cola mit sehr viel Eis entgegennahm und bemerkte, dass sie ja gar keine Stempelkarte besaß, sah sie nach links und in ein Gesicht, mit dem sie im ersten Moment nichts anfangen konnte.

»Tom«, sagte sie dann.

Ihr jugendlicher Verehrer von vorhin strahlte, offensichtlich geschmeichelt, dass sie sich an seinen Namen erinnerte. Als ob man eine solche Nervensäge so schnell vergessen könnte!

Er hielt ihr eine Karte hin. »Hier, die habe ich für dich besorgt.«

Verdutzt nahm Conny die Karte und ließ sie von der Bedienung abstempeln.

»Also, ist er weg, dein Freund?«, erinnerte Tom sie. »Der, mit dem du verabredet warst. Dieser komische Robert-Craven-Verschnitt.«

Conny konnte mit diesem Namen nichts anfangen, aber sie wusste natürlich, wen er meinte. »Kann es sein, dass du ihn nicht magst?«, fragte sie lächelnd, nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Glas und hätte beinahe einen Hustenanfall bekommen, als sie feststellte, dass es keineswegs nur verwässerte Cola enthielt, sondern Cola-Rum; wobei die Betonung eindeutig auf Rum lag.

»Irgendwie war mir der Kerl unheimlich«, sagte Tom. Das klang ihm fast lächerlich, inmitten eines halben Tausends schräger Gestalten, die sich alle Mühe gaben, möglichst unheimlich auszusehen. Immerhin verstand sie, was er meinte.

»Ich glaube, er ist weg.«

»Du bist noch da.« Was für eine scharfsinnige Feststellung. Wenn dies seine Vorstellung von Small Talk war, dann war er tatsächlich sehr small. Sie lächelte nur, nippte noch einmal – vorsichtiger – an ihrem Getränk und sah wieder zu Pferdeschwanz und dem Mädchen hin.

»Kennst du die beiden?«, fragte Tom.

»Wieso?«

»Weil du sie die ganze Zeit anstarrst.«

»Sieht man das so deutlich?«, fragte sie überrascht.

»Und nicht nur ich«, antwortete Tom gewichtig. »Auch jemand, den du kennst?«

Ganz allmählich begann der Bursche ihr auf die Nerven zu gehen. Conny überlegte, die ganze Diskussion mit ein paar passenden Worten zu beenden, aber dann kam ihr eine Idee. Sie deutete nur ein Schulterzucken an und sah weiter zu den beiden hin. Pferdeschwanz hatte seinen Arm wieder um das Mädchen gelegt, diesmal aber nicht um ihre Schulter, sondern um ihre Taille, was die Berührung zugleich vertrauter wie … besitzergreifender machte, auf eine unangenehme Art. Sie redeten noch eine Weile miteinander, bis sich das Mädchen mit einer kompliziert aussehenden Bewegung aus seinem Arm wand und eine zerknitterte Zigarettenpackung und ein violettes Einwegfeuerzeug aus der Hosentasche grub. Arm in Arm verschwanden die beiden im hinteren Teil des Saals. Täuschte sie sich, oder drehte Pferdeschwanz im letzten Moment den Kopf und sah sie kurz und hämisch an?

Die Schatten verschluckten ihn, bevor sie sicher sein konnte, aber ein sehr ungutes Gefühl blieb zurück. Conny versuchte es mit einem Schluck aus ihrem Glas hinunterzuspülen, machte es damit jedoch nur schlimmer. So stark konnte der Drink eigentlich gar nicht gewesen sein, und trotzdem glaubte sie den Alkohol schon zu spüren; zumindest ein leichtes Schwindelgefühl.

»Hast du die beiden gesehen?«, fragte sie.

»Die du so unauffällig angestarrt hast?« Tom grinste. »Ich will dir nicht zu nahe treten, aber du solltest lieber nicht als Privatdetektivin arbeiten. Was ist mit denen? Die Kleine ist süß.«

»Kennst du sie?« Tom schüttelte den Kopf und setzte zu einer – vermutlich anzüglichen, irgendwie spürte sie das – Antwort an, und Conny fuhr rasch fort: »Das ist meine Tochter.«

»Du spionierst ihr nach?«

»Nein«, antwortete Conny, so überzeugend sie konnte. »Eigentlich waren wir hier verabredet.«

»Doch dann hast du ihren neuen Verehrer gesehen und dir gedacht, du schaust einfach mal, was er mit deinem Töchterchen anstellt, wenn Mami nicht dabei ist.«

Conny kam sich plötzlich unbeschreiblich dämlich vor, war jedoch schon zu weit vorgeprescht, um noch einen Rückzieher zu machen. »Das nicht, aber …«

»Aber der Kerl gefällt dir nicht, und du würdest zu gerne wissen, was die beiden jetzt da hinten im Dunkeln treiben.« Tom stellte sein Glas auf der Theke ab. »Schon erledigt, Boss.«

Er verschwand, bevor sie ihn zurückhalten konnte (was sie auch nicht vorgehabt hatte), und Conny sah ihm nach, bis er ebenfalls mit den Schatten im hinteren Teil des Raumes verschmolzen war. Sie konnte dort hinten noch immer nicht viel erkennen, aber dann und wann blitzte einer der Scheinwerfer besonders grell auf, riss ein einzelnes, stroboskopisches Bild aus den Schatten und zeigte ihr immerhin, dass sich der Raum dort noch überraschend groß ausdehnte. Tom war längst verschwunden, als hätten ihn die gemauerten Eingeweide des Trash einfach aufgesaugt. Hoffentlich passierte dem Jungen nichts. Wenn sie ihn wirklich auf den Vampir gehetzt hatte …

Conny vertrieb sich die Zeit damit, dem Rest der Vampirshow auf der Bühne zu folgen. Sie hatte richtig vermutet: Es war durchaus sehenswert und tatsächlich beinahe professionell in Szene gesetzt. Die Vampirin ging in einem Crescendo von dröhnenden Bässen und jaulenden Gitarrentönen, grellen Lichtblitzen und farbig angestrahltem Trockeneis-Nebel endgültig zugrunde, und für eine einzelne, aber schier endlos erscheinende Sekunde erloschen nicht nur die Scheinwerfer, sondern sämtliche Lichter.

Begeisterter Applaus brandete auf, als es wieder hell wurde. Die beiden Hauptdarsteller verneigten sich tief und genossen ihren wohlverdienten Beifall, und Tom kam pünktlich wie auf ein Stichwort zurück, ein breites Grinsen auf seinem geschminkten Kindergesicht, das sie mutmaßen ließ, dass sie sich wohl tatsächlich blamiert hatte.

»Alles in Ordnung«, griente er. »Die Unschuld deiner Tochter ist nicht in Gefahr. Allenfalls ihre Lungen.«

Conny dachte an die Zigarettenpackung, die das Mädchen hervorgezogen hatte, und kam sich für einen Augenblick noch hilfloser vor. Mittlerweile unterliefen ihr keine Anfängerfehler mehr, sondern einfach nur noch … Dummheiten. Man musste nicht drei Jahre lang die Polizeischule besuchen, um die richtigen Schlüsse aus der Beobachtung zu ziehen, dass jemand eine Schachtel Zigaretten zückte.

»Da hinten ist der Raucherraum«, vermutete sie.

»Stimmt.« Tom nickte. »Unter anderem.«

»Und was noch?«

»Kino, ein paar verschwiegene Kuschelecken … aber keine Bange, alles ganz jugendfrei.«

»Kino?« Sie zog es vor, die letzte Bemerkung zu ignorieren. So lange die beiden nur kuschelten, ganz egal wie intensiv, war alles in Ordnung.

»Es läuft gerade Bram Stokers Dracula«, antwortete Tom. »Und danach Gothika … oder umgekehrt, ganz sicher bin ich nicht.«

»Ein ganz schöner Aufwand für eine Wochenend-Disco.«

»Lass das nicht den Veranstalter hören«, antwortete Tom mit übertrieben geschauspielertem Schrecken. »Das hier ist das Jahrestreffen. Die stecken ‘ne Menge Energie und Mühe in die Vorbereitung und Planung. Soll ich dich ein bisschen rumführen?«

Conny konnte sich auf Anhieb ungefähr tausend Dinge vorstellen, die sie lieber getan hätte, aber andererseits ergab sich ja auf diese Weise vielleicht die Möglichkeit, noch einmal einen Blick auf Pferdeschwanz und seine neueste Eroberung zu werfen. Sie nickte. »Warum nicht?«

Tom streckte die Hand nach seinem Glas aus. Conny nahm ihm die Arbeit ab und reichte es ihm – wobei sie unauffällig an seinem Inhalt schnupperte. Er roch zumindest nur nach Cola. Der Junge tat so, als wäre ihm die kurze Kontrolle weder aufgefallen noch ärgere er sich darüber, sondern schnappte sich sein Glas und eilte voraus, wobei er sich geschickt und auf eine Art durch die immer noch applaudierende Menge schlängelte, die eine Menge Übung verriet. Conny folgte ihm etwas weniger geschickt, aber nicht unbedingt langsamer, wobei sie sowohl ihr Verzehrkärtchen als auch ihr Glas mitnahm, um nicht aufzufallen. Natürlich erreichte sie damit das Gegenteil. Das hier war schließlich keine Cocktailparty, auf der man mit einem Glas in der Hand herumlief; und das im Grunde genommen eigentlich, um aufzufallen.

Hinter ihnen stieß die Trockeneismaschine eine letzte, zischende Nebelwolke aus, und das Licht wurde heller. Das Publikum begann sich zu zerstreuen, während der Vampirjäger und sein auf wundersame Weise wiederauferstandenes Opfer damit begannen, ihre Utensilien zusammenzupacken, um die Bühne für die nächste Darbietung freizugeben. Das heller gewordene Licht machte es etwas leichter, sich zu orientieren, aber es nahm seiner Umgebung auch eine Menge von ihrem vorgetäuschten Zauber, der mehr auf dem geschickt eingesetzten Spiel von Licht und Schatten als auf wirklicher Magie beruhte. Und so ganz nebenbei war auch jetzt sie deutlicher zu erkennen.

Tom führte sie durch eine schmale Tür in einen weiteren, unerwartet großen Raum, der momentan als improvisierter Kinosaal diente. Er ging langsamer und erwartete vermutlich, dass sie stehen bleiben und im schwachen Streulicht der Leinwand nach den Gesichtern ihrer angeblichen Tochter und ihres Begleiters suchen würde. Aber sie ging ganz im Gegenteil sogar schneller und sah nicht einmal hin. Hier drinnen war das Mädchen in Sicherheit. Der Vampir konnte kein Publikum gebrauchen, wenigstens nicht während er seinem perversen Hobby nachging. Hinterher, ja: So viel wie möglich.

Tom öffnete eine weitere Tür und deutete auf eine rechteckige Linie aus blassem Licht am Ende eines schäbigen Korridors, in dem eine so schwache Glühbirne brannte, dass es vermutlich heller wurde, wenn man sie ausschaltete: eine Tür nach draußen, die nicht ganz geschlossen war, aber so verzogen in den Angeln hing, dass Tageslicht hereindrang. Conny blieb nun doch stehen und warf Tom einen zweifelnden Blick zu. Falls er versuchte, sie auf den Arm zu nehmen, würde er sich gleich wünschen, sie niemals angesprochen zu haben. Tom eilte jedoch nur mit schnellen Schritten weiter, riss die Tür auf und bedeutete ihr mit jetzt eindeutig ungeduldigen Gesten, ihm zu folgen. Conny blinzelte in das ungewohnt helle Tageslicht und hob schützend die Hand über das Gesicht.

Während sie drinnen gewesen waren, musste es geregnet haben. Die Luft roch feucht, und es war spürbar kälter geworden. Sie befanden sich auf einer mit rissigem Beton bedeckten rechteckigen Fläche von den Abmessungen eines kleinen Schulhofs, der von einem mehr als zwei Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben war.

Ein Mauervorsprung war mit Graffiti besprüht. unheil stand in ungelenken Buchstaben darauf. Conny schüttelte die Gänsehaut ab, die sie überkam.

 Überall standen mit matschig gewordenem Sand gefüllte Aschenbecher, und auf dem Boden lagen mindestens eine Million Zigarettenkippen. Vielleicht ein Dutzend ausnahmslos jugendlicher Gothic-Fans beiderlei Geschlechts standen in kleinen Gruppen herum und rauchten. Pferdeschwanz und das Mädchen waren nicht dabei.

»Das hier ist der Raucherraum?«, fragte sie zweifelnd.

»Der Raucherbereich«, verbesserte sie Tom. »Drinnen ist rauchen verboten. Der Zaun ist dafür da, dass niemand geht und vergisst, sein Kärtchen zu bezahlen.«

»Und einen anderen gibt es nicht?«

»Selbst den hier haben sie erst eingerichtet, als ihnen die Gäste wegzubleiben begannen«, entgegnete Tom. »Eine Gothic-Fete ohne Joints? Unmöglich.«

Conny sagte nichts, aber etwas an ihrer Reaktion musste ihn wohl alarmiert haben, denn er hob hastig beide Hände und rettete sich in ein verlegenes Grinsen. »War natürlich nur ein Scherz.«

»Natürlich.«

»Soll ich mich erkundigen, ob jemand die beiden gesehen hat?«

»Warum nicht?« Wo sie schon einmal hier waren. Und wenn sie das schon war, konnte sie die Gelegenheit auch gleich vernünftig nutzen. Während sich Tom umdrehte und davoneilte, zog sie Zigaretten und Feuerzeug aus ihrer Handtasche und nahm einen ersten, beinahe gierigen Zug, nach dem ihr prompt schwindelig wurde. Trotzdem atmete sie den bitter schmeckenden Rauch gleich noch einmal und tiefer ein, und diesmal blieb das Schwindelgefühl aus. Trotzdem stellte sie fest, dass sie sich nicht besonders wohlfühlte, als sie in sich hineinlauschte. Sie hatte kein Fieber, aber ein Gefühl, als hätte sie es, und sie verspürte ein sonderbares Kribbeln im Magen, das nicht besonders angenehm war. Vielleicht bekam ihr die schlechte Luft dort drinnen nicht, der Lärm und das zuckende Licht und das Übermaß an Eindrücken, oder vielleicht war die Erklärung auch viel simpler, und sie spürte die Vorboten einer Erkältung, die sie sich eingefangen hatte und die schlichtweg ihre Entscheidungsfähigkeit trübte.

Tom kam zurück, als sie ihre Zigarette halb aufgeraucht hatte. »Hier waren sie nicht. Jedenfalls nicht in den letzten zehn Minuten. Ich hab jeden gefragt.«

Das stimmte. Conny hatte ihn beobachtet und gesehen, dass er tatsächlich jeden Einzelnen hier draußen angesprochen hatte. Sie hatte auch die schrägen Blicke gesehen, mit denen sie etliche der gepiercten Paradiesvögel hier draußen gemustert hatten. Dass sie behaupteten, sie nicht gesehen zu haben, bedeutete nicht, dass sie nicht hier gewesen waren.

»Vielleicht sind sie doch im Kino«, schlug Tom vor.

»Oder in einer deiner Kuschelecken?«

»Die gibt es nicht«, gestand Tom mit einem verlegenen Grinsen. »Hab ich erfunden, um dich hochzunehmen.«

»Ja, das war in der Tat sehr witzig.« Conny schnippte ihre Zigarette weg und trat wieder ins Haus zurück, machte aber eine rasche Handbewegung, als Tom die Tür hinter sich zuziehen wollte. »Warte.«

Der Junge gehorchte, und Conny nahm sich die Zeit, den kurzen Korridor noch einmal genauer in Augenschein zu nehmen. In dem blassen Schein gerade hatte sie eher das Gefühl gehabt, in ein Glas mit trübem, gelbem Honig zu blicken, das von außen hereinfallende Tageslicht ließ sie jedoch mehr Einzelheiten erkennen. Sie bestanden allerdings zum größten Teil aus deprimierenden Details. Der Gang war vielleicht zehn Meter lang und durch und durch schäbig. Der Zementfußboden war ebenso schlimm aufgerissen wie der draußen, und in der nackten Ziegelsteinmauer hatte sich schon vor Jahrzehnten der Schwamm eingenistet. Leere Kabelkanäle baumelten von den Wänden und der mindestens zehn Meter hohen Decke, und rechter Hand führte eine schmale Eisentreppe zu einer Tür auf halber Höhe hinauf.

»Wohin geht es da?«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, antwortete Tom. »Jedenfalls glaube ich nicht, dass die es hier gern haben, wenn wir da oben rumschnüffeln.«

Das hatte sie auch nicht vor. Ein bisschen Paranoia war ja ganz in Ordnung, aber allmählich kam sie selbst zu dem Schluss, dass sie es übertrieb. Wahrscheinlich saßen Pferdeschwanz und das Mädchen friedlich im Kinosaal und fummelten ein bisschen, oder sie hatten eine verschwiegene Ecke gefunden, wo sie mehr tun konnten, als nur zu fummeln. Sie gab dem Jungen ein Zeichen, die Tür zu schließen, ging weiter und blieb nach zwei Schritten wieder stehen.

»Was war das?«

»Was war was?«, fragte Tom.

Conny gestikulierte unwillig, still zu sein, und lauschte mit schräg gehaltenem Kopf und angehaltenem Atem. Nichts. »Ich dachte, ich … hätte einen Schrei gehört«, sagte sie zögernd.

»Hast du wahrscheinlich auch«, antwortete Tom. »Nebenan läuft ein Horror-Film.«

Das war eine sehr überzeugende Erklärung, und mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit auch die Wahrheit. Jetzt, wo der Junge sie einmal darauf aufmerksam gemacht hatte, waren die Filmgeräusche kaum noch zu überhören; verschwommene Stimmen und tatsächlich so etwas wie ein Schrei und ein tiefes, vibrierendes Grollen, mehr zu spüren, als wirklich zu hören. Die Wände hier waren dick, aber vermutlich brauchten sie dort drinnen eine 52000-Watt-Dolby-Surround-Anlage, um die Musik zu überbrüllen. Mit einem schlechten Gefühl ging sie weiter und blieb wieder stehen, bevor sie den Schritt auch nur zu Ende gebracht hatte.

Diesmal war sie sicher, dass der Schrei von oben gekommen war.

Sie drehte sich um, schob den Jungen kurzerhand aus dem Weg und ging zur Treppe zurück. Tom setzte zu einem schwächlichen Protest an, aber Conny ignorierte ihn einfach. Unter normalen Umständen hätte sie es sich dreimal überlegt, ihr Gewicht einer Treppe anzuvertrauen, die nur aus Rost und hervorstehenden Schrauben und Bolzen zu bestehen schien, aber jetzt stürmte sie einfach weiter und hielt erst an, als sie die rostige Eisentür an ihrem obersten Ende erreicht hatte.

»Was tust du da?«, rief Tom ihr nach. Er klang nervös. »Das ist keine gute Idee. Komm lieber da runter.«

Conny legte behutsam die Hand auf die Türklinke und stellte ohne besondere Überraschung fest, dass sie nicht abgeschlossen war. Musik und die Geräusche des Films drangen lauter an ihr Ohr, als sie die Klinke vorsichtig weiter herunterdrückte und die Tür einen Spaltbreit aufzog, sowie eine Menge anderer Geräusche, die sie nicht identifizieren konnte.

»Komm da runter!«, quengelte Tom, »und …«

»Bleib, wo du bist!«, unterbrach ihn Conny hastig. »Oder besser noch, verschwinde. Wenn ich in zehn Minuten nicht zurück bin, rufst du die Polizei!«

»Aber du …«

Conny zog die Tür weiter auf, schlüpfte hindurch und drückte sie so leise hinter sich wieder ins Schloss, wie sie konnte. Sie befand sich in einem weitläufigen hohen Raum, der so mit … Dingen vollgestopft war, dass sie der Anblick fast überforderte. Es war dunkel, wenn auch nicht vollständig, und Musik und Filmgeräusche vermischten sich zu einem Durcheinander, das schon wieder ein heftiges Schwindelgefühl hinter ihrer Stirn auslöste. Ihr Herz klopfte.

Während sie dastand und darauf wartete, dass all die verschiedenen Geräusche und Eindrücke endlich einen Sinn ergaben, versuchte sich ihre Vernunft ein letztes Mal zu Wort zu melden. Sie hatte mehr getan, als nur eine Tür zu öffnen. Spätestens jetzt war sie nicht mehr nur auf dem besten Weg, sich lächerlich zu machen, sondern ihren Job aufs Spiel zu setzen. Wenn die Sache hier schiefging, dann war das genau die Art von Zwischenfall, auf die ihr Vorgesetzter Eichholz seit zwei Jahren wartete.

Irgendetwas polterte. In dem akustischen Chaos, das sie umgab, war es schwer, die genaue Richtung zu bestimmen, aus der ein Geräusch kam, aber sie war ziemlich sicher, dass es nicht aus dem Film stammte und zu laut gewesen war, um aus der Diskothek heraufzuwehen.

Als sie die Augen öffnete, ordnete sich das Chaos ringsum wenigstens weit genug, ihr eine ungefähre Ahnung von ihrer Umgebung zu vermitteln. Sie befand sich in einem weitläufigen, nur schummerig beleuchteten Raum, der sich über einen Großteil der gesamten Anlage zu erstrecken schien. Alles, was weiter als ein paar Meter entfernt war, verschmolz zu einem Konglomerat düsterer Schatten und ineinanderfließender Umrisse, die etwas sonderbar Bedrohliches zu haben schienen. Und um die Sache etwas interessanter zu gestalten, war zumindest dieser Teil des Raums anscheinend schon vor Jahren zur Rumpelkammer deklariert worden, in die man wahllos alles hineingestellt und -geworfen hatte, was man im Moment nicht brauchte. Überall standen Kisten, Kartons, Papierbündel, Rollen mit alten Plakaten und Säcke und aller möglicher anderer … Kram, der eine regelrechte Barrikade ringsum bildete, durch die ein Durchkommen auf den ersten Blick fast unmöglich schien.

Aber irgendjemand war hindurchgegangen. Da war etwas an einem bestimmten Teil dieser Unordnung, das sie nicht wirklich greifen konnte, das ihr aber sehr deutlich sagte, dass es neu war. Jemand hatte etwas verändert, erst vor ganz kurzer Zeit.

Vielleicht ein Angestellter des Trash, der gerade hier gewesen war, um die Sperrmüllsammlung um einige weitere Stücke zu bereichern, flüsterte ihr die schwächer werdende Stimme ihrer Vernunft zu. Möglicherweise derselbe, der gleich wieder auftauchen würde, um sie dreikantig rauszuschmeißen.

Was sie nicht daran hinderte, sich behutsam in dieselbe Richtung in Bewegung zu setzen.

Das Poltern wiederholte sich, leiser, zugleich aber auch deutlicher, sodass sie ausmachen konnte, woher es kam: direkt von vorne, genau aus der Richtung, in die ihr Gefühl sie lenkte.

Flackerndes Licht drang durch die Ritzen zwischen den Bodendielen, und jetzt wurde die Musik auch wieder lauter; vor allem die hämmernden Bässe, die die Luft rings um sie herum zum Vibrieren zu bringen schienen und es fast unmöglich machten, einen bestimmten Laut aus der allgemeinen Geräuschkulisse herauszufiltern. Zu allem Überfluss musste sie sich mittlerweile wohl genau über dem Kinosaal befinden, in dem sich der Film gerade seinem Showdown näherte: Schreie und trappelnde Schritte drangen durch die Bodenbretter, dröhnendes Hufgeklapper und das Klirren von Schwertern, und noch mehr Gebrüll und Schreie. Verdammt, konnten sie sich dort unten nicht Bambi ansehen oder Das Dschungelbuch?

Wieder ein Poltern, dann ein Scharren und Klappern, das irgendwie zu … modern klang, um Teil des Historienschinkens unter ihr zu sein. Die anhaltende Lärmberieselung machte es unmöglich, seine genaue Richtung zu bestimmen, aber ihre Augen hatten sich inzwischen an das flackernde Dämmerlicht gewöhnt. Sie folgte tatsächlich einer Spur in der flockigen Staubschicht auf dem Boden, schwach, trotzdem zu erkennen, wenn man wusste, wonach man zu suchen hatte. Jemand war hier langgegangen, erst vor wenigen Augenblicken.

Vor ihr war eine weitere, kurze Metalltreppe, die zu einem höher gelegenen Teil des Zwischenbodens führte. Staub tanzte im Rhythmus der hämmernden Bässe in dem flackernden Licht, das durch die Ritzen der schlampig verlegten Dielen drang, und sie nahm vage, sonderbar geometrische Umrisse wahr, die sich beim Näherkommen als rechteckige große Gitterverschläge entpuppten, in denen wahrscheinlich noch mehr Gerümpel untergebracht war. Dann hörte sie ein Wimmern, leise und schwächlich, aber ihre Phantasie machte etwas anderes daraus; einen verzweifelten Schrei, der unter einer brutalen Hand erstickt wurde, vielleicht auch von einem Streifen Klebeband.

Sie setzte den Fuß auf die Treppe, machte dann wieder einen halben Schritt zurück und zog die Schuhe aus, mit deren hohen Absätzen sie sonst Gefahr gelaufen wäre, nicht nur ein verräterisches Geräusch zu verursachen, sondern womöglich in den fingerbreiten Ritzen zwischen den Fußbodenbrettern stecken zu bleiben. Sie öffnete ihre Handtasche, zog ihre Pistole heraus und lud die Waffe durch, wobei sie die linke Hand über den Schlitten legte, um das metallische Klicken zu unterdrücken, das dabei entstand. Ein kurzes, humorloses Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie daran dachte, dass das ebenso gut das Geräusch sein konnte, mit dem Eichholz ihre Personalakte schloss – und zwar für immer –, wenn die Sache schiefging und sich herausstellte, dass sie ohne triftigen Grund mit einer entsicherten Waffe in der Hand durch eine Diskothek voller Kinder geschlichen war, deren einziges Verbrechen darin bestand, einen schlechten Musikgeschmack zu haben.

Sie ließ Schuhe und Handtasche am Fuß der Treppe zurück, ging die wenigen Stufen hinauf und näherte sich dem ersten Verschlag. Wie sie vermutet hatte, handelte es sich um einen Gitterkäfig von gut acht oder zehn Metern Kantenlänge, der fast bis unter die Decke mit ausrangierten Möbeln und Kisten vollgestopft war. Praktisch unmöglich, irgendetwas darin zu erkennen, und eigentlich auch nicht nötig. Die Tür war mit einem altmodischen, sehr massiv aussehenden Vorhängeschloss versperrt, an dem sich sichtlich niemand zu schaffen gemacht hatte.

Conny rüttelte trotzdem prüfend daran und wandte sich dann dem nächsten Verschlag zu, von denen es mindestens ein Dutzend gab, wenn nicht mehr, die sich längs der Wände um den freien Zwischenboden gruppierten. Vielleicht hatte das ja einen Grund, flüsterte eine dünne Stimme hinter ihrer Stirn. Vielleicht war es ja besser, nicht auf die Bretter dort zu treten. Die ganze Konstruktion sah nicht besonders vertrauenerweckend aus, und sie hatte keine Ahnung, wie ernst man es hier mit den Bauvorschriften genommen hatte.